Iokaste: Das Vaterland entbehren, ist's ein hartes Los?
Polyneikes: Das herbste, herber, als das Wort es schildern kann.
(Euripides, Die Phönikerinnen, V. 388f.)
1. Kapitel: Ödipus und das Rätsel Mensch
2. Kapitel: Die Suche nach Bleibendem (Sokrates und seine Zeit)
3. Kapitel: Im Spiegel des Christentums
4. Kapitel: Humanität und Bildung
5. Kapitel: Überlegungen zur Lebensgestaltung
6. Kapitel: Das Selbst und die Kunst, bei sich zu sein
7. Kapitel: Wissenschaften, Technik und Fortschritt
8. Kapitel: Spiel-Räume der Kindheit
9. Kapitel: Im Aufbruch der Jugend
Der Mensch: unfertig zur Welt kommend, anpassungsfähig an physische, biologische und soziale Gegebenheiten, formbar, erziehbar, lernfähig und selbstbildbar das Leben hindurch, interessierbar für alles nur Erdenkliche, entschlossen zum Machen alles Machbaren, frei in weiten Teilen seines Verhaltens, ausgezeichnet durch ein Wachstum an Erfahrungen und Erkenntnissen, einfallsreich im Lösen von Aufgaben und Problemen, "edel durch Vernunft", im Handeln "ähnlich einem Engel, im Begreifen vergleichbar einem Gott! Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen!" (Hamlet) Und doch neben solchen Auszeichnungen begleitet von Gefühlen der Nutz- und Sinnlosigkeit, ein Erdenwurm, der sich zu weit aus dem Boden herausgehoben hat, die "Quintessenz von Staub", belastet durch immer noch größere Verantwortungen, die ihm im Verlauf seiner Geschichte zugekommen sind und die er sich, teils wissend, teils ahnungslos aufgebürdet hat. Ehemals gezwungen, sich einer kargen Umwelt anzupassen, verfolgt von Adlern und Geiern, hat er es fertig gebracht, sich seinen Lebensraum umzugestalten, um ihn nach und nach - als Erfinder, Konstrukteur und Ausbeuter - seinen ins Gigantische wachsenden Wünschen anzupassen. Wohl wissend, dass diese Welt auf Dauer keinen Bestand hat und unfähig umzukehren, ruft er nun alle die Geister, die ihm geholfen haben, diese Welt zu schaffen, dazu auf, ihm einen Weg aus der Sackgasse zu zeigen.
Der Mensch: das Wesen, das seit Menschengedenken zu entschlüsseln sucht, was er lernen sollte, weil es gut wäre zu wissen, und was er dann gern in einer Lehre oder in einem Testament zusammenfasste.
Der Mensch: der ein Leben lang sich müht und übt, etwas auszusagen und aufzuschreiben, ohne jemals zum Satz zu gelangen?
Der Mensch: der nicht weiter nachfragt, wenn nur etwas gelingt, was ihn bestätigt?
Gesetzt: keiner wird je ergründen, wozu das Weltall, die Erde, die Entstehung der Arten auf der Erde und wozu endlich der Mensch gut waren: so können wir noch nicht einmal darüber ins Klare kommen, ob ein Sinn und Zweck da waren und nur im Dunkel bleiben mussten, oder ob es nie etwas Derartiges gab und wir die Frage falsch gestellt haben. Nur so weit scheinen wir bereits zu sein (und die Antwort scheint uns mehr zu befriedigen als das Harren vor jener ungelösten Frage): dass wir bereit sind, einzugestehen, dass der Mensch eine Sackgasse in der Evolution bedeutet.
Wer ist der Mensch? Ist er jener Fürst der Tiere, der sich nicht zufrieden gab, Tier zu bleiben und der nun in der Falle sitzt, weil er nicht mehr leben kann, ohne die Kräfte der Vernunft und des forschenden Verstandes zu missbrauchen?
Der Mensch, zwischen der Verzweiflung, weil er nicht weiß, woher er stammt und wohin er zu gehen hat, und der Ahnung, dass er verzweifeln müsste, wenn er es wüsste.
Es macht einen Unterschied, ob man lernt, sich zu erkennen, um erkannt zu werden, oder ob man Handlungen und Techniken erlernt, über die man verfügen kann und über die andere, indem sie über uns verfügen, verfügen können. (Paulus hat den Imperativ des delphischen Apoll noch verstanden, während später selbst Goethe hier Schwierigkeiten äußerte.)
Keiner kann alles haben. Wer nichts hat, hat zumindest noch die Zukunft. Wer aber alles zu haben scheint, ahnt oder übersieht im Schein der Gegenwart die Heraufkunft einer feindseligen Zukunft.
Mutterseelenallein, der Mensch, in den Wartehallen des Todes ...
Wir essen voll Behagen wie ein Säugling; dann lassen wir uns etwas Verdauliches erzählen wie ein Säugling; dann schlafen wir wieder ein wie ein Säugling.
Ein wenig auch Entbehrungen auf sich nehmen, weil wir auch die Sehnsucht brauchen und weil wir uns nach dem sehnen, was wir entbehren.
Die Tragödie der Mutter, die ihr Kind nicht so liebevoll umsorgen darf, wie sie es gerne möchte, weil sie weiß, dass ihrem Kind der Wind, der draußen auf es wartet, nur umso bissiger ins Gesicht bliese. Es ist die Geschichte einer neueren Herzeloyde.
Der Mensch heute, ohne heimatliches, elterliches Haus, ohne ein Haus, das schon die Großeltern und die Urgroßeltern beherbergt hat und wo deren Andenken lebendig ist. Wo es kein Wohnzimmer gibt, in dem seit alters die Väter abends nach der Arbeit noch gesessen und wo die Frauen einen Herrgottswinkel gemäß dem Festkreis im Jahreskreis geschmückt haben. Nun ist es gewiss nicht so, dass dies weitverbreitete, geschichtliche Wirklichkeit gewesen wäre, dazu war man allein schon viel zu arm. Wohl aber galt es über Jahrhunderte hinweg als ein inneres Ideal, während man heute ein solches als unzeitgemäß und romantisch versponnen ablehnte. Statt dessen sucht man heutzutage nach dem Mann und der Frau, die mobil sind und anpassungsfähig, die heute hier und morgen dort sind, und die, das nimmt man mit in Kauf oder räumt es ihnen gerne ein, heute diesen Partner haben und morgen jenen.
Der Mensch, der sich mit prächtigen Anfangserfindungen die Angst vor den Tieren vom Leib geschüttelt hat, und der jetzt bange abwartet, was aus seinen Erfindungen wird. Ob er Herr bleibt über sie oder ob sie sich nicht zum Herrn über ihn aufschwingen. Der Mensch von morgen, total durchschaut, beginnend mit dem genetischen Fingerabdruck vor der Geburt, in seinem inskünftigen Können und in seinen Anfälligkeiten ausgelotet, abschätzbar wie eine Ware, mit Sensoren in Raum und Zeit lückenlos überwacht, gemeldet und vielleicht auch gleich bestraft bei kleinsten Fehlleistungen: das ist immerhin keine Utopie mehr. Wird uns dann eine geschichtlich ausgerichtete ateleologische Bildungstheorie erzählen, dass das so sein muss und dass sich die Menschheit augenblicklich im bestmöglichem Zustand befindet?
Ist der Tod so etwas wie der Wolf des lieben Gottes, ähnlich dem Wolf im Märchen, der die Geißlein auffrisst, die man nachher dann wieder aus seinem Bauch herausholt? (Doch was für ein lieber Gott!?)
Es macht einen Unterschied, ob man geschichtliche Taten geschichtsimmanent im Nachhinein zu beurteilen sucht oder ob man selber in die Zukunft reichende Tat beginnt. Wie aber könnte eine Tat gelingen, wenn man sich nicht lernend darauf vorbereitet? Theoretisches Wissen, auch wenn es vorhanden ist, setzt noch lange nicht in stand, praktisch tätig zu werden. Daraus folgt: Die geschichtlich hermeneutische Bildungstheorie kann dann und nur dann Geltung besitzen, wenn sie die Arbeit an der Geschichte (inklusive der Geschichte der eigenen Praxis) in die geschichtliche Gegenwart zukunftsorientiert überzuführen vermag.
Wir verwechseln oft die Bedingungen einer Hochkultur mit der Einhaltung von Menschenrechten oder mit den Voraussetzungen eines sittlichen Lebens wie sie etwa Kant in seinem kategorischen Imperativ gibt. Ganz davon abgesehen, ob dieser Imperativ dem Menschen angemessen oder anzumessen ist, bleibt die Frage, ob er nicht schändlich verallgemeinert und Differenzierungen und Hochkulturen verhindert. Die Welt Homers z.B. ist eine barbarische, die auf Raub und Beutemachen, auf Versklavung und Vergewaltigung ausgerichtet ist, mit der Beutegöttin Athene an der Spitze. Und doch spiegelt sich in ihr die Kultur einer kleinen Gesellschaft wieder, die aristokratisch privilegiert ist und die sich bestrebt, Sitte und Anstand unter sich zu wahren, worauf letztlich auch die Tragödien eines Agamemnon und seiner Klytaimnestra oder eines Menelaos und seiner Helena hinweisen. Alkinoos und Arete wie überhaupt der Hof der Phäaken sind ein Muster einer, wenn auch nur im Kleinen funktionierenden, idealen humanen Welt.
Unser Verlangen nach Verstehen als eine der Begleiterscheinungen unserer Unbehaustheit und Unruhe.
Können wir es schaffen, uns eine Kultur zu schaffen, d.h. verstehen zu lernen, ohne uns dadurch zu überheben und Natur und Mensch hinter uns und unter uns zu bringen?
Religion, Philosophie und Wissenschaften folgten zwar wissenschaftsgeschichtlich aufeinander: doch was haben sie miteinander zu tun? Die Religion bezweckt etwas, doch die Wissenschaft?
Der unheimliche Verdacht, dass wir uns mit Mathematik und exakter Wissenschaft ums Leben betrügen. Nun lässt sich der Verdacht zwar nie erhärten, es könnte ja sein, dass der Verdacht nur deshalb bei mir aufkommt, weil ich zu dumm bin zum Denken. Aber selbst wenn sich der Verdacht erhärtete und bestätigte: wie retten wir dann unser Leben?
Leben: Was verstehst du darunter? Wenn einer dich fragt: "Wofür lebst du?" Dann versteht er wohl etwas anderes, als wenn er dann hinzufügt: "Du musst ja doch auch leben!"
Leben wir, um etwas zu erleben? Wie leben wir, um etwas zu erleben?
Gibt es etwas, was wir in Erfahrung gebracht oder getan haben müssen in unserer Lebenszeit?
Wie wichtig sollen wir uns nehmen, wenn wir uns nicht zu wichtig nehmen sollen, aber auch nicht zu unwichtig?
Dass alles ein wenig verrückt mit der Zeit: ist's denn verrückt oder macht's uns verrückt?
Das Leben liegt vor uns, verheißungsvoll, in unermesslicher, unbegrenzter Weite, bis es plötzlich hinter uns liegt.
Wenn es uns nicht gelingt, das Leben einzusetzen, was unser Leben überragt und krönt: was können oder sollen wir dann tun?
Was wir suchen müssen, das besitzen wir, oder besser gesagt, das ist unser Schicksal, das besitzt uns. Vielleicht besaß Ödipus in stärkerem Maße eine Mutter, oder er machte doch intensivere Erfahrung als viele von uns.
Verräterisch jeder Versuch zu sagen, was aus unserem Leben des Sagens wert wäre. Wüsste man es genau, man brauchte keinen Versuch, es klar zu machen. Mithin, um sich keine Blöße zu geben, versteckt man sich als Aristokrat gern hinter Formeln und Floskeln. Man schweigt und wird, wenn man kann, ausschließlich handelnd tätig. Nur der Unsichere stammelt. - Indes, alles was immer wir tun, verrät uns ja. Wie oder verrät unsere Handlung nicht uns, insbesondere wenn sie mangelhaft ausfällt, nur unsere Spezies? Verrät sie dann nur den Schüler, den Künstler, der zum Üben gezwungen ist und dem man auf dem Weg zur Vollendung auch Fehler nachsehen muss? Wir Versteckungskünstler! Als ob es von uns abhinge, ob wir Urheber unserer Handlungen sind oder instinktgesteuerte Automaten?
Ödipus, der aller Leiden Maß erschöpfte ... formuliert Euripides. Es scheint so, als ob der Grieche mit der dem Menschen fast unbegrenzt möglichen Leidensfähigkeit den schier unbegrenzten Umkreis der Bildsamkeit des Menschen abzuschreiten versucht habe.
Unwissenheit und Unsicherheit machen, dass wir vielfach nur ein beengtes Leben innerhalb von Mauern aus Bedingungssätzen erleben. Pascal räsonierte, was zu tun sei für den Fall, dass es den christlichen Gott gebe. Und der Herzog in Shakespeares "Was ihr wollt" beginnt sein Selbstporträt, das Porträt eines Liebhabers voll schwankender Unsicherheit und Unselbständigkeit mit dem Wenn-satz: "Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist ..." Wann besonders spüren wir, dass wir unbedingt leben?
Gigantisch die in die Berge gebauten griechischen und römischen Theater (z.B. in Delphi, in Epidaurus ...), Zeugnisse höchstgespannter Erwartungen. Was für Spiele wurden dort aufgeführt und was für Erwartungen erfüllt?
Leidenschaften, die uns überfallen, plötzlich, maßlos, dämonisch, unerklärbar, heftiger, als dass man dafür eine vernünftige Begründung angeben könnte: ein Beleg dafür, dass im Menschen etwas Abgrundtiefes, Bodenloses haust? Zu Beginn der Neuzeit bei Entdeckung des allgemein selbstbewusst gewordenen Ich schildert Shakespeare solche Befunde, z.B. im Lear, der maßlos auf Cordeliens Aussage reagiert oder Leontes mit seiner übersteigerten Eifersucht.
Shakespeare und das Experiment, wie weit wir uns auf den Verstand verlassen können. - Wenn wir den Verstand zu Tode geschunden haben, kommt oft nichts anderes heraus als der Auftraggeber des Verstandes: der Unverstand (vgl. Hamlet oder Leontes im Wintermärchen).
Als wir entdeckten, dass die Erde eine endliche Kugel ist, machten wir die Erfahrung, dass sie keineswegs an den Himmel angrenzt und den Weg dorthin frei gibt. Damals waren wir gezwungen, zwei Arten von "Himmel" zu unterscheiden (heaven, sky). Und wir begannen einzusehen, dass wir nur ein sehr fragwürdiges Bild von der Welt besaßen und dass wir auch uns neu zu definieren hatten. Wir waren nicht länger mehr das Wesen, das dem Augenblick einer göttlichen Schöpfungsstunde oder gar einer göttlichen Schöpfungslust entsprang, dem nur da und dort vielleicht noch vermittels einiger übernatürlicher Offenbarungen aufzuhelfen war. Und wir lernten, dass wir uns im Strom werdender und wieder verschwindender Arten zu verstehen hatten.
Sind wir endlich dahinter gekommen, dass wir nichts weiter sind als Gefangene unserer Inkorporation, eine zufällige Ausgeburt der Evolution? Und bleibt uns nur der Ruhm, uns als elende Laus entlarvt zu haben? Oder spricht so nur der Mensch, der einmal als göttliches Wesen sich betrachtet hatte und nun von einer ihm vertrauten und liebgewordenen Vorstellung bitteren Abschied nimmt?
Gibt es ein Experiment "Menschheit" und was steht dabei auf dem Spiel? Wie, wenn der Mensch bedeutsam sein müsste, um Mensch sein zu können, es aber besser wäre für das Leben auf Erden, wenn er unbedeutend bliebe?
Worum handelt es sich beim Bedürfnis nach einer umfassenden Sinnstiftung für unser Lebens: um einen teleologischen Grundzug unseres Wesens, um einen psychologischen Kompensationsmechanismus, um eine existentiell notwendige Selbsttäuschung, um eine überwindbare Lüge?
Womit beschäftigen wir uns und was beschäftigt sich mit uns? Wie groß sind die Anteile, wo wir mehr gesehen werden, als dass wir sehen? Wo wir uns täuschen, wenn wir glauben, uns nicht zu täuschen? Und ist die Selbsttäuschung vielleicht gar so unaufhebbar, dass die obigen Fragen unbeantwortbar bleiben, es sei denn dass man die Antworten auffasst als Dokumente der Selbsttäuschung?
Um sich ganz zu sehen, müsste man auch noch sein eigenes Sehen sehen nebst den vielfältigen Augen, die auf das eigene Sehen Einfluss haben. In diesem Sinn ließe sich der Satz, dass Gottheiten uns sehen, wohl immer noch begreifen.
Wenn der Sinn des Lebens darin bestünde, einen großen Traum zu träumen und ein jeder müsste diesen seinen Traum nennen: welchen würdest du nennen?
Wenn wir unsere Träume recht verstünden, wir würden den Menschen verstehen. Denn, handeln sie auch von uns als einzelnen, so sind ihre Botschaften doch gesetzhafter, soziologisch-kollektiver Natur.
Sobald wir dem Drang nachgeben, über uns nachzudenken, geraten wir in Gefahr, die Orientierung, die stillschweigend über uns Macht hatte, zu verlieren.
Wäre das Leben identisch mit der Illusion vom Leben und die Zeit die Enthüllerin solcher Illusionen (von Trieben, Wünschen, Hoffnungen, Zielen)?
Wer ist es, der in uns die Ziele unseres Handelns festlegt? Seit Jahrtausenden zogen Menschen in den Krieg. Und durchaus nicht nur gezwungen, auch freiwillig, begeistert, fanatisch erregt, trunken im Dienst eines Dämons oder eines antreibenden Gottes suchten sie den Kampf. Alfred de Vigny (1797-1863) schreibt vom Krieg als dem "Quell von tausend der übrigen Menschheit unbekannten Wonnen, dessen tief-innerliche Hochgefühle voller Pracht sind."
Wenn denn die Dämonie und die Verlockung und Pracht des Krieges und der Sexualität in uns hausen: wie domestizieren, wie sublimieren wir sie? Wie leisten wir Gewähr, dass wir nicht zu Urhebern der Weltzerstörung werden? Wie gehen wir mit uns um?
Dem Urquell der Sexualität nachzugehen (Besitzergreifung, Vertreibung, Erniedrigung, Vergewaltigung ...) und wo möglich gar noch Ängste und Ekel zu schüren ist ganz gewiss eine Sackgasse. Wichtig wäre, die Sexualität als Quelle der Erfüllung (nicht der Erschöpfung) in unser Leben einzubauen und ihr durch geeignete Maßnahmen einen kulturschaffenden Platz zu sichern.
Wenn Wirklichkeit würde, was wir uns wünschen, was würden wir uns wünschen? Ein Gedächtnis an uns, wenn wir einmal nicht mehr sind? Fortdauer in der Liebe? Ewiges Leben? Wie, wenn wir alle an einem jüngsten Tag erwachten und jeder genau das bekäme, was er sich in seinem Leben erhofft und gewünscht hat und um dessen Erfüllung er lebte und litt? Müssten wir dann nicht traurig dastehen, wenn wir sähen, dass es uns nicht gelungen ist, uns selber wie auch anderen die Überzeugung zu vermitteln, dass es gute Wünsche gibt und dass es gut ist, solche Wünsche zu hegen?
Fragen, die einem bedeutsam scheinen im Leben und denen man sich nähert, wie wenn man des Morgens einem nächtlichen Traum nachspürt: man merkt beim Näherkommen: man hat ihn schon fast, muss dann aber doch feststellen, dass man ihn fahren lassen muss.
Es scheint Fragen zu geben, die verschwinden, als gäbe es sie nicht, sobald man sich ihnen mit den Werkzeugen der Logik und des Verstandes nähert.
Es scheint zu den Paradoxien unseres Lebens zu gehören, dass wir bereits etwas Verlässliches haben müssen, um überhaupt etwas Verlässliches zu suchen.
Der Verstand eröffnet unermesslichem Leid das Tor und schafft ein tragisches Bewusstsein, wenn er im Ablauf des unumgänglichen Schicksals ruhelos nachforscht, als gäbe es doch einen Ausweg.
Mitunter blitzt etwas auf, was uns bestärkt und uns für Augenblicke Mut und Sicherheit und Kraft eingibt. In solcher Kraft und Sicherheit des Daseins können wir gelassen sein. Da erscheint alles Forschen und Suchen wie ein glückliches Auf-uns-zukommen der Dinge. "Ich suche nicht, ich finde", sagte Picasso. Und Goethe in "Gefunden": "Und nichts zu suchen, das war mein Sinn". Und die Bibel weiß, dass dem noch dazu gegeben wird, der auf solche Weise bereits hat.
Die Dinge dann und nur dann benennen und aussagen, sobald man sie gut sieht.
Gibt es Dinge, von denen wir uns abwenden sollten, grausame Dinge und niederträchtige Fähigkeiten in uns? Oder ist es besser, Transformationen für sie zu finden und sie zu bannen wie etwa ein Hieronymus Bosch?
Ein Stück weit entscheiden wir über die Welt, in der wir leben, indem wir darüber entscheiden, in welcher Welt wir leben wollen.
Handlungsspielräume verweisen auf eine dem Menschen von Natur eigene Unbestimmtheit. Während die somatischen Fähigkeiten beim Tier wie beim Menschen gleichsam am Gängelband der Natur ohne weitere Lehre zur Perfektion kommen (man muss kein Kind lehren, wie es die Hand heben oder sitzen soll), scheint ein Lehrgang für das handlungsvorbereitende Denken nur ansatzweise gegeben zu sein. Denken ist nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für das Handeln. Der mit dem triebhaften Wollen gesetzte Widerspruch zu einer verbindlich vorgeschriebenen Handlungsweise und die Überwindung dieses Widerspruchs markieren ein Aufgabenfeld für eine jede erzieherische Einwirkung auf das Kind (Sozialisierung) sowie für eine daran anschließende Selbstbestimmung. Der Mensch, mit Rousseau zu sprechen, ist grundsätzlich perfektibel, d.h. zur Ausbildung und Perfektionierung sowohl in der jeweiligen Gesellschaft erwünschter als auch unerwünschter Qualitäten fähig.
Was verdankt ein Mensch der Lehre? Wenn z.B. ein Euler die Kunst der räumlichen Vorstellung beherrscht, wo hat er diese gelernt? Wer hat sie ihm beigebracht? Die Schule? Oder sind die naturgegebenen Unterschiede, der Ausbau des Vorstellungsvermögens und des Gedächtnisses, schon so groß, dass die Schule nur marginale Effekte bewirkt? Dass jeder, vornehmlich aber der Sonderbegabte, eines eigenen Lehrers bedarf? Wie, wenn die Schule auch noch einen Euler rechtzeitig fördert?
Zurück zur Natur, das heißt ganz gewiss nicht, den Trieben uneingeschränkt das Feld zu überlassen. Das heißt vielmehr, über sich die Kontrolle wahrnehmen; das heißt, möglichst die Gewohnheiten kontrollieren, die uns rasch und fatal zur zweiten Natur werden. Es darf ja doch nicht wahr sein, dass sich z.B. zwei Partner wie bei Strindberg bis aufs Blut bekämpfen, ja geradezu bekämpfen müssen, nur weil sie es sich so angewöhnt haben und ihnen ansonsten etwas fehlte. Zurück zur Natur, das könnte heißen, sich aller Gewohnheiten zu enthalten, die uns in konditionierte Zusammenhänge hinein verketten, welche uns lähmen und unproduktiv und unselbständig machen; das könnte insbesondere heißen, den Versuchungen der gesellschaftlich-komparativen Existenz zu widerstehen, dass sich unser Mühen nicht lohnt, weil es diesem Zeitgenossen besser ergeht und jener mehr hat und wieder eines anderen Mannes Verdienste mehr gelobt und ausgezeichnet werden als meine.
Da es unterschiedliche gesellschaftlichen Ordnungen gibt, kann eine kosmopolitisch orientierte Erziehung sich keineswegs auf eine diese Ordnungen verlassen. Sie kann sich in ihrer Praxis nicht als selbstverständlicher Teil einer speziellen gesellschaftlich-politischen Ordnung verstehen, sie muss ihre Praxis an einer Bildungstheorie messen, die Teil ist einer Theorie der Gesellschaft aller Menschen. Wenn Pädagogik brauchbar sein soll, muss ihre an den geschichtlich gesellschaftlichen Verhältnissen sich orientierende Theorienbildung ein Baustein sein zur Erhellung und Verbesserung der individuellen und gesellschaftlichen Praxis.
Glück, einerseits auffindbar innerhalb einer Gesellschaft als ein unverdientes Glück, sodann aber auch als Ergebnis einer behutsamen Praxis, im Ringen mit der Gesellschaft (sehend, erkennend, aber auch tragisch, wie es die griechische Tragödie zeigt).
Auch das gehört zu unserer Widersprüchlichkeit, dass wir in der Theorie dem Verstand und der Vernunft den höchsten Rang zusprechen, während wir ihnen in der Praxis meist nur den Rang eines Mittels zum Ziel zugestehen.
Was ist das, wonach uns zutiefst verlangt? Und gibt es Lehrer dafür? Und haben wir Chancen, es zu erlernen?
Das Beispiel eines Hamlet wie auch Selbstzeugnisse eines Napoleon lehren, dass Handeln, da es nie restlos planbar ist, auch nicht restlos eingeübt werden kann. Unser Handeln bedarf immer auch eines Mutes, der von keiner Vernunft erzeugt und aus keinen Prämissen abgeleitet werden kann. Endlich suchen wir gerade mit bedeutenden Handlungen immer auch etwas, was über diese hinausreicht: einen Zustand des Glücks, eine Erfüllung, eine Wiederherstellung des inneren Friedens (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik).
Was wir brauchten, das ist eine Bewusstheit a priori über die Verantwortung, die wir mit unseren jeweiligen Entscheidungen übernehmen.
Je schwerwiegender die Entscheidungen sind, vor denen wir stehen, umso stärker wird das Eingeständnis unserer nur mangelhaften Belastbarkeit, umso mehr überschleichen uns auch die Müdigkeit und das Bedürfnis nach Schlaf.
Wenn wir alles wüssten, was uns zu wissen not täte und wir wüssten, dass wir alles wissen: dann überkäme uns wohl nicht das immer wieder sich einstellende Gefühl von ehernen unübersteigbaren Wällen wie auch die unaufhebbare Sorge, unsere Existenz in uns und aus uns selbst zu begründen.
Zu unserem Lebensroman. Da suchen wir nach Wahrheit, vielleicht nach der absoluten Wahrheit oder auch nur nach stückweiser, relativ gültiger Wahrheit. Und wir rennen gegen die Sprache an, wie Raubtiere gegen ein viel zu engmaschig gezogenes Gitterkäfig, als ob etwas damit erreicht wäre, wenn wir alle uns möglichen Sätze gebildet haben. Was wir dabei erreichen ist aber nur, dass wir alles verwirren. Mit jeder anvisierten festen Bedeutung stellt sich ein verhasstes Gegenteil mit ein. Zu Sortini, dem kafkaschen Beamten des guten Ausgangs gesellt sich Sordini, der Beamte des Schmutzes und ekelhaften Ausgangs, hinzu. Wir wissen m.a.W. nicht, wenn wir über Sortini zu reden trachten, ob wir nicht, statt über den guten Ausgang nur über Sordini, den Gott des Schmutzes und des Ekels reden. Der auf die Sprache als Organon angewiesene Verstand muss als erstes einsehen, dass es Dinge gibt, die vieldeutig und verwirrend bleiben und die er von daher nicht eindeutig zu erfassen und somit eben auch nicht zu verstehen vermag. Der von Heidegger postulierte hermeneutische Zirkel, der darin besteht, dass der Verstehende immer schon von dem, was Gegenstand des Verstehens ist, eine eigene innere Erfahrung haben muss, ist dahingehend zu erweitern, dass es grundsätzlich Dinge gibt, die für den Verstand nicht verstehbar sind. Ohne dieses Prinzip, dem in der Mathematik und in den Naturwissenschaften die Nichthinterfragbarkeit der Axiome entspricht, gibt es keine Ordnung, auch keine vorläufige. Diese Dinge, die durchaus nicht notwendig fest aufweisbare Dinge sind, können sich vervielfältigen wie in einem Kaleidoskop bzw. sich ändern und verschieben wie im Traum.
Sind wir Raubtiere unserer Natur nach und müssen schlecht sein, um hin und wieder gut sein zu können?
Spricht so die enttäuschte Vernunft: Ich denke, also brauchte ich nicht zu sein?
Immer wieder die Frage, wie es dem Menschen möglich ist, sein Leben, zumal in schwieriger Zeit, zu bestehen. Dieses Welt- und Selbstverständnis war indes nicht schon immer vorhanden. In Griechenland z.B. herrschte die Ansicht - und zwar schon seit Homer -, dass es besser sei, am Leben Anteil zu haben, und sei es auch als niedrigster Knecht, denn ein Fürst zu sein im Schattenreich. Das Christentum vertiefte diesen Schauder zur Angst vor der Hölle, schuf aber auch die Hoffnung auf einen unbeschreibbar hohen Himmel. Herrscht bei uns inzwischen die Meinung vor, dass man nach dem Tod nicht nur nichts mehr zu erwarten hat, sondern dass man überhaupt nicht mehr ist?
Unklar über unsere wahre Natur. Sonst gäbe es keine Mythen über die Auseinandersetzung zwischen Göttern und Menschen, wem welche Kompetenzen und Eigenschaften zukommen sollen, und auch keinen Mythos davon, dass die Menschen früher einmal herrliche Fähigkeiten besaßen (Unsterblichkeit, Heilkunst, Weissagung, Wissen um die Zukunft ...), die sie dann verspielten, oder einen Mythos vom Sündenfall.
Was für Wege zurück gibt es noch, wenn einmal die Nabelschnur zerschnitten ist?
Eine Reihe von Augenblicken währt unser Leben, von denen sich keiner exakt beschreiben lässt. Nichts ist so phantastisch, dass es nicht ein Stück weit ein Bild desselben sein könnte, zumal, wenn uns der Augenblick von besonderer Bedeutung zu sein scheint; und nichts ist so konkret, dass es ihn als Dieses-da und als Hier-und-jetzt beschriebe.
Stolz sind wir auf unsere Wissenschaften und Fähigkeiten. Und doch ähneln wir zugleich dem Volk der Troer, dem ein Laokoon das schreckliche Ereignis voraussagt und dem man kein Gehör schenkt?
Kann man dem Leben eine befriedigende Deutung geben, wenn man von der absoluten Bedeutungslosigkeit des Menschen nach dem Tod überzeugt ist? (Immerhin beklagt sich schon Shakespeare im Hamlet darüber, dass man ein halbes Jahr nach seinem Tod total vergessen sei.)
Haben wir im Vorgriff auf die Welt des Seienden zulange und zuviel ausgedeutet, dass wir es nun mit der Angst bekommen haben, als maßten wir uns etwas an, noch länger auszudeuten? Wie aber, wenn die Dinge ohne Ausdeuten für uns bedeutungslos werden?
Wäre es eine entsetzliche Wahrheit, wenn nach dem Leben der Tod käme und nach dem Tod nichts weiter? Freilich hat uns das Christentum ein großes Geheimnis gelehrt, und es ist wohl undankbar für einen Gläubigen, es allein schon durch obige Frage zu entweihen. Was aber wäre ansonsten an dieser Frage beleidigend?
Worauf haben wir uns eingelassen? So fragen wir uns bisweilen, als hätten wir uns vorab und freiwillig darauf eingelassen, jetzt noch zu sein, alsbald aber schon nicht mehr.
Wenn wir nichts mehr haben, haben wir doch noch die Erinnerung. Aber auch das Umgekehrte ist der Fall: dass wir mit Schrecken inne werden, wiewohl wir noch haben, dass wir bald schon nicht mehr haben werden. Gefühle der Dankbarkeit, der Liebe und des Glücks nötigen uns zur Sorge. (vgl. Hektors Abschied von Andromache in der Ilias)
Der Tod greift über ins Leben, wenn das Leben nicht hinübergreift in den Tod.
Vor dem Tod ausgeglichen und zufrieden sein, und auch nach dem Tod nichts weiter begehren als, wenn überhaupt etwas, so ausgeglichen und zufrieden zu sein: was ist dann der Tod?
Daran möchte ich festhalten, dass es eine Versuchung ist, als ob das Leben dazu da sei, die Toten zu beneiden.
Ob sich das Leben lohnt ist eine gefährliche Frage. Man sollte sie sich nur stellen, wenn man sich stark genug fühlt, sie unbedingt zu bejahen. Doch dann taucht die Frage auch gar nicht auf.
Nicht alle sind wohl, sich dem Dämon bzw. Geist einer Frage auszuliefern, wie etwa Ödipus (Wer ist der Mensch? Wer sind meine Eltern?), Sokrates (Was ist Tugend und wie kann sie der Mensch erbringen?) oder Jesus Christus (Kommt das Reich Gottes? Und was können wir dazu tun?) ... Mögen auch Fragen bestrebt sein, uns umzutreiben, so sollten wir in der Regel versuchen, mit uns ins Klare zu kommen und uns nicht gleich von ihnen unterjochen und dämonisieren zu lassen. Ehe wir uns auf eine Frage einlassen und uns ihr ausliefern, sollten wir eine solche Haltung einnehmen, dass uns etwas Leichtes und Spielerisch-Souveränes umgibt.
Die moderne Bildungstheorie kann es nicht schaffen, den Menschen als geschichtliches Wesen aus einer "alles erfassenden Kritik der vergangenen Geschichte" (G. Buck, Rückwege aus der Entfremdung, Paderborn, 1984, S.19) zu verstehen und ihm gerecht zu werden, wenn sie uns nicht auch überzeugend sagt, woher sie die Maßstäbe ihrer Kritik nimmt.
Arme scheinen mit dem Gang der Geschichte leicht einverstanden. Selbst die grausamsten Fehler der Tyrannen und Diktatoren finden noch unter den von der Notdurft des Lebens erzogenen Armen Beifall.
Mächtige machten die Armen dankbar, nicht indem sie ihnen etwas gaben, sondern indem sie ihnen noch etwas nahmen. Sie hatten ihnen ja immerhin das Leben gelassen.
Gab es jemals Sachwalter der Armut? Vielleicht in Einzelfällen als Gnadenakt, der dem betreffenden Armen eine ungeheuerliche Dankbarkeit auferlegte. Doch die Armut verfügt über viele tauend Gesichter. Da ist wenig geholfen, wenn einem Armen geholfen ist. Es müsste eine Gesetzgebung geben, die sich der Armen annimmt. Das aber kann wiederum kaum sein, und zwar aus zweifachem Grund: 1). Weil die Armen kein Geld haben und keinen Besitz, und alle gesellschaftlichen Projekte und Innovationen Geld benötigen. Und 2.). Weil alle Arbeit, auch die Arbeit der Rechtsanwälte und der Gerichte bezahlt, und zwar gut bezahlt, sein will.
Man setzt in der Bildungstheorie auf die Geschichte, nicht weil sich dieser Weg in der Geschichte schon vielfach bewährt hätte, sondern ganz im Gegenteil, weil er sich in der Geschichte dringend bewähren sollte. Es ist ein verzweifelter Weg.
Solange Bildungstheoretiker in ihren heimatlichen Akademien sprechen sind sie voll harmloser Eloquenz, ein Schmuck bestenfalls für Brotgeber und Politiker, wenn sie aber das Ohr der Öffentlichkeit suchen, zumeist unbrauchbar und unfruchtbar.
Müssten wir, um uns als Menschen zu verstehen, wissen, wo und inwieweit wir uns von unseren Vorfahren und Ahnen oder gar vom Tier unterscheiden, wir würden uns wohl noch weniger verstehen.
Wann drängt es uns zu sagen: "Hier bin ich!" und wo sind wir dann?
Was sehen wir, wenn wir unsere Blicke aussenden? Und inwiefern gelangen wir dann zu dem und sind wir bei dem, was wir sehen? Wie oft glauben wir, klar zu erkennen und doch gehen uns erst im Nachhinein die Augen auf? Indem wir das uns Erscheinende als die von uns erachtete Wirklichkeit nach dem Maß der von uns gemachten Welterfahrung und unseres Wollens rekonstruieren, sehen wir nicht, was ist, sondern was uns zu sein scheint, und so sind wir bei unserem Schauen keineswegs jederzeit dem zu Erschauenden gewachsen. Wir schauen zwar aus, sehen aber nur, was mit unseren vorgängigen Vorstellungen übereinstimmt.
Betrachte den König Ödipus oder auch den König Lear, die der Wucht des Sehens nicht stand zu halten vermochten: "Ich strauchelte, als ich sah." (König Lear (IV.1)
Hat uns die Erkenntnis um die Vernunft gebracht, weil wir zwar zu trennen und zu analysieren vermögen, nicht aber das Analysierte in die Einheit zurückzuführen oder gar in einer höheren Einheit aufzuheben?
Wer ist das, den du siehst, wenn du dich zu sehen glaubst?
Inwiefern wäre Glaube nötig? Als Kompensation und Nein zu allem Lebensfeindlichen, als Absage an Lüge und Gemeinheit und Gewalt und Krieg, überhaupt an die Macht des Dunklen in uns sowie an all die Risse in der Welt? Als Wegweiser, als Hoffnung und Verheißung, als Perspektive der Selbstverwirklichung? Reflektierter Glaube hat etwas Trutziges und Gewalttätiges an sich, wenn er als Unglaube an dem erscheint, was ist, um das zu ermöglichen, was noch nicht ist, aber werden kann. Er ist eine Art "Dennoch!" und "Trotzdem", gegen alle skeptisch machende Erfahrung, aber er ist auch etwas, was anstrengt und müde macht, wenn die Hoffnung sich nicht bewahrheitet.
Wenn man müde ist und glücklos abgearbeitet oder auch nur sich müde fühlt, können einem schon Kleinigkeiten immens zusetzen. Als habe sich alles gegen einen verschworen oder als lebten die anderen einem zu Leid. Man muss gut aufpassen, wenn man sich müde fühlt.
Der menschliche Geist glaubt doch gern alles, was immer ihm nur die Möglichkeit einer Existenzgründung vorgaukelt, jedenfalls in der Jugend.
Zufrieden mit dem Bild, das wir uns von uns gemacht haben: oft ist das gut so.
Ehe wir wissen, dass wir denken, beginnt es in uns zu denken.
Die Geschichte des Menschen als eine Geschichte des Antwort-Gebens. Bereits das Schreien und das Zulächeln des Säuglings lässt sich als Beginn eines Dialogs bzw. als Antwort deuten.
Das Wort, das wir sprechen, erschafft die Welt nicht deshalb, weil die Welt noch nicht dagewesen wäre, sondern weil sie für uns erst durch das Wort als bedeutende offenbar wird.
Wie anders wäre der Mensch, die Geschichte der Menschen und endlich auch die vom Menschen bewohnte und gestaltete Erde, wenn er in der Lage wäre, seine innersten Gedanken und Entschlüsse geheim zu halten! Niemals hätte sich ihm ein Gewissen, nie ein Unrechtsbewusstsein, nie eine Moral, aber vermutlich auch nie eine echte Sprache entwickelt.
Das Begehren des Menschen, wenn schon nicht als Individuum, so doch im Gedächtnis und Lebensvollzug der nachfolgenden Generationen mitanwesend zu bleiben.
Wenn wir schweigen, verschlingt uns die Sphinx, und wenn wir das Rätsel lösen, machen wir uns schuldig am Blut der Sphinx.
Aus der Sicht des Ödipus wie überhaupt der griechischen Tragödie ist es Laios, der alte Tyrann, dessen Wagenführer dem Jüngling keinen Platz auf der Straße lässt. Doch ließen sich die Dinge auch aus der Sicht des Laios darstellen, wonach der junge Mann die ganze Straße für sich beanspruchen zu müssen glaubte. Und treffen wir nicht auch in unserer Zeit immer wieder auf Jungen, die glauben, wenn sie mit dem Rad daherkommen, ihnen gehörte die gesamte Straße und die wütend sind, wenn man sich nicht auf die Seite verdrückt? Was aber macht ein alter Mann, was ein Lehrer mit solch einem Grünschnabel? Kann er ihn etwa lieben? Muss er ihn ihm nicht all das gönnen, womit ihn das spätere Leben für gewöhnlich deshalb bestraft, auch wenn er weiß, dass schlechte Erziehung die Schuld trägt? Vermutlich freilich ist nicht nur die schlechte Erziehung, sondern auch unsere menschliche Natur, insbesondere die zur Herrschaft sich ausbildende, an solcher Rücksichtslosigkeit schuld.
Es ist ein uraltes Bild für den Generationenkonflikt, wenn wir Ödipus und Laios am Kreuzweg sich begegnen sehen. Der junge Ödipus verweigert der Vatergeneration den Vortritt. Hätte er ihn nicht verweigert, er wäre dieses Problems nie ansichtig geworden.
Wenn wir von Natur aus Totschläger sind (und Entsprechendes gilt für alle anderen unseligen Attribute), so beschäftigen uns Bilder des Totschlags. Wenn wir Totschläger sind, wir aber keine sein wollen, so werden wir durch Bilder des Totschlags gequält (z.B. im Traum). Vielleicht, dass sich Freuds These vom Vatermord durch die Brüder hier einordnen lässt.
Wenn Träume vornehmlich kognitiv-emotionale Probleme zum Ausdruck bringen, und wenn Emotionen im Beisein der Eltern erworben und entwickelt werden, dann erzählen uns unsere Träume immer auch etwas vom Leben unserer Eltern.
Wie es heißt, soll Ödipus damals, als er mach Theben kam, um sich der Sphinx zu stellen, sein Leben als wertlos erachtet haben. Schließlich hatte ihm das Orakel in Delphi verkündet, er werde seinen Vater täten und seine Mutter heiraten. Ohne es zu wissen, hatte er den ersten Teil der Weissagung bereits erfüllt und stand nun davor, auch den zweiten Teil wahr zu machen. Das Rätsel, das ihm die in den Musen erfahrene Sphinx stellte, war für ihn kein Problem: Das Wesen auf vier Beinen des Morgens war das Kind, das auf zwei Beinen am Mittag der Erwachsene und das auf drei Beinen am Abend der alte Mensch. - Oder gab es da doch einen Irrtum? Alles im Leben des Ödipus hat doch mit Irrtum und Erkenntnis des Irrtums zu tun. Ödipus scheint eine Lösung auf das Rätsel parat zu haben, die für ihn Worthülse bleibt, statt zur existentiellen Erlösung zu werden. Ödipus, der Mann mit dem durchstochenen und geschwollenen Fuß, hatte nicht das Glück der vier Füße, noch später das Glück der zwei Füße als König Ödipus, noch auch den Stab der Rechtschaffenheit als drittes Standbein im Alter. Es glückt ihm nicht, als Kind (Pais, Kabire) in seinen Kindern aufzuerstehen. Vielmehr verflucht er den "Stab" der Kinder (vgl. den Schäbäth im alten Israel. Ps.23 ...).
Ödipus handelt schamlos, ohne es zu wissen
Ödipus, wenn auch unwissend, wird schuldig, sowohl indem er seinen Vater erschlägt, als auch indem er seine Mutter heiratet, was alles nach Ausbruch einer Pest eine schreckliche Enthüllung findet. Ödipus konnte seinen Vater am Dreiweg (ein Ort der Hekate) überhaupt nicht erkennen, da der Vater ihn nie (an)erkannte. In der Vorgeschichte heißt es von Laios, dass er, da er kinderlos war, sich nach Delphi begab, dass er dort aber das Verbot erhielt, einen Sohn zu zeugen. Doch dann widersetzt er sich dem Gebot und zeugt einen Sohn "von Wollust aufgeregt und Trunkenheit". In Ödipus dann tritt uns der Mensch gegenüber, der zu Taten fähig ist, die er verabscheut - um dieses Orakels willen zieht er ja vom Hof seines vermeintlichen Vaters Polybos fort -, bis er feststellen muss, dass er sie selber verübt hat.
Wie weise mitunter doch die Dummheit ist, indem sie die Augen schließt und den lieben Gott walten lässt, Der Hunger nach Erkenntnis aber verzehrt oft die Weisheit, bis sie sich, wie Hamlet, im Geierschlund der Verzweiflung wiederfindet.
Hat sich unsere Gesellschaft frei gemacht vom Gott und seinem Orakel? Sie will ja keine Söhne oder Töchter mehr wie Laios, sie will sich nur in der Sexualität genießen.
Was ist normales Verhalten? Was das Normale, was die Norm? Ein wenig Ausnahmezustand in einer Gesellschaft genügt, um scheinbar triviales Wissen ad absurdum zu führen. Wer einmal Blut geleckt hat, kennt sich nicht mehr aus. Doch auch wer kein Blut geleckt hat, dürfte sich schwer tun, wenn er z.B. mit Tolstoi, dem Verfasser der Kreutzersonate, über Sexualität diskutiert.
Die phantastischen Wanderungen der Wollust beim sexuellen Verkehr: wer oder was bewirkt sie? Warum haben Menschen seit alters Sexualität als Ursache von Schuld Sünde und Verbrechen gemieden oder gar den Tod als gerechte Strafe verstanden? Wie verändert der Gebrauch der Geschlechtlichkeit unser Bewusstsein? (Vgl. die Erzählung der Genesis!)
Ödipus ergeht es wie einem Kleinkind, das etwas falsch gemacht hat (z.B. hat es zum ersten Mal unwissend und unachtsam etwas Zerbrechliches und ihm unbekannt Kostbares fallen lassen) und das nun bei der Erforschung der Tat auf sich selber gestoßen wird. Die Schuld eilt ihm voraus, ehe er merkt, dass er der Täter ist. Sophokles lässt es den Ödipus (im Ödipus auf Kolonos V.266f.) so aussprechen: "Meine Taten hab ich erlitten eher als vollbracht". Gleichwohl wird so die eigentliche Lösung des Rätsels der Sphinx in Gang gebracht: War das erste Lösungswort des Ödipus aus Unwissenheit gesprochen - er traf die richtige Lösung, ohne sie zu verstehen - , so trifft auf Kolonos die erlösende Lösung auf Ödipus nieder und Ödipus bekennt: "Der Jüngling fiel, den Greis erheben sie." (Sophokles, Ödipus auf Kolonos, V.395)
Die Geschichte vom verlorenen Sohn bietet keinen Anagnorismos. Der verlorene Sohn sucht nicht wie Ödipus nach seinem Vater. Und schon gar nicht ist der verlorene Sohn in Gefahr, den Vater versehentlich oder feindselig zu töten. Hier ist es der (himmlische) Vater, der den Sohn kennt und auf ihn wartet und ihn (nach der Deszendenz des Weggangs und der Aszendenz der Heimkehr) wieder in seine Arme schließt.
Wiedererkennen (Anagnorismos) geschieht im Stamm und in den Göttern der Heimat. Der Gott, der Iphigenie (bei Euripides in der Iphigenie bei den Taurern) den Traum schickt, auch wenn sie ihn anfangs missdeutet, bereitet den Anagnorismos vor.) Dagegen ist im Ödipusdrama kein Wiedererkennen mit dem Vater oder mit der Mutter möglich: erstens, da sie ihn als Säugling zum Tod aussetzten; zweitens, da sie ihn zeugten wider den Willen der Gottheit.
Dem Anagnorismos geht eine ambivalente Spannung vorauf. Unbewusst Feindseliges muss beiseite geschafft und überwunden werden. Dabei gerät das zu entdeckende Objekt der Liebe in Gefahr, verwechselt zu werden. Die Liebe zu den Eltern spaltet sich bei Ödipus auf in die Feindschaft zum Rivalen-Vater und in die eheliche Liebe zur Mutter.
Sollen wir nicht und nichts lieben, weil selbst, wenn wir Gegenliebe erfahren, auch diese vom Verfall bedroht ist?
Ein Gott schafft Unglück und Glück im Menschenleben, dem Laios und seinen Nachkommen Unglück, weil er sich seinem Gebot widersetzt, dem Orest (bei Euripides) Glück, weil er, wenn auch zaudernd und zweifelnd dem Gebot folgt und nach der Wiederherstellung der Ehre des Vaters sich zu den Taurern auf den Weg macht. In der Begegnung des Laios und seines Sohnes Ödipus auf der Wegkreuzung nach Daulis scheitert infolgedessen die Wiedererkennung (Anagnorismos) aufs grässlichste und wird weiterhin auch der Mutter gegenüber scheitern; bei Orest und Iphigenie wird sie zum glücklichen Beginn des Heils.
Anagnorismos als Möglichkeit, sich bei Begegnung zu erkennen, auch als Möglichkeit der Erfahrung von Göttlichem. Der moderne Mensch scheut den Anagnorismos. Er weiß nicht, wer er ist und möchte auch für den anderen fremd bleiben.
Gilgamesch wehrt sich gegen das Gesetz von Werden und Vergehen. Was, so fragt er sich, ist der Sinn des Lebens, wenn doch einmal alles vorbei ist? Doch sein Aufschreien und seine Proteste nützen ihm nichts, es sei denn, dass er so an seiner Biografie arbeitet und, ohne es freilich als letzten Zweck zu beabsichtigen, ruhmvolle Taten verrichtet. Was von ihm als Mittel zum Zweck des Gewinns der Unsterblichkeit gedacht war, die heldenhafte, fast übermenschliche Tat, wird zum Bestandteil einer Heldenvita, dem die Aufnahme in den Himmel versagt bleibt. Gilgamesch erfährt, dass die Überirdischen (Schamasch, Enlil) nichts für ihn tun. Die Schicksalstafeln sind geschrieben, der Mensch ist dem Tode ausgeliefert, er bleibt im Tod allein. Weder mit den Überirdischen, noch auch mit den Unterirdischen kann er gemeinsame Sache machen.
Ambivalenz im altorientalischen und abendländischen Denken betreffs der Unsterblichkeit: Wenn uns die Unsterblichen die Unsterblichkeit verweigern, so wollen wir die Unsterblichkeit auch nicht. Wir bilden uns dann lieber ein, als habe man uns gefragt, und wir bedanken uns höflich. Der Riege der Himmelsstürmer, beginnen mit Gilgamesch bis zu Jesus Christus, steht die Riege der Neinsager gegenüber (vgl. Etanas Himmelfahrt oder Odysseus bei Kalypso).
Wer zählt all die schrecklichen Taten der Großen und all die Vergehen der Kleinen, ganz zu schweigen von Frust und Unmut, die davon herrühren, dass dem Menschen immer deutlicher wird, wie seine Lebenszeit vorbeistreicht!
Wer Sitte und Konvention und Regeln und Gesetze aufs Genaueste einhält, erwirbt sich eine Sicherheit, doch begegnet er niemals der Wahrheit. Der Wahrheitsforscher ist, wie das Beispiel des Ödipus lehrt, seiner Natur nach ein Übertreter.
Wahrheit in uns und um uns und über uns lässt sich nur feststellen (objektivieren) nach dem Maß einer sich aus aller Einschränkung immer mehr befreienden Optik.
Es scheint eine Art Unschärferelation zu herrschen: Je mehr Lüge wir gebrauchen, umso unanfechtbarer und besser gelingt uns die Objektivation. Je weniger Lüge, um so größer wird die Menge an Widersprüche und Einwände, ein Fluss von Daten, dem wir um so ohnmächtiger ausgeliefert sind und der uns zu ertränken droht, je weniger wir ihn überschauen.
Sitte und Konvention und Regeln und Gesetze beugen vor, dass die uralten Konflikte, wenn sie sich melden, nicht überhand nehmen.
Ein Lehrer, der sich dem Unmut überlässt, wird es kaum mehr mit dem Schüler gut meinen können, wie sehr er es auch einmal gewollt hat. Sind erst einmal die Affekte wach, entpuppt sich der andere als geschworener Feind. Ähnlich verhält es sich mit Eltern und Kindern, ähnlich kann das Verhältnis von Ehepartnern über das Maß strapaziert werden.
Wer kann sagen? "Ich weiß um den Gott, der sich meiner annimmt und mich errettet." Und woher kommt solche Gewissheit?
Was im Menschen nicht glaubt, verspottet den Gott, wenn er ihn anbetet; was aber glaubt, beleidigt ihn, wenn er nicht betet.
Hätten die Großeltern und die Eltern sich dabei abarbeiten sollen, uns zu sagen, wer sie waren, damit wir sie jetzt besser im Gedächtnis halten könnten? Oder wären sie nur Gefahr gelaufen, Missverstehen auszulösen, sowohl bei sich selber als auch bei uns? Ob sie nun aber auch schon das Haus verlassen haben, so sind sie uns doch keineswegs ganz fern. Des Abends mitunter gegen Einbruch der Dämmerung versammeln sie sich draußen im Garten und schauen, was sich bei uns drinnen im Haus tut.
Warum grämen wir uns, wenn uns niemand zuhört oder wenn wir uns missverstanden fühlen? Würden wir uns recht verstehen, wir würden uns nicht grämen. Weil wir aber die anderen brauchen, die uns zuhören, so grämen wir uns nicht eigentlich, dass wir missverstanden werden, sondern dass wir keine Gelegenheit bekommen, uns besser verstehen zu lernen.
Warum scheint es leichter zu sein, die Toten zu lieben als die Lebenden? Weil sie nichts gegen unsere Liebe einwenden können? Ist das Leben so kompliziert?
Sind Leiden und Tränen der Liebe die Form, wo sich das Glück der Liebe unaufhebbar erfüllt? In den Volksliedern jedenfalls lebt die Mutterliebe, die um ihren im Krieg gefallenen Sohn trauert, lebt die Liebe des Mädchens um ihren in die Ferne ziehenden Freund, lebt sie in der Trauer um den verstorbenen Gatten. Liebe wächst über sich hinaus, wenn sie, wie bei Homer beim Abschied des Hektor von Andromache, den Tod des Geliebten antizipiert.
Liebe spürt noch beim flüchtigsten Abschied das Bedrohliche, als wäre es ein Abschied auf immer. Vielleicht, dass es nicht einmal möglich ist, den Fuß über eine Türschwelle zu setzen ... Und umgekehrt ist dieses Gefühl ein Gradmesser der Liebe.
Das Glück ist ja nie so vollkommen zu spüren, wie wenn wir es auf uns zueilen sehen. Weit über alle Vernunft hinaus, unverdient.
Noch im Traum, in der Trauer, das Stückchen Glück, das der Abfahrt des Geliebten beiwohnt ...
Brauchen wir, um das Leben als Mensch recht wahrzunehmen und zu gestalten, das Bewusstsein unserer Vorübergänglichkeit?
Brauchen wir die Stiftung einer Gedächtnisfeier, weil wir unter der Unfähigkeit leiden, aus eigener Kraft den uns Liebgewordenen (Eltern, Gatten, Freunde) ein ehrendes Gedächtnis zu bewahren? Und glauben wir, von diesem Leben nur dann ruhig Abschied nehmen zu können, wenn andere uns in solch einem Gedächtnis umschließen?
Die Bedeutung der Familie als Ort erster gesellschaftlicher Erfahrung. Das Kind beginnt seine Entwicklung als unmittelbarer Teil des Selbst der Familie. Die Tragödie der Griechen, vornehmlich auch die des Euripides bezieht eine ihrer Hauptkräfte aus dem Umstand, dass sie die Vorgänge in diesem Raum studiert (Ion, Iphigenie, die Kinder der Medea als Kinder einer geschiedenen Ehe, Ödipus, Alkestis ...). Staat und Familie lassen sich in ihr fast nicht trennen. Keine Feindschaft ist so schrecklich wie in der Familie (z.B. Jason und Medea, Eteokles und Polyneikes, Kreon und Haimon, Agamemnon und Klytaimnestra ...), und keine Beziehung so tiefgreifend und erhebend wie in ihr (z.B. Iphigenie und Orest, Antigone und Ödipus, Polyxena und Hekabe ...).
Es gibt eine Reihenfolge: zuerst die Großeltern, dann die Eltern und dann die eigene Generation. Schrecklich, wenn auch nur ein Kind uns in den Tod vorausgeht.
Wir sind alle irrende Planeten, insofern wir nicht sicher sind, wie andere den Raum mit uns teilen. Wo kein gemeinsames Erleben ist, ist auch kein heimatlicher Raum.
Dem aus der Vaterstadt verbannten Polyneikes (aus den Phönikerinnen des Euripides) fehlen in der Ferne nicht die Vergnügungsstätten und Boulevards, sondern der Anblick der Schulen und Altäre, der Anblick von Kindheit und Jugend, und die Aussicht auf ein von der Stadt gewährtes Grab.
In dem von der Öffentlichkeit bestimmten Leben im Athen des Euripides war offene und freie Kommunikation ein Hauptbestandteil der Heimat. Wo freie Rede möglich ist, dort ist Heimat. Sie muss gelehrt und gelernt, geübt und bewahrt werden.
Man hört nicht auf anzuklopfen und Türen einzurennen, wenn man wirklich wissen will. Erst wenn man nichts mehr zu wissen begehrt, beginnt die Sehnsucht nach der leeren Kammer.
Für Ödipus gibt es nur die Möglichkeit, auf die Eltern zuzugehen, um dann mit ihnen zu leiden, oder aber ihnen aus dem Weg zu gehen wie Fremden.
Sobald Ödipus die Frage stellt nach seinem Zuhause, ist er verloren. Dadurch dass er dem Problem der Sohnschaft nachgeht, dadurch dass er ein Interesse zeigt nach Aufklärung und Sicherheit, entscheidet er sich für den Weg in die Irre. Ödipus ist nur frei, solange er seine Freiheit nicht gebraucht. Sobald er sie zu gebrauchen sucht, bemächtigen sich seiner die über Laios erzürnten Gottheiten.
Wir suchen ein sicheres Wissen, ohne zu wissen, welches der Preis dafür ist, d.h. wie sehr uns ein solches Wissen nützt oder belastet.
Die Hoffnung des Ödipus scheitert und er verfällt der Verzweiflung. Doch muss man daraus schließen, dass sich Hoffen niemals lohnt? Wenn mit dem Aufgeben alles Hoffens auch alle Verzweiflung vernichtet wäre, so sollten wir wohl alles Hoffen verlernen. Oft aber hält uns, wenn uns keine Hoffnung mehr aufscheint, nur um so stärker die Verzweiflung.
Als lebten wir umgeben von unsichtbaren, mit furchtbarer Erkenntnis aufgeladenen Wänden. Den meisten ist bestimmt, nichts von ihnen zu wissen und fern von ihnen zu leben. Müssen wir wie Ödipus erst unsere Freiheit verspielen, um unsere Götter zu erkennen?
Das Rätsel Mensch ist mit dem Rätsel der Götter verbunden. Entweder darf er hoffen auf einen ihm von außen mitgegebenen Sinn, oder er ist ein Problemfall mit einer Existenz, die ausschließlich für sich zu sorgen hat. Die Frage, von deren Beantwortung der Sinn des Menschenlebens abhängt, lautet demnach, ob der Himmel nichts ist als ein geduldiges Nichts, das zu allem lächelt, das sich ebenso bestechen lässt wie es schweigend erduldet, wenn man ihm flucht? Oder ob in ihm etwas waltet, was uns über unser Verdienst über uns hinaus zu heben in der Lage ist. Wenn aber letzteres der Fall ist, warum haben wir so wenig Anzeichen dafür? Was für ein Gefallen könnte ein Himmel daran haben, sich zu verstecken?
Wir leben nicht mehr in einer Zeit, wo man durch die stoffliche Natur hindurch konkrete Botschaften des Himmels antreffen zu hoffen darf. Zwar fragen wir nach einem Unglück stets noch, warum mußte ausgerechnet mir das zustoßen, doch lässt man solche Fragen eher zu therapeutischen Zwecken stehen als dass man sie als solche ernst nimmt. Und doch kann sich das Christentum kaum damit abfinden, dass der Himmel schweigt. Immerhin glaubt es ja, dass er vor 2000 Jahren einmal gesprochen hat.
Genügt es, einem Kind auf die Frage, wo der Mensch zuhause sein kann, zu antworten: "Du kannst Fragen stellen, soviel du willst. Sind sie logisch beantwortbar, so finden wir eine Antwort. Sind sie aber nicht beantwortbar, so sind sie unsinnig."
Man muss über ein Rätsel behutsam reden. Ein zerstörtes Rätsel ist wie ein verwundetes Bewußtsein.
Warum lastet fast allen Mächtigen des griechischen Mythos, zumal den irdischen Göttersöhnen und Göttertöchtern, ein Fluch an? Vielleicht, weil Göttermacht im Menschen als Hybris, als Übertreten eines göttlichen Gebotes verstanden wurde?
Was für Abgründe des Denkens und Handelns! Der Mensch, der nachdachte und sich dann gezwungen sah, das beste den Strahlengöttern zu opfern! Um sich und seine Nachkommenschaft zu erhalten, stürzte er sich ins Paradox und opferte den einzigen Sohn oder die liebe Tochter (Abraham, Jephta, Agamemnon auf Aulis, Opferkult bei den Phönikern, Azteken ...).
Warum war den Griechen ein ehrenvolles Begräbnis so wichtig, wenn sie doch davon überzeugt waren, dass ihnen nun nur ein elendes Schattendasein bevorstand? Den Toten konnte es doch kaum darüber hinwegtrösten. Wurden die Begräbnisse weniger erfunden, um die Toten, als um die Hinterbliebenen, die Familie des Toten und dessen Stammbaum zu ehren?
Den Alten scheint mitunter genügt zu haben, sich in einer Kette von Generationen zu wissen, zumal wenn ihnen vom Gott eine besondere Generationenbestandzusage zuteil ward.
Wenn im Leben der Kinder etwas schief geht, sind wir gewohnt, die Eltern mit zur Rechenschaft zu ziehen oder sie als Alleinschuldige zu betrachten. Sie hätten die Dinge vorhersehen oder anders in Gang bringen müssen. Wenn aber im Leben der Eltern etwas schief geht, denkt keiner an die Kinder, die ihnen hätten helfen können.
Sind wir aus dem Kreis der Eltern herausgetreten und haben sie in ihrer Not allein gelassen? Und glaubten wir, allenfalls ein böses Wort vernommen zu haben, das uns geholfen hat, den Weggang zu beschleunigen?
Wenn alle Menschen unsere leiblichen Kinder wären: würden wir dann anders leben?
Im Wunder der Frau sind für einen Mann so ziemlich alle Welträtsel, alle Wünsche und alle Leiden enthalten. (Ist es bei der Frau ebenso?)
Was wünschen sich Eltern für ihre Kinder und was wünschen sie sich von ihren Kindern?
Die Stelle "Denn zeugst du einen Sohn, so mordet er dich einst" aus dem Beginn der Phönikerinnen des Euripides scheint nahezulegen, dass der delphische Gott den Laios vor der Zeugung zurückzuhalten sucht. Aber wer sagt denn, dass Laios imstande war, dem nachzukommen und dass der Gott dies meinte? In der Tat wird nach Euripides Laios dann, von Wollust und Trunkenheit, mithin von dämonischen Mächten erregt, zum Vater, und Jokaste wird zur Mutter "wider Recht". Wenn dann auch die spätere eheliche Verbindung des Ödipus mit seiner Mutter wider göttliches Recht geschieht, so ist sie doch eine Folge der bereits wider göttliches Recht geschehenen Zeugung. Die Botschaft des Apollon könnte demnach ganz allgemein lauten, dass das Ich dessen eingedenk bleiben sollte, dass sein Schicksal sich als Bestandteil im Schicksal der Generationenkette erweist.
Je mehr wir in die Kette der Generationen bzw. der Gesellschaft eingebettet sind, um so mehr können wir Individuum sein.
An anderer Stelle belehrt der Gott Dionysos den Pentheus: "Du weißt nicht, Menschlein, was du tust noch wer du bist." (Euripides, Die Bakchen, V. 506)
Insofern uns das griechische Theater zeigt, wer wir sein können, wirkt es erzieherisch; insofern es sich als Theater des Dionysos zeigt, wirkt es als Gegenmoment zur Individualisierung. Der Jünger des Dionysos weiß, dass die eigentliche Natur des Lebendigen eine einzige ist und dass es des Menschen Aufgabe ist, diese Einheit in sich wachzuhalten. Das von Plautus gezeichnete und dann von Shakespeare übernommene Bild vom Wassertropfen, der sich im Meer verliert, gehört in den Umkreis dieses Weltverstehens. Es erscheint wie ein Bild für das Wieder-Einswerden im alles umfangenden Mutterschoß der Thetys.
Was hat uns in der Geschichte des Abendlandes so fasziniert, dass uns die Individualität so bedeutsam und erstrebenswert vorkam? (Es war doch wohl nicht nur die Hoffnung, sich aus den Ketten absolutistischer und olympischer Herrscher zu befreien!?)
Wenn in den menschlichen Handlungen, sofern sie eine unentwirrbare Mischung aus Unrecht und Recht darstellen, die zerstörerische Kraft des Unrechts sich durchsetzte, dann wäre jedes Beginnen umsonst und man müsste auf alles Handeln und Weltverändern durch Handeln verzichten. Nun zeigen zwar viele Beispiele, dass durch eine jede Handlung manches zerbrochen werden kann, andererseits machen sie aber auch deutlich, dass für den deutenden Menschengeist in allem Geschehen immer auch eine Einsicht und eine Lehre verborgen liegt. Dieses didaktische Programm konkretisiert und demonstriert Euripides oft auch mit dem Auftritt eines weisungerteilenden Gottes am Schluß vieler Stücke. Nicht die Ausweglosigkeit der Situation ist das entscheidende Motiv für den Dichter, den Gott ins Geschehen eingreifen zu lassen, sondern die allgemeine Lehre, dass sich der Mensch für das Eingreifen einer höheren Hand offenhalten sollte. Menschliches Handeln ist zugleich der Ort göttlichen Handelns. Im menschlichen Handeln geschieht prinzipiell Gott ( vgl. den prädikativen Gebrauch von Theos in der Helena des Euripides V.560). Und so formuliert Euripides zum Schluß mehrerer von seinen Stücken das dem Dionysoskult entnommene Credo: "Vielfache Gestalt hat die göttliche Macht:/ Gar vieles erfüllt unerwartet ein Gott./ Doch was wir gewähnt, vollendet sich nicht./ Für Unglaubliches findet der Gott den Weg."
Wir haben heute keinen Begriff mehr für die Ausrichtung auf einen Zustand dionysisch gelösten Freiseins als ein mögliches positives Lernziel, allenfalls den Begriff des Selbst, der zur Entwicklung zum Individuum, zum Einmalig-werden des einzelnen (Individuation) als Gegenrichtung das Bewußtwerden eines kollektiv Allgemeinen mit hinzudenkt.
Die vielen Namen, die dem Dionysos zukommen (Bromios, Lyaios, Pais ...), verweisen auf einen besonderen Gott der Verwandlung. Was für Namen kämen uns zu, wenn sie uns kennzeichneten als die, die wir sein können in kontrollierbarer überzeugender Verwandlungskraft?
Wie oft fragen wir uns nicht voller Unsicherheit, ob die anderen auch so erleben, ob sie auch so leiden, ob ihnen auch so mitgespielt wird ... Offenbar liegt uns keineswegs nahe, uns in unserem Welterfahren als schlichtes Exemplar der Gattung zu sehen. Entweder wir unterstreichen übermäßig unsere Eigenheit und Besonderheit, oder aber wir spüren das Unermeßliche in unserer Ausnahmeerscheinung im Dunkeltrüben.
Aus der Tatsache, dass wir von Natur aus zur aktiven Auseinandersetzung mit anderen und mit der Welt bestimmt sind, folgt keineswegs, dass erfolgreiches Handeln oder Ruhm uns vor Leiden und Mißverständnissen schützen. Erfolg kann auch leichtfertig und übermütig machen; leicht weckt er übergroße Erwartungen und öffnet so die Türe für entsprechende Enttäuschungen.
Wer einem Tier ein Messer in die Seite stoßen kann, kann es auch einem Menschen. Oder kann man sicher sein, dass man ein Tier, nur ein Tier trifft, und nicht einen Menschen? Pythagoras rechnete mit Metempsychosen. Dionysos, der Gott der Verwandlung, verdrehte Agaue und Pentheus in den Bakchen die Optik, dass die Mutter den Sohn als Tier wahrnahm und tötete. Vielleicht erlangt die Thematik schon bald eine neue noch schrecklichere Brisanz, wenn wir genetisch den Affenmenschen und den Schweinemenschen geklont haben.
Der Darwinismus hat uns unabweisbar gezeigt, dass wir dem Tierreich entstammen und wer zum Umkreis unserer näheren Verwandten gehört, Gleichwohl liegt uns noch immer fern, uns selber als Tier zu erfassen. Wir stehen zu weit abseits von uns, wenn wir uns daran machen, das Tier in uns zu suchen. Ist der Mensch das Wesen, das nicht mehr Tier ist und nicht mehr Tier sein kann, stets aber mit einem verborgenen Tier in Gesellschaft daherkommt?
"Verlange nicht nach Kindern, die ein Gott versagt!" (Euripides, Phönikerinnen, V.18; wörtlich: Besäe nicht die Mutterfurche der Götterkinder wider Gewalt!") Das öde Haus des Laios kann nicht mit einem Nachfolger gesegnet werden. Es wird also nicht zu einem göttlichen Kind kommen, von dem der Gott dann sagt: "mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt." Statt dass Jokaste den Segen göttlichen Samens zugesprochen bekommt (der Sinn der Jungfrauengeburt), zeugt Laios dann in Wollust und Trunkenheit (V.21). Wollust und sexuelle Begierde - das Wollen des Mannes, wie es später noch der Evangelist Johannes scharf in Antithese stellt zur Geburt aus Gott - führen zur Katastrophe.
Der Freude der Eltern bei der Geburt des Kindes antwortet die Trauer des Kindes beim Tod der Eltern. Freude und Trauer sind simultan da.
Die Geburt des Dionysos scheint mythisch wesenhaft mit dem Tod der Mutter Semele, der Muttergottheit Zemelo, verknüpft. Auch bei Apollon und dessen Mutter Leto mag etwas entsprechendes vorliegen. Jedenfalls wird der Apollonsohn Asklepios zum Heiland, der die dem Tod Verfallenen dem Tod entreißt, bis ihn Zeus deswegen tötet. Ähnlich mag es um Tod und Auferstehung des Christus bestellt sein. Die Trauer über seinen Tod und die Freude über die Auferstehung der in Christus Neugeborenen fallen liturgisch in der Osternacht zusammen.
Warum besitzen wir zwar eine Tragödie des Prometheus, aber keine des Asklepios?
Weil wir in der Gegenwart mehrere Wege sehen, überkommt uns die Illusion der Wahlfreiheit. Doch wir müßten uns eigentlich schon entschieden haben, ehe wir uns an die Wahl machen. Auch wenn wir zurückschauen in die Vergangenheit, scheint alles mit einer gewissen Notwendigkeit zu geschehen. Und doch ist der Glaube gut, als könnten wir etwas aus der Geschichte lernen.
Bedarf es eines Examens, Eltern zu werden? Wer bescheinigt uns, ob wir uns als Eltern erkennen dürfen oder nicht? Und gibt es neben der Verweigerung des Laios, nicht Vater zu werden, auch eine Verweigerung der Elternschaft, die ein Unrecht bedeutet? Oder sind das alles nur noch anachronistische und zeitungemäße Fragen?
Der anstrengende und oft schreckliche Prozeß, der uns als Täter offenbart. Was wir uns zu tun anschicken, ob es uns gelingt oder nicht, darin erwerben wir unsere unverwechselbare Identität.
Mit unseren Gedanken brechen wir ständig aus der Gegenwart aus und stoßen uns an allen Ecken und Wänden. Man möchte sich die Ohren verstopfen, um nicht die gellende Frage zu vernehmen, ob alles - Mensch und Menschenwerk und Geschichte, die Natur und das All - nur eine Schrift ist, die wieder ausradiert wird und erlischt, als wäre sie nie gewesen.
Über wieviel Kräfte und Fähigkeiten verfügen wir nicht! Wir haben die Kraft, Zwergen und Riesen und Göttern und Gespenstern zum Leben zu verhelfen, ja wir können uns sogar selber in solche verwandeln. Schau traurig und laß dir traurige Märchen erzählen: und du wirst traurig. Glaube an Ängste und Konflikte und laß sie dir einreden, und siehe: einerlei, ob welche vorhanden sind, so entstehen sie in dir und produzieren objektivierbare Phänomene.
Wie es für uns die Welt der Märchenfiguren für gewöhnlich nicht gibt, so gibt es aus der Perspektive der Märchen auch unsere Welt nicht. Märchenfiguren, Riesen und Gespenster greifen für gewöhnlich nicht in unser Leben ein. Nur mitunter kommt es zu einer gewissen Begegnung, ähnlich, wie wenn man sein Spiegelbild berührt.
Kindheit und Jugend, die Eltern und die Geschwister: alles Leben, das hinter uns liegt, erscheint uns wie ein Märchen. Deshalb hatte der 5 jährige gar nicht so Unrecht, als er meinte, damit man etwas über einen erzählen könne, müsse er gestorben sein.
"Wer bin ich?", so fragst du dich und siehst dich um, wer da ist, dir darauf eine Antwort zu geben.
Raum und Zeit als Offenbarer dessen, was zueinander paßt: der Himmel zur Erde, der Fisch zum Wasser, der Vogel zur Luft. Doch der Mensch: wozu paßt er und wo ist er zuhaus?
"Die Disteln in der Heimat", so heißt es in einer Sammlung altägyptischer Spruchweisheit, "die Disteln in der Heimat kommen dem Heimkehrer wie Weidengrün vor." Wenn ich ein Maler wäre und hätte ein Bild vom Paradies zu malen, so würde ich solches Weidengrün malen.
Wie willst du erziehen, wenn du nicht weißt, wie du es machen sollst? fragt Sokrates. Platon beeilt sich darauf, die Frage an das Gute anzuschließen, das der Erzieher im Auge haben muss. Sokrates indes war vielleicht mehr daran gelegen, dass wir als Erzieher wie Heimatlose offen bleiben müssen, weil wir nicht Bescheid wissen. Wirb vor deinem Sohn für die Schönheit der Distel seiner Heimat.
Schönheit, die aus der Überzeugungskraft eines als wahr verantworteten Sagens stammt, die Welt als wohlgeordnete Welt auszusagen (vgl. etwa den Spartaner Alkman). Solches Sagen und solche Schönheit entstammen der jeden einzelnen tragenden gesellschaftlichen Kultur.
Könnte solche Schönheit, wie sie aus Sapphos oder Alkmans Liedern vermächtnishaft leuchtet und die Zuhörer damals erfüllt hat, nicht auch aus uns heute noch leuchten? Doch wo sind bei uns Vermächtnis und Glaube? Und wo die Erfahrungen, die uns in Zufriedenheit und Schweigen kleiden? Wo sind die Lieder, die Zutrauen wecken und Leid sänftigen ...
Zeit in Besitz nehmen. Das kann Zweierlei bedeuten. Erstens im Blick auf die Zukunft: etwas tun, was einen in Atem und in Bewegung hält und was dann als Gegenwert dasteht, etwa, wenn ich einen Versuch aufgebaut und erfolgreich durchgeführt habe, wenn ich ein Haus gebaut habe oder auch wenn mir ein Beweis gelungen ist ... Es kann aber auch mit Blick in die Vergangenheit gesagt werden, auch wenn weiter nichts mehr zu sehen ist: Wenn wir z.B. einen Abend schön zusammen verbracht haben und wir am folgenden Morgen uns noch gerne daran zurückerinnern, da schauen wir dann nicht auf ein Stück Zeit zurück, das unwiederbringlich fort ist und vergangen; da durchlebt uns vielmehr der Gedanke, dass etwas ist, was uns geglückt ist und was uns niemand mehr rauben kann.
Das Kind und die Mutter, der Bräutigam und die Braut ... Frühere Zeitalter lobten oder verehrten schweigend die ewig schönen Augenblicke und Urszenen des Lebens. Der Ödipus-mensch aber ist ein von seinen Eltern Aufgegebener. Niemals hat er Gelegenheit, das Hohelied auf die Mutter anzustimmen. Schrecklich ist der Prozeß seiner Selbstfindung, schrecklich und wechselvoll die Schauplätze seines Lebens. Es gehört zur Tragödie des Ödipus, dass er die Mutter das erste Mal erblickt, als er seine Braut erblickt, dass er in der Mutter die Braut erblickt.
Wer bloß seine Eltern kennt, kennt auch diese nicht recht, sagte Rousseau. Es gilt aber vermutlich auch, dass, wer seine Eltern recht kennen gelernt hat, in diesen auch die Menschheit kennen gelernt hat. Man sollte die Eltern nicht erst kennen lernen, wenn sie tot sind.
Stolz auf das, was der Mensch erfunden und geschaffen hat, und zugleich voll Angst, weil er es nicht versteht, mit diesen Erfindungen richtig umzugehen. - Schrecklich düster klingt der Prolog der Euripideischen Medea, furchtbar real die Häufung des Irrealis, zumal wenn man ihn liest als Epilog auf die Menschheit: "Dass Argo durch die düstren Symplegaden nie/ geflogen wäre, steuernd nach dem Kolcherland./ Dass auf den Waldhöhn Pelions die Fichte nie/ gefallen wäre noch der Helden Arme sie/ gerudert hätten ..."
Die Leute von Theben kannten die Lösung des Rätsels der Sphinx nicht; doch sie waren sich sicher, dass es eine Lösung gab. Die Lösung selbst scheint im Bekenntnis und in der Einhaltung eines alten chthonischen Glaubens zu bestehen, wo der Mensch als der Sohn der Erde verstanden wird. Die Sphinx selbst wird in den Phönikerinnen des Euripides als Kind der Erde und der Schlange im Hades bezeichnet und sie erhebt sich mächtig als Garant dieses Glaubens, als das Blut des Stadtkönigs Laios vergossen worden war.
Die ägyptische Sphinx im Tal der Könige stellt die Frage, was ein jedes zählt: Der einzelne in der Reihe der Generationen, die endliche, begrenzte Schöpfung aus dem Schoß unbegrenzter Erneuerung, die Bewegung der Zeit angesichts der majestätischen Ruhe der Ewigkeit.
Das Land, über dem die Vergangenheit und die Zukunft wie eine weiße Staubschicht ausgebreitet liegt. Dazwischen erstreckt sich die Spanne unseres Lebens. Sobald sich der Staub hebt, ist die Zeit, den Pflug zu führen und den Samen in die Ackerfurchen einzusäen. Ödipus glaubte, dieses Land zu kennen, sonst wäre er der Sphinx aus dem Weg gegangen und hätte sich nicht ihrem Rätsel gestellt.
Der Geburtsort ist mehr als nur der Ort, wo der Mensch auf die Erde kommt und wo er zur Erde wieder zurückzukehren hofft. Es ist der Ort, der den Menschen (als Erdgeborenen) zur Welt bringt, wo der Mensch Ortsrecht besitzt.
Zugrunde gehen, zu Grunde gehen, zum Urgrund zurückkehren, zu nichts werden ... Die Sprache scheint schnell zwischen den verschiedensten negativ- und positiv-wertigen Bedeutungen hin und her zu irren, als lägen Heil und Unheil aufs engste beieinander.
Beschämend wäre der Gedanke, dagewesen zu sein, ohne dass man hätte da sein dürfen. Man wäre wie ein blinder Passagier, der mit dem Verkehrsmittel "Leben" mitfährt, ohne zu wissen, dass er eine Fahrkarte hat. Und sieht er den Kontrolleur auf sich zukommen, so schließt er die Augen, in der kindischen Hoffnung, einer peinsamen Demaskierung zu entkommen.
Als dem Kleinkind der erste Luftballon zerplatzte, dessen Besitz es so glücklich gemacht hat, begann es Dinge zu begreifen wie den irreversiblen Verlust, das Nicht-mehr, Nie-mehr, den Tod.
Zumal beim Tod eines uns Fremden vermögen wir durchaus sachlich biologisch über den Tod zu reden. Doch haben wir ihn auch als uns betreffendes existentielles Ereignis verstanden? Man teste den berühmten Monolog des Hamlet III.1 "Nur dass die Furcht vor etwas nach dem Tod -/ Das unentdeckte Land, von des Bezirk/ Kein Wanderer wiederkehrt - den Willen irrt,/ Dass wir die Übel, die wir haben,/ Lieber ertragen als zu unbekannten fliehn." Ob es sich um eine Heidenangst handelt oder um Bilder einer christlich-mittelalterlichen Tradition oder um die Wahnvorstellung des unsicher gewordenen und in Verzweiflung gefallenen Hamlet?
In unserem modernen Weltbild scheint das Leben Ähnlichkeit zu haben mit einem prinzipiell kalkulierbaren Spiel, ähnlich etwa einem Schachspiel. Und so versuchen manche unter uns (Kafka, Dürrenmatt ...), sich im vorhinein den schlimmsten Fall vorzustellen, um sich so auf ihn einzustellen. Doch gibt es den schlimmsten Fall? Und machen wir unseren Fall nicht nur noch schlimmer, wenn wir über allen Ausgänge träumen? Auch König Laios versuchte sich gegen das ihm verkündete Unheil, den schlimmsten Fall, zu stemmen, indem er den Sohn den Hirten zur Tötung auf dem Kithäron übergab. Je mehr er sich aber wappnete, um so listiger schlich sich das Unheil gegen ihn an. Und Ödipus? Um seinem Schicksal zu entgehen, hätte er nie Fragen stellen und nach Erkenntnis verlangen dürfen. Aber er wurde groß und begann zu erkennen und mit der Erkenntnis begann er, die ihn quälenden Fragen zu stellen. Und so begann ein Suchen und Handeln und mit dem Handeln der Beginn eines sein Geschlecht vernichtenden Unheils.
Entweder geht das Fragen vorzeitig zu Ende wie bei Tantalus, der die Sonne als Lava deutete, ohne mehr den Ausdruck von etwas Göttlichem in ihr zu sehen, oder es geht weiter und rührt an Tabus. Tantalus wird dafür bestraft, aber auch der zweite Weg verstrickt einen schrecklich, wie das Schicksal des Ödipus zeigt (vgl. Sophokles, Ödipus rex, V.1165). Bei Euripides (Phönikerinnen) wird dem Ödipus der Tod der Mutter Jokaste und seiner beiden Söhne angelastet, "weil er mit forschendem Geiste der wütenden Sphinx unerforschliches Rätsel gelöst hat".
Die Legitimierung des Wissens: nur ein mythisch überholtes oder ein unstatthaft vergessenes Problem?
Gefährlich, sich auf den Menschen einzulassen. Die vielen Beispiele der Geschichte zeigen es uns, aber auch jede Biografie von jedem von uns enthält genügend solcher Erfahrung. Muss man den Schluß ziehen und jedem Zusammenleben von Mensch zu Mensch, von Mann und Frau den Abschied geben? Muss der Mensch sich endlich noch selber vor sich verstecken und sich in eine Existenz der Unwahrheit und Lüge einhausen? Oder gibt es eine Kraft der Kultur und des Vertrauens, die Gefährlichkeit der Spezies unter Kontrolle hält? Ein Kind jedenfalls weiß noch nichts von einem solchen Vertrauen, solange es noch nichts um die Gefährlichkeit des Menschen weiß.
Die Angst, das Rätsel des Lebens nicht zu lösen, und die nicht minder große Angst, es zu lösen. Oder genügt die Vorstellung, dass es dieses Rätsel nicht gibt, uns von der Doppelangst zu erlösen?
Wir suchen nicht mehr nach dem Bewußtsein einer unergründlichen Schuld in uns, um so die Notwendigkeit eines Glaubens an den Gott in uns zu erneuern, wir suchen nach den Ursachen unserer Ängste, um sie als innerpsychisches Phänomen zu beschreiben und jede daran anknüpfbare Verantwortung von uns zu weisen. Wieviel Nabelschnüre haben wir schon zerschnitten, die wir nicht hätten zerschneiden dürfen?
Man empfand es in alter Zeit als gefährlich, mit Fragen an Geheimnisse um Leben und Tod zu rühren. So heißt es in einem altägyptischen Text: "Ein großes Geheimnis ist das, Re ist das und Osiris. Wer es enthüllt, stirbt eines gewaltsamen Todes." (vgl. Jan Assmann, Kohlhammer 1991, S.97) Haben wir wie Tantalus die Geheimnisse als Scheinprobleme entlarvt? Oder haben wir die Götter gezähmt, dass sie uns deshalb nicht mehr bestrafen können? Oder haben wir uns blind gemacht, als ob uns nichts mehr verborgen bleiben könnte? Tantalus, so heißt es, wurde für sein Verhalten von den Göttern bestraft. Man kann aus der Aussage die Götter eliminieren, ohne an dem Gehalt des Satzes viel zu "ändern. Was objektiv und nach außen hin als Strafe erscheint, das ist des Physikers Schicksal.
Es mag uns mit Stolz erfüllen, dass unser Verstand nun auch noch die seit Alters erhabensten Körper des Kosmos, die Sonne und die Sterne, ergründet hat. Doch von nun an gibt es für unser Tun kaum mehr den Aspekt der Ewigkeit und für unser Hoffen nichts mehr, was auch noch in Äonen Bestand hätte.
Neben Tantalus ist es Sisyphos, ein geistiger Verwandter des Gilgamesch, der durch sein Streben nach Wissen dem Tod entrinnen zu können vermeinte (vgl. Alkaios, Weinlieder "Hat doch Sisyphos selbst einst gemeint, weil er mehr als die anderen wußte, vermöchte er auch dem Tod zu entgehen."). Dadurch, dass er verurteilt wird, die Sonnenscheibe täglich den Berg des Himmels heraufzurollen, wird deutlich, dass er nichts anderes mehr kann als Physik machen. Er ist der Fachwissenschaftler, dem, nachdem er in seinem Fach aufgegangen ist, der Blick auf die Gesamtheit der sich verwandelnden Welt abhanden gekommen ist.
Gezwungen und widerwillig ausgeführtes Tun kann nicht zur Quelle von Glück werden. Doch kann auch sinnleeres Tun (Sport, Krieg ...) als glückstiftend erfahren werden, indem man es als erfolgreiches erlebt. Und man kann auch Demütigungen u.ä. als Lustgewinn erleben, wenn man sich danach sehnt und sie innerlich bejaht. Desgleichen ist ein Handeln, zu dem man gezwungen und gepresst wird und das wie im Fall des Sisyphos oder des Tantalus als Strafe gedacht ist, als anstoßfrei oder gar als menschenwürdig erfahrbar, wenn man nur auf die entsprechenden Emotionen achtet (vgl. A. Camus).
Ähnlich wie die Götter Griechenlands, die gegen den Physiker Tantalus mit aller Gewalt einschritten, hatte auch die Kirche ein gewisses Recht, als sie sich gegen Galilei erhob und ihm die Lehre untersagte, Bewegung an sich als bloßes Trägheitsphänomen zu deuten und die Erde als kleinen Trabanten der Sonne auszuweisen. Auch wenn heute schon jeder jugendliche Physikschüler leicht zum Kopfschütteln zu gewinnen ist über den Dogmatismus und die Verschrobenheit der Kirche, so schätzt er doch längst noch nicht das geschichtliche Ausmaß ab. Indem Galilei über die Natur und den Kosmos aufklärte, vergaß er, zugleich auch über den Menschen aufzuklären, oder doch zu erwägen, ob und inwieweit seine Erklärung eine für den damaligen Menschen verträgliche Wahrheit war. Versucht man sich in die Zeit des Galilei zu versetzen, so ging es damals nicht in erster Linie um Physik, es ging um den Menschen des Christentums und endlich wohl auch um das Erbe des Abendlandes insgesamt. Bis dahin empfand man das Göttliche als etwas, was sich auch im Raum, zumal im Sternenraum, wie auch in der geschichtlichen Zeit manifestierte. Christliche Dogmen standen auf dem Spiel, wie etwa das Dogma von der Auferstehung des Leibes. Sollte es von nun an aus sein mit dem Göttlichen, das sich auf diese Weise erleben ließ? War man einem Irrtum erlegen? Gehörte von nun an die Erde mitsamt ihren Bewohnern zu den Hinterbänklern im All? Gott hätte also keineswegs als erstes an die Erde gedacht? Und wenn schon, erschien sie von nun an doch nicht mehr gar so herrlich und zentral erschaffen, wie man es sich zuvor so gern und so lange vorgestellt hatte? Der Physiker als solcher hat freilich mit alledem nicht viel zu tun. Ihm genügt der Aufweis von Tatbeständen in Raum und Zeit, er sucht nach raumzeitlichen Koinzidenzien, unbekümmert um alles Absolute, das er aus der Wissenschaft eliminiert. Gleichwohl zerstört die Entdeckung des planetarischen Daseins der Erde die altehrwürdige Anschauung, die die Erde als Mitte des sie umfassenden Kosmos anerkennt, was um so bedeutsamer ist, als für die Menschheit jeglicher Glaube an das Göttliche bis dahin stets auch in der Natur und im Kosmos zum Ausdruck gekommen war. Selbst wenn also Galilei als Physiker recht hatte mit seiner raumzeitlichen Betrachtung, so hatten die Theologen von damals kaum minder recht, wenn sie danach fragten, was eine solche Wahrheit nützt. Solches Denken - so ahnten wohl jene um das Heil der Welt besorgten Theologen, lange bevor Nietzsche die Frage nach dem Wert und der Wichtigkeit der Wahrheit zum Thema machte - ebnete den Weg zu einer Aussicht, von wo aus die Erde mitsamt den Bewohnern als etwas so Nebensächliches erscheint, dass kein Gott seinen Wolkenschemel daneben stehen haben mag. Wenn heute ein Physiker (z.B. Max Born, Die Relativitätstheorie Einsteins, Springer, 1969, S.9) lapidar und selbstverständlich erklärt: "In der Astronomie ist der Mensch nicht mehr wichtig", vernimmt man freilich nichts mehr von den Wehen jener Zeit. Da ist das Zeugnis Kants noch um einiges aufschlußreicher, wenn er im Ringen um die Bedeutung der Tragweite jener Kopernikanischen Wende erklärt: "Sie vernichtet meine Wichtigkeit." (Nietzsche, Genealogie der Moral, S.894).
Es scheint in unserer Natur zu liegen, dass wir etwas brauchen, was wir so wichtig nehmen, dass wir dafür leben und sterben. Glauben wir etwas derart Wichtiges zu kennen, so ist es oft nicht minder gefährlich, als wenn wir etwas beliebiges uns als wichtig vornehmen. Im ersten Fall erscheinen wir leicht als strenge kompromißlose Dogmatiker und Gesandte einer höheren Welt, so im zweiten als lächerliche Gesellen oder wie Kinder, die mit dem Feuer spielen.
Unser Blick ist unsicher geworden, verwirrt, flackernd, schwankend. Wir sehen nichts Absolutes mehr. Doch wir haben uns daran gewöhnt, ja wir haben diesen Blick als fortschrittlich anerkannt. Wir bejahen ganz selbstverständlich die Relativität der Standpunkte, die Perspektive, den Pluralismus der Meinungen, die kulturelle Vielfalt. In Wahrheit aber haben wir aufgehört zu begreifen, dass etwas da ist, was überwunden werden will, und dass das Leben ein Kampf ist.
Es ist, als ob uns jemand aus sicherem Versteck zuschaute und grimmig über uns lachte, wenn wir glauben, mit unseren naturwissenschaftlichen Forschungen die letzten Fragen und Wahrheiten zu enträtseln. "Menschlein", so könnte er sagen, "du siehst nur, was du sehen willst. Sähst du, wogegen du dich blind machst, du wüßtest, dass du deine Zeit mit gefährlichen Dingen verspielst, statt dass du dich zu den für dich wichtigen Forschungen ertüchtigst."
Galilei muss sich noch einen weiteren Vorwurf gefallen lassen: dass er nämlich vergessen hat mitzuteilen, dass der Blick ins Weitentfernte wie auch ins mikroskopisch Nahe äußerst gefährliche Forschungen eröffnet. Gewiß, der von ihm beschrittene Weg war der Weg, auf dem man die Natur immer genauer und noch genauer in ihren Kompositionen und elementaren Wechselwirkungen zu erschauen vermag, doch haben wir uns deswegen schon damit begnügt, zu verstehen, was ist? Haben wir nicht gleich probiert, auszukundschaften, was sein kann? Und sind uns nicht die Augen aufgegangen, indem wir nicht nur erfaßt haben, aus welchem Energiedepot die Sonne und die Sterne ihr Licht beziehen, sondern auch, wie man Kerne fusioniert und wie man Kernbomben herstellt? Und haben wir uns, nachdem wir die Grundbausteine und Maschinenteile des Lebens enträtselt haben, nicht flugs daran gemacht, eigenmächtig ins genetische Geschehen einzugreifen? Wiewohl Galilei über die geschichtlichen Auswirkungen und konkreten Folgen seiner Forschungen gewiß noch nicht viel wissen konnte, hätte er doch zumindest den Stolz auf seine Forschung mit der Ahnung um den Ernst derselben ummänteln müssen. Doch hat bislang stets nur der Stolz triumphiert. Ja man hat sich nicht gescheut, sich dieses Stolzes zu bedienen, indem man ihn mit der Aussicht auf Nobelpreise und unvergänglichen Ruhm lockte und anstachelte. An dieser einseitigen Sicht hat sich bis in unsere Tage und Schulen hinein nichts geändert. Noch immer lehren wir in der Schule den Umgang mit Lupe und Mikroskop, als handelte es sich um Spielereien. Ja wir peitschen die Kinder notfalls auch zum Wissen und reglementieren sie mit schlechten Zensuren, wenn sie mit ihren Gedanken abschweifen und woanders sind. Nein, es stimmt nicht, dass in den Naturwissenschaften der Mensch nicht mehr wichtig ist, oder dass man gelassen zuschauen könnte, weil auf die Analytik keine Synthese möglich wäre. "Wir beschreiten jetzt einen Weg", so müßten wir zu den Kindern sprechen, die wir in diesen Dingen unterrichten, wüßten wir nicht, dass sie den Kindern unverständlich blieben und mithin umsonst abgeschossen würden, "wir beschreiten jetzt einen Weg, der anscheinend ganz unabhängig vom Menschen ist und den man als objektiv bezeichnet. Doch wenn unsere Methoden auch objektiv sind, so wäre doch ein gewaltiger Irrtum zu glauben, als wäre die Objektivität ein archimedischer Standpunkt. Unsere Forschung entfernt uns zwar insofern vom Menschen, als wir nur mit dem Verstand arbeiten und unser Herz dabei ausruht, doch gerade hier beginnt unser Schicksal, gerade hier nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Was wir auf diesem Weg lernen sind gewaltige Geheimnisse, gewaltig zu unserem Nutzen, aber nicht minder gewaltig zu unserem Schaden. Ein Weg, den wir wohl gehen mußten, weil wir als Mensch der Neugierde auf Erkennbares und der Lust auf Machbares nicht zu widerstehen vermochten, ein Weg aber nicht zuletzt auch, der uns unterdessen eine nur schwer zu ertragende Verantwortung aufgebürdet hat. Wir sehen keinen Weg mehr zurück. Schließlich haben wir die Welt und die menschliche Umwelt zu unserem Nutzen irreversibel verändert und wir haben wohl auch großartige Fortschritte gemacht. Leider aber sehen wir auch dunkle Szenarien, wo dieses Wissen schrecklich gegen die Menschheit verwendet zu werden vermag."
Was sehen wir, wenn wir alles sehen und alles ausprobiert haben? Was, außer dem, dass wir erkennen, dass wir nackt sind und ohnmächtig, die Folgen zu meistern?
"Muss uns denn eine göttliche Kraft retten, weil wir aus ihr hervorgegangen und mithin ein Teil von ihr sind?" Laß solche Fragen, ruft man dir zu. Besorge lieber selber die Rettung.
Gemessen an der Zeiteinheit der Evolution hat die kulturgeschichtliche Zeiteinheit geradezu etwas atemberaubend Schnelles. So kommt uns beim Anblick eines Neugeborenen kaum mehr der Gedanke, der einmal einen Gilgamesch in Atem gehalten hat: ob die Bestimmung des Menschen als endliches und sterbliches Wesen keine Ausnahme zuläßt und, wenn auch nicht von allen, doch wenigstens von einzelnen rückgängig gemacht und aufgehoben werden könne.
In der Antike konnte wohl noch ein Gott auf die Erde kommen. Keiner bezweifelte das mögliche Erscheinen eines Gottes. In der modernen Welt ist für ein solches Ereignis kein Platz mehr. Man würde einen in die Psychiatrie bringen.
Sollte dies die Botschaft sein, die wir einmal betreffs der Geschichte der Menschheit ins All zu schicken haben: dass alles, was geschah, mit Projekten maßlosen Ehrgeizes zu tun hatte? Dass für den Ehrgeiz im Vorgriff nichts war, als was nicht war (Macbeth), die Leidenschaft dann aber nicht ruhte, bis nichts mehr war, als was nicht war? Und dass wir es schafften, den Progreß von Aufbauen und Zerstören zu solch gigantischem Ausmaß zu bringen, dass nach der letzten gründlichen Zerstörung kein Beginn mehr möglich war?
Das Wissen des Ödipus hat den Tod der Sphinx zur Folge und dieser wiederum die Rache der Erinnyen (vgl. Euripides, Phönikerinnen, V.1503ff.). Ödipus wußte nicht um den Preis, den das Wissen hat. So äußerte sich schon Plutarch (Mirabilia), dass den Ödipus seine wissensdurstige Unrast ins größte Unheil stürzte. Auch noch das Mittelalter, wenn es die Bibel als das Buch der Wahrheit vor den Menschen verschlossen hielt, mochte um diesen Preis wissen. Der Mensch der Neuzeit indes hat sich daran gewöhnt, dass die rücksichtslose Erforschung der Welt Sache des Menschen ist. Hegel hält den Sündenfall als Begierde zu wissen für die Voraussetzung zum Aufstieg zum absoluten Wissen. Wie aber, wenn fortschreitendes Wissen uns zwar Fortschritt im Guten bringt, zugleich aber auch Fortschritt im Bösen? Und wenn uns der Glaube an den Fortschritt im Wahnwitz bestärkt, alles sei machbar; und er uns vergessen läßt, dass wir als Menschen in unserer Zeitlichkeit und Endlichkeit auch zum Dulden und zum Leiden berufen sind?
Wir sind absolut überfordert, wenn uns ein Unheilbarer sein Leiden klagt. Und weiß dies der Unheilbare, was dann? Wem soll, wem kann er es klagen?
Wenn wir sicher wüßten, dass der Tod die Pforte ist, durch die wir Einlaß erlangen zu einer Wahrheit, die uns erlöst und frei macht, dann würden wir nicht erbleichen wie vor einem Ungeheuer.
Welchen Namen hätte je ein Mensch enträtselt und er wäre durch die damit gewonnene Verfügungsgewalt glücklich geworden?
Bei der Lektüre der Schauspiele Senecas beschleicht einen der Gedanke, dass sich die Geschichte der Menschheit in einer apokalyptischen Zeit abspielt, wo nur eine kleine Schicht ( wir nennen sie Kultur) verhindert, dass wir uns alle unweigerlich gegenseitig auffressen.
Im Tierreich kennen wir den Vorgang der Prägung, der ein festes Band bildet zwischen Eltern und Kind. Was ist aus diesem Prägungsvorgang beim Menschen geworden und wie sehr läßt sich dieser Prozeß gestaltend beeinflussen? Ist es denn nicht so, dass sich uns Taten einer schönen Seele oder Verhaltensweisen eines tapferen Herzens oder Zeugnisse eines unerschütterlichen Geistes unauslöschlich einprägen? Alkmene erkennt ihren Amphitruo. Und Tristan kann sich sicher sein, seine Isolde aus 1000 anderen Isoldes herauszufinden. Ebenso sind sich die Liebenden bei Goethe darin einig, dass sie sich wiedererkennen, wenn sie dereinst einmal wieder erwachen. Es muss doch wohl Pfade geben, wo wir erlernen, auch wenn wir uns selbst nur sehr wenig kennen, aneinander festzuhalten und uns nicht aus den Augen zu verlieren, wenn Gefahr heraufkommt.
Die Bitterkeit des Alters äußert sich vermutlich weniger in der Erfahrung der immer rascher dahineilenden Zeit, als vielmehr in der Erinnerung der ungenutzt verflossenen Zeit, zumal wenn uns nichts und niemand darüber hinwegtröstet. Wenn man nimmer der Erfahrung ausweichen zu können glaubt, dass man hinter den lange gehegten Träumen der Jugend so weit zurückgeblieben ist, dass man sie endlich als Irrtum vergessen sollte. Doch wie kann man vergessen, wenn man ein Leben lang an ihnen hing und wenn man sonst nichts hat, es an die Stelle zu setzen?
Im Alter verliert die Wirklichkeit um uns in dem Maß an Kraft, in welchem unsere innere Dynamik zum Stillstand kommt. Und übrig bleibt eine Chimäre.
Wie, wenn wir eine Tafel mit uns trügen, auf der unser ganzes Leben bereits verzeichnet wäre? Und wir wären fähig, sie als Tafel zu lesen des uns bestmöglichen Lebens in unserer Zeit?
Unsere abendländische Existenz seit den Tagen des Gilgamesch schließt mit ein, dass wir etwas Unmöglichem nachjagen. Doch wenn man Unmögliches nicht erreichen kann, wie kann man auf den Wunsch verzichten? Unsere übergroßen Wünsche und die Leichtigkeit, mit der sie uns unsere Vorstellungskraft als erfüllt vorgaukeln, sind es, die uns in Versuchung führen.
Läge die Bedeutung der Geschichte des Ödipus oder des Gilgamesch für uns nur darin, dass wir wissen, dass es nichts nützt, gegen alle existentielle Bedingtheit aufzubegehren und an den Grundlagen des Lebens zu rütteln? Oder steht nicht einem jeden von uns der Versuch frei - zumal im Aufbruch der Jugend -, aufzubegehren und den Versuch zu machen, das Unglaubliche an sich zu reißen? Oder soll der Erzieher der Jugend zurufen?: "Es gibt keinen Weg, und es gibt keine Wahrheit, und es gibt kein Wort im Anfang noch ein daraus ableitbares Ziel noch eine Vollkommenheit! Sucht also nicht nach allzu hohen Zielen und verschmäht alle großen Erzählungen!"
Ist der Weg zur Vollkommenheit nicht der Arbeit eines Bildhauers vergleichbar? In der Jugend hat der Mensch eine Idee, eine Vision, eine Berufung, ein ihn erfüllendes Glück. Dann begibt er sich an einen Marmorblock und beginnt, die Idee sichtbar zu machen. Und er feilt und feilt. Weil ihm die Arbeit aber nie gut genug und vollkommen gelungen zu sein scheint, so feilt er immer weiter, bis ihm im Alter nichts mehr an Materie übrig ist. Da hat er sie dann plötzlich wieder, seine Idee, seine Vision, seine Berufung und das ihn erfüllende Glück.
Unser Ohr scheint nur schwer und mühevoll zu unterscheiden. Immer hört es erst, was es hören will, oder wartet doch darauf. Sonst wären Kassandras Worte nicht ungehört verhallt. Und Worte, die lügenhaft waren, wären nicht gehört und befolgt worden.
Was uns von Jugend auf antreibt, ist der Glaube, dass es kein unüberwindliches Hindernis für uns gibt. Als Kind schon glaubt man ein solches zu lösen, wenn man es in der Vorstellung lässt.
Um Göttlich-Gutes zu verstehen bedarf es nach Ansicht der alten Griechen einer Anleitung durch Erziehung. Ähnlich, wie es noch Kant ausdrückt, ist die Welt der griechischen Helden nicht dazu da, von ihnen erkannt zu werden, sondern sich in ihr zu bilden. So ist schon für Homer Mentor zwar ein Freund und Altersgenosse des Odysseus, doch indem er das Geschäft der Erziehung für Telemach wahrnimmt, ist es zugleich Athene, die sich seiner Gestalt bedient und den Sohn bildet. Auch dem Odysseus erscheint Athene in des Freundes Gestalt (22.205ff; 24, 446ff; 24, 502f; 24, 546ff.) Solche göttlichen Helfer sind also kein Schmuck und dienen keiner poetischen Überhöhung der Handlung, sie gehören für den Griechen zur Erziehung, indem der geistigen Wahrnehmung von Göttlichem ebenso selbstverständlich ein Platz zukommt wie der sinnenhaft optischen.
Sich so ausbilden, dass auch eine göttliche Gestalt sich unser als Erzieher bedienen könnte. Warum lehnen wir das ab? Mißtrauen wir uns und haben wir Angst zu versagen und endlich als ein Tartuffe eine unwürdige Rolle zu spielen? Oder scheint uns ein Schuß Wildnis und Unberechenbarkeit zur Wahrung unserer Freiheit unverzichtbar?
In der "Iphigenie in Aulis" des Euripides erkundigt sich Klytemnestra nach der Erziehung des Achill, den sie fälschlicherweise für den kommenden Schwiegersohn hält (V.708f.). Sie erwägt, ob Peleus oder die Göttin Thetis ihn erzogen habe. Doch auch der Kentaur Chiron findet als Erzieher ihren Beifall. Er genoß in Griechenland höchstes Ansehen. Chiron erzog den Achill, "damit er fliehe böser Menschen Art" (V.708f.).
Von Ödipus kennen wir keinen Erzieher. Was auch hätte ein Erzieher mit Ödipus anfangen sollen, dem sich der Gott verweigerte? Es müsste ein dunkles Buch sein, das uns den Erzieher des Ödipus beschriebe, ein Buch über den tragischsten aller Erzieher.
In Ödipus zeigt sich, was wird, wenn einem Ereignis (der Zeugung durch Laios) das Prädikat "Theos" nicht zukommt. (vgl. auch K. Kerenyi, Theos und Mythos, Zum Problem der Entmythologisierung, Griechische Grundbegriffe, 1964, Zürich). Dabei zeigen Stellen bei Sophokles (König Ödipus, V.1080ff.) und bei Euripides, dass Ödipus sich für den Sohn einer der naturnahen autochthonen Göttinnen auf dem Kithäron hielt, die dort, zumal des Abends, dahinschweifen. Was für eine tragische Ironie: Ödipus glaubt sich in göttlicher Hut und ist doch den Göttern ein Greuel.
Indem sich Erzieher und Kind austauschen, entsteht dem Erzieher im Kind eine Heimat, wie auch umgekehrt im Erzieher eine Heimat für das Kind.
Kindheit: Zeit, in der ein Halt am Erzieher Sicherheit schafft, wodurch die Sicherheit des Erziehers ihrerseits neue Kraft gewinnt.
Jugend: Zeit, sich als einzelner zu bewähren, damit man sich dann auch zu zweit bewähren kann. Und Zeit, sich zu zweit zu bewähren, um als einzelner Halt zu finden ...
Alter: Zeit zur Erfahrung nach tatkräftig durchlebtem Leben, dass Halten und Gehalten-werden untrennbar zusammen gehören.
Ödipus, heimatlos und unbehaust, weil er nie eine Kindheit und nie ein Elternhaus gehabt und erlebt hat. Der von Sophokles dargestellte Ödipus auf Kolonos kann m. E. nicht verstehen, wenn man ihm Heimat zusagt. Blindlings muss er darauf vertrauen, dass etwas für ihn Gutes geschehen mag.
Die Tragödie - ein Experiment Gottes zum Heil der Menschen, so der Sophokleische Ödipus. Wo aber an keinen Gott mehr gedacht wird, wird auch kein Heil mehr erwartet. (Was macht den Hamlet oder den Lear oder den Macbeth des Shakespeare zu einer Tragödie?)
Indem Platon das Gute an die Spitze seiner Ontologie stellte, löste er das Problem gewiß nicht, ob und in wie weit sich das Gute in der Welt verwirklichen läßt. Fragen wir uns aber, was machbar ist, muss dann nicht ein schmerzlicher Riß im Bewußtsein entstehen, weil mehr machbar zu sein scheint, als was an Gutem zustande kommt? Oder wären wir nicht in der Lage, Hunger und Elend auf Erden abzustellen? Statt dessen suchen wir fieberhaft nach noch mehr neuen Technologien, nach noch mehr Geld, noch mehr Selbstverwirklichung ...
Die Hütten der Armen werden nicht mit dem Geld der Fürsten bezahlt, wohl aber die Burgen und Paläste der Fürsten mit dem Leben und den Geld ihrer Untertanen. Würden andererseits aber die Behausungen der Regierenden sich nicht von den Behausungen der Regierten abheben, so würde manch ein Regierter es an Achtung und Pflichtschuldigkeit fehlen lassen, da er glaubte, auf den Regenten herabsehen zu können.
Euripides, der Analytiker und Kritiker des Reichtums, macht darauf aufmerksam, dass Reichtum zwar vor anderen auszeichnet, dass er aber nicht glückselig macht (Medea, 1228ff. "Und strömte Reichtum dir in Fülle zu, du magst/ Vor anderen glücklich (eutüchesteros), aber nie glückselig (eudaimon) sein." 200 Jahre vor ihm war es schon Sappho, die in eindrucksvoller Knappheit bemerkte: "Das Geld, ohne menschlichen Wert/ wohnt, um zu schaden, bei uns."
Unter den Armen gibt es Reichtümer, von denen ein Reicher keine Erfahrung hat und nichts weiß: Das Bewußtsein von etwas Zusammengehörendem, Gemeinsamkeit- und Schicksal-stiftendem, ein Tragendes, das über die Enden von Geburt und Tod weit hinausreicht.
Nicht die Frage nach dem für den Menschen Guten: das Geld setzt die Grenzen, innerhalb deren sich die Vorstellungskraft und die Machbarkeit in unserer Gesellschaft bewegt. (So wird nichts gemacht, wenn es sich nicht auszahlt, sich nicht rentiert, wenn es keinen finanziellen Gewinn bringt ...)
Ist das Gute in der Menge oder für die Menge erreichbar? Man darf getrost daran glauben, dass sich das Gute unter günstigen Bedingungen (gute Eltern, gute Lehrer, guter Ehepartner, in der Gesellschaft angesehener und einträglicher Beruf ...) im einzelnen verwirklichen läßt, Man muss aber wohl bezweifeln, dass es sich jemals in der Menge verwirklicht, d.h. dass es eine in sich gute Menge gibt. Die Menge, das ist nicht zuletzt jedenfalls die vom darwinistischen Schöpfergott angewiesene Bühne zum Aufstieg zur Macht, der Psychodschungel zum Gesetz und zur Ausrichtung der Massen, der Raufplatz der Ellbogen und der erlaubten Vergewaltigung, der Bespitzelung und Denunziation, die Sandbank des Geldes, der Umschlagplatz voller Korruption, die Gelegenheit zu Hehlerei, zu gemeiner Unterstellung, zu Rufmord und Krieg.
Kann einer den anderen zurufen: "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!", wenn er spürt, dass er selber nur mäßiges Talent dazu hat? Wenn aber andererseits keiner sicher sein kann, sich als edel und gut und gerecht und tapfer und menschenfreundlich zu erweisen: muss dann zuletzt nicht auch noch das sokratische Fragen nach solchen Eigenschaften verstummen?
Unser Verstand ist in den Formen des Denkens und unsere Vernunft in den Formen des Glaubens zuhause. Dass alles klappt und geklappt hat, beginnend mit unserer Geburt, das ist ein Stück Erfahrung und eine Weise der Offenbarung von etwas Gutem, das den Glauben an das Gute belebt und nährt.
Viel liegt an uns, ob wir bereit sind, dieses unser Leben als etwas Gutes und Gelungenes, oder ob wir es als eine Kette an uns verübter Vergehen und verpasster Gelegenheiten ansehen. Probleme lösen, Wunden heilen, ja ein Stück weit auch sich selber erlösen: wir können es, wenn wir nur den Maßstab gelten lassen, der ausschließlich nach dem Guten aus ist.
Das Pantheon im Zweistromland und in Israel war ein Abbild des Herrscherhauses und seines Führungsanspruchs unter den Völkern, das Pantheon der homerischen Griechen ein Abbild der Feudalherren, die Griechenland und Kleinasien besiedelten.
Unser ganzes Leben, vornehmlich aber zur Zeit der Jugend sind wir erfüllt von Ideen und Idealen. Wir sind zu etwas Großem bereit, wir verlangen geradezu danach, uns für etwas Großes einzusetzen und in Dienst nehmen zu lassen, selbst wenn uns ein solches Großes fehlt. Hier liegt eine Gefahr der Verführbarkeit der Jugend. Der (jugendliche) Mensch ist bereit, einen horrenden Preis, ja sein Leben dafür zu bezahlen, dass das Große geschieht, und es ist doch oft nur eine Chimäre oder das verbrecherische Werk eines Rattenfängers, wo er hilft.
Was je konnte eine Gesellschaft tun zu ihrer Verherrlichung, als dass sie ein überhöhtes ideales Bild ihres Zustands erschuf und sich in einer Himmelsgesellschaft widerspiegelte? Und umgekehrt wurde mit dem Aufkommen eines solchen Bildes ein göttlicher Wille hypostasiert, der auch auf Erden Gültigkeit haben sollte.
Die Möglichkeit, zuviel wissen zu wollen und so an Furchtbares zu rühren, scheint gegeben, weil dem "Es klappt" kein erforschbarer oder gar reproduzierbarer Mechanismus zugrunde liegt. So bringt der Verstand des Ödipus, indem er nachfragt, Leiden über Leiden hervor. Und doch: Je mehr Leiden Ödipus erschöpfte - so Sophokles -, um so näher kam er dem Sinn des Rätsels der Sphinx. Mit Leiden und Unglück überhäuft nimmt er stellvertretend für die anderen deren Leiden auf sich und trägt so mit seinem Leben und Sterben zum Heil für Athen bei. Für Euripides und die Euripideische Jokaste dagegen wird das Unheil, das sich über Ödipus ergießt, zur Krise im Weltbild. Sie ruft (im Prolog der Phönikerinnen) zu Zeus: "Du kannst doch nicht gestatten, wenn du weise bist, dass stets dieselben Sterblichen das Unglück trifft."
Als noch mit jedem Sonnenaufgang Helios sich über die Welt der Menschen erhob, mußte man nach dem Göttlichen nicht lange suchen. Doch das Göttliche brachte nicht nur Glück. Helios konnte auch feindlich düstere Strahlen auf die Erde der Menschen senden.
Die (chthonischen) Gottheiten der Unterwelt erscheinen als ungetrennte und untrennbare, als namenlose und unnennbare Wesenheiten: licht und dunkel zugleich, freundlich und feindlich, gestalthaft und gestaltenlos, wesenhaft und wesenlos, weiblich und männlich; wen sie erfassen, der ist heilig und verflucht. Für die Götter des Olymp indes gibt es ein eindeutiges Oben und Unten, ein Ja oder ein Nein; und auch der biblische Gott der Genesis schafft die Schöpfung mittels Trennung.
Glieder sind wir in einer Kette schnell aufeinander folgender Generationen, mit dem Auftrag zu bezeugen, dass das Leben lebenswert ist. Wieviel Erfahrung benötigen wir, um das Zeugnis des Mensch-seins abzulegen?
Hätten die Bildungstheoretiker recht, die davon ausgehen, dass der Mensch von Natur aus nichts ist, d.h. wäre der Mensch aufs bestimmteste durch Erziehung zum Menschen bildbar, so hätte Apollon den Laios schrecklich getäuscht, als er ihm den Bescheid tat, sein Sohn werde ihn später töten, oder er hätte ihm ein grenzenloses Unvermögen als Erzieher bescheinigt.
Was ist ein Bildungstheoretiker ohne eigene Praxis? Oder, m.a.W., wie weit sollen, wie weit dürfen, in wie weit müssen wir uns versteigen in unserem Optimismus in Sachen Mensch?
Die alten Griechen suchten die Antwort auf die Frage, wer wir sind, im Zusammenhang mit der jeweiligen Biografie des einzelnen, mithin mit den ganz konkreten lebensbezogenen Stationen und Prüfungen. Mochte sich einer auch gerne in schönem Licht sehen, Gedanken und Vorstellungen und Bilder zählten nicht viel. Die apollinische Mahnung, sich selber zu erkennen, das To gnothi sauton, war jedenfalls so nicht zu beherzigen. Selbstgerechtigkeit war gefährlich, weil sie einen leicht zum Glauben verführte, als könnten einem gewisse Dinge überhaupt nie passieren. Gerade dann aber sind wir in Gefahr, Verbrechen zu begehen, solange wir uns noch auf kein Verbrechen verstehen.
Wir wissen in etwa, wie Handlungen gelehrt und erlernt werden. Doch wissen wir nicht, wie man lehren und lernen soll, schlechte Handlungen zu vermeiden. Man müsste sie sich ja irgendwie vorstellen und dann wäre ihr Gift bereits in den Adern.
Hineingestoßen in die Schrecken der Selbsterfahrung und der Selbsterkenntnis ruft die Sophokleische Iokaste aus: "O dass du nie erkenntest, wer du bist (Sophokles, König Ödipus, V. 1068)."
Sprache, die zu denken gibt: gescheit, gescheiter, Gescheiterter.
Unsere Taten bringen Wahrheiten ans Licht. In der griechischen Tragödie und Mythologie sind es meist furchtbare Wahrheiten (alätheia als etwas, was besser für immer im Verborgenen geblieben wäre). Indem prototypische Handlungen in einen unaussprechlichen und unberührbaren Urgrund greifen, sind sie grundsätzlich unberechenbar. Von hier aus zeichnet sich ein Weg ab, der zur Skepsis des Sokrates gegenüber schnellem und eigenständigem Handeln und vielleicht auch gegenüber jedem Fortschritt führt, aber auch zu Platon und Aristoteles, die sich um eine Theorie der Praxis bemühen.
Handlungen (Berufswahl, Partnerwahl, Wahl der Wohnung ...) sind nicht sämtlich ausreichend vorbereitbar. Indem scheinbar Zufälliges und Unvorhersehbares mit in unsere Entscheidungen hinein spielt, wird der Augenblick (Kairos) wichtig, und die Handlungen werden unser Schicksal.
Der Mensch scheint ein zur Nachahmung der Taten der Olympier geschaffenes Tagwesen und zugleich ein von der Mutter Erde und den Mächten des Todes umstelltes Nachtwesen zu sein. Am Tag gehört ihm der Tag und in der Nacht gehört er der Nacht. Der Tag- und Tätermensch vergißt meist das Nachsinnen über sein Tun und dem Nachtmenschen schwindet die Möglichkeit zur Tat. Dem Tagwesen mag es als eine unzumutbare Schwächung des Täters "Mensch" erscheinen, wenn man ihn auffordert, dem Rätsel des Lebens nachzufragen und Rechenschaft über sich abzulegen. Dem Nachtwesen aber erscheint die freie Entscheidung für das Gute als ein Vorrecht, auch wenn sie schließlich zu keinem Handeln führt.
Euripides läßt im Prolog zu den Phönikerinnen die Mutter Jokaste darüber nachsinnen, ob Ödipus, als er sich auf die Suche nach seinen Eltern auf den Weg nach Delphi machte, einer Ahnung folgte oder fremdem Wink. Schicksalhafte Begegnungen wie die, zu der es auf diesem Weg nach Delphi kommt, scheinen für die Alten zum herausragenden menschlichen Leben mit hinzuzugehören.
Furchtbare Taten, die vielen einzelnen Menschen glücklicherweise erspart bleiben, können doch im Anschauen eines Helden Erkenntnis und über die Identifikation (auch ich bin dieser Mensch) Reinigung (Katharsis) erbringen. Es geht also für die Griechen beim Ödipusstoff nicht so sehr darum, ob Ödipus seinem Schicksal hätte entrinnen können, sondern darum, dass durch den Spruch Apollos an Laios ein Prozeß in Gang kommt, der der verborgensten Selbsterkenntnis (gnothi seauton) des Menschen dient. Ödipus erkennt sich als Mensch und sühnt. Über seinem Grab wird niemand die Inschrift lesen: "Hier liegt ein Schuft, an dessen Händen das ungesühnte Blut Unschuldiger klebt."
Ödipus wird (bei Sophokles) von Teiresias als Täter identifiziert, indessen nicht als Ergebnis einer prickelnden Treibjagd wie bei den heutigen Kriminalserien, sondern als Ergebnis eines Erkenntnisprozesses. Die Tat verweist auf den Täter in uns. Das ist der Mensch! Solches steckt in uns allen.
Sind wir von Natur aus dazu gedrängt oder gar verurteilt, uns auf den Weg zum Glück zu machen, weil Leben Aktivität und Streben (orexis) bedeutet, auch wenn wir hinreichend Erfahrung haben, dass Glück nicht einholbar ist?
Aristoteles setzt das Glücksverlangen aller Menschen an die Spitze seiner Ethiken. Der Weg zum Glück führt bei ihm über die ethike Arete (Gewöhnung an gutes Verhalten) zur dianoetike Arete (verantwortbares gutes Verhalten und Wissen um das praktisch erreichbare Gute) und so zur Eudaimonia (Wissen um den rechten Lebensvollzug, der die Erfahrung gestattet, dass das Leben gut ist). Nicht der Ausnahmemensch der griechischen Tragödie steht bei ihm im Mittelpunkt des Interesses, sondern der in der Polis tätige Mensch. Hat es die Tragödie mit Helden und Göttern zu tun, so die aristotelischen Ethiken mit dem einzelnen innerhalb einer politisch wohlgeordneten Gesellschaft.
Genügt etwa der Glaube an die Planbarkeit und Steuerbarkeit des Schicksals der Menschheit, um die Gespenster kommender Weltkatastrophen in die Flucht zu schlagen?
Schal und mager wäre vermutlich das Leben, wenn unser ganzes Glück nur von uns abhinge. Wir wollen nicht nur unseres Glückes Schmied sein, wir wollen nicht nur das Glück des planenden Verstandes, wir begehren auch noch das beseligende Glück jenseits der Vernunft, das Glück "sich einem Höheren freiwillig hinzugegeben" (vgl. Goethes Weltfrömmigkeit), auch das Glück der dunklen Triebe.
Im Glück an das Gute zu glauben, ist nicht allzu schwer, wohl aber im Unglück daran festzuhalten.
Muss ich immer noch einen haben, dem es schlechter ergeht, um mich wohlfühlen zu können?
Was für ein Mensch (Arzt-Erzieher-Seelsorger), der es fertig brächte, Menschen zu überzeugen, dass es sich lohnt, an das Gute zu glauben und am Glauben an das Gute festzuhalten. Eine Frau, die für einen Mann, ein Mann, der für eine Frau ein solcher Mensch sein könnte?
Skeptisch äußert sich Euripides in der Medea V.1230f., wo er gegen das Glück des Habens und des Reichseins (eutychia) das höhere Glück des Eudaimon stellt, welches aber für die gramzerrissene, von schlechten Erfahrungen heimgesuchte Medea nicht mehr erreichbar zu sein scheint. Skeptisch ist auch die Ansicht in der "Helena", wo das menschliche Glück voller Umschläge und wetterwendisch erscheint: von Göttern erschaffen und wieder vernichtet, keiner weiß um das Warum oder Wie.
Glück läßt uns leicht an das Gute und an die Gottheit glauben, Unglück aber zehrt solche Hoffnungen auf.
Wir verfügen über materielle Grundlagen, die der antike Mensch als Voraussetzung zum Erlangen von Eudaimonia weitaus für ausreichend gehalten hätte. Und doch kann man sich für unglücklich halten, auch wenn man Grund hätte, zufrieden zu sein. Bei der Medea des Euripides stimmt gleichfalls der äußere Wohlstand, doch läßt sich damit für sie kein Glück mehr begründen. Ihr Resümee: "Kein glücklich Leben werde mir, das traurig macht,/ Noch hoher Reichtum, welcher mir am Herzen nagt!" (V.598f.). Die darauf von Jason geäußerte Replik (V.601f.), ein Musterstück sophistischer Rhetorik und Lüge: "Schmerzvoll erscheinen möge nie das Gute dir, noch achte dich unglücklich, wenn du glücklich bist."
Es gibt Menschen, die wie vielleicht Michelangelo stets zur Unzufriedenheit mit sich neigen, wie es auch Menschen gibt, wie vielleicht Henri Rousseau, die, auch wenn man sie verlacht, doch zufrieden mit sich sind, ja sich sogar für die Größten erachten.
Auch wenn Don Quijote sich durchschaut hätte, hätte er vielleicht gar nicht anders handeln können.
Unglückliche verlangt danach, ihr Unglück kennen zu lernen. Der Glückliche hingegen würde sein Glück nur schmälern, wollte er es aussprechen.
Deprimierend, wenn, wie etwa bei Jason, dem Erfinder kühner Meerfahrt, die Bilanz des Lebens mit den Worten beginnt: "Hätt ich den oder das nur nie gesehen!" Wie ist es möglich, dass die Bilanz so lautet?: "Gut, dass ich dich getroffen habe, dass ich euch zu Lehrern und Eltern gehabt habe, dass ich in dieser Stadt, in diesem Land, in dieser Epoche habe leben dürfen ...
Woran wir uns aber gewähnt haben, dass es uns zu eigen gehört, das scheint uns leicht, zumal, wenn die andere so etwas haben, nicht mehr viel wert. Und so vergessen wir, was wir haben, um, statt etwas mit ihm anzufangen, dem nachzujagen, was wir noch nicht haben, oder wir träumen von Dingen, die andere nicht haben ...
Unzerstörbare Häuser aufbauen oder zerstörbare zumindest im Gleichgewicht halten, wenn wir das könnten!
Heißt, den Tod bejahen, notwendig, an einen Todestrieb glauben und der Selbstzerstörung das Wort reden? Ist das das Ende aller Selbsterkenntnis: die Maus in der Falle?
Ödipus ist einer der Herrscher, die zum Wohl ihrer Stadt bzw. ihres Landes in den Tod gehen. Die Weltgeschichte zeigt statt dessen, dass es den Herrschenden viel leichter fällt und näher liegt, Profit aus ihrer Herrschaft zu ziehen und ihre Landeskinder in den Tod zu schicken.
Von aller Wahrheit nehmen wir gern immer nur das Stückchen, das wir eben brauchen, wahr. Wir suchen keine Wahrheit, die Leiden bringt. Vergleiche in den Phönikerinnen des Euripides die Frage des Teiresias an Thebens Herrscher Kreon: "Nichts ist die Wahrheit, weil sie dir das Leiden bringt?", nachdem er ihm mitgeteilt hat, er müsse zum Wohl von Theben seinen Sohn opfern.
Wir wissen nicht mehr (sofern wir es überhaupt je wußten), was es mit einer uns voraufgehenden, von uns unabhängigen Wahrheit auf sich hat, nach der wir unser Leben zu gestalten hätten. Wir können aber unser Leben so zu gestalten und ihm eine solche Form zu geben suchen, dass es maximale Erfüllung bietet.
Je abhängiger wir waren von äußeren Bedingungen (Wind für die Segel der Schiffahrt, gutes Wetter für die Ernte ...), für um so mächtiger und unerbittlicher hielten wir die Götter. Und wir scheuten uns nicht, uns die Zusage der Gottheiten oftmals durch harte und grausame Opfer zu erkaufen.
Zutreffendes als zutreffend und Unzutreffendes als unzutreffend erkennen. Dies ist noch immer zu leisten, auch wenn das Zutreffende nicht mehr als etwas Ewiges, Absolut-wahres, der Geschichte Enthobenes gesucht wird. Man sucht nach dem Bestmöglichen und Machbaren. Doch was das ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Wer weiß da Bescheid und wie erweist sich Kompetenz vor dem Unkundigen in der zu übernehmenden Verantwortung?
"Unweise scheint Unkundigen, wer weise spricht." (Euripides, Die Bakchen, V. 480)
Der deus ex machina erscheint bei Euripides gewiß nicht als Ausflucht, als ob der Dichter keinen anderen Weg mehr wüßte. Warum sonst sollte er z.B. nicht einen günstigen Wind aufkommen lassen, der Helena und Menelaos oder auch Iphigenie und Orest und Pylades nach Hause weht? Doch ein solcher Wind ist eben nicht mit der Erfindungskraft des Dichters, sondern (noch) mit dem Verständnis des Göttlichen als einer weltliches Geschehen durchwaltenden Macht verbunden. Der deus ex machina erscheint so als Experiment und kritische Herausforderung an den Zuschauer: zu überprüfen, wie weit Götter nötig sind, die Sachen der Menschen zu regeln und den Menschen zu erziehen, und wie weit es den Menschen gelingt, aus eigener Kraft gut und vernünftig zu handeln.
Wo das Göttliche vornehmlich mit dem Dämonisch-Affektiven und Maßlosen identifiziert wird, herrschen Kypris und Ehrgeiz und Besitzhunger und Machtgelüste. Und die Vernunft ordnet sich dem triebhaft bestimmten Willen unter, der, je nach Erfolg, als Fascinosum und Tremendum erscheint.
Was wir besitzen, erachten wir oft für nichts. Und so verschenken oder verschleudern wir oft Besitztümer, aus denen sich noch vieles machen ließe, um einem Windhauch nachzujagen und einem Nichts.
Des Ödipus Leben war bedeutend aber nicht glücklich und sorgenfrei. Das Leben in unserer Gesellschaft ist (zumeist) materiell sorgenfrei, aber unbedeutend.
Wir haben kaum mehr materielle Sorgen, stürzen und verirren uns aber gleichwohl in die grobe Materialität der Welt.
Gibt es denn in unserer Welt keine Möglichkeit mehr, große Entdeckungen zu machen? Oder ist dies gut und wünschenswert für den Bestand unserer Art, wenn wir uns möglichst als harmlose Konsumbrüder gebärden? Weil im Gefolge großer Entdeckungen neue, noch unbekannte Gefahren auf uns lauern?
Wenn es uns gelänge, alles auszusagen, was nur überhaupt ein Mensch an Menschenwichtigem auszusagen vermag, könnten wir vielleicht gelassen dem Tod entgegensehen. Die alten Griechen indes lehnten diesen faustisch-modernen Versuch als Versuchung ab. Sie sahen den Menschen in einer schicksalhaften Beschränktheit, die zwar nicht unaufhebbar war, wie gerade der griech. Mythos zeigt, wohl aber lebensförderlich. Der Mensch der Antike brauchte keine selbsterschaffenen Mittel gegen den Tod, solange es ihm ein Gott (z.B. Dionysos oder Asklepios) anbot.
Wer inszeniert unsere Träume und entwirft Symbole des Unergründlichen? Wer macht z.B., dass der Vater, der seit einigen Jahren verstorben ist, des Nachts die Hausklingel zieht und dann ins dunkle Haus eindringt? Und wenn du dann einen Lichtschalter bedienst, um Licht anzumachen und nachzusehen, wer gekommen ist, dass er dir den Dienst versagt?
Im Traum gibt es nichts Totes. Deshalb treffen wir auch unsere verstorbenen Eltern und andere uns von früher Bekannte wieder. Und dies gilt auch für die gesamte Natur. Wenn wir im Traum in einer Pfanne ein Stückchen Fleisch braten, ist's möglich, dass sich das Fleisch auf einmal wieder regt und bewegt und ins Leben zurückstrebt. Gäbe es eine Nous-monas und einen Weltenschöpfer und wäre unser Traum auch nur ein schwaches Abbild dieses göttlichen Träumers, er müsste uns nur wieder erträumen und wir erstünden neu zum Leben, auch wenn wir schon lange gestorben wären.
Der Traum aller Musik, zum Leben zu erwecken.
Die letzte Stufe der Selbsteinschätzung: wir sind nur Windhauch. Diese Einschätzung nützt und fördert uns bald, wirkt aber auch lähmend.
Lernen, die Zeiten recht zu beurteilen und den rechten Augenblick (Kairos) zu erfassen.
Was wäre wert, künftigen Generationen aus unserem Leben zu berichten? Nichts, das wäre doch wohl zu wenig, denn wir müssen unser Leben gewiß nicht für unnütz einschätzen. Doch zögern wir vielleicht, sobald wir eine positive Aussage zu machen versuchen.
Lächerlich eine Biografie zu schreiben, wo man fast nichts sieht als sich selber und wo man die Posaune bläst für seine eigenen Großtaten.
In der Biografie eines jeden von uns fehlt meist das letzte Kapitel, auch wenn es geschrieben zu sein scheint.
Das letzte Kapitel haben wir mitten im Leben zu schreiben. Homer zeigt dies am Beispiel von Hektor und Andromache, wie sie voneinander Abschied nehmen.
Betrachte die Zeit der Reformation, wo der frühe Dürer die Gestalt des Christus in sich erweckte und darstellte. Welche Gestalten erweckt heute ein bildender Künstler, welche ein Erzieher in sich?
Das Schicksal derer, die an den Gott nicht mehr glaubten. Sie sahen den Gott nicht, und zwar nicht, weil es ihn nicht gegeben hat oder weil sie ihn getötet hätten, sondern weil sie ihn nicht mehr sehen wollten, selbst nicht als er dicht vor ihnen stand (vgl. Pentheus und seinesgleichen).
Von Natur aus fromm scheinen uns die Formen der Frömmigkeit abhanden gekommen. Wir sind mit unserer Frömmigkeit allein.
Wo zwei oder drei beisammen sind, bin ich mitten unter ihnen, so die Schrift. Der Christus wird als eigenständiges und zugleich bindendes Drittes dazugedacht. Doch warum soll man dieses Dritte nicht (auch) im Du erkennen? Ähnliches dürfte Goethe gedacht haben, als er Suleika im Westöstlichen Divan sagen läßt: "In mir liebt ihn (Gott) in diesem Augenblick."
Krankheit, Alter, Unglück, Tod: seit alters ist etwas wie eine geheime Anklage um sie herum, weil wir sie als eine Art Bestrafung verstehen, wenn sie über uns kommen.
Die Frage nach dem Sinn von Krankheit, Leiden und Tod und Schuld und Sünde in unserer Zeit verstummt, weil man das entweder als unbeantwortbar und somit als gegenstandslos oder als Problem von Fachwissenschaften ansieht. Was kann eine Seelsorge hier tun, als sich erst einmal gut bezahlen zu lassen, damit der Patient zumindest den Eindruck erhält, dass etwas geschieht? Wenn es keine Lüge mehr gibt, so mag der Seelsorger nur fröhlich Märchen erzählen. Vielleicht hilft´s.
Dass es objektive pathologische Befunde gibt, die sich zurückbilden, ja gänzlich verschwinden, wenn man seine Aufmerksamkeit positiv auf anderes lenkt, gehört mit zum Aufregendsten, was die Natur des Menschen betrifft.
Allem einen Sinn zuordnen: einen Sinn, dass man krank wird, todkrank, dass man sterben muss ... oder aber auch, dass man am Partner, an den Kindern oder am eigenen Menschsein scheitert ... Wovon zeugt dies? Von blindem Vertrauen, von Charakterstärke, von Willensschwäche, von Denkmüdigkeit, von Wahnsinn oder von allem miteinander?
Großartig sterben verlockt oft mehr als langweilig zu leben, weil ersteres mehr Identifikation und Erfüllung zu geben scheint. - Identität, die sich in rastloser Verwandlung zu erfüllen scheint.
Haben wir erst im Sterben das Leben verstanden?
Hiob als Mensch sah durchaus nicht in allem einen Sinn. Er rechtete mit seinem Gott, und so blieb er wenigstens mit ihm im Gespräch.
Ist es nicht wert, Fragen aufzuwerfen, auf die es keine Antwort gibt? Hat es keinen Sinn, auch solche Fragen zum Tönen zu bringen, deren Schicksal es ist, unbeantwortbar zu bleiben?
Wenn die Gründe für eine Schuld und das Verständnis für Schuld abhanden kommen, schwindet nicht notwendig auch unser Schuldgefühl, vielleicht nur die Möglichkeit einer Verzeihung.
Das letzte Glück, uns irgendwo zu verbergen.
Wir maßlos zum Wirken Verurteilten! Schreckt uns nicht schon der Gedanke an eine Zeit, wo wir uns aufgebraucht haben, ohne etwas zustande gebracht zu haben?
Wir müssen es uns gefallen lassen, dass wir vergehen. Machen wir uns wenigstens eine kommode Philosophie dazu, an die wir glauben können, weil sie uns besänftigt.
Man ruft uns zu: "Lebe wie das Tier! Dann mußt du dir um den Tod keine Sorgen mehr machen."
Lieber ein Don Quijote ohne Einsicht in die wirkliche Welt als ein Verständiger, der aufgibt.
Was ist es, das uns bewegt, dass wir Urheber eines Ereignisses (Erforschung, Entdeckung, Herrschaft ...) oder doch zumindest bei einem solchen mit dabei gewesen sein wollen? Dass viele von uns lieber etwas Törichtes oder Lächerliches tun, ja gar als Verbrecher in die Geschichte eingehen, als dass niemand mehr an sie denkt? Ist die Faszination, die vom Buch der Geschichte ausgeht, so stark, dass uns besser zu sein scheint, in schlechter Erinnerung weiterzuleben als dass man uns vergißt? Dann gute Nacht mit aller Ächtung der Hitler und Nero und Stalin; dann gute Nacht mit allen noch so gutgemeinten Lernzielen des Pazifismus.
"Dulden muss der Mensch sein Scheiden aus der Welt wie seine Ankunft: Reif sein ist alles." (Lear, V.2, Montaigne) Doch wie ist diese Reife zu erlangen?
Leben, das ist ewiges Streben. Deshalb sind zwar Wunsch und Hoffnung nach Vollendung möglich, kaum aber diese selbst. Je mehr wir uns um das Gute bemühen, um so verfeinerter erscheint sein Begriff, um so schmerzlicher unser Abstand. Und säßen wir auf Gottes Schoß, unser Unwert und unsere verräterische Natur müßten uns überaus schrecklich überkommen, es sei denn, sein Anblick überstrahlte uns huldvoll.
Etwas vom Erstaunlichsten, was einer auf Erden erleben mag: dass einen ein Kind, kaum dass es auf der Welt ist, ganz fraglos als Eltern erkennt, und dass es einen nicht minder fraglos als Eltern anerkennt. Noch nach vielen Jahren im Traum erfährst du es beglückend: Du gehörst dazu. So gehören unsere Eltern noch immer zu uns, auch wenn sie schon gestorben sind, wie auch wir zu den Kindern gehören.
Wenn wir nur ins Leben hineingeboren werden, um dann immer vergeblicher dem Tod zu trotzen, der uns ein Liebes nach dem anderen entreißt, so wäre mit den alten Griechen wohl wünschenswert, nie geboren worden zu sein.
Man könnte meinen, vom besten könnten wir nie genug bekommen. Doch das stimmt leider nicht. Trägheit und Müdigkeit und schlechte Erfahrung verleiten uns oft, uns nicht anzustrengen, das beste in Besitz zu nehmen. Lieber lassen wir uns vom Trivialen und Gemeinen einlullen.
Nicht gelebt zu haben wäre für viele Griechen das beste gewesen. Aber am schlechtesten ist: gelebt zu haben, als hätte man nie gelebt.
Was wäre das beste, was von uns bleibt, wenn wir bald nicht mehr sind? Vielleicht die unlösbaren Fragen, an denen wir uns abgearbeitet haben und die wir den auf uns folgenden Generationen vermachen.
Ödipus: Einmal, der Mutter ähnelnd, erscheint die Göttin des Glücks.
Ausschlafend des Lebens Rausch
Die Botschaft des Sokrates: am Anfang war das Gute und im Guten hat alles, was ist, seinen Bestand. Wir müssen das Gute suchen, ohne uns mit Halbem zufrieden zu geben.
Viele unserer Zeitgenossen lächeln müde, wenn sie sehen, wie du nach dem Guten forschst. Haben dich die Ethologen endlich durchschaut und entlarvt, Sokrates? Dass deine Suche nach festen, unabänderlichen, unvergänglichen und allgemeingültigen Gesetzen wie auch nach dem Guten, nichts ist als ein dem Menschen eigener Hang nach etwas Unabänderlichem und Festem, bzw., genauer noch, ein Ausdruck des ratiomorphen, im Vorbewußten arbeitenden Verstandes? - Während sie dir einen Vorwurf machen, weil du nicht müde wirst, den Lobpreis auf ein göttliches und unvergängliches Gesetz anzustimmen, sehe ich, wie du ihnen lächelnd die Frage entgegenhältst, wie sie denn diesen Hang zu befriedigen gedenken, wenn sie an nichts Festes und Haltbares mehr glauben, wo er doch, wie sie gestehen müssen, zur Erfüllung eines menschenwürdigen Daseins gehört?
Wenn alles Bestehende sich nur als Schein herausstellte und alle Gegenwart nichts wäre als nur der Widerschein einer Küste, deren Dahinschwinden nicht weiter auffällt: dann wäre auch alles Gute und alle Hoffnung auf ein Gutes nur eine Fiktion, wovor man besser die Augen verschlösse. Ein solcher Gedankenzirkel umgibt uns wohl schon seit Menschen denken. Schon die Aufforderung der Siduri, Gilgamesch möge nicht vergessen, das Leben zu genießen, fällt vor diesem Hintergrund.
Zu den ersten und ältesten Gegenständen menschlichen Denkens gehört wohl die Frage, ob es ein festes Sein für alles Seiende überhaupt gibt oder ob nicht vielmehr alles nur Schein ist. Sind wir in unserem Wissen tiefer gedrungen und weiter gekommen im Lauf der Jahrtausende? Können uns die Naturwissenschaften mehr sagen, als was sich schon die alte Siduri gedacht haben mag? Unschärferelation und Vakuumpolarisation legen den Gedanken nahe, dass hier und jetzt etwas sein könnte, wo später nichts mehr ist.
Gibt es ein Verbot, das noch nie übertreten wurde? Oder geht es uns nicht wie im Märchen, dass wir auch vor der 13. Kammer nicht Halt machen? Dass wir gleichsam noch immer aus dem Paradies müssen, weil wir fortwährend vom Baum essen? Nein, ein solches Verbot gibt es nicht. Wohl aber gibt es Verbote, deren einstiges Vorhandensein Kopfschütteln bei uns auslöst. Und doch spüren wir noch die Erschütterung, wenn Sophokles (Antigone) aufzählt, was für fundamentale Verbote der Mensch übertreten hat: Er hat die Erde mit dem Pflug aufgerissen, und er hat sich daran gemacht, das Meer zu befahren ... Ob er sich heimisch gemacht hat? Es scheint jedenfalls, dass er sich über die Jahrtausende hinweg so gut an jeden "Frevel" gewöhnt hat, dass er verlernt hat, an einen wirklichen Frevel zu glauben. Erst in neuester Zeit regt sich unter uns wieder eine Sensibilität dafür, dass nicht alles, was machbar ist, gemacht werden darf und gemacht werden sollte (Einsatz von Chemie, Kernenergie, Verkehrswesen, Versuche an Tieren und Menschen, Umgang mit Genen, medizinische Techniken ...).
Sokrates hielt die Welt für seine Heimat, ohne je aus Athen zu gehen. Wir fliegen rastlos um die Erde, ohne irgendwo zuhause zu sein.
Wo Bestand und Zukunft menschlichen Gemeinwesens in Gefahr waren, bekümmerte man sich um Erziehung, um auf diese Weise kommenden Übeln zu wehren.
Zuhause zu sein und etwas mit sich anfangen können: ist es ein Lernziel unserer Schulen oder könnte es nicht zumindest eines sein?
Kaum jemals ist die Bedeutung der Erziehung so im Bewußtsein gewesen und diskutiert worden wie zur Zeit des Sokrates. "Mir gilt höher als Reichtum, als königlicher Gemächer Prunk die sorgfältige Erziehung edler Kinder" läßt Euripides den Chor im "Ion" (V.485ff.) sagen. Und keineswegs ist es so, dass es erst eines Aristoteles bedurft hätte, das Umfeld von "wissen" und "tun" zu bearbeiten. So weiß Phädra im Hippolytos des Euripides ganz genau - sie hat in langer Zeit der Nächte (V. 375) darüber nachgedacht -, was des Menschen Leben zerrüttet: "Das Tugendhafte wissen und erkennen wir,/ Tuns aber nicht!" (V.380ff). Wenn die Erziehung es ist, in der die Angewöhnung und die Weitergabe des Guten geschieht, so liegt nahe, dass kein Volk die Jugend gut erziehen kann, dem es am Besitz und der Verwirklichung (energeia) von Gutem gebricht. So ist für den alten Peleus (in Euripides "Andromache") Sparta nicht in der Lage, Mädchen zur Enthaltsamkeit (V. 596) zu erziehen, und schon gar nicht ist Helena, die mit Paris den Ehebruch beging, für ihre Tochter Hermione ein gutes Vorbild. Euripides geht gar so weit, dass er den alten Peleus ausrufen läßt: "Freier, darauf achtet mir,/ Die Töchter edler Mütter euch nur anzutraun." (Andromache, V 622f). Das Gute (als Tugend bzw. als Enthaltsamkeit oder Selbstbeherrschung) rückt damit in Opposition zu Reichtum und Macht und was sonst noch den Beifall der Menge auf seiner Seite haben mag. Diese Sicht bleibt lebendiges Erbe im abendländischen Denken, wenn auch nicht im Tun. 1500 Jahre nach Euripides und Sokrates konstatiert Walter von der Vogelweide (ich saß auf einem Steine ...), dass Ehre, Gut und Gottes Huld für den Menschen unvereinbar sind. Shakespeare vollends, zu Beginn der Neuzeit, führt im "Macbeth" I.5 die Unvereinbarkeit von ehrgeizigem Machtverlangen und Güte vor Augen: "Groß möchtst du sein, bist ohne Ehrgeiz nicht. Doch fehlt die Bosheit, die ihn begleiten muss. Was recht du haben willst, das willst du rechtlich, möchtest falsch nicht spielen und Unrecht doch gewinnen. Möchtest gern das haben, was dir zuruft, dies mußt du tun, wenn du es haben willst, und was du mehr dich scheust zu tun, als dass du ungetan es wünschest."
Umgeben von einer Menge an Wissen erhebt sich die Frage nach einem Bestand, der uns als Mensch unter Menschen dient und uns nie zur Verfügung steht zum Erreichen gemeiner Ziele. Welches wäre ein solches Wissen? Gewiß müßten wir tief zurück gehen in die Vergangenheit, weit noch vor den listenreichen und verschlagenen Odysseus. Doch scheint es, als ob wir auch noch unser Menschsein aufgeben und ablegen müßten, zurück in eine Zeit, wo der menschliche Vorfahr noch ohne Verantwortung (die ja die Verantwortungslosigkeit mit umfasst) und ohne Freiheit (die immer auch Zwang kennt) und ohne Gewissen lebte. Die Antwort, die Sokrates sucht, besteht in einer Art Metawissen: ein Wissen, eine Moral, die weiß, welches Wissen dem Guten dient.
Was hat es mit dem Guten auf sich? Wird es für die anderen weniger, wenn es mir zukommt? Und sollte ich mich da um Ausgleich bemühen? Bei der Frage nach dem Guten im Gesundheitswesen (Gesundheit) oder beim Bäcker (Diätetik) trifft Platon noch nicht auf diese Probleme, wohl aber bei der Frage nach der Gerechtigkeit als dem allen Tugenden zugrunde liegenden Grundwert. Der Mensch wird bei Anselm von Canterbury zuerst als Spender, nicht als Nutzniesser des Guten gedacht. (Vgl. die Gerechtigkeit als Grundbegriff einer humanen Gesellschaft, wie er im angelsächsischen Raum heutzutage noch diskutiert wird, der es um "Beurteilungsskriterien für Gesetze und soziale Institutionen" geht.)
Wir sind in unserem Menschsein nicht zum Schweigen verdammt. Doch die Selbsterforschung ist mühsam und in ihren praktischen Konsequenzen anstrengend. Wir wissen über vieles genauestens Bescheid, versäumen es aber, die Konsequenzen zu ziehen.
Man muss über gewisse Dinge reden, damit man sie nicht vergißt. Doch muss man sie so benennen, auch sich selber gegenüber, dass sie nicht den ihnen zugewiesenen Ort verlieren. Auch wir selber können uns uns gegenüber nie ganz sicher sein.
Es wäre ein Projekt wert, die Geschichte der Philosophie am Faden der Aufklärung, wie sie Sokrates am Herzen lag, zu lesen und zu beurteilen. Denn Sokrates wollte verstehen, was verstehbar ist, und vor dem Halt machen, was sich dem Verstehen entzieht. Die Geschichte der Philosophie scheint demgegenüber nie sonderlich Wert darauf gelegt zu haben, Grenzen des Verstehens ausfindig zu machen. Getragen von unserer Eitelkeit scheinen wir uns der Aufklärung so hingegeben zu haben, als ob es längst nichts mehr aufzuklären gäbe. Längst haben wir die Suche nach etwas Fundamental-Unaufklärbarem als Schutz und Quelle der Lebensbewältigung aufgegeben. Wir sind müde geworden.
Es klingt wie ein Euphemismus in unseren Ohren, wenn Sokrates die Zeit nach dem Tod mit einem langen erquicklichen Schlaf vergleicht. Fast möchte man ausrufen: dann läßt sich ja auch nach dem Tod noch gut leben! Wir hingegen drücken denselben Sachverhalt oft so aus, dass wir uns als elenden wertlos gewordenen Staub sehen, das Tote als eine Beleidigung des Lebens, der große, tote Cäsar als Lehm, der ein Spundloch schließt, wie sich Shakespeare einmal ausdrückt.
Die Botschaft des Sokrates, an das Gute zu glauben, das an uns glaubt und das uns anhält, klingt in unserem Ohr wie ein Märchen. Immerhin aber zeigen Studien, dass es gut ist, wenn der Mensch an ein ihn umfassendes Gutes glaubt. Für jedermann faßbar lebt der sokratische Glaube an das Gute in der Alltagserfahrung fort, dass wir viel von uns abverlangen können, ohne dass es uns schadet, wenn wir es nur gerne und mit Spaß tun, während, uns nur wenig bekommt, wenn wir etwas nur unwillig tun, selbst wenn es sich um eine an und für sich leichte Arbeit handelt.
Wenn wir Abendländer an Gott glauben, so setzen wir gleichsam seine perfekte Existenz voraus. Wir glauben also um die Existenz Bescheid zu wissen, ehe wir an ihn glauben. Diese Verfahrensweise ist eine typisch und speziell abendländische. Der Glaube des Sokrates aber unterscheidet sich hiervon. Sokrates glaubt zwar an das Gute, er setzt aber dessen Existenz keineswegs als bekannt voraus. Er ist auch damit einverstanden, dass zu diesem Guten gehört, dass der Mensch nach seinem Tod nicht zu den Heroen und Halbgöttern gelangt, um sich mit ihnen zu unterhalten, das Leben nach dem Tod könnte z.B. auch aus einem ewigen Schlaf bestehen. Sokrates läßt diese Fragen offen. Sprächen wir zu Sokrates: Lieber Sokrates, so glaubst du denn an das Gute und weißt noch nicht einmal, woran du glaubst? so würde er lächelnd sagen: Ja so ist es. Und würde dann vielleicht so fortfahren: Hab ich euch nicht schon immer gesagt, dass ich nur dies ganz genau weiß, dass ich nichts weiß?
Führe aber einer fort, ihn mit der vorwurfsvollen Frage zu behelligen, ob ihm dann nicht jedermann ein X für ein U vormachen und das Gute auch das Schlechte sein könne und all sein Glaube sinnlos: "Guter Freund", könnte er dann sagen, "ich glaube, dass die Erde und das All und das Leben auf Erden sinnvoll eingerichtet ist, nicht nur für Pflanzen und Tiere, vornehmlich auch für den Menschen. Ich glaube, dass alles, was immer uns widerfährt, selbst wenn man mich einmal verurteilt, den Schierlingsbecher zu trinken, nichts Absurdes für uns enthält. Ich glaube an eine Weisheit, die alles im voraus bedacht hat, dass wir nicht nur leben und sterben können. Ich glaube auch, dass dieser Glaube zutiefst unserer Natur und unserem Streben nach Harmonie entspricht. Auf solche Weise lebe ich die mir zugeteilten Tage, ohne ängstlich auf etwas zu warten."
Die christliche Dogmatik hat uns 2 Jahrtausende lang erklärt, was alles zu glauben ist. Sie hat Sätze gesagt über Gott, den Vater, über den Sohn und über den Geist, über die Kirche etc., die dann mittels der von der Philosophie (ancilla Theologiae) ausgearbeiteten Denklehre zu Schlußfolgerungen führten. Wenn Gott das und das ist, und wenn das so und so ist: dann ... Dabei liegt diese spezielle geschichtliche Entwicklung durchaus nicht im Sinn ihres Stifters! Der Jesus der Bergpredigt lehrt nicht den Reichtum der theologischen Erkenntnisse. Die Seligpreisung betrifft die Armen im Geiste. Indem wir uns angewöhnt haben, so über Gott und über Geheimnisse zu sprechen, haben wir uns unserem Denken und Können zugewandt und haben die ursprünglichen Geheimnisse aus dem Auge verloren. Galilei und seiner Zeit fällt es dann nicht mehr schwer, die von der Dogmatik gelieferten Axiome durch die von der Natur und dem menschlichen Erkennen gelieferten Axiome zu ersetzen. Indem Theologie und Geisteswissenschaft den Naturwissenschaften das Feld räumen, bleibt ersterer nur noch das Restgeschäft, die Geschichte des Christentums zu schreiben und dasselbe zu entmythologisieren.
"Gesetzt, wir versuchen es mit dem Gut-sein", so höre ich Zeitgenossen von uns ein Gespräch mit Sokrates eröffnen. "Nun sage uns aber, Sokrates: Wie lange hält Gutsein im Umgang mit Menschen an (als Seelsorger, Eltern, Erzieher, Lehrer, Arzt ...)? Wie weit reicht unsere Belastbarkeit? - Solange sich das Geschäft finanziell auszahlt, solange man erfolgreich ist bzw. Erfolg bescheinigt bekommt, solange man Macht ausübt oder solange man sich noch einreden zu können glaubt, erfolgreich zu werden, mag ja alles gut gehen. Wie aber, wenn solch ein Anreiz fehlt? Hat dann nicht auch alle Eselsgeduld ein Ende? Und wie, wenn unser Glaube an das Gute abstirbt und einer verneinenden Haltung Platz macht? Wär's dann nicht besser, gleich gar nicht mit dem Gutsein zu liebäugeln?"
Wieviel Lehrer mag es nicht schon gegeben haben, die sich angeschickt haben, die Jugend Moral zu lehren, indem sie bei sich sagten: "Wenn schon wir gut sein müssen und gerecht und fromm und wir uns nichts herausnehmen dürfen, dann sollen es die Kleinen auch nicht besser haben."
Warum wird die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod von so vielen Zeitgenossen beargwöhnt? Warum hält man für unmöglich, dass etwas so Umfassendes sein könnte, dass es uns lebendig in seinem Gedächtnis behält? Weil man an diesem göttlichen Wesen zweifelt? Oder weil man nichts hat, was eines solchen Gedächtnisses wert wäre? Weil die meisten von uns in ihrem Leben jämmerlich scheitern, dass sie froh sind, wenn sie nichts mehr daran erinnert?
Wer wünschte sich das Glück eines Sokrates? Oder führte er ein unglückliches Leben? Immerhin müßten wir dann wohl auf einiges verzichten, was wir schätzen oder gar für unerläßlich halten. Denn wir sind unserer Natur nach auch Spieler, die die Lotterie und das blinde Glück des Würfels lieben und den Kitzel des Wunders, und deren Neugierde ein leeres Fenster braucht, um abzuwarten, was dort herausschaut. Dabei nehmen wir ganz selbstverständlich auch dunkelgefährliche Leiden mit in Kauf.
Man muss wohl die leidenschaftliche Suche des Sokrates nach dem Guten abtrennen vom Wissens- und Bildungsbegriff, den Platon formulierte. Während das abendländisch-nachsokratische Wissen als fest strukturiertes und überprüfbares Wissen zur Objektivation tendiert, scheint die sokratische Bildungstheorie grundsätzlich im Nichtwissen ihren Platz zu suchen. Sicher gewußtes Wissen, über das Sokrates gewiß auch verfügt, wird als vorläufiges und relatives, bestenfalls protreptisch-anagogisches verstanden. Sokrates scheint zu ahnen, dass der Weg zur bestmöglichen Einsicht in die Welt des Menschen nicht die Einsicht in den wissenschaftlich erforschbaren Bau des Kosmos voraussetzt.
Sokrates oder der Versuch, über das Bestellen unseres Alltags hinaus einen großen, guten Traum zu träumen.
Sokrates scheint ein Wissen davon gehabt zu haben, was das Nichtwissen taugt.
Nichtwissen steht für Sokrates als Ausdruck der Hoffnung, jene dem Menschen eigene, den Göttern wohlgefällige Haltung zu finden, die zum jeweils rechten Tun führt. Indem Platon wie die Pythagoräer die Mathematik zur Grundlagenforschung mit hinzu nimmt, hebt er sich von Sokrates ab. "Mag sein, dass der Gott Geometrie treibt", mag Sokrates noch gesagt haben, "doch was berechtigt dann den Menschen, Geometrie zu treiben?"
Nichtwissen huldigt der staunenerregenden und unauslotbaren Tatsache, dass man überhaupt ist und dass man zur Würde eines Daseins bestimmt ist.
Was für ein Unterschied, wenn wir unser Nichtwissen bekunden! Wenn wir sagen: "Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt oder ob wir uns nur schmeicheln, einen reichen und mächtigen Vetter oben im Himmel zu haben", so nehmen wir uns dabei gewaltig wichtig, fast als müsste der Gott, wenn es ihn denn geben sollte, um den Ausgang unseres Urteilens bangen.
Mit dem Bekennntnis des Wissens um das Nichtwissen erreicht Sokrates eine Bildungsstufe, die prinzipiell nicht übersteigbar ist. Als transzendentes Prinzip leitet es nicht menschliches Forschen, sondern es bewertet den forschenden Menschengeist und hält das Bewußtsein wach, dass wir uns auch bei noch so bedeutendem Wissenszugewinn stets als Unwissende zu bescheiden haben. So ist die Goethesche Forderung, dass der Mensch Mittelpunkt auch des wissenschaftlichen Arbeitens sein solle, bei Sokrates noch gewährleistet. Vgl. auch Laotses Tao Te King, LXX: "Erkennen das Nichterkennen, ist das Höchste./ Nichterkennen das Erkennen, ist Krankheit."
Platon und Aristoteles verfolgen beide das dem Menschen mögliche Wissen: Platon in der Ontologie und Prinzipienwissenschaft, Aristoteles in den Einzelpragmatien. Ihnen gegenüber steht Sokrates, dem alles Wissen nur ein Mittel zu sein scheint, sich dem Einen und Unaussprechlichen zu nähern.
Das sokratische Wissen um das Nichtwissen hat den Vorteil, dass es nicht wie vermeintliches Wissen weiteres Fragen-stellen und Forschen verhindert. Im Gegensatz zum Verstehen dessen, was man in Einzeldisziplinen noch nicht verstanden hat, betrifft es nicht den jeweiligen Saum unseres Fachwissens. Forschung und Studium zeigen bestenfalls, wo das sokratische Wissen nicht zu suchen ist.
Wenn Sokrates nach Gerechtigkeit und Wahrheit fragte, so scheint ihm eine Aufgabe vorgeschwebt zu haben, an welcher er gemeinsam mit anderen zu reifen und schön zu werden hoffte.
Für Sokrates fallen das Gute und das Schöne noch fraglos zusammen. Es ist die griechische Kalokagathie, wobei es selbstverständlich für Sokrates die Kraft des Guten ist, die sich im Schönen fortsetzt. Für Shakespeares Hamlet ist dieser Traum vorbei. Kierkegaard in Entweder-Oder setzt denn auch die Kategorien des Ästhetischen, des Ethischen und des Religiösen strikt auseinander. Doch wo bleibt der Bezug zum Leben? Bei Dostojewski gewinnt die Lösung des Themas nochmals eine andere Gestalt: Wenn der Spiegel der Erkenntnis zugleich als Spiegel der Eitelkeit erscheint, dann erscheint auch die Tugend als eitler Prunk, dann ist auch das sogenannte Gute kaum mehr als Schauspielerei, jedenfalls nicht mehr vom bloßen Schein und von der Heuchelei zu trennen. (Heute beschäftigt man sich vornehmlich mit dem sogenannten Bösen, den 7 Todsünden der Menschheit etc.)
Um schön und gut zu werden im Innern, das Bildungsideal der Kalokagathie, wie es Sokrates am Herzen liegt, bedarf es zuerst einmal einer lebensbejahenden kindlichen Grundeinstellung, fernab von Mißtrauen und Haß. Sie ist eine der Voraussetzungen für die im Phaidros (vgl. Platon, Phaidros, 279c) erwähnte Übereinstimmung mit sich selbst und stützt sich für Sokrates auf den inneren Beschützer, den Gott in uns. Dann aber bedarf es auch äußerer stabilisierender Faktoren: eines aufgeschlossenen Gesprächspartners, genügender Verweilzeit, des genius loci ...
Der sokratische Bildungsbegriff ließe sich als ein Versuch deuten, der tragischen Weltsicht der Griechen zu entrinnen. Der Mensch, so die Botschaft des Sokrates, sollte immer heiterer und ruhiger werden, je bedeutsamer der Aufgabenbereich und der Gott ist, dem er dient.
Der Mensch scheint nicht ungestört leben zu können, ohne kleinere Störungen in seinem Leben zuzulassen, wenn nicht gar, sie einzubauen.
Der geheime Wunsch, dem Tod zu entfliehen, der wohl auch in Sokrates lebendig gewesen ist. Aber weder als Jagd durch die Welt nach Art eines Gilgamesch, noch als Jagd nach dem ewigen Wissen nach Art eines Sisyphos, sondern in der Beschränkung und Verpflichtung auf das Nichtwissen, vielleicht sogar auf die Unaussprechbarkeit und Nichtwissbarkeit des wahrhaft Wissenswerten.
Das paradoxe Wagnis, dem Tod zu entfliehen, indem man ihn in seiner Macht ignoriert und zugleich anerkennt. Der Zeus der Oberwelt scheint für Sokrates auch der Zeus der Unterwelt (der Asklepios der Kreter) gewesen zu sein.
Der sokratische Bildungsbegriff des bios theoretikos wird zwar formal in seiner reflexiven Struktur von Platon und Aristoteles übernommen (eine Praxis, die um ihrer selbst willen geschieht, die auf sich bezogen bleibt und sich selbst zum Thema hat), nicht aber inhaltlich: Sokrates liebt nicht so sehr den epistemologisch begrifflichen Vorentwurf wie die gleichnishafte Rede und nicht so sehr den logischen Diskurs wie die Meditation. Und was ihm Resultat des Nachforschens sein könnte, muss nicht aufgeschrieben werden, weil es sich kraft seines Gehalts von selbst ins Gedächtnis einprägt.
Wir verstehen einander nicht, wenn wir uns selber nicht verstehen. Was uns heute unendlich wichtig erscheint, interessiert uns schon morgen nicht mehr. Hätten wir das sokratische Wissen, das im positiven Sinn damit identisch ist, dass wir uns unmißverständlich verstehen, wir hätten sowohl die Kraft für unser Tun als auch die Befähigung, anderen Verstehen als bedeutsames Unternehmen näherzubringen und mitzuteilen.
Was für eine Sache ist geeignet, ausschließlich um ihrer selbst willen betrieben zu werden, ohne ehrgeizige und gewalttätige Nebenabsichten?
Man sagt, dass Selbsterfahrung im Bildungsprozeß in der Arbeit und in der Erfahrung des Lernens zu gewinnen sei. Doch was für ein Unterschied, ob man bei Sokrates lernt, bei dem man sich grundsätzlich richtet und nichtet, oder bei Platon, bei Hegel oder Newton, wo man Theorien und Systeme erlernt. Zu Sokrates könnten prinzipiell alle in die Schule gehen, hier gibt es kaum Konkurrenz, hier liegt das Ziel unaustauschbar in einem jeden einzelnen selbst. "Räumen wir auf und werfen wir weg, was wir nicht brauchen können!" Dies kommt im Gespräch mit Sokrates zur Einsicht. Bei den Wissenschaftlern im engeren Sinn hingegen kann Wissen leicht instrumentalisiert werden zum Aufbau von Herrschaftsschichten innerhalb der Gesellschaft. Dort klassifiziert man schon die Schulanfänger daraufhin, ob sie bis 1000 zählen können oder nur bis 100 oder nur bis 10: und schon hat man die Schule, die im Dienst einer elitären Gesellschaft Menschen aussondert und einander entfremdet. Ist aber die meditativ ausgerichtete Schule (scholä = Muße) des Sokrates zum Scheitern verurteilt, wie die Wolken des Aristophanes und die Anschuldigungen des Anytos und Meletos in der Apologie Platons nahelegen, die uns ganz nebenbei auf das Mißverständnis aufmerksam machen, dem meditatives Einüben ausgesetzt ist, dass nämlich Scholä als Müßiggang oder Anstiftung zu politisch unzulässigem Umtrieb gedeutet wird: so bleibt nur die Schule des abfragbaren Wissens, die, wie notwendig sie auch im Blick auf die Praxis einer hochspezialisierten Welt sein mag, unmöglich die Entfremdung, die sie selber mitproduziert, rückgängig machen und aufheben kann.
Einen sehr reichen Mann wird niemand für einen der ärmsten halten. Sokrates aber, den dem delphischen Orakel gemäß weisesten Mann Griechenlands, hielten Anytos und Meletos für einen Atheisten und Jugendverführer.
Sokrates ist insofern Atheist, als er die Existenz der Götter Griechenlands, wie sie Homer schildert und wie sie das damalige Athen verehrte, negiert. Nicht im Bodensatz unserer Psyche lebt Gott, so die Lehre des Sokrates, nicht im Willen zur Macht, nicht in Lust und List und Gewalt und Vergewaltigung, sondern im Denken, das more geometrico Rechenschaft abzulegen versteht.
Weise und Wissenschaftler. Was meint Sokrates damit, wenn er bedauert, dass die Erforschung des Menschen nur so zögerlich betrieben werde? Wäre er zufrieden, wenn er unseren heutigen Wissenschaftsbetrieb sähe: Psychologie, Anthropologie, Soziologie und Religionswissenschaft? Vielleicht läßt sich sagen, dass Sokrates die Bedingungen der Erfahrung erfüllte, die im Abwarten und Sich-gedulden bestehen, weil er sicher war, alles zu erfahren, wenn es denn nötig und an der Zeit sein sollte. Dass er die Bedingungen der Erfahrung erfüllte, die darin bestehen, dass ihn nicht nach Offenbarungen verlangte und nach sensationellen Erfahrungen, dass er über eine innere Sicherheit und Zufriedenheit verfügte, die ihn nicht unruhig machte, als könne er etwas verpassen. Heute fragen wir nicht mehr nach diesen Bedingungen. Wir fragen nur noch nach den Verstandeskategorien, die uns instand setzen, moderne Wissenschaft zu betreiben. Wenn wir auch an keine höhere oder geheime Offenbarung mehr glauben, so glauben wir doch, dass uns etwas abgeht, wenn wir nicht zumindest eine wissenschaftlich sensationelle Entdeckung machen.
Mit dem vorsokratischen Wissensbegriff, mit der Suche nach der physike techne, mit dem Aufkommen des Mythos von Tantalus und Sisiphus als Physiker, mit dem Verständnis von Wissen als empirische Erfahrung auf der Grundlage notwendig bewegender Ursachen hört spätestens die Ära der Weisen (beginnend mit den sieben vorsintflutlichen Weisen des A.O.) auf. Das Werdende, die Zukunft war Sache gottwohlgefälligen Handelns (Inkubationsriten etc.) und Erahnens. Noch bei Homer blieb nichts dem Zufall überlassen. Alles, zumal Werden und Vergehen, geschah nach göttlichem Überlegen und Beschluß.
Sokrates hatte wohl keinen Grund, dem Aristophanes wegen seiner Verspottung in den "Wolken" böse zu sein. Nahm er vielleicht sogar gern die Gelegenheit wahr, ins Gerede der Öffentlichkeit zu kommen? Gewiß nicht, um sich mit einer ganz und gar ungewöhnlichen und verrückten Tat einen unsterblichen Namen zu machen. Es tut indessen dem Erhabenen nicht weh, wenn man es in erster Näherung als etwas Lächerliches auffasst, wohl aber dem Lächerlichen, der sich in der Mimik des Erhabenen gefällt.
Die sogenannte sokratische (oder genetische) Methode auf unsere Schulen zu übertragen, ist nicht unproblematisch, zumal da die Schulen sich um einen anderen Wissensstoff bemühen als Sokrates. Sokrates hat kaum an das abfragbare Wissen gedacht, wenn er an das Wissen dachte, das er von seinen Schülern neu auffinden lassen und bestätigt haben wollte. Wo aber die Öffentlichkeit als Lernziele intellektuelle und technologische Fertigkeiten anvisiert, wo es ihr um den Erhalt des von ihr erreichten oder den Erwerb des von ihr anvisierten Lebensstandards geht, wo sie den Lehrer in die Rolle des Drillmeisters und Prüglers und Aussiebers drängt: ist mit Sokrates nicht viel zu machen.
Untauglich zur Lehre wäre einer, der Furcht hätte, dass sich die Kinder einmal gegen ihn erhöben. Untauglich ist aber auch einer, der unüberprüft läßt, was das Wissen, das er übermittelt, taugt.
Zeigt Sokrates in Platons "Menon" nicht, dass er die Methode hat, die er braucht, um alle in Frage stehenden Probleme anzugehen und versichert uns dann dennoch, nichts (ouden) zu wissen? Wie reimt sich das zusammen? "Wer weiß, dass er nicht weiß", verzichtet immerhin darauf, Antworten parat zu haben. Er muss sich auch nicht blind machen gegen Einwände und kritische Argumente, aus welchen Gründen sie auch geäußert werden.
Im Gespräch mit Sokrates dürften heutige Philosophen und Bildungstheoretiker nur schlecht bestehen, wenn sie das Gute als inexistent und das Wissen um das Gute als unauffindbar und mithin alle Ontologie und Prinzipienwissenschaft für überholt erklären. Die Mesoteslehre Platons, die Beschreibung des Meson als Akron, steht im Einklang mit den Erfahrungen des Alltags, wie wir sie u.a. in Spruchsammlungen finden (z.B. Ist der Zorn so heiß, dass er über die eigene Mutter herfällt, so hat die Zunge keinen Vater, der sie zur Schonung anhält ...) und sie ist zugleich ein theoretischer Entwurf. Die Frage, die schon Aristoteles erhoben hat, wäre allenfalls, was das Wissen um ein solches meson in seiner allgemeinen Struktur bei der Lösung der jeweils in Frage stehenden Probleme erbringt. Indem nun aber Sokrates zugibt, dass er nicht, bzw., dass er noch nicht weiß, plädiert er für eine offene Existenz, die gar nicht so weit ab davon liegen dürfte, was heutige Hermeneutiker fordern.
Sokrates als Gegenstand des Spotts in der attischen Komödie: das scheint für den oft nur allzu gründlichen deutschen Geist, ja selbst für Goethe ein Paradox, wenn nicht gar ein Ärgernis. Dabei sollte man nicht vergessen, dass Platon den Komödiendichter Aristophanes in seinem "Symposion" gewiß nicht so herausragend gewürdigt hätte, wenn der historische Sokrates sich über die "Wolken des Aristophanes" geärgert hätte.
Worüber könnte sich Sokrates wohl so geärgert haben, dass er es als "unverschämt" apostrophiert hätte? Gewisse Worte kommen in seinem Vokabular einfach nicht vor.
An die Kinder und überhaupt an den Menschen glauben lernen: d.h. den Menschen danach zu beurteilen suchen, wozu wir uns in ihm für qualifiziert und befähigt halten.
Wer Menschen aburteilt, urteilt sich selber mit ab. Er gewöhnt sich an die Prozeßordnung und an das Prozeßverfahren der Aburteilung.
Man kann nicht den Samen beim Keimen verfolgen, ohne ihn zu stören. Und entwickelt sich ein Kind, so sollten wir auch nicht zu viel schauen und zensieren und zurechtstutzen. Wir sollten an die Gorgonenmasken denken, die die Bäcker bei den alten Griechen über ihren Öfen hatten, um Neugierige davon abzuhalten hineinzuschauen.
Warum unterhält sich Sokrates im platonischen Spätwerk nur noch mit einem einzelnen? War es für Platon zu anstrengend, verschiedene Gesichtspunkte und Charaktere in die Rede einzubringen oder wollte er keine Gespräche mehr aufzeichnen, die mit einem Dissens aufhörten? Oder war ihm weniger am historischen Sokrates gelegen, der wohl immer wieder mit seinen Mitunterrednern Schwierigkeiten bekam oder mißtraute der späte Sokrates den vielen, die sich durch wechselseitiges Reden und Dreinreden und nur Sich-selber-reden-hören eine gemeinsame Einsicht vereiteln?
Wenn Sokrates ein Lehrer war, so "nur" ein Privatlehrer, der Brocken verteilte, ähnlich wie später Kierkegaard es versuchte.
Sokrates hätte man nie in einer öffentlichen Schule anstellen können, vermutlich nicht einmal in einem Kindergarten. Und zwar nicht, weil er nicht das Talent gehabt hätte, einzelne Schüler zu immer besserem Nachfragen und Selbsterkennen anzuleiten, sondern weil ihm das Talent fehlte, als Respektsperson aufzutreten.
Manchmal warten die Jugendlichen darauf, dass sich der Lehrer auch von seiner unmutsvollen Seite äußert. Um zu wissen, ob er auch wirklich zum "Alpha-tier" taugt, brauchen sie Botschaften des Affekts. Was können wir tun, wenn wir als Lehrer Ärger, Verdruß, Zorn und alle Arten von Erregtheit und Leidenschaften aus der Welt zu bannen suchen?
Man lernt nicht alles, was man zum Leben braucht, bei Sokrates. So lernt man nicht die Regeln, die man braucht im geselligen Umgang. Man darf sich aber kritisch fragen, ob unsere Schulen mit ihren meist noch zu großen Schülerzahlen zu einer Gesprächskultur anleiten können. Jedenfalls zeigen uns öffentliche Diskussionsrunden, insbesondere wenn Männer mit dabei sind, kaum je Leute, die es gelernt hätten, ihr imponierlüsternes Ich zugunsten der Sache hintanzustellen.
Ein Gespräch führen und einen Stuhl freilassen für Sokrates oder auch für Jesus, sofern einer von ihnen zufällig dazukäme.
Wenn wir das Mütterliche in die Nähe von Fürsorglichkeit, Liebe, Zutrauen, Verehrung, das Väterliche aber mit Achtung, Respekt, Angst und Gewalt in Verbindung bringen, so hätten wir Sokrates in die Nähe des Mütterlichen zu rücken, wozu auch paßt, dass er seine pädagogische Kunst als Hebammenkunst (Mäeutik) bezeichnet.
Ein Schüler, der sich redlich bemüht, kann in der Prüfung bei Sokrates nicht durchfallen. Hier befindet sich nicht eigentlich der Schüler in der Prüfung, sondern der Lehrer. Denn der Lehrer ist es, der sich dem Anspruch unterstellt hat, das Wißbare aus jedem Schüler herausholen zu können. Also muss er es gerade auch im Examen herausholen können. Sokrates, der Lehrer, wäre es also, der durch die Prüfung fiele, wenn der Schüler versagte.
Würden wir Nachhilfe verlangen, was er damit meinte, oder würden wir ihm spontan zustimmen, wenn uns Sokrates fragte: "Wäre es nicht eines Versuches wert auszuprobieren, ein Mensch zu sein?
Ein möglicher Grundgedanke der sokratischen Mäeutik: dass es Menschen gibt, die der Lehre nichts verdanken, sondern denen die Natur für alle Dinge weisen Sinn und Maß verliehen hat (vgl. Euripides, Hippolytos, V.78f.). Es liegt nahe, dass Sokrates diesen Gedanken ins Grundsätzliche und Allgemeingültige erhoben hat, nur dass unter gewissen politisch gesellschaftlichen Umständen diese Gabe leider verdirbt.
Sokrates (ähnlich wie Jesus, Mohammed, Jeanne d' Arc) sprach vermutlich viel mit sich selber. Das Ergebnis war, dass er sein Daimonion hörte. Da begann er nachzuforschen, ob auch die anderen eine Stimme hörten und entwickelte die mäeutische Methode.
Die mäeutische Methode schützt vor der Entweihung geheim zu haltender Gedanken durch vorschnelles Ausplaudern oder durch analytisches Auseinandersetzen. Man läßt den anderen finden, was man nicht verraten darf. Unsere Zeit kennt diese Methode nicht mehr, weil sie solche Gedanken nicht mehr kennt. Wenn noch Dostojewski im "Idiot" (IV.5) den Fürsten Myschkin sprechen läßt: "Wer mehr hat leiden können, der muss folglich würdig sein, auch mehr zu leiden", so fängt man mit der Formulierung einer solchen Welt- und Menschenbejahung heute nicht mehr viel an.
Wie soll man handeln? Wie kann man handeln? Gibt es das Guttun nur in der Vorstellung, uneinholbar und unerreichbar in der Praxis? Da ist z.B. Orest, der, um den ermordeten Vater zu ehren (etwas Gutes), die Mörderin-Mutter tötet (etwas Böses). Seine Handlung schließt Gutes und Böses ineins zusammen. "Die gute Untat ist schillernde Gottlosigkeit: törichter Menschen Geistesverirrung", heißt es im Orest des Euripides, V.823f. - Oder da ist die Helena in Ägypten, wo der Herrscher Theoklymenos sie zur Frau begehrt. Doch schon ist Menelaos, ihr Mann, heimlich in Ägypten eingetroffen. Und nun suchen sie beide nach Wegen zur Flucht, wobei durchaus auch daran gedacht wird, den Herrscher umzubringen, was sich aber aus verschiedenen (nicht moralischen) Gründen nicht realisieren läßt. Vor allem läßt Scheu vor der Schwester des Theoklymenos, vor Theonoe, die als Prophetin um die Zukunft weiß und die eine solche Tat nicht erlaubte, von einem solchen Plan abstehen. Theoklymenos, sobald er von der Flucht erfährt, glaubt sich von seiner Schwester, mit deren Einverständnis ja die Überlistung des Herrschers begann, verraten. Er will sie töten und somit, wie er sagt, eine Tat der Gerechtigkeit (V.1628) tun. Doch ein Diener hindert ihn daran. Was Theonoe, die Schwester, getan hat, ist in des Dieners Augen ein Rechttun, wenn es auch den Verrat am Herrscher miteinschließt: "Rechttun ist Verrat, der Ehre bringt. (V1632)"
Schon bei Aischylos wird die Frage laut angesichts des Muttermordes des Orest, was es mit der Gerechtigkeit auf sich hat und ob es einen "gerechten Mord" gibt. Orest weiß selber nicht, was für eine Tat er getan hat. Er weiß nur, dass er der Weisung Apollons nachgekommen ist, den Vater an der Mutter zu rächen. "Doch ob gerecht ob ungerecht der Mord/ Dir deucht, entscheide!" (Aischylos, "Die Versöhnung" V.612f). Apollo selbst scheint bei der Beantwortung Probleme zu haben. Er beruft sich auf den Befehl des Zeus (V.619). Und wie er den Eumeniden gegenüber, die sein Tun mißbilligen, Rede und Antwort stehen muss, stellt er, wenig sicher, die Gegenfrage: "Ist denn gerecht nicht: wohltun dem Verehrer/ Allzeit und noch zumal, wenn er's bedarf?" (V.725). Wenn wir von hier aus das Amt eines Erziehers weiterbedenken: Verrichten wir Erzieher gute Untaten, wenn wir die Kinder zum Lebenskampf ertüchtigen (etwas Gutes) und wenn wir damit in Kauf nehmen, dass das Bekämpfen und Demütigen anderer und das Vernichten des Glaubens an das Gute nie ein Ende haben wird, solange Menschen über diese Erde wandeln (etwas Böses)?
Die strahlenden Gesichter der Olympioniken sind an und für sich durchaus etwas Schönes. Man darf nur nicht an die vielen denken, die auch fest trainiert und alles gegeben haben, von denen niemand weiß.
Es wäre eine humane Geste, wenn sich der Sieger bei den Besiegten entschuldigen würde.
Wenn sich Sokrates in der Apologie bei seinen Richtern, die ihn zum Tod verurteilen, entschuldigt, ist es die Entschuldigung eines Siegers gegenüber den Besiegten?
Wie kann man erlernen, was Tugend und was das Gute ist, wenn es keine Kunst und kein Erlernen gibt, "wohin des Schicksals Wege gehen" (Euripides, Alkestis, V.785)?
Da ist ein kinderfreundlicher Vater oder eine Mutter, die beide wissen, dass die Kinder sie mit ihren Werken zu erfreuen gedenken, und die ihnen dabei mithelfen, kaum dass die Kinder es bemerken. Doch darüber hinaus gibt es auch noch das selbständige Entdecken, die Herausforderung des eigenen, mühevollen Erlernens. Eltern und Erzieher, die auch darum wissen, verstehen es auch, darauf zu warten, was ihnen die Kinder zu sagen haben. Sie beherrschen wie Sokrates die Kunst, die Menschen aufzuschließen, bis sie das Bedürfnis verspüren, etwas bei ihnen zu lernen.
Da wir als einzelne nicht die Macht haben, die brutalen Verfahren gesellschaftlicher Auslese abzuschaffen, so bleibt nur, die Angelegenheit von der humorvollen Seite zu nehmen. Und so schlage ich den unter Benotungen leidenden Kindern vor, sich selber und, falls möglich, auch ihre lieben Eltern davon zu überzeugen, dass diese Dinge ihnen durchaus nicht ihre gute Laune und Lebenslust rauben sollten, wiewohl ich mir im klaren darüber bin, dass wir uns zugleich damit einverstanden erklären, dass unsere Kinder später dann vielleicht mit einer Existenz am Rand unserer Leistungsgesellschaft vorlieb zu nehmen haben.
Sokrates entzieht sich dem Vergleich mit anderen. Er sucht den Erfolg nicht in Auseinandersetzung mit Rivalen. Er sagt nicht: "Zeig her, was du gemacht hast!", um die Arbeit anderer abzuurteilen und dann hochmütig den Triumphgesang des eigenen Könnens anzustimmen. Er sagt auch nicht: "Was hast du mir zu sagen? Laß mich in Ruhe. Und selbst, wenn du etwas wissen solltest, so will ich doch nicht wissen, dass du etwas weißt. Mir genügt, was ich weiß!" Der andere ist nicht dazu da, überwunden und besiegt und beiseite geräumt zu werden. Er ist für Sokrates dazu da, zu helfen, sich als Mensch zu verstehen. Hier zeigt es sich, dass die Arbeit des Sokrates zugleich nach zwei Seiten hin geschieht: nach außen in die Öffentlichkeit und zugleich auch nach innen. Nach außen wirkt er als einer, der sich anschickt, aus jedem, wer immer sich nur müht, herauszuholen, was in ihm selber sich zu entwickeln trachtet; nach innen, indem er sich im Gespräch mit dem andern des Glaubens an das Gute in sich selbst vergewissert. Sokrates, der große Zweifler und Prüfer, braucht den anderen, um sich zu verstehen und in sich sicher zu werden. Er will also kein Lehrer sein, der wie die Sophisten Wissen als Ware verkauft. Ihn drängt es zur Lehre, weil er die Lehre benötigt, um sich selber im Wissen zu befestigen. Der Schüler hilft ihm dabei. Deshalb geht er in die Öffentlichkeit und zieht sich nicht in sich zurück.
Man braucht keine höheren Offenbarungen für die Fälle, wo man begreifen kann; und wo unser Begreifen versagt, genügt meist, sich still zu bescheiden. "Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß" ist ein Bekenntnis der Unwissenheit und der Unvollkommenheit, ähnlich etwa demjenigen auf physikalischer Ebene, wenn einer sagt, dass er die Welt der Körper nicht kennt, nur die Ausschnitte sinnenhafter Eindrücke, die zu unseren Organen oder zu den von uns gebauten Meßgeräten passen.
Wenn aller Betrug daraus entsteht, dass man uns lehrt, das Eingeständnis unserer Unwissenheit zu scheuen, wie Montaigne notiert (Essays, Manesse, 1953, S.811), so liegt nahe, dass wir, hätte man uns nur die sokratische Überzeugung des Nichtwissens gelehrt, auch manch eine höhere Offenbarung nicht benötigt hätten, zumal wenn man bedenkt, wieviel Kriege um derselben willen ausgetragen wurden.
Wir machen uns oft nicht darum Gedanken, was ist, sondern kümmern uns darum, was man hören will, wenn man uns fragt, was ist.
Um nicht an uns selbst irre zu werden, halten wir gern für bedeutungslos, was wir nicht verstehen, und zeichnen das als besonders wichtig und bedeutsam aus, was unserem Fassungsvermögen entspricht. Sokrates, der Opponent gegen alles Affektiv-Triebhafte proklamiert dagegen die Bedeutsamkeit dessen, was er (noch) nicht versteht.
Manches scheint darauf hinzuweisen, dass Sokrates die Wissenschaften zu begreifen suchte, um darüber hinaus sich dem Absoluten und Göttlichen zu nähern. In dieser Hinsicht wäre die mäeutische Methode (im Gegensatz zum Verständnis einiger Pädagogen) eine Methode zur Auffindung von nur Unwichtigem: weil man wissen muss, was man wissen kann, damit man weiß, wo das Bedeutende beginnt. Indessen hat sich ein Programm, Wissenschaften zu erlernen, um sich darüber hinaus dem Unsagbaren zu nähern, als uneinlösbar erwiesen. Die Wissenschaften sind keine Straße, die ins Freie führt. Sie sind wie ein Wald, in den man hineingeht und sich darin verirrt.
Wittgenstein und Sokrates. Das Leben über tätig sein, um es zum Einschweigen zu bringen. Indem man sich abgemüht und durchstudiert hat, was unwichtig ist, darf man gelassen abwarten, ob noch etwas kommen mag, wo man auch noch das Wichtige erlernt.
Der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Sokrates hätte mit etwas aristophanischem Schalk etwa so zu den irritierten neiderfüllten Männern der Universität sprechen können: "Gewiß, der delphische Apollon hat mich zum weisesten Mann von ganz Griechenland erklärt. Doch das tut euren Forschungen kaum einen Abbruch. Deshalb müßt ihr kein Bauchweh bekommen! Erinnert euch doch nur daran, was für ein Charakter dieser Apollon hat und wie bitterböse er gewesen sein muss, als die Griechen vor Troja eine Mauer um ihre Schiffe bauten (Ilias, VII. 452f.)! Eure Forschung wird den Menschen einmal auf den Mond bringen und selbst die Götter zur neidischen Anerkennung zwingen. Meine Weisheit aber liegt ausschließlich in der Kleinheit, die selbst dem allerkleinsten Gott nicht das mindeste Bauchweh verursacht."
Achten wir auf das Verhältnis des Sokrates zur Praxis, so stellen wir zwei Dinge fest:
a) ein zögerliches Aufschieben der Beurteilung alles faktisch Geschichtlichen im Vorfeld der Handlung (was als "epoche" später zu den Tugenden der Stoikern zählt).
b) eine anhaltende Suche nach den ungetrübten Quellen unseres Handelns.
Sokrates, indem er kein Staatsamt übernimmt, scheint seine Lebens- und Lehrweise für zu schwach gehalten zu haben, dass sie sich gegen die Eigendynamik der Polis hätten durchsetzen können. Vielleicht war dies ein historischer Ansatzpunkt und Anreiz zur Erforschung des Staats bei Platon ("Der Staat" und "die Gesetze") und bei Aristoteles ("Die Politik").
Wer Besitz, Amt und Rang beansprucht, macht sich leicht vor dem Leben schuldig, das er sich unterordnet. Und wer keinen Besitz, kein Amt und keinen Rang beansprucht, macht sich leicht vor der ungeschriebenen Verfassung der menschlichen Gesellschaft schuldig, wenn er an den Grundfesten der Gesellschaft rüttelt.
Die Selbsterkenntnis des Sokrates und sein Gewissen sind insofern von besonderer Art, als sie sich nicht an der öffentlichen Meinung ausrichten. Es war nie des Sokrates Sache, sich als Mitläufer und Wendehals auf der Heerstraße des allgemeinen Handelns zu bewegen. Er brauchte keinen Besitz, kein Amt, keinen Rang.
Sokrates und die Sophisten untersuchen die Gesetze: Sokrates, vielleicht in heimlicher Hoffnung auf einen klassenlosen Volksstaat aus der Kraft des Guten im Zeichen des ihm zugänglichen Daimonion, die Sophisten, indem sie die Gesetze zum Erwerb von Erfolg, Ansehen, politischer Macht und als Geldquelle nutzen. "Machst du nur dein Wort, so bist du ein gemachter Mann", sagen die Sophisten; worauf Sokrates erwidert: "Was für ein Mann bist du, wenn du darauf setzest, die anderen mit deinem Wort zu unterjochen oder zu täuschen, während du dich fortwährend selber täuschst?"
Politische Macht und öffentliche Ämter in einer Demokratie bedürfen des Respektes, allein schon, damit auch unliebsame und nicht ausreichend begründete Entscheidungen durchgestanden werden können. Mit seiner Aussage, zu wissen, dass er nicht weiß, erklärt sich Sokrates implizit zur respektlosen Person. Als solche aber eignet er sich für die komische Bühne; und wenn er wohl auch kaum auf dem Gebiet der Analytik als dumm ausgemacht werden konnte, so ließ er sich darum nur um so besser als Sophist darstellen. Sokrates als kauziger Sophist hat dann wohl auch die Grundierung für das Sokratesbild des Aristophanes abgegeben.
Für gewöhnlich neigen wir dazu, unser Wissen zur Schau zu stellen. Wir artikulieren es, um uns vor uns selber in Szene zu setzen und uns zu vergewissern, was für Köpfe wir sind. Hinzu kommt, dass wir erst dann ein echtes Bewußtsein von unserem Wissen haben und es als etwas besonderes, vornehmlich als Quelle von Macht und Rang und Einfluss schätzen und genießen können, wenn wir sicher sind, dass auch die anderen wissen, dass wir wissen. Im Extremfall kommt uns nicht einmal darauf an, dass die anderen um unser Wissen wirklich wissen. Im Extremfall sind wir zufrieden, wenn die anderen uns bewundern. Und selbst damit sind wir mitunter einverstanden, dass sie uns bewundern, auch wenn wir dieses Wissen überhaupt nicht haben. Endlich gehört es zu den Begleiterscheinungen absolutistisch sich gebärdender Macht, dass sie die anderen, auf die sie wie Unmündige und Kleinkinder herabsieht, zum Glauben zu zwingen sucht, als verfüge ausschließlich sie über ein unbegrenztes und unbedingt wahres Wissen.
Ich weiß, dass ich nicht weiß, heißt nicht notwendig, dass alle anderen klüger sind als ich. Der Satz kann gleichwohl die Bereitschaft andeuten, bei jedermann etwas zu lernen. Indem der Satz die Aussage "Ich weiß, dass du nichts weißt" ausschließt, schließt er auch alle Folgerungen aus. Etwa: "Ich bedauere, dass du unbrauchbar bist. Ich kann dir leider keine Anstellung geben ..."
Sokrates hätte nie eine Anstellung als Lehrer bekommen. "Wir wissen", hätte man ihm am Schluß des Vorstellungsgespräches mitgeteilt, "wir wissen nun leider, dass Sie nichts wissen." Und Sokrates hätte seinen Hut genommen und wäre gegangen.
Wir brauchten kein Wissen um den besten Pfad, wenn wir ihn von Natur aus und notwendig zu gehen hätten. Es nützt aber auch kein von anderen angebotenes Wissen, auch nicht, wenn es auf Begriffe gebracht und schön systematisiert und illustriert ist, sofern wir es uns nicht selber aneignen. Um eine solche Aneignung in Gang zu bringen, muss man vor allem ein Verlangen wecken (Motivation). Dabei muss man sich darauf beschränken, dem Schüler zuerst nur das Allernötigste zu sagen: einmal, um von den Vorerfahrungen und dem Vorwissen des Schülers ausgehend einen offenen maximalen Verstehensprozeß zu ermöglichen, zum andern, um der Gefahr von Ablehnungshaltungen zu begegnen.
Besser, wenn Gutes ohne Autorität, als wenn Autorität ohne Gutes daherkommt. Gutes mit Autorität aber: ist das möglich ohne Verletzung des zu vermittelnden Guten und ohne Unrecht am Schüler?
Platon stattet seinen Sokrates mit Autorität und Lehrgewalt aus. Er zeigt ihn uns als scharfen Denker, der die Gespräche und Gesprächsteilnehmer durchschaut. Wie aber, wenn der historische Sokrates Lehrer sein wollte ohne Autorität und ohne Lehrgewalt?
Der Lehrer unserer Schulen braucht keine Autorität im Hinblick auf den Unterrichtsstoff, wohl aber im Blick auf die vielen Schüler, damit der einzelne als einzelner verantwortlich bleibt und sich nicht in der Masse verliert.
Lieber ein Narr voll Lobgesänge, als ein Weiser voll beklemmender Enge.
Sokrates erschien Hegel als eine tragische Gestalt. Er erschien ihm als einer, der suchte, aber nicht fand. Hegel indessen, im unbändigen Drang, alles aufzuklären und alles Wissbare zu wissen, wäre dem Sokrates wohl als absurder Worttänzer und Traumkünstler erschienen.
Wissen wir, was zu wollen zwar reizt, was wir aber nicht wollen sollen, weil es durch unser Wollen nur abhanden kommt?
Wenn der Mensch, wie Dostojewski sagt (vgl. Aufzeichnungen aus dem Untergrund), nicht nach der Gebundenheit sokratisch-tugendhaften Wissens strebt, sondern nach Autonomie, Freiheit und selbständigem Wollen, sokratisches Wissen aber doch wichtiger wäre: so muss uns Sokrates sagen, wie das Wissen jenes Wollen zu beherrschen vermag. Vielleicht ist das sokratische Wissen aber gar nicht identisch mit dem dostojewskihaften Ergebnis innerhalb eines fest vorgegebenen Kalküls, sondern hat etwas zu tun mit dem Daimonion, mit dem Geist der Erleuchtung?
Die Alten richteten ihre Blicke vornehmlich in die älteste Vergangenheit, wo sie die Urszenen alles Menschseins sahen. In diesem Sinn dürfte auch das "Erkenne dich selbst" für Sokrates das Anerkennen von Grenzen menschlicher Befähigung bedeutet haben, deren Überschreiten zwar ein Stück weit möglich sein mag, doch höchst gefährlich ist. Ähnlich spricht sich auch Euripides aus, wenn er sagt: "Es bringt Gefahr,/ Wenn allzu hohes Wissen auch im Weisen wohnt." (Euripides, Elektra, V.295f.). Wahrhaft weise ist nur der, der sich der Begrenztheit seines Wissens bewußt ist.
Sokrates als Pädagoge im Bild Lichtenbergs (Aphorismen, Manesse, 1958, S.381): ein Diamantstaub, der, wenn er auch nicht glänzt, doch ausreicht, andere so zu schleifen, dass sie schön glänzen.
Ich weiß nicht, dass ich etwas weiß. Dieser Satz hat mit dem Satz des Sokrates nichts gemein. Sokrates wußte durchaus einiges, wie wir bei Platon immer wieder hören. Vor allem aber war er fest davon überzeugt, dass man um das Gute Bescheid wissen sollte und dass, wenn man darum nicht genug Bescheid weiß, man sich durchaus für einen Nichtwissenden halten muss. Neben dieser fundamentalen Einsicht erschien Sokrates alles spezielle Wissen vorläufig und bedeutungslos.
Für Sokrates umschreibt das Eingeständnis des Nichtwissens kein Facit am Ende eines ihn enttäuschenden Lebens, sondern ein methodisches Programm. Zwar gibt es vieles, was man unveräußerlich wissen kann, z.B. den Satz des Pythagoras ... Doch daraufhin zielt der Satz des Sokrates gewiß nicht. Das Nichtwissen als Gegenstand des sokratischen Wissens ist mit der Hoffnung verbunden, dass es einen Weg gibt, der aus dem Nichtwissen herausführt. Das Weltbild des Sokrates ist teleologisch, insofern als er an das Gute als Ziel glaubt. Es ist aber zugleich ateleologisch, insofern als er sich verbietet, der Illusion nachzugeben, als wäre der Glaube an das Gute identisch mit Besitz und Verfügung, vielleicht gar noch mit Verfügungsgewalt über andere. Im Wissen um das Nichtwissen korrespondiert dem Glauben an das Gute das Eingeständnis einer vorläufigen Heimatlosigkeit und Fremde.
Kann man den Menschen verstehen ohne einen Wertmaßstab an ihn anzulegen? Man vergleiche z.B. Flaubert und Dostojewski, zwei Zeitgenossen in unruhiger Zeit. Flaubert im Verzicht auf Tradition, mit der Methode der Desillusionierung, Dostojewski mit dem Gedanken, auch das Verbrechen als etwas deutlich zu machen, was sich in der Sackgasse des Handelns auf der Suche nach Gutem und Bleibendem einzustellen vermag.
Die Frage nach dem rechten Handeln ist in der griechischen Tragödie mit der Frage verbunden, ob es dem Menschen gelingt, sämtliche Gottheiten zufrieden zu stellen, ob es dem Menschen gelingt, die rechte Haltung zu den oberen (olympischen) und zu den unteren (chthonischen) Gottheiten, zu allem Dämonischen und Leidenschaftlichen (z.B. Kypris) zu finden. Hier dürfte auch einer der Ursprünge der griechischen Mesotesanschauung vorliegen (vgl. z.B. Sophokles, Die Trachinierinnen, V.527ff.). Die Gottheiten scheinen in jüngere und ältere (vgl. Aischylos, Die Versöhnung, V. 162f.) zu zerfallen. Von hier aus erhält der Begriff des Wissens Rang und Bedeutung. "Zu wissen ziemt dem Täter. Glaubst du nur,/ So fehlt dir Einsicht, wenn du's nie erprobt." (Sophokles, Die Trachinierinnen, V.592f.) Von daher stammt wohl auch die Ansicht des Sokrates, dass derjenige, der im Besitz des vollkommenen Wissens wäre, nicht mehr anders als gut und richtig zu handeln vermöchte.
Sokrates glaubt nicht an einen Riß und einen Widerspruch, der die Reihen der Himmlischen trennt. Das Leben schließt sich für ihn in der Rückkehr zum Guten. Von daher mag eine gewisse Verliebtheit in die Geheimnisse der Unterwelt herrühren, ja vielleicht sogar eine Sehnsucht nach dem Tod. Vergleiche die Todessehnsucht des Sokrates mit der klaglosen Todessehnsucht der Sappho aus dem 5. Buch der Lieder: "Sieh, ein Gott sandte ein Zeichen mir, verstehn/ kann es jeder. Als Bote trat/ zu mir Hermes, ein Helfer der Müden ..."
Gibt oder gab es das intellektuelle Verlangen, sich einer Gottheit zum Opfer zu bringen? Und war ein solches Verlangen in Sokrates lebendig?
Gibt es einen genuinen Todestrieb in uns? Suggeriert nicht eher die gedankliche Beschäftigung mit dem Tod und dem Leben nach dem Tod (wie sie bei uns gerade in der Romantik, mithin in der Epoche vor S. Freud, wieder lebendig geworden) einen solchen? Während vermutlich nur das Ungewisse, das neben diesen Fragen einhergeht, wie alles Ungewisse und Ungelöste unser Gefühl affiziert?
Auch wenn wir nur unzureichend wissen, was das Gute ist, so können wir, wenn wir nur ehrlich nach ihm gesucht haben, darauf vertrauen, dass es uns einmal weiterhilft, ohne dass wir etwas festzuhalten hätten, was wir sonst vielleicht vergessen zu haben wähnten.
Dass Sokrates sich den Gesetzen der attischen Polis fügte, scheint unbezweifelbar. Dass er aber nicht aus dem Gefängnis floh und somit die Vollstreckung des Urteils zuließ, hing wohl weniger damit zusammen, dass er, wie Platon behauptet, den Gesetzen gehorchen und lieber Unrecht erleiden wollte als Unrecht tun. Indem er Unrecht an sich zuließ, schuf er doch Ungerechte und wurde so auch zur Verursachung von Unrecht. Vielleicht, dass dem leidenschaftlichen kompromißlosen Wahrheitssucher Sokrates an einem großen letzten und entscheidenden Experiment gelegen war: nämlich herauszufinden, was es mit der Wahrheit der unsterblichen Seele und ihrer Verwandtschaft mit dem Guten auf sich hat.
Wo es keinen Glauben gibt an ein Wir, an eine Ideal, an Gott, an etwas Unsterbliches in uns, dort gibt es auch keinen Fortschritt und keine Zukunft und keinen Sieg, nur lächerliche, eingebildete Triumphe.
Stirbt die Wahrheitssuche (A-lätheia) beim Durchqueren des Lethestroms, dass nur bleiches Vergessen bleibt?
Sokrates und der Traum vom Guten. Die Welt, die Schöpfung, die Menschen, die Götter sind gut oder müssen, wenn sie nur Einsicht haben, gut sein. Aber Athen träumte damals von einer Weltherrschaft, und als es dieses Ziel verfehlte und scheiterte, ließ es Sokrates, den Denker des Guten, als Urheber dieses seines Scheiterns büßen.
Die Mächtigen Athens ertrugen es nicht, dass Sokrates zu ihnen sagte: "Ihr habt zwar die Macht über Leben und Tod, und doch seid ihr ohnmächtig; denn ihr wißt nicht, was ihr tut." Oder stand jemals ein Mächtiger vor Gericht und ließ sich schuldig sprechen? - Woraus wir erkennen, dass der Mächtige stets gerechtfertigt ist, wenn auch nicht durch Taten der Gerechtigkeit, so doch durch den Besitz der Macht. Ebenso geschah es in Jerusalem 400 Jahre später, und so wird es wohl auch in Zukunft bleiben.
Hofft Sokrates darauf, mittels des Eingeständnisses der Unwissenheit Einlaß zu finden durch die engen Pforten einer kommenden Welt?
Das Leben des Sokrates spielte sich zwar in der Öffentlichkeit ab wie alles Leben in der Antike, doch lehnte er die Anerkennung durch den Staat ab. Arete (Tauglichkeit) war für Sokrates nicht gleichbedeutend mit dem Erfolg des Tages und nicht mit dem Erzwingen von Lob und Anerkennung in der Polis.
Wenn Unschuld Unwissenheit ist, was ist dann Wissen?
Gewissen als Wissen um gutes und schlechtes (böses) Verhalten und Tun. Doch das Gewissen hat auch einen sozialen Ursprung und entsteht in verschiedenem Maß im Ringen um Macht. Schon Euripides macht auf die Sonderstellung der Macht aufmerksam, die sich jeder Gewissensregung entzieht: "Denn muss man einmal freveln, ist's am schönsten doch/ Um einen Thron; im andern sei man tugendhaft" (Euripides, Die Phönikerinnen, V.499 - 525.), ein Satz, den Julius Cäsar gern zu zitieren pflegte.
Es gibt ein Gewissen der Macht und ein Gewissen der Gerechtigkeit. Wer die Macht nicht liebt mitsamt ihren Allüren preist die Gerechtigkeit als gleiches Recht aller. Und wer die Gerechtigkeit als gleiches Recht aller nicht liebt, preist das Recht der Macht als Gerechtigkeit.
Wie macht man das, wenn man etwas in die Welt bringen will, wovon man überzeugt ist, dass es etwas Gutes ist? Hat Sokrates den Glauben an die Macht des Guten zum allgemeinen Gewissen zu machen versucht? Und hat er dabei die böse Erfahrung gemacht, dass wir noch immer Tiere sind, verstandesbegabte Tiere, wo wir doch Menschen sein sollten?
Sucht Sokrates sich jegliches Handeln zu untersagen, das ihn - auch unbewußt - als schuldigen Täter entlarvt? So dass wir es beim Satz "ich weiß, dass ich nicht weiß" mit einem Aspekt desselben Tatbestandes zu tun haben, der sich in seinem Bekenntnis äußert, dass er lieber Unrecht erleidet als tut? Sobald wir bei uns nachfragen, ob wir gut sind und gerecht und menschenfreundlich, beginnen wir zu zweifeln und sind es schon kaum mehr. Jede Gewissenserforschung wirkt raumerweiternd und polarisierend. Denn dann fragen wir nicht mehr nur nach unserer (augenblicklichen) Beschaffenheit, dann kommen auch die Beweggründe, die Motive unseres Handelns und Nachfragens mit ins Spiel.
Hatte Sokrates Charakter oder besaß er einen Charakter? Jedenfalls gehörte er nicht zu den Leuten, von denen man anerkennend und ehrfurchtsvoll zu sagen pflegt, dass sie wüßten, was sie wollen, dass sie ihre Ziele konsequent verfolgen und dass sie in der Lage sind, jederzeit Rechenschaft über sich abzulegen.
Wenn wir uns fragen, was wir können, fällt uns meist nicht unser Wissen ein - dies ist etwas Selbstverständliches -, sondern das, was uns eben noch als Problem beschäftigt und was wir noch nicht recht verstehen, wie bei den Kleinen. Während aber die Kleinen keine Probleme damit haben, ihr Nichtwissen auch in der Öffentlichkeit zu artikulieren, ohne dass sie sich kompromittieren, stehen für den Erwachsenen oft Prestige- und Einkommensverlust auf dem Spiel. Er sieht sich gezwungen, Wissen und Können vorzutäuschen. Wenn Sokrates nun dazu rät, die Chance zu nutzen, im Beisein anderer den eigenen Defiziten auf den Leib zu rücken, und wenn ihn sein Wahlspruch, nicht zu wissen, vor Überheblichkeit und Angeberei schützt, so kann er so doch nur handeln, da er vom Staat nicht bezahlt wird und er kein Amt hat, das ihm von einem anderen streitig gemacht werden könnte.
Der faustische Drang, alles zu wissen, spiegelt einerseits den Wunsch wider, zu einem für sich bestehenden festen und sicheren Ziel zu steuern. Er kann aber auch dem Wunsch gelten, mehr wissen zu wollen als die anderen und so aus dem Wissen Kapital zu schlagen.
Die sokratische Ironie als Offenheit und Heiterkeit im Wissen um das Nichtwissen. Sie hat nichts mit dem hämisch triumphierenden Lachen eines Siegers zu tun, das verletzt und Rachegelüste weckt.
Sokrates war weder Überredungskünstler noch Berufsprediger noch Dozent. Er hat beim Reden vermutlich nicht mit den Armen und Händen herumgefuchtelt. Aristophanes hätte uns sonst diese Gestik gewiß nicht vorenthalten. Was nicht in sich selber klar und deutlich ist, das können auch noch so geschickt eingeübte Handbewegungen und Blicke nicht deutlich machen.
Das Gute: es ist etwas, was der sokratische Mensch aus ganzer Seele und mit all seinen Kräften erstrebt und doch nie vollständig erreicht. Das erstrebte Ziel rückt beim Näherkommen ins Maßlose.
Sokrates ließe nie zu, dass man ihn als Entdecker eines Sachverhaltes in ein Lexikon eintrüge. Denn, so würde er sagen, ich habe zwar als erster die und die Gesetzmäßigkeit aufgefunden. Doch sonst hätten sie meine Schüler aufgefunden. Ja man muss auch meine Schüler ins Lexikon eintragen, denen ich durch meine Entdeckung die Möglichkeit genommen und die Schau gestohlen habe, sich als die ersten zu erzeigen. Wenn aber der Sachverhalt bedeutsam ist für unser Leben, so trage man überhaupt keinen Namen ein, damit derselbe auch von den kommenden Schülergenerationen überprüft und selbständig entdeckt werden kann.
Der Verbrecher, der nichts von Sünde weiß, kann eigentlich nicht verurteilt werden, wohl aber der Heilige, der allein schon deshalb, weil er um die Sünde weiß, schuldig ist. Der Verbrecher ist sokratisch betrachtet unschuldig, denn hätte er um die Gottlosigkeit seines Tuns gewußt, er hätte ja nicht gehandelt. Anders ist es mit dem Wissenden. Auch wenn er sich keiner Verbrechen durch eigenes Tun schuldig macht, so macht er sich doch durch das Wissen mitverantwortlich. Wer Wissen hat, auch wenn es nur das Wissen um das Nichtwissen ist, hat nach Sokrates keine Wahl: er muss es pädagogisch protreptisch verfügbar machen. Für uns, die wir das Wissen um das Nichtwissen verloren haben und für die es sich nicht auszahlt, es wiederzubeleben (Nichtwissen bringt kein Geld!), eilt neben der Helligkeit des sokratischen Wissen der Schatten pädagogischer Ohnmacht einher.
Wir wissen, dass wir zum Suchen bestimmt sind, nicht aber genau, was wir zu suchen haben. Im Vorgriff magst du es "das Gute" benennen. Doch sagst du damit noch keineswegs etwas über dieses Gute aus, nur über dich, der du dein Suchen als etwas dir Angemessenes und Richtiges einschätzest. Wüßtest du nämlich schon, wonach du suchst, so suchtest du ja nicht mehr: So könnte Sokrates zu uns sprechen
Wir haben uns angewöhnt, vornehmlich solche Fragen zuzulassen, die eine wissenschaftliche Form besitzen und zu überprüfbaren Antworten führen. Wir haben uns angewöhnt, zu beobachten, ohne nach einer Erklärung zu verlangen, und zu beschreiben, ohne zu deuten und zu bewerten. Roboter und Computer sind heute fast schon in der Lage, den Naturwissenschaftler und den Techniker und den Richter zu ersetzen. Doch die Aussprache über unser Dasein und unsere Befindlichkeit in der Welt sollte mehr erschließen als nur den Zugang zu wissenschaftlich formalisierbarem und operationalisierbarem Tun. Sie sollte auch Zeugnis ablegen von den Abgründen und Widersprüchen unserer inneren Verfassung und endlich auch von dem letzten, nur schwer zu verstehenden Verlangen in uns.
Des Sokrates Existenz war eine engagierte Existenz. Wer aber zahlte ihm die Gage für seine engagierte Existenz? Der Gott von Delphi?
Wie lebt man engagiert, ohne einen zu überreden oder gar zu übertölpeln? Indem man nicht das Ziel vorgibt und für dieses wirbt, sondern indem man einen Schritt zurückgeht und Interesse weckt für die Suche nach dem Ziel? Es ist wohl schon ein Schritt in der rechten Richtung, wenn ein Schüler erkennt, dass jedes Dasein ein Dasein-für ist.
Was interessiert dich, so würde Sokrates fragen, ob eine Zahl irrational ist oder was interessiert dich, aus welchen Teilen ein Neutron zusammengesetzt ist oder was es mit dem Urknall auf sich gehabt haben könnte und ob die Sonne einmal erlischt? Kann es erheblich sein für deinen Glauben an das Gute, ob das Weltall gekrümmt ist und wieder kontrahiert? Oder was interessiert dich die Heraufkunft und Vielfalt der biologischen Arten oder das Aussterben einiger derselben vor Millionen Jahren? Oder was starrst du gebannt auf die Verbrechen, die wie Fußspuren die menschliche Geschichte beschmutzen? Oder was bemühst du dich, dir als Wissenschaftler und Techniker einen Namen zu machen? Nutzloses Bemühen, wenn es dir nicht gelingt, mit dir selbst ins Einvernehmen zu kommen.
"Diese unsere Welt will bestanden werden", könnte einer zu Sokrates sagen. "Was nützt uns da die Frage nach dem Guten, wenn man die Atmosphäre schützen, das Wasser gerecht verteilen und die Kernwaffen aus der Welt schaffen muss? Wir haben keine Zeit zu warten, bis wir das allgemeine Gute gefunden haben, ganz abgesehen davon, dass uns weder eine Analogie, noch eine ähnliche Struktur, noch auch nur eine Metaphorik etwas nützt." Darauf könnte Sokrates antworten: "Und woher nimmst du das Vertrauen, dass du die Dinge durch dein Besorgen am Ende wirklich verbesserst und nicht verschlimmerst? Käme es nicht zuerst darauf an, dass alle - der einzelne wie auch die verschiedenen Staaten - die Probleme als die ihnen gemeinsamen erfassen und ein jeder für sich zusieht, was er an Gutem dazu beizusteuern vermag?" Und er würde vielleicht aus den Phönikerinnen des Euripides die Verse 1015-1018 zitieren: "Ja, wollte, was er Gutes hat in seiner Hand,/ Ein jeder geben und dem allgemeinen Wohl/ Zum Opfer weihn: dann träfe mindres Ungemach/ Die Staaten, glücklich wären sie für alle Zeit."
Leicht ist es, Gutes zu tun auf Kosten anderer.
Sokrates zweifelt die Gerechtigkeit der Gerichte an. Diese verurteilen ihn zum Tod. Und Sokrates fügt sich ihrem Urteil, als ob das Urteil gerecht wäre.
Als habe jemand zu Sokrates gesagt: "Hoffe auf den Schlaf!" So scheint ihn eine Sehnsucht nach dem Tod zu beleben. War Sokrates lebensmüde, weil es sich nicht verlohnte, in dieser Welt nach dem Guten weiterzuforschen? Oder war er lebensmüde, weil er es nicht schaffte, das Gute als Lebensmitte für die Menschen um ihn herum lebendig zu machen? Faßte er, nachdem er sich aggressionsfrei gemacht und so vielleicht dem Zugriff einer heimlichen Melancholie ausgesetzt hatte, das über ihn verhängte Todesurteil als gerecht auf, weil ihm nicht gelungen war, dem Gott, dem er diente, die Menschen zu erobern? Oder verlangte ihn nach dem Ausgang dieses alles entscheidenden und letzten Experiments, ob der Tod eine Türe sei zu den Heroen der Vorzeit und zu allen Gutgesinnten, um dort die Gespräche neu aufzunehmen und eine neue Heimat zu finden? Wenn wir die von Sokrates geäußerten Möglichkeiten über die Existenz nach dem Tod in einen uns vertrauteren Kontext übersetzen, so könnten wir sagen, dass er sich die Existenz eines jüngsten Tages nicht anders hat ausdenken können, als dass dann das Gute und nur das Gute aufersteht.
Angesichts des Todes beschleicht uns mitunter die Sorge, später einmal, am großen Tag der Menschheit, nicht mit dabei zu sein und etwas zu verpassen. Anders Sokrates, anders auch Buddha. Das Puzzle der von Sokrates überlieferten Sätze und Lehrmeinungen könnte von seinen Vorstellungen nach dem Tod aus mit dem Satz des Wissens um das Nichtwissen in Zusammenhang gebracht werden. Wir ahnen, dass wir uns gedulden müssen, weil wir durchaus nicht alles wissen, wovon wir glauben, dass es für uns zu wissen wünschenswert wäre. Entweder ist es seiner Natur nach wissbar, so könnte es uns ein Gott nach unserem Tod aufdecken, oder unsere Ahnung war nur eine Selbsttäuschung, dann mag uns ein heilsamer Schlaf umfangen.
Während sich Sokrates der Kunst befleißigte, selbst das Schrecklichste als etwas Annehmbares, ja als eine notwendige Bedingung für ein Weiterkommen anzusehen, überfällt uns vor dem Unbekannten oft Angst.
Nach dem Verklingen des Hymnus und der Ekstase und hinter dem Nachleuchten der Freude lauern oftmals die Augen der Angst.
Gewiß, Gott zu danken, wenn wir ihm nach unserem Leben begegnen, wäre uns Bedürfnis und Pflicht. Aber reicht das für einen echten Dank aus? Fragte er uns, wofür wir ihm im einzelnen danken, so könnte er auf die Projekte abzielen, die uns in unserem Leben umgetrieben haben, ohne dass wir ans Ziel gekommen sind. Wir würden ihm danken, dass wir nun endlich da sind, wo wir Auskunft über die uns quälenden Fragen erlangen. Doch worüber würden wir gerne mit ihm sprechen und was ihn fragen?
Was Shakespeare (im Macbeth) vom Schlaf gesagt hat, hätte der alte Sokrates wohl auch vom Tod sagen können: "Schlaf, der des Grams verworr'n Gespinst entwirrt,/ Den Tod von jedem Lebenstag, das Bad/ Der wunden Müh, den Balsam kranker Seelen,/ Den zweiten Gang im Gastmahl der Natur,/ Das nährendste Gericht beim Fest des Lebens."
Wie gelingt es uns, uns vor eigenem und fremdem Mißverständnis zu schützen? Verstehen wir andere nur in dem Maß, in dem wir uns selber verstehen, so verstehen wir uns selber nur insoweit, als wir von anderen verstanden werden und uns von ihnen verstanden wissen. Wenn wir uns voll und ganz verstünden, wären wir auch vor Mißverständnissen von seiten anderer gefeit. Gewiß könnten wir nicht verhindern, dass man uns auch weiterhin mißversteht, wir könnten auch nicht verhindern, dass Mißverständnisse zum Quell von Ungerechtigkeit und Unglück für uns würden, doch könnten wir uns insofern dagegen feien, als wir sie jederzeit als Mißverständnisse durchschauten und nicht nötig hätten, uns Affekten zu überlassen. Unrecht könnte immerhin noch als Mißverständnis erkannt oder vielleicht sogar entschuldigt werden.
Zur Behauptung, dass Unrecht erleiden besser sei als Unrecht tun, gehört ein gewisses Maß an Erfahrung, die der Befähigung des Menschen, Mißstände abzuschaffen und Gutes durchzusetzen, mißtraut: eine Ahnung oder Einsicht, dass der Mensch hinter guten Vorsätzen und Zielen zurückbleibt. Beispiele aus der Zeit des Sokrates bietet die klassische griechische Tragödie. So hören wir vom Tod des Laios durch die Hand des Ödipus. Er sucht seinen Vater, um von ihm gesegnet zu werden, und tötet ihn. Sodann ist da Theseus, der ein großes Unrecht begeht, indem er, im Wahn gerecht zu handeln, seinen Sohn Hippolytos tötet, weil er glaubt, dass dieser seiner Gattin zu nahe getreten sei. Im nachhinein zeigt sich, dass Theseus übereilt gehandelt hat, dass er zögerlicher und kritischer hätte sein, dass er sich mehr Prüfungungszeit hätte nehmen sollen. Ähnlich werden auch Kreusa und Ion, Mutter und Sohn, wie sie sich noch nicht kennen, aneinander schuldig.
Nur weil in der Familie wahrhaft Mitleiden möglich ist und die griechische Tragödie oft eine Herrscherfamilie zum Mittelpunkt hat, nicht weil die griechische Tragödie als Lehrstück gedacht gewesen wäre, kann es auch zu den von Aristoteles geforderten Wirkungen (Eleos und Katharsis) kommen. Ohne Rücksicht auf diese grundlegende Bedingtheit erscheinen die aristotelischen Forderungen eher verwirrend und irreführend.
Das Mitleiden (eleos) in der griech. Tragödie ist grundsätzlich familiär gefaßt (z.B. in der Familie des Ödipus ...), aber auch der Haß ist in der Familie zuhaus. Vgl. Antigones Satz aus dem Sopkokles "Nicht mitzuhassen, sondern mitzulieben bin ich da." Der Haß auf die Mutter, wie wir ihn bei römischen Cäsaren oder in unserer Zeit als Abwehr gegen Übermutterung (z.B. bei Nietzsche) antreffen, ist den griechischen Tragikern fremd. (Man müsste den Orest umschreiben!) Macht und Größe stehen in peinsamem Gegensatz zur Erinnerung an die Mutter, die das schutzlose und unwissende Wesen gepflegt hat. Es scheint erniedrigend zu sein für einen Mann, wenn eine Frau, die nicht sexuell mit ihm lebt, über ihn Macht hat. (Eine Frage, die man im Blick auf die Quotenfrauen und die Hygiene am Arbeitsplatz diskutieren könnte.)
Schafft man es, im Zweifelsfall lieber Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun: so ist man besser gefeit gegen ein plötzliches Unrecht, ohne gleich an Gott und der Welt zu verzweifeln. Man muss nicht jammern und schreien, wenn einen die Gerichte fälschlicherweise verurteilen. Andererseits ist aber doch auch zu erwägen, dass im Extremfall, wenn wir alles Unheil und Leid für uns in Beschlag nehmen, uns kaum mehr etwas anderes ereilen kann als Unheil und Leid. Die Maxime kann also gewiß nicht uneingeschränkt als Lebensmaxime (zumal nicht für die dem Leben zugewandte Jugend) gelten, allenfalls als eine Art Korrektiv.
Zwei Wege zum archimedischen Punkt, die man aber wohl kaum beide zugleich und gleich zufriedenstellend zu gehen vermag. Der eine, öffentliche, folgt dem Bestreben, sich dahin zu bringen, dass man, ohne sich je eine Blöße zu geben, Bedeutendes schafft, was einem bei den anderen Achtung und Unantastbarkeit einbringt. Auf diesem Weg gilt die Maxime: Jeder soll nur ja gut wissen, dass ich weiß! Der andere, nicht minder wichtige Weg aber dürfte sein, dass es einem gelingt, durch Gelassenheit, Toleranz, Humor, Aufmerksamkeit und Uneigennützigkeit, ja auch durch Anerkennung und Bewunderung einem anderen so viel wert zu werden, dass man, auch wenn man einmal an sich zweifelt, man doch darüber hinwegkommt, weil man in dessen Augen geschrieben findet, dass man ihm wert ist.
Was ist das für eine Welt, wo es nur die Alternative gibt: Unrecht tun oder Unrecht erleiden! Wo, wer zuerst kommt, zuerst mahlt, und wer zuerst vor Gericht rennt, höchstens riskiert, dass man ihm seine Klage abweist! Wo Unrecht in tausend und abertausend feinen und sublimen Formen praktiziert wird! Und nun sollen wir unsere Kinder - Mädchen und Jungen - dazu anhalten, sich schlagen, treten, anklagen und verurteilen zu lassen? Kannst du das wollen, Sokrates?
Ein Form, mit erlittenem Unrecht fertig zu werden, ist, das Unrecht zu vergessen. Doch welche Menschen sind in der Lage, ihnen zugefügtes Unrecht zu vergessen? Es ist ebenso schwer, wie das christliche Gebot der Feindesliebe. In der Welt der politischen Gewalt scheint dies unmöglich, selbst nicht, wenn einer ein begangenes Unrecht wieder gut zu machen versucht. "Wer glaubt, dass bei großen Männern neue Wohltaten altes Unrecht vergessen machen, irrt sich", schreibt Machiavelli am Ende des 7. Kapitels seines "Fürsten". Weil sich die Menschen schon wegen eines kleinen Unrechts bitter rächen, sofern sie die Gelegenheit dazu erhalten, zieht Machiavelli die nüchterne Bilanz: "Die Menschen sind entweder liebenswürdig zu behandeln oder unschädlich zu machen."
Wo (wie bei Eteokles und Polyneikes, dem von ihrem Vater Ödipus verfluchten Brüderpaar) um Herrschaft gekämpft wird, kommt es zu Situationen, wo es nur die Alternative gibt: Unrecht erleiden (= das heißt das Recht auf die Macht aufgeben) oder Unrecht tun.
Leute, denen es in der Öffentlichkeit gelingt, nie Unrecht, sondern immer Recht zu haben oder doch Recht zu bekommen, was auch geschieht, sind leicht in Gefahr, auch im privaten Bereich nie zu dulden, dass sie einmal ein kleines Unrecht erleiden.
Die Behauptung des Sokrates, dass es besser ist, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun, richtet sich nicht zuletzt auch an Athen, das zu Sokrates Zeit besessen war vom Willen zur Macht, besessen von der Idee der Vorherrschaft in Griechenland, ja besessen von Weltherrschaft und dem jedes Mittel gerechtfertigt schien, dieses Ziel zu erreichen. Eteokles (in den Phönikerinnen des Euripides V. 524f.) spricht ganz lapidar aus, gleichsam als gebe es eine Ausnahme vom Verbot des Unrechtuns, wenn er sagt: "Denn muss man einmal freveln, ist's am schönsten doch/ Um einen Thron; im andern sei man tugendhaft." Im Ödipus auf Kolonos (V.419) hält Sophokles auf ähnliche Weise Athen den Spiegel vor Augen, wenn er die Ödipussöhne zeigt, wie sie "die Gier nach Macht" über die Vaterliebe und über die Landes- und Heimatliebe stellen. Der Wille zur Macht geht leicht mit der Unterdrückung Andersdenkende und, mit fragwürdigen Werturteilen einher. Ja er sanktioniert die Bereitschaft, Unrecht zu tun, als ein Gutes oder hält es doch für ein notwendiges Mittel.
Wie subtil verdeckt bleiben nicht oft die eigentlichen Beweggründe zum Verbrechen, wie makellos und selbstlos erscheinen die Argumente, falls überhaupt welche geäußert werden, wie so notwendig schnelles Handeln! Unsere Triebe waren schlau genug, nie das diskursive Denken zu lernen. Sucht man sie zur Verantwortung zu rufen, so schicken sie den listigen sprachgewandten Verstand oder einen kleinkindhaften Angsthasen vor.
Gewaltherrscher vom Schlag der römischen Cäsaren fassen den Satz, dass es besser ist, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun, leicht als Vorwurf auf. "Kann ich denn etwas dafür", würde Tiberius erwidern (vgl. Sueton, Tiberius), "dass du es nicht zur Herrschaft geschafft hast? Wer nicht die Herrschaft erlangt, muss sich damit abfinden, sich beherrschen zu lassen."
Den Mächtigen verlangt nach Selbstbeherrschung im Dienst seiner Herrschaft, nicht aber um für die von ihm Beherrschten nachahmbares Vorbild zu sein.
Der Herrschaft im Staat und über den Staat setzt Sokrates die affektfreie Selbstbeherrschung entgegen.
Athene pronaia und Athene Nike! Glaubt Sokrates nicht an Athene als die Göttin der politischen Macht und verachtet die Göttin des Siegs? Und wäre dies das tragisch-tödliche Verbrechen, dessen er sich schuldig gemacht hat? Macht sich Sokrates auf ähnliche Weise schuldig wie der euripideische Hippolytos, der der Artemis huldigt und dabei die Göttin Kypris übersieht? Sokrates hatte nach Platon mehr Mühe damit, eine Handlung durchzuführen, als sie zu unterlassen. Sein Daimonion warnte ihn, eine Handlung zu unterlassen, nie aber trieb es ihn zum Handeln. Hier mag einer der Antriebe des sokratischen Fragens nach dem Guten und nach der gerechten Handlung liegen. Andererseits sieht man leicht ein, dass ein Staat, der in ähnlicher Weise vor dem Handeln Bedenken hegte, nicht gut existieren könnte. Mag also Sokrates das Göttliche auch als etwas ausschließlich Gutes, ja als Quell alles Guten verehren: das Recht und die Macht der Staaten unterstehen noch anderen Gottheiten.
Wo, wie bei Sokrates, die affektiv-emotionale Bindung an die Götter wegfällt, verblassen die Gottheiten und verlieren ihr Gesicht. Als unsichtbare Wesenheiten sind sie vornehmlich noch zu hören, doch auch hier nicht als stürmisch drohende und erregt sich aufdrängende Stimmen. Die Stimme des sokratischen Daimonion ist ruhig und nüchtern, sie beschwichtigt und warnt vor voreiligem Handeln.
Sokrates glaubt an die Erhellung des Menschen, an die Transparenz der Götter und an die Durchsichtigkeit der Welt.
Für Sokrates gibt es keine zwei verschiedenen Weisen des Gerechten und keine zwei Weisen des Guten, wie sie der Orest der griechischen Tragödie oder Antigone vor sich haben. Es gibt für ihn nicht ein gerechtes Handeln den Unterirdischen und ein gerechtes den Überirdischen gegenüber, sondern nur ein einziges Gerechtes und ein einziges Gutes. Damit schafft Sokrates eine Voraussetzung für Platons Philosophie, die das absolute und universale Gute zum Ausgangspunkt hat.
Der Wunsch und die Suche nach dem Guten machen verletzlich. Idealisch gesinnt, aber auch verwegen kühn und radikal tritt uns Haimon aus der Antigone des Sophokles gegenüber, wenn er (V.637) zu seinem Vater sagt: "Ich werde nicht die Ehe höher achten als dich, insofern du mich zum Guten führst!" Wenn alle Jugendlichen so zu ihren Eltern und zu den Erziehern und zu der Gesellschaft sprächen!? Es ist gewiß bequemer, sich mit dem abzufinden, was ist, statt sich abzuarbeiten, dass aus der Welt eine bessere wird.
Haimon, von Idealen beseelt, die Gottheiten achtend, voll Liebe zu seiner Braut Antigone: dieser Jüngling muss, um seinen Vater an einem Verbrechen zu hindern, von einem Gesetz (der Familie) sprechen, das dessen politisch gefordertem Gesetz widerspricht (vgl. Sophokles, Antigone, V.821). Indem Haimon sieht, wie sich sein Vater gegen die unteren Götter vergeht (vgl. Sophokles, Antigone V.743), berichtet er ihm, was das Volk von der Tat der Antigone, die ihren toten Bruder bestattet hat, denkt. Indem er aber so das eine Unrecht zu verhindern sucht, lädt er den Zorn seines Vaters auf sich und wird zur Ursache für ein zweites, das nun ihn betrifft. Auf ähnliche Weise verhält sich Sokrates vor Gericht. Nachdem man ihn zum Tod verurteilt, weigert er sich zu entfliehen. Es könnte sein, dass er dieses Urteil nicht als Verurteilung versteht, sondern als einen Ruf der unteren Götter, dem zuwiderzuhandeln er nicht berechtigt ist.
Der Weg zur Heimat ist für Sokrates nicht der Weg zum Olymp der Staatsgötter. Der Weg zur Heimat ist der Weg, den Jokaste aufsucht und Antigone und Ödipus auf Kolonos. Diesen Weg scheint Sokrates im Auge gehabt zu haben, wenn er nach seinem Tod daran denkt, sich etwa mit Aias zu unterhalten, der auch einen ungerechten Tod hat erleiden müssen. Auch der freiwillig auf sich genommene Opfertod des Menoikeus in den Phönikerinnen des Euripides, mit dem dieser zum Wohl seiner Heimat beitragen möchte, zeigt uns diesen Weg. Der später, oft mißbrauchte Spruch, dass es gut ist, fürs Vaterland zu sterben, hat dann allerdings kaum mehr etwas mit diesen Gottheiten zu tun. Er sieht nicht mehr den autochthonen Ares, der die Heimat schützt, sondern er hat den Staat im Blick, der Soldaten braucht für seine Aggressions- und Wirtschaftspolitik.
Dass Odysseus, der Liebling Athenes, zur Sippschaft des Sisyphos gehört und dass er mit seiner Demagogie und Verschlagenheit gerade bei Euripides als höchst abstoßend erscheint, spiegelt etwas wider von der Opposition der damaligen Bildungsschicht gegen die Staatsgewalt. Radikaler noch als Euripides scheint der Gottsucher Sokrates keinen Gott anerkennen zu wollen, der auf krummen Linien gerade schreibt.
Zufälliges scheint - wie das Göttliche - mächtig am Werk, ohne sich je zu offenbaren. Deshalb bleibt die Frage, ob der Zufall die Weise der Offenbarung Gottes ist oder die scheinbare Offenbarung des Göttlichen nichts als der Widerschein von Zufall, unbeantwortbar.
Was heißt weise sein bei Sokrates und in seiner Zeit? Gewiß nicht, über ein wörterbuchartiges enzyklopädisches Fachwissen verfügen. Weise-sein hat etwas mit dem Wissen um richtiges Handeln zu tun. Wer in der Lage ist, Böses zu vermeiden, tut im Sinne des Sokrates und der griechischen Tragödie Gutes und ist weise. So heißt es in der Euripideischen Helena (V.1021f.): "Denn Gutes tu ich, ob er's auch nicht glaubt an ihm, entfremd ich ihn dem Frevel, dass er weise wird."
Hilft dem Sokrates, die Anklage des Anytos und des Meletos wegzustecken, indem er sich sagt, der Gegner wisse nicht, was er tut (vgl. Platon, Apologie)? Kann er auf diese Weise die ihm zugefügte Verwundung gegenstandslos machen? Muß aber nicht der Blick auf eine Welt, in der das Unrecht zuhaus ist, zutiefst deprimieren und an der Berufung des Menschen zur Schaffung einer allen gemeinsamen, gerechten Welt verzweifeln lassen?
Gesetzt, dass in jedem von uns ein Kampf tobt zwischen Gutem und Bösem, zwischen Gerechtem und Ungerechtem: wie wäre dieser Kampf in der Polis, in der Gesellschaft, in der Welt zu Ende zu bringen?
Man vergißt die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, wenn man sich an Unrecht gewöhnt.
Als hätte Sokrates nie erfahren, was wir mit Trieb bezeichnen: Begierde und Leidenschaft, Hoffnung und Angst, Neid, Ehrgeiz, rauschhafte Zustände, kurz alles menschliche und allzu menschliche Verhalten. Oder hat ihn das Ausbleiben solcher Verhaltensweisen in den Augen der im Peloponnesischen Krieg gescheiterten Zeitgenossen hassenswert gemacht? Dass Sokrates in der Apologie um Bereitstellung eines täglichen Mittagstisches bittet, ist kaum die Provokation eines Satten gewesen. Es könnte darauf hinweisen, dass er Schwierigkeiten hatte, dem Recht des Bauchs zu genügen.
War Sokrates ausgeglichen ruhig oder war er ängstlich passiv?
Beängstigend, wie angstfrei Sokrates zu sein sich anschickte, bis in den Tod! Wacht man von einem Alptraum auf, so kann man leicht über ihn lachen. Wenn man aber nicht mehr erwacht?
Wir wissen, dass das Urteil über die Qualität unseres Tätig-werdens keineswegs stets mit dem Augenblick des Handelns zusammenfällt, zum einen, weil wir uns gerade in der Gegenwart uns selbst gegenüber oft nur schwer vergewissern, und zweitens, weil die Ereignisse mit all ihren Konsequenzen in der Gegenwart niemals abgeschlossen der Beurteilung vorliegen. Erst später, wenn wir die Erlebnisse deutend und bedeutend neu erleben, wenn wir uns davon überzeugt haben, wie undurchsichtig und gespenstisch die Gegenwart gewesen, dass wir uns nur wenig aus uns selber heraus haben steuern, sondern uns von uns meist unbekannten Faktoren und Affekten haben treiben lassen, wenn wir vollends auch das Urteil anderer mitzuberücksichtigen genötigt sind, ob es nun zutrifft oder nicht: kurz, wenn unsere Erlebnisse einen nur noch bedingt von uns abhängigen Ereignischarakter gewonnen haben, oder, im Bild ausgedrückt, wenn Prometheus längst mit dem Fels zusammengewachsen ist: dann könnten wir wohl auf die Idee kommen, im Zweifelsfall lieber mit Sokrates auf das Handeln zu verzichten.
Handlungen mit ungewissem Ausgang kompromittieren, weshalb Sokrates sie unterläßt. Aber ist es nicht auch mit jedem Satz so und mit jeder Frage? Woher weiß Sokrates, dass er als Mäeutiker nur Gutes fördert?
Wie, wenn Wirklichkeit sich selber schafft, sofern wir sie nicht schaffen? Wenn Kultur in Gefahr ist, in Wildheit und Barbarei auszuarten und zurückzufallen? Sollen wir uns auch dann mit Sokrates vor dem Handeln zurückhalten?
Suche Beispiele, wo Sokrates einen wegen seiner Handlung rügt. Nicht einmal den Alkibiades rügt er, der doch die Vaterstadt verraten hat.
Sollte Sokrates unter Handlungsangst gelitten haben, weil Handlungen, selbst wenn sie nichts Fragmentarisches und Unvollkommenes an sich hätten, gleichwohl immer noch mißverstanden und zur Ursache schlechter Folgehandlungen werden können? Oder war es dies: dass er gerade vor staunenerregenden beifallheischenden Handlungen zurückschreckte und die eigentlich menschenwürdigen Handlungen in der Ausübung der unscheinbaren täglichen Verrichtungen sah?
Um Unrecht erleiden und Mißhandlungen übersehen zu können, muß man entweder sehr schwach sein und geübt in der Kunst sich zu bücken oder man muß sehr stark und unempfindlich sein gegen Beleidigungen wie ein Löwe, der sich um das Gesums der Schmeißfliegen nur wenig kümmert.
Wie stark die Gottheit ist, die für die gerechte Sache ist, ist schwer zu sagen. Wer aber Unrecht tut, trägt dazu bei, dass die Gottheit der Gerechtigkeit für schwach erfunden wird (Vgl. auch Euripides, Elektra, V. 584f.).
Hat Sokrates im Eigennutz eine der mächtigsten und gefährlichsten Triebfedern des Handelns erkannt?
Wenn wir zum Handeln geboren sind, so bleibt zu erwägen, ob nicht Eigennutz durch Selbstlosigkeit gemildert oder sublimiert werden mag und ob durch Handeln entstandenes Unrecht nicht ein Sporn sein kann zu seiner Überwindung durch eine es überragende gerechte Tat.
Mit der Vorstellung, dass es der Intrige der Olympier bedurfte, durch die das Urteil des Paris und der Krieg in Troja nötig wurden, auf dass sich Achill als der größte Sohn Griechenlands erweisen konnte, hat Sokrates gewiß nicht viel angefangen.
Unvorstellbar, dass einer den Sokrates hätte reizen oder gar bis aufs Blut beleidigen können. Er war zwar nach Aussage des delphischen Apollon der weiseste Mann, doch war er ein Mann?
Der delphische Apollon erklärt Sokrates zum weisesten Mann in ganz Griechenland, während doch Sokrates mit seiner Maxime, alles Unrecht zu vermeiden, im Gegensatz steht zu jenem Apollo, der den Orest auffordert, die Ermordung seines Vaters zu rächen und seine Mutter zu töten. Wenn sich nun für Sokrates die Frage erhebt, ob Apollon weise war, als er dem Orest diesen Auftrag gab, so bedeutet dies kaum, dass er sich für weiser als der Gott gehalten hätte, sondern dass man dem Mythos an dieser Stelle nicht glauben darf. (Auch Euripides zieht des öftern in Erwägung, ob uns nicht die Pierischen Tafeln täuschen.) Kaum ein Volk hat auf der Suche nach der Wahrheit die Entmythologisierung der Göttergeschichten leidenschaftlicher betrieben als Athen zur Zeit des Sokrates. Sokrates wurde immerhin nicht zuletzt wegen Gottlosigkeit zum Tode verurteilt.
Unsere Theologen wissen kaum mehr, was Gottlosigkeit ist. Sie wissen ja auch nicht, was Gott ist.
Das über Sokrates verhängte Todesurteil muß nicht notwendig als Unrecht verstanden werden, zumal, wenn Sokrates sich nach einem solchen Urteil sehnte, wenn er es brauchte, wie einer der nichts mehr braucht als nur noch eine letzte flüchtige Bestätigung, dass er nichts mehr braucht. Jedenfalls scheint Sokrates den Tod nicht als eine Weise des Beraubtwerdens verstanden zu haben.
Sokrates scheint den Tod noch mit in das Experiment seines Lebens einzubeziehen. Wenn er in der Stunde seines Todes das Leben eine Krankheit nennt, so verweist er auf sich als auf einen Jünger des Asklepios, der von diesem göttlichen Arzt Heilung, und d.h. vielleicht auch, die Auferweckung nach dem Tod erhofft. Wenn es die Auferweckung als etwas Gutes gibt, so gehört auch der Tod mit hinzu. Damit hätte Sokrates allerdings eine andere Rangordnung unter den Göttern geschätzt als die damals staatsübliche mit den Polisgöttern an der Spitze. Und selbst die Auffassung, wie sie Euripides in seiner Alkestis äußert, dass wir nämlich den Tod gegen eine Schuld einzubezahlen haben, könnte er, ähnlich wie später Franziskus hinter sich gelassen haben. Dann hoffte auch Sokrates auf den Bruder Tod. Dann suchte er, im Tod alle Krankheit und Begrenztheit und Unwissenheit und alles Unwesentliche hinter sich zu lassen.
Was wollen eigentlich die Leute erleben, die uns heutzutage vorreden, sie wollten auch noch den Tod erleben? Und wie will heute einer sich auf den Tod, den letzten und entscheidenden Verzicht auf das Leben, einüben, wenn er hier und jetzt nicht zu verzichten versteht? Betrachte Sokrates, wie er sich einübte: Er machte keine Auslandsreisen und ging nie aus Athen; er war genügsam bei der Stillung von Bedürfnissen; er verzichtete auf Besitz und Rang und Ansehen; er zog im Zweifelsfall vor, nicht zu handeln; er verzichtete auf eine Flucht aus dem Gefängnis ...
Selbstgerechtigkeit aus Angst vor dem Eingeständnis, ein Nest voller Schmutz mit sich herumzutragen, wie auch zum Zweck, sich über andere zu erheben und sie zu beherrschen: diese Eigenschaft eines Tartuffe oder eines ums Überleben kämpfenden schwachen Erziehers fehlt Sokrates.
Es gehört zu den bemerkenswertesten Grundsätzen des Sokrates, an den Menschen als sittlich autonome Person geglaubt zu haben. Der Mensch wird nicht länger mehr als Marionette in der Hand undurchschaubarer oder gar rachsüchtiger und gemeiner Triebkräfte geduldet. Nicht länger mehr bestimmen Götterrat und Götterstreit das Geschick des Menschen (vgl. die Helena des Euripides, V.894 - 1030), sondern Denken und Einsicht.
Man muß das tun, wovon man einsieht, dass es getan werden muß. Unsere Freiheit besteht darin, das als gut und richtig Erschaute sicher in die Tat umzusetzen. Sokrates ist kein Agnostizist und kein Fatalist. Das Unterlassen eines nicht als gut und richtig erkannten Handelns, auch wenn es wichtig sein könnte, scheint ihm weniger gefährlich als Handeln aufs gerate wohl.
Die Frage nach der Natur der Götter beherrscht das Denken des Euripides ebenso wie das des Sokrates. Bei beiden spitzt sie sich zu in der Frage, wie der gute Gott als gut erkannt werden kann und beide halten inne vor dieser für sie bedeutsamen Frage. Es ist die fatale Situation der meisten Euripideischen Helden, dass ihnen etwas zuredet, dass sie etwas drängt, ja überwältigt zum Handeln, oft sogar gegen besseres Wissen, ja oft sogar im Wissen um das Unheil, das dadurch den Menschen entsteht. Doch was ist dieses Drängende? Sind es Götter oder das Schicksal (fatum) oder verderbenbringende Dämonen? Sokrates geht hier viel weiter als Euripides. Für Euripides als Tragiker bleibt alles Handeln der Schauplatz von "Theos".
"Gott" kann für Sokrates nicht böse sein (vgl. z.B. auch Euripides, Iphigenie bei den Taurern, V.391). Es scheint, dass Sokrates die Frage nach dem Bösen und nach dem Unheil in der Welt als dem Menschen ungeziemend und unstatthaft zurückwies. Der Mensch kann nicht Richter sein über Mächte, die stärker sind als er. Es schien ihm genug zu sein, nichts Böses durch eigenes Planen und Anstoßen oder auch aus bloßer Unachtsamkeit in die Wege zu leiten.
Wenn Euripides in jener berühmten Selbstaussage der Medea (Euripides, Medea, 1076ff.) davon spricht, dass bei ihr die Leidenschaft, "die stets den Sterblichen die größten Übel bringt", stärker ist als das Denken, läßt sie Euripides ganz selbstverständlich das Wort "Denken" prägnant als grundsätzlich zum Guten hin orientiert verwenden. Wenn aber das Schicksal des Menschen ist, zum Handeln und damit zur Verstrickung mit Unrecht geboren zu sein, der Gott aber im menschlichen Handeln sich regt, so ergibt sich die Frage nach der Natur und der Weisheit der Götter.
Mit der Maxime der Goetheschen Iphigenie (Edel sei der Mensch) läßt sich dem Verhängnis nicht entfliehen und darauf läßt sich auch nur unzureichend ein Fundament für erzieherische Arbeit aufbauen, wie die Problemfälle des Euripides zeigen. Der von Chiron ("damit er fliehe böser Menschen Art") erzogene Achill z. B. möchte gerne edel an Iphigenie handeln, die in Aulis geopfert werden soll. Er zeigt sich beeindruckt von dem starken Charakter des Mädchens, müsste sich aber doch dem Druck seiner Krieger fügen, käme Iphigenie ihm nicht glücklicherweise durch ihren Entschluß, für Hellas zu sterben, zuvor. Es geht Euripides also nicht darum, Konstellationen aufzuspüren, die es dem Menschen hier und da ermöglichen, seine Handlungsziele zu erreichen, es geht ihm vielmehr darum, ihn in seinem Streben auf ein gutes Ziel hin so zu zeigen, dass er es stets auch verfehlen kann. Ihm scheint die moderne Chaostheorie nicht fremd zu sein: Der Flügelschlag eines Schmetterlings genügt mitunter schon, etwas Gewaltsames auszulösen.
Lernen, auf das Gute zu warten und dass Gutes im Einzelfall erkannt werden kann, das ist ein sokratisches Ziel. Das ist auch ein Ziel der pädagogisch didaktischen Lehrstücke des Euripides. Spätestens, wenn ein Gutes eingetroffen ist, sollten wir es sehen.
Bei den Sokratikern wie auch bei den Sophisten geht es um den Agon zwischen der guten und der schlechten Sache, zwischen dem schwächeren und dem stärkeren Argument (logos). Gerade dadurch, dass guter und schlechter Logos, wahre Rede und sophistisches Geplänkel, starkes und schwaches Argument, gerechte und gottlose Tat oft nur undeutlich nebeneinander liegen und das Unrecht als gerechte Tat erscheint, gewinnt die Forderung des Sokrates nach einem unbedingten Wissen ein entscheidendes Gewicht.
Sokrates verachtete den Gott der autoritär und hierarchisch gegliederten Sozietät, dem alle Mittel recht sind, wenn sie nur Erfolg verschaffen, und das sich auf ihn berufende skrupellos gewordene Gewissen. Er wollte dem Gott des Logos dienen und dem sich auf ihn berufenden Gewissen, welcher stets das Gute im Sinn hat.
Am Ausbleiben des Guten zernagt sich der Mensch. Hier sind die männlichen und weiblichen Helden des Euripides unruhiger, leidenschaftlicher, hemmungsloser als Sokrates.
Würden wir Sokrates fragen, ob wir nur ungefragte Teilnehmer an einem Experiment sind, etwa an dem Experiment, wie weit es die biologische Materie bringt, und ob unsere Subjektivität nur so etwas ist wie eine Autosuggestion, als ob wir etwas gefragt wären oder als einer auf uns schaute, ohne dass es doch der Fall ist, so würde er kaum zustimmen. Sokrates setzt darauf, dass uns eine Sehweise zukommt, die erkennen läßt, dass etwas für uns da ist, was wir in unserem Leben auffinden können.
Zeitgleich mit Euripides (vgl., Die Schutzflehenden V.198ff) wirft Sokrates die Frage auf, ob die Zahl des Bösen in der Welt die Zahl des Guten überwiegt. Er glaubt sich für das Übergewicht des Guten in der Welt entscheiden zu können, wobei er als Argument vor allem auf die treffliche Ausstattung des Menschen mit Sprache und Geist und auf die Einrichtung der Welt mit dem zum Leben Notwendigen hinweist. Bei der Unterhaltung mit seinem Sohn Lampsakos wegen dessen Undankbarkeit der Mutter gegenüber wird die Weltsicht des Sokrates besonders deutlich: Geboren zu werden ist gut, so erklärt er dem Sohn; denn die Welt mit ihrer Fülle an Gütern gibt Gelegenheit, das Gute zu erfahren. (Viele im damaligen Griechenland sprachen davon, dass Nichtgeboren-zu-werden besser sei.)
Ob Lampsakos seinen Vater verstanden hat, ist fraglich. Viele für uns existentiell wichtigen Einsichten scheinen sich sprachlich nicht vermitteln zu lassen. Wir müssen selber darauf kommen. Sokrates als Mäeutiker schien darum zu wissen. Vielleicht in einer schlaflosen Nacht, beim Überdenken unseres Daseins und Warum-seins, warum es sich lohnt, geboren worden zu sein: kommt plötzlich etwas über uns wie eine Erleuchtung. Plötzlich glauben wir, auf etwas gestoßen zu sein oder auch von unsichtbarer Hand dahin gelenkt worden zu sein, wo eine große Entdeckung, eine wichtige Erfahrung, eine seltene Offenbarung, ein bedeutendes Wissen auf uns gewartet haben. Fast drängt es uns da, mit Kindermund zu rufen: "Jetzt weiß ich alles". Doch wenn wir tags darauf versuchen, unsere neugewonnene Erfahrung in Worte zu fassen, um sie uns klar zu machen oder andern zu vermitteln, merken wir, dass die Sprache bestenfalls noch so etwas wie einen Ahnungsschimmer gibt, wo die längst wieder unaussprechbar gewordene Wahrheit einmal gewesen sein mag. Wir wissen dann nur noch, dass wir einmal zu wissen glaubten, dass es gut ist, geboren worden zu sein.
Das Gute kann nicht böse sein, wenn wir es nur auffinden.
Die Kunst, sich selbst zu beherrschen, ist nur eine hinreichende Bedingung zur Erlangung von Gutem, doch sie ist nicht minder eine Voraussetzung für jede frei duchgeführte schlechte Tat.
Wenn der Mensch ziellos und müde umherschweift und ihn nur noch nach Auflösung verlangt, kann er unmöglich zu etwas Gutem beitragen.
Und wäre es auch wahr, dass der Mensch dazu verdammt wäre, niederen und gewalttätigen Instinkten zu frönen, Sokrates würde diese Wahrheit nie gelten lassen, und zwar nicht, indem er einen theoretischen Gegenbeweis, sondern indem er an sich selbst das Gegenteil zu erweisen suchte, nicht verzweifelt, sondern voll Überzeugung, heiter und gelassen.
Sokrates ist sich sicher, dass jeder Mensch, insbesondere aber der jugendliche Mensch, dazu gebracht werden kann, in sich, in seinem Wollen und Vermögen ein so vielseitig verwendbares Boot zu bemerken, dass er die Kunst zu erlernen begehrt, es auch bei Wind und Wetter gehörig zu navigieren.
Warum - so mag man fragen - sollen wir uns und unsere Kinder zur Güte anleiten, wenn die allgemeine Menschennatur zur Unterdrückung und zur Gewalt und Grausamkeit neigen? Macht Güte nicht wehrlos, so dass eine jede Gewalt bequemes Spiel hat? Sollten wir uns also nicht besser darauf einstellen, die Jugend die Selbstbeherrschung zu lehren und wie man Gemeinheiten aushält und erwidert? Vielleicht würde uns Sokrates an dieser Stelle mit der Gegenfrage antworten: Wie aber nehmen wir uns dann vor dem Kot der Welt in acht, dass er uns nicht verwandelt und uns sich gleich macht?
Mag der Mensch auch schlecht sein, so dass wir uns vor ihm in acht nehmen und die Kinder anleiten, sich vor ihm in acht zu nehmen. Solchem Rat und solcher Anleitung zur Wachsamkeit steht gegenüber, dass wir Gefahr laufen, Mißtrauen zu säen und zum Gedeihen zu bringen. Mißtrauen aber beschmutzt die Seele. Wer an das Gute glaubt, läuft allenfalls Gefahr, sich gegen das Gebot der Selbsterhaltung zu vergehen.
Denken, das an die Sterne des Himmels reicht, die in unserem Innern widerscheinen.
Wir quälen uns ein Leben lang mit Dingen, die wir nicht verstanden haben, von denen wir aber glauben, sie uns noch verständlich machen zu können. "Quäl dich nicht zu sehr", könnte Sokrates zu uns sagen. "Betreib deine Sachen heiter und gelassen. Entweder du findest etwas heraus. Dann wirst du feststellen, dass es kaum mehr wert ist, als dass du bemerkst, dass es dies nicht war, was dir am Herzen lag. Oder du findest nichts heraus; dann bist du auch nicht ferner vom Ziel."
Umsichtig behutsam das Gute suchen und es stückweise und probeweise zugänglich machen wie Sokrates: darüber ist noch die Weisheit keiner Zeit hinausgelangt.
Weisheit: das umschloß für die Alten Bildung und Lebenskunst, nicht exotisches Wissen.
Heil und Hoffen gehören in den Umkreis des sokratischen Suchens.
Man kann das Gute nur suchen, wenn man es ahnt und in dieser Ahnung bereits von Dankbarkeit erfüllt ist.
Das Gute kann es nicht hindern, wenn das Böse den Schein des Guten annimmt, ebenso wenig wie die Wahrheit, wenn die Lüge sich ihrer bedient. "Wes Sinn Gott zum Verhängnis führt,/ Dem scheint das Böse gut." (Sophokles, Antigone, V.622f.). Und wer weiß, ob wirklich das Gute in uns lebt, wenn wir uns gut vorkommen, und ob Wahrheit und Weisheit und Gerechtigkeit aus uns sprechen, wenn wir der festen Ansicht sind, etwas Bedeutsames für unsere Zeit zu tun?
Wenn es keine eigentliche Dynamik des Bösen gibt, wenn Wollen und Streben an sich wertfrei sind, so lassen sie sich auch in den Dienst des Guten stellen. Man muß nur frühzeitig damit beginnen.
Wenn ich wüßte, dass ich richtig handle, wäre jede Skepsis ausgeschlossen. Es ist aber auch möglich, dass ich glaube, falsch zu handeln, auch wenn sich mein Handeln im nachhinein als erfolgreich herausstellt.
Mit demselben Recht, mit dem Aristoteles das Wissen des Sokrates ablehnt, könnte Sokrates den sittlichen Werdeprozeß, der durch die Erfahrung und den Austausch mit der Welt führt, kritisch untersuchen. Muß nicht jeder Mensch, so könnte er fragen, der einmal die Welt kennen gelernt hat, an ihr zweifeln und verzweifeln? Stößt er nicht immer wieder auf Gewalt und Ungerechtigkeit, so dass er bestenfalls lernt, ihr zu mißtrauen? Wie sehr wir auch die Theorie der sittlichen Praxis bei Aristoteles nachvollziehen und sie in die Praxis der Pädagogik einzubringen suchen (vgl. auch Cicero, de officiis, und Montaigne, Essais, S. 193, wo er sich gegen Sokrates als allgemeines Vorbild ausspricht), so problematisch erscheint sie mit Blick auf die bestehende gesellschaftliche Ordnung.
Mit der Unterscheidung von Nichtwissen und Wissen reicht Sokrates weit über den Bereich des eingeübten und als gut erwiesenen sittlichen Handelns hinaus. Zwischen dem sokratischen Nichtwissen und dem erstrebten hellen und unanfechtbaren Wissen stehen das Vorwissen und die damit gnoseologisch unter das Wahre zu ordnende Meinung. Jedenfalls können wir die vielen Anspielungen auf den Kosmos, als einer herrlich geplanten und geordneten Welt, wie sie Sokrates bei Xenophon und Platon macht, vor diesem Hintergrund verstehen. Das Gute wird als Motor einer Schöpfung erahnt, die schon in der äußeren Wahrnehmung beeindruckt. Kausalität und Finalität fallen für Sokrates noch nicht auseinander wie in den modernen Naturwissenschaften; sie werden als ein Ganzes, als Paradigma, in der Bewegung von Deszendenz und Aszendenz zusammen erschaut.
"Und wenn du auch einmal übervorteilt wirst", hören wir Sokrates sagen, "was bekümmert es dich? Täusche dich nur ja nicht, als sei dies am besten, wenn alle darauf achten, dass keiner ein Unrecht tut. Denn was nützte dir dies, wenn du dadurch selber unruhig würdest und dich erregtest und du häßlich würdest in deinem Innern?" Doch der Fürst bei Machiavelli würde ihm lächelnd die Leitlinien seiner Pädagogik und Menschenführung unterbreiten und ihm antworten: "Ist es denn nicht gut, bester Sokrates, wenn alles Volk sich gegenseitig kontrolliert und bespitzelt? So muß schon ich das nicht tun. Was aber mich angeht, weshalb auch sollte ich unruhig werden, weil einmal ein Unrecht geschieht? Wenn es denn sein muß und es das allgemeine Wohl verlangt, so bin ich ungerecht. Und muß es sein, so frage ich nicht nach Recht oder Unrecht und schrecke vor nichts zurück. Kurz zwar, aber grausam werde ich strafen, um dann wieder langsam und in wohlberechneten Raten Geschenke und Wohltaten zu verteilen."
Die in unseren Verhaltensmustern verankerten Wurzeln des Vorurteils als Wurzeln von Ungerechtigkeit. Z.B. dass das äußerlich Häßliche auch einen inwendig schlechten Kern berge, wovon Vorschulkinder ganz selbstverständlich überzeugt sind. Versucht Sokrates nicht mit diesem Vorurteil aufzuräumen, wenn er seine "Häßlichkeit" fast etwas provozierend zur Schau stellt? Im übrigen bleibt diese Art von Aufklärung keineswegs auf Sokrates beschränkt. Während noch der Steinmetz die Körper aus dem Stein für die Tempelfriese der Akropolis herausmeißelt, warnt Euripides vor der Ungerechtigkeit alles Vorurteils (Medea, V.218ff.). In diesem Sinn ließe sich auch jene Anekdote verstehen, von der Nietzsche berichtet, die er so gründlich hat mißverstehen wollen: Als der Fremde in Athen dem Sokrates begegnet, glaubt er ihm um eben seines häßlichen Äußeren willen auch ein häßliches Inneres unterstellen zu müssen. Sokrates gibt ihm zwar recht, fügt dann aber hinzu, dass er mit der Häßlichkeit in seinem Innern aufgeräumt hat.
Ich könnte mir Sokrates vorstellen als Lehrer für die Kleinstkinder im Kindergarten, dann für die mit Idealen liebäugelnde, verliebte Jugend und endlich für Senioren, die in ihrem Berufsleben genug Welt- und Menschenerfahrung gesammelt haben, ohne dass sie dabei verbittert worden wären. Leute aber, die eben ein Staatsamt oder eine führende Position eingenommen haben und die auf der Leiter des Erfolgs aufzusteigen im Begriffe sind und wohl auch die Lehrer an unseren öffentlichen Schulen bringt Sokrates in unlösbare Konflikte.
Besser für ungebildet gehalten zu werden als eingebildet zu sein! Die Bildung des Herzens äußert sich leise, ohne Demonstration.
Wie einem Kind mit dem Alter immer deutlicher wird, dass es niemals in der Lage gewesen wäre, sich selbst zu ernähren und auf den Weg zu bringen, während es zuvor noch nicht einmal darum wußte, und wie es erkennt, dass es ohne die mütterliche Fürsorge jämmerlich hätte zugrunde gehen müssen, ähnlich erkennt Sokrates, dass die Welt gut eingerichtet ist, was ihn mit Dankbarkeit erfüllt.
Bei Sokrates finden wir eine Sensibilität für Zusammengehörigkeit in Familie und Freundeskreis, eine Form existentieller Dankbarkeit, die er nicht vergißt und die ihn auch im Alter erfüllt.
Dasein ist als ein Dasein-für erfahrbar. Der Baum gibt der Frucht alles mit, was sie braucht. Und die Tiere geben ihren Jungen mit, was sie brauchen. Sie mühen sich ab im Auffüttern ihrer Jungen, ohne dass ihnen die Mühe eine Last zu sein scheint. Und endlich ist auch das Dasein des Menschen als ein Dasein-für keine Last.
Es gibt kein absolutes Gutes, das uns die Mittel in die Hand gäbe, das je und je geschichtlich notwendige Gute aufzufinden und zu verwirklichen. Woher aber kann der Mensch die Geduld und die Zuversicht nehmen, wenn es gilt, für schwierige geschichtliche Probleme zufriedenstellende Lösungen zu finden, wenn man nicht wenigstens davon ausgeht, dass eine gute Lösung gefunden werden kann?
Sokrates und Jesus stammten weder aus einem kaiserlichem Geschlecht noch zumindest aus einer evangelischen Pfarrersfamilie, deren sie sich hätten rühmen können. Vielleicht ist es das, was gewisse Leute Jesus und Sokrates glauben vorwerfen zu müssen.
Wessen rühmen wir uns? Und warum begehren wir, gerühmt und berühmt zu werden?
Versuchen wir "Verstehen" als einen Prozeß zu erfassen, der uns Zufriedenheit und ein Zuhause stiftet, so könnten wir sagen, dass Sokrates die Welt als etwas im Innersten Gutes verstanden hat. Er mußte dabei längst nicht alles wissen. Ja, er konnte sich's leisten, sich des Nichtwissens zu bezichtigen. Diesbezüglich könnte man ihn geradezu als einen Antiödipus bezeichnen.
Mit der Blickrichtung in die Vergangenheit vermochten es die Alten, sich als geschichtliche Wesen zu erfassen und aus der Geschichte zu lernen. Der Blick in die Zukunft dagegen, zumal soweit die Ereignisse nicht in unserer Macht liegen, ist uns verschlossen. Von hier aus legt sich nahe, die allen Menschen gemeinsame Unwissenheit als ein verbindendes Band anzusehen. So tritt auch Theseus dem Ödipus, wie er nach Athen kommt, gegenüber und gewährt ihm Hilfe ( Sophokles, Ödipus auf Kolonos, V.567f.): "Ich weiß, ich bin ein Mensch, und ungewiß/ Wie dir erscheint auch mir der nächste Tag."
Das sokratische Wissen hat seinen Gegensatz weniger in der von Aristoteles geforderten, auf Einübung beruhenden ethike Arete, als vielmehr in der Verlorenheit und Unwissenheit, die unsere Lebensentscheidungen und unsere Lebenstage durchziehen.
Der homo religosus ist sich grundsätzlich seines Nichtwissens bewußt. Er sucht nicht, wie die modernen Wissenschaften, dasselbe durch Wissen abzugrenzen und zu minimalisieren. Auch macht er dieses Nichtwissen nicht zum Ausgangspunkt eines höheren Wissens wie die docta ignorantia. Weder sucht er es durch göttliche Offenbarungen noch gar wie Goethes Faust durch Magie zu beheben. Er besteht grundsätzlich auf dem Wissen des Nichtwissens, wodurch er sich die Notwendigkeit des Glaubens hervorruft. Religion, im besten Sinn, polarisiert und macht blind gegen ein Fragen und Suchen, das, wie der alte Goethe und wohl auch Sokrates ahnt, niemals ans Ziel kommt.
Gott, das Gute, die Ursache schlechthin, die wahre Theorie: all das läßt sich nie finden. Alles, was wir auffinden, kann nur als vorläufig aufgefaßt werden.
Nichtwissen aushalten. Ein kritisches Bewußtsein kultivieren, das Rechenschaft darüber ablegt, wann vorschnell vereinfacht oder vervollständigt oder schablonenhaft typisiert wird.
Ganz gewiß hat die sokratische Unwissenheit mit dem Unaussagbaren Einen , dem "arrhäton Hen" und dem Prinzip des Guten zu tun, wie wir es aus den mündlichen Gesprächen Platons (Peri t'agathou) kennen. Was wir mit "Gott" benennen, ist nicht wahrhaft Gott. Der wahrhafte Gott transzendiert unser Wissen. Er ist und bleibt seiner Natur nach unbekannt, unzugänglich und unaussprechlich. Darum wohl kann der antike Mensch auch Gottheiten darstellen, die selber beten und Trankopfer spenden. Darum ragt wohl auch das Ringen um das Gute ins Unaussprechliche. Die Wissenschaften leisten Sokrates in diesem Zusammenhang einen wichtigen Dienst, indem sie dort Aussagen machen, wo man Aussagen machen kann: wo man sagen kann, was ist und was nicht ist.
Was wir als Menschen am meisten zu vergessen scheinen, ist das Bewußtsein, dass jeder uns begegnende Mensch Mensch ist wie wir selbst.
Sokrates stellt die Frage nach dem Wert des Wissens. Das Wissen um den Menschen ist ihm nicht nur wichtiger als das Wissen um sonstige Objekte, das Wissen um die Objekte kann uns auch vom Wissen um den Menschen abhalten. Wie wir heute wissen, ist dies nicht nur dadurch möglich, dass wir wie besessen Wissenschaft betreiben, ohne noch für sonst etwas Zeit zu haben, sondern auch dadurch, dass wir uns von den Ergebnissen der Naturwissenschaften ein Menschenbild einflößen lassen, das an selbststeuerungs- und lernfähige Maschinen erinnert.
Wenn Wissen uns einengen kann, uns nicht notwendigerweise aber einengen muß, so müßten wir vor allem Wissenserwerb schon wissen, wie gut wir mit dem erworbenen Wissen umzugehen verstehen, oder wir müßten diesen geeigneten Umgang spätestens mit dem Wissenserwerb miterlernen. Mitunter hört man Geisteswissenschaftler, die in gewiß ehrenwerter Absicht den Naturwissenschaftlern solche Ratschläge an die Hand zu geben versuchen. Doch verfügt der Geisteswissenschaftler, zumal als Wissenschaftler, über ein den Menschen befreiendes Wissen?
Lange vor Rousseau machte sich Euripides Gedanken um den von Natur aus guten Menschen, um seine Gefährdung in der Welt, wie auch um die Möglichkeiten von Erziehung und Lehre. "Ihr Menschen", so ruft uns Theseus in seinem Hippolytos zu: "Ihr Menschen, die vielfacher Irrwahn blendet,/ was lehrt ihr tausend Künste doch, was sinnet ihr/ So manche List aus und erfindet allerlei/ Und wisset nicht das Eine, noch erjaget ihr's,/ Weisheit zu lehren einem, dem's an Geist gebricht? (V.916-920)"
Würde einer von uns scheinbar sehr vernünftig zu Sokrates sagen: "Da wir nicht wissen, was das Gute ist und da ein absolut Gutes keinen Platz hat in dieser Welt, so ist uns genug, wenn wir wissen, was es mit Lust und Leid und Schmerzen auf sich hat", so könnte ihm Sokrates antworten: "Dann glaubst du also, lieber Freund, dass es besser ist, den Menschen sein zu lassen, was er ist und wohin es ihn treibt, als dass du dafür Sorge trägst, dass er sich eine Welt erschafft, vor der und in der er bestehen kann?" Und dann würde er das Gespräch vielleicht der Frage zuwenden nach dem, was ist und was sein kann. "Kann nicht sein", so könnte er dann zu erwägen geben, "dass die Bestimmung des Menschen zu Vernunft und Denken nur deshalb nicht offenkundig wird, weil wir es versäumen, das uns gegebene Gute zu aktivieren und zu gebrauchen? Und kommt der Bedeutungslosigkeit und dem Nichts nicht gerade deshalb so große Bedeutung zu, weil wir uns blindlings dahin treiben lassen?" Und er wäre gewiß davon überzeugt, dass in unserer Zeit, einer Zeit unermeßlichen und unaufzählbaren Wissens, Ausgeburten des Pessimismus und des Nihilismus heilbar wären, wenn nur das Wissen um unser Nichtwissen lebendiger wäre.
Unser Wissen scheint grenzenlos. Doch, so fragt Euripides, woher wissen wir, dass es kein zweites Griechenland, keine zweite Helena, kein Troja an anderm Ort und keinen zweiten trojanischen Krieg gibt? Woher wissen wir, dass es uns kein zweites oder drittes Mal gibt, weder jetzt noch in Zukunft? Wir wissen dies nicht, wir lehnen es einfach als absurde Ausgeburt der Imagination ab. Wir haben die Welt unseres Theoretisierens und Experimentierens dagegen dicht gemacht. Wenn Euripides in seiner Helena solche Fragen anschneidet, so gewiß nicht aus einem abergläubigen Verlangen und Unverstand, sondern um uns auf die Möglichkeit des Unbegreiflichen vorzubereiten. Uns sind die rastlos sich verändernden Gestalten der Götter aus dem Blick geraten, von denen wir nicht einmal mehr das zu wissen scheinen, was noch Euripides wußte: dass sie nämlich anderes bewirken, als was wir uns vorgenommen und vorgestellt haben (Pollai morphai ton daimonion).
Der Glaube, alles zu wissen oder doch wissen zu sollen, und die Praxis, Wissen zu bezahlen, hat uns Leben sehr anspruchsvoll gemacht. Wenn da z.B. einer zum Arzt geht, so ist selbstverständlich, dass er uns heilen können muß. Wer uns nicht heilt - so die gängige Meinung -, läßt es an Sachverstand und ärztlicher Kunst ermangeln, zumal bei den horrenden Honoraren.
Vielleicht genügt dies, wenn wir mit Sokrates am Schluß unseres Lebens sagen können: "Das beste habe ich nie gemein zu machen und zu verraten gesucht."
Man muß gewiß nicht an das Unglück als Strafe für den Unglauben an das Gute glauben. Wenn aber alle an das Gute glaubten und diesem Glauben gemäß lebten, gäbe es gewiß weniger Unglück.
In Fragen der Methode würde Sokrates Brecht gewiß zustimmen, dass weiser Zweifel ein sicherer Führer ist.
Ob Sokrates, wenn er heute lebte, auch noch auf die Straße ginge? Oder wo würden wir ihn antreffen? Unter den Intellektuellen, den Schriftstellern, den Kirchenlehrern, den Sozialkritikern, den Politikern oder unter einem der Brückenbögen? Läßt sich von hier aus eine Antwort geben, warum es keinen Sokrates mehr bei uns gibt?
Wir wollen und müssen die Geschichte der Menschheit nicht verstehen wie Sätze der Mathematik. Verbrechen in der Geschichte der Menschen muß man nicht als geschichtlich notwendig verstehen oder sie gar rechtfertigen. Notwendig verstehbar ist nach Sokrates nur das Wissen um das zu suchende Gute.
Ist man kein Fachgelehrter, so unterhält man sich mit einem Theologen am besten nicht über Gott oder die Armut der Kirche, und mit einem Pädagogen nicht über Erziehungsfragen, wenn sie ihn persönlich berühren, mit einem Richter nicht über Gerechtigkeit ... Mit Sokrates indes hätte sich einer wohl immer über das Gute unterhalten können.
Es scheint charakteristisch für uns Menschen, dass wir seit Alters die Gerichte als Orte der Macht und des Geldes mißbrauchen. Nicht nur das Gerichtspersonal stuft die Rechtsfälle nach Geld und Sachwert ein, wobei die Ehre eines armen Mannes noch nie viel wert war. Sokrates, indem er seinem Daimonion vertraute, das ihn zu keinem Handeln drängte, dürfte an solcher Praxis kaum Freude gehabt haben. "Nutze dein Recht nicht aus", so ruft er uns zu, "auch nicht, wenn du unanfechtbar Recht zu haben glaubst. Leicht kannst du dich ins Unrecht setzen, selbst wenn du noch so lauter und aufrichtig nichts anderes begehrst als das dir billigermaßen zustehende Recht."
Befragt nach dem Wichtigsten, was er uns Heutigen zu sagen hätte, würde uns Sokrates vielleicht sagen: "Suche dich immer so zu verhalten und so zu begreifen, dass du daran festhalten kannst, dass das Leben sich lohnt und dass du unbedingt ja zu dir sagen kannst! Was auch immer die Gestalt der Welt sein und was uns auch immer als Aufgabe in ihr zukommen mag: das Glück der inneren Zustimmung ist so etwas wie ein archimedischer Punkt, an dem man aller Veränderung zum Trotz festhalten kann."
Der an und für sich geheimnislos gewordene Mensch: ein moderner Typus, frei von aller Bedenklichkeit, ohne Blick für zeitliche Kontinuität und ohne geschichtlich kulturelles Bewußtsein, umgeben von einer Ansammlung von Einzelobjekten, auf die er zujagt und die ihm, wenn er vorübereilt, zuschreien, dass sie hier sind. Umgeben von einer Ansammlung disparater Hier und Jetzt, die sein Ich und seine zur Begehrlichkeit erzogene Psyche widerspiegeln. Seine Sorge ist, dass er alles hat und dass ihm nichts fehlt. In allem ist er korrekt, vorsorgend ängstlich, mit umfassendem Rechtsschutz und mit einer Lobby, die ihn im Zweifelsfall schützt. Umfassende Ideen braucht er nicht. Ihm genügt der Glaube an die Erfindung immer präziser arbeitender Apparate und immer genauerer Theorien, die ein intersubjektives Registrieren und Interpretieren von Meßdaten erlauben: eine Welt, die ihm das Seine sichert, indem sie sich seinem Programm gemäß verwaltet und verwandelt.
Es ist nicht die erste und alles entscheidende Frage, ob es Gott gibt oder nicht (sie ist unlösbar!), sondern ob einer sich entschließt, nach ihm zu suchen oder nicht. Wenn ich davon überzeugt bin, dass es ihn nicht gibt, mache ich mich auch nicht auf die Suche nach ihm. Eine aufgeklärte Gesellschaft zumal, für die es Gott nicht mehr gibt, erschwert oder verhindert die Suche nach Gott und mithin die Möglichkeit, dass sich (junge) Menschen in dieser Suche und Begegnung erproben und transformieren und transzendieren. Ähnliche Probleme stellen sich dort, wo die Beziehungen zwischen Eltern und Kinder oder zwischen Lehrern und Schüler nicht stimmen.
Erstaunlich, dass 3 Jahre aus dem Leben eines jungen Mannes genügten, um daraus ein Programm und eine Frohebotschaft zu machen, die die abendländische Menschheit 2000 Jahre lang zu Größe und tätigem Leben zu inspirieren und zu beflügeln vermochten.
Schon zu Lebzeiten Jesu wurde dessen Evangelium kaum recht verstanden, sonst hätten die Leute nicht auf das Hosianna das Kreuzige-ihn geschrieen. Sie hofften auf ihn als auf einen Anführer von Rebellen gegen das Römerjoch, und als sie sahen, dass daraus nichts wurde, ließen sie ihn fallen.
Da liefen ihm die Leute nach und er lehrte sie. Und doch, so heißt es in der Schrift, blieb er der, den sie nicht erkannt haben.
Die beste Lehre und das erbaulichste Evangelium wecken ungute Gefühle bei denen, die diese Botschaft nicht brauchen oder die sie stört.
Wie sich Kirche evangelisch verstehen, wie sie sich definieren sollte? Sie sollte zusehen, dass niemand sein Talent vergraben muß, weil sie sich dafür nicht interessiert. Und sie sollte zusehen, dass niemand die Perlen vor die Schweine werfen muß.
Theologie im Christentum, das scheint oft nur wie ein Ansinnen, die faktische Torheit des Kreuzes und die skandalöse Armut des Geistes durch Ansehen in der Welt vergessen zu machen.
Kann man das Kreuz lieben?
Lange haben wir, die filii Evae, davon geträumt, mit dem zweiten Adam ins Paradies zurückzukehren. Doch dann, als wir mündig wurden, glaubten wir, die Rückkehr zu erreichen, wenn wir nur für uns alle das tägliche Brot hätten. Als wir dann das Brot hatten, ohne uns doch wie im Paradies zu fühlen, glaubten wir, es ermangle uns noch die Freiheit, zuerst die gesellschaftlich politische, dann auch die religiöse und die moralische ... Doch nun, da wir dies alles haben, zeigt sich, dass wir auch jetzt noch immer nicht im Paradies sind. In unserem selbstgeschaffenen Paradies, so zeigt sich uns, brauchen wir auch noch etwas Unglück und Elend. Ohne Unglück, so scheint es, gibt es kein Glück, ohne Genuß an Leiden kein Genuß an Freuden, ohne Appetit auf Ausleben von Niedrigkeit und Gemeinheit keine Erhabenheit und Größe, ohne Knechtschaft keine Herrschaft. Viele von uns setzen ihr Glück ins Spiel: machen Wohl und Wehe davon abhängig, wie ihre Aktien sich entwickeln; andere, mit weniger Geld, machen Wohl und Wehe von einem Fußballverein abhängig; der Punktestand ist ihr Konto, der Tabellenplatz ihr Glanz oder Elend ...
Jedermann, das war das Schauspiel zur Zeit des Barock vom Menschen, den Gott der Herr jeweils an einen anderen Platz gestellt hat: vom Kaiser und König, die gesellschaftliche Leiter abwärts, bis zum Bettler und Taugenichts. Wenn wir eine solche göttliche Weltordnung auch füglich bezweifeln, so kann das Schauspiel doch so umgeschrieben werden, dass es einen humanen Kern verrät. Jeder von uns kommt mit etwas verschiedenen Talenten und Begabungen zur Welt, sei es von seiten der Natur, sei es von seiten der Eltern und der Umwelt, in die wir geboren werden. Jeder von uns entwickelt sich und sucht eine Nische, wo er tätig werden und sich brauchbar machen kann. Nur auf der Oberfläche sind wir verschieden, nur dort gibt es so etwas wie unverwechselbare komische Käuze und Charaktere. Tiefer drinnen sind wir alle gleich: da herrscht und beherrscht uns das Leben. Da suchen wir und machen wir uns Gedanken; da sorgen wir uns, fühlen uns bald mächtig und unbesiegbar, bald im Stich gelassen und verraten, und sind doch immer dem Endlichen ausgeliefert. Da sind wir mitunter in einem zugleich klein, gemein, neidisch, rechthaberisch und elend, wie auch übermütig, gottbeseelt, fromm und unerschütterlich. Unsere wahre Identität ist in der Ununterscheidbarkeit.
Christentum gedeiht im Tal der Tränen (lacrimarum vallis), nicht aber in Wohlstandgesellschaften und unter Konsumbürgern. Wir haben uns aus den Händen Gottes begeben, als wir uns entschlossen, lieber selber für uns zu sorgen. Oder haben wir den Gott falsch verstanden?
Uns ist die Fremde nicht bekannt, wenn wir aus der Fremde kommen. Wir merken bestenfalls, dass es dort anders war.
Wenn der Mensch, der sich als freies und selbständiges und vernünftiges Wesen begreift, sich auch alleine sagen kann, was ein Gott ihm früher mittels Offenbarungen sagte: hat er dann nicht schon den Gottesbegriff ad absurdum geführt oder doch zumindest gezeigt, dass kein Gott ihm helfen kann?
Ist es eine Tatsache, die wir hinzunehmen haben, dass wir nicht wissen, wer wir sind, und dass wir mit diesem Wissen über unser Nichtwissen zu entschlafen haben? Oder gibt es eine Kunst, dem Dasein mit seinen flüchtigen und schemenhaft gespenstischen Bildern zu entrinnen? Wie hilfreich und beruhigend die Vorstellung und der Glaube an einen Gott sein konnte, zeigt der Psalmist, der sich als Werk Gottes verstand, welchem bei der Schöpfung des Menschen die Idee eines erfüllten und geglückten Menschenlebens vor Augen gestanden. Die Gebote Gottes anerkannte er als Hilfestellung auf diesem Weg. In ihnen fand er die Weisheit, in ihnen seine Bildung.
Wir haben die Kultur des Vertrauens verlernt, sowohl des Selbstvertrauens wie auch des Vertrauens, das wir einem gewähren. Weil wir weder uns noch anderen trauen, kommt auch der Weg zum Traualtar aus der Mode. Der Glaube an einen Schöpfergott wie auch der Glaube an einen Geist, der belebt und Leben trägt, wie es der Gesang des Echnaton oder der Psalm 104 zu Gehör bringen, ist abhanden gekommen. Auf uns allein gestellt, fehlt uns dieses große beruhigende Dritte, unter dessen Schutz wir der eigenen Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten Herr werden könnten.
Über die Jahrtausende hinweg ist der Mensch Gegenstand des (sokratischen) Fragens und Forschens geblieben, wie er im Mund der euripideischen Medea zum Ausdruck kommt: "Warum verliehst du großer Zeus uns sichere Merkmale, dass uns falsches Gold nicht täuschen kann. Doch drücktest kein Kennzeichen auf der Menschen Leib, an dem man unterscheiden kann den schlechten Mann?" (Medea, V.516ff; ähnlich auch "Elektra", V.367ff.) Wir sind in der Lage, die Materie aufs beste zu überprüfen und Maschinen für uns arbeiten zu lassen, die uns, solange die Rohstoffe da sind, alle nur erdenkbaren Bequemlichkeiten verschaffen. Gegenüber dieser Machbarkeit und Bestimmbarkeit ist der Mensch wie aus unbestimmbarem, stets sich änderndem Stoff. Er ist wie der Schatten eines Schattens, ein Stück verworrener Natur, ein Ball, gehoben in die Luft, dann losgelassen, der springt, bis er liegen bleibt. Mitunter erscheint der Mensch wie ein Werkzeug, um das sich die verschiedensten Mächte streiten. Manchmal indes sieht es auch so aus, als sei er aus dem Material eines Gottesarmes gemacht, den der Gott nun zu wenig hat. Und nun schaut bald der Mensch voll Bangen auf zu dem Gott, bald der Gott hin zum Menschen, was aus diesem Arm wird.
Gott, so fragen wir, oder haben uns das Fragen schon als unsinniges abgewöhnt, was ist das? Und wir merken durchaus und haben genügend Erfahrung gesammelt, dass kein Wort stand hält. Wenn man müde wird, fällt leicht von jedem Wort der Sinn ab.
Möglichkeiten und Grenzen der Weltvorstellung und der Welterfahrung: keiner von uns würde je mehr einen in der Gestalt eines Fremden einherkommenden Menschen als Gott erahnen, wie viele Geschichten aus der Antike bezeugen. Und keiner fängt mehr etwas an mit der Gestalt eines Gottessohnes oder einer Gottesgebärerin. Himmel und Erde sind sich ferne gerückt. Statt zum Himmel aufzuschauen und sich den Gefühl des Unermeßlichen zu überlassen, suchen wir nach astronomischen Gesetzmäßigkeiten, den kosmischen Raum insgesamt zu erfassen.
Beim Nachdenken über das Menschsein trifft man auch auf den Satz des Evangeliums, dass wir, um ins Himmelreich zu gelangen, werden sollen wie die Kindlein. Erziehung müßte da zu einer Wechselbeziehung führen, wo nicht nur die Kinder den Eltern, sondern wo auch die Eltern (und die Erzieher) den Kindern vieles verdanken.
Die Paradiesesgeschichte der Genesis könnte als Geschichte des Ödipus etwa so lauten: Adam (der Sohn) darf nicht vom Baum des Lebens essen. Schon das Berühren der Frucht (weibliche Brust eines der Weibchen seines Vaters, welches nicht seine Mutter ist) ist ihm streng untersagt. Dies ist dem Vater (Gott) ausschließlich vorbehalten. Doch der Sohn vergißt sich, vielleicht verlockt durch die Schlange, deren Rätsel er löst, und so erhält er Teil an Eva (die Mutter des Lebens). Der Vater bekommt Ahnung davon und es kommt zur Auseinandersetzung. In Folge davon wird der Vater entmachtet. Adam und Eva aber beginnen als Mann und Weib ein neues Leben; sie ziehen aus dem Paradies aus. An die Stelle kindlicher Unbekümmertheit und Umsorgung tritt die Stätte des Lebens voll menschlicher Arbeit (Ananke) und Trieberfüllung (Eros).
Was ist aus den alttradierten Bestimmungen geworden: dem Begriff des Welt und Mensch umfassenden Gottes, was aus dem Begriff des göttlichen Wissens und der Wahrheit (Theorie)? Was aus dem Begriff der Einheit und der Zahl (Mathematik)? Was aus dem Begriff des Menschen als Abbild Gottes (Geschöpflichkeit des Menschen) und was aus dem Begriff der Heilsgeschichte (Theologie)? Was aus dem unwandelbaren Selbst, bei dem Shakespeares Julia den Romeo schwören heißt? Was aus dem göttlichen Recht, dem Naturrecht und dem menschlichen Gewissen (Ethik, Recht, Natur)?
Die rechte Selbsteinschätzung vermeidet sowohl die heillose Krankheit der Selbstüberschätzung als auch die Krankheit der Selbstunterschätzung. Doch wie macht man das? - Früher noch lag es im Denken der Zeit, dass der Mensch auf den Schöpfer verwies: Wenn sich der Schöpfer etwas dabei gedacht hatte, einen jeden ins Leben zu berufen, so war dessen Leben grundsätzlich nicht als überflüssiges gedacht. Der areligiöse Geist hingegen ist, sobald er an der Gesellschaft irre wird, der Gefahr ausgesetzt, sein Leben als einen blinden, mißglückten Spielzug der Evolution zu bewerten. Wenn schon kein Mensch auf uns wartet und uns wohlwollend interessiert zuschaut, so hatte der religiöse Mensch, selbst als geschundener Hiob, doch noch seinen Gott.
Hiob konnte immerhin noch glückbringend hadern; denn er hatte einen Gott, der ihm zuhörte.
Die Attributionstheorie kann uns bei der Findung der rechten Selbsteinschätzung kaum weiterhelfen. Sie mag uns zwar raten, den jeweiligen Gesetzen konform uns zum Ausdruck zu bringen, koste es, was es wolle. Doch dann bleibt die Selbsteinschätzung eine für das Selbst zufällige, nämlich durch die zufälligen Gesetze geregelte äußere Angelegenheit. Man müßte gleichsam noch an den Gesetzen modeln ... Aber auch der Rückzug zur Ontologie Platons oder zur Mesoteslehre des Aristoteles ist wenig Erfolg versprechend: erstere nicht, weil wir nicht mehr das Eine (als Hen und göttliches Prinzip) zu denken willens sind, letztere aber nicht, weil es das meson als Orientierung und praktiziertes Maß nicht notwendig gibt, wie wir nach den Diktaturen des 20. Jahrhunderts leider wissen.
Wir lehnen Vorbilder ab, weil wir Heuchelei und Rattenfänger fürchten, und brauchten doch so notwendig Leute, die ganz unauffällig und gleichsam ohne etwas darauf zu geben und ohne sich um eine Wirkung Gedanken zu machen, andere zur Nachahmung bewegen. Heilige, die nie heilig gesprochen werden ...
Die Gottebenbildlichkeit des Menschen sollte dem Menschen Würde und Größe verleihen, doch die Menschenähnlichkeit des Gottes verlieh dem Gott im Gegenzug etwas Unheimliches und Unberechenbares.
Das Geheimnis der Metamorphose, der Wandlung und Verwandlung aus dem Geist des Demeter- und des Dionysoskults. Mit der Spezifizierung der Wandlung als Umkehr durch Reinigung und Buße schafft der Bakchenkult die Voraussetzung zu einer synkretistischen Verschmelzung mit spätjüdischer Welterklärung und mit dem beginnenden Christentum. Am Schluß steht der Gott, der alles ist in allem, wie es Paulus formuliert hat.
Demut und Erniedrigung galten im Christentum stets für ein hohes Ideal. Wenn es zutrifft, dass alle Macht maßregelt und entmachtet und demütigt, brauchte dann die Kirche ihre Macht, um demütige Heilige zu schaffen? Oder war das eine ebenso subtile wie raffinierte Weise ihrer Selbstrechtfertigung?
Das Christentum hat uns in zuvor unvorstellbarem Maße hochmütig und demütig zugleich gemacht. Hochmütig, weil wir wissen, dass vor Gott nichts Bestand hat, dass also selbst der über uns thronende Mächtige und Prächtige nur ein eitel Nichts ist, demütig aber zugleich, weil das menschenmögliche Vollkommenste, selbst wenn es uns gelingt, uns noch anklagt.
Mit vorgespielter Demut ist man ein Tartuffe und mit wahrer Demut wird man nicht als Heiliger erkannt.
Demut, die auch mit einem Gran von Hochmut gesättigt sein kann. Denn oft verlangt oder erzwingt die Demut eines anderen, dass auch wir demütig sind. Man öffnet uns die Kirchentüre, damit wir mit dem Rollstuhl bequem herein können ...
Wenn die Tugend als Agonist aus der Kraft eines Antagonismus lebt, wenn die Kraft des Hochmuts, die die Gebärde der Demut sichert, wenn Demut, Selbstbeschränkung, Selbstbeherrschung, Tapferkeit, Heiligkeit, wenn alles das nur so groß ist wie Hochmut, Maßlosigkeit, Launenhaftigkeit, Feigheit, Lust zum Übertreten der Gesetze: was sind dann Demut, Feigheit, Sündhaftigkeit anderes als unentwickeltes und gefährliches Material, weil es sich jeder Machthaber wie auch der Zeitgeist zu nutze machen kann?
Könnte nicht sein, dass es die Kleinen und Gedemütigten und Entrechteten sind, die am jüngsten Tag den Gott daran hindern, dass er die Großen der Welt aburteilt? Weil sie Angst haben, dass die Großen sich an ihnen rächen werden, wenn alsbald alles wieder seinen gewohnten Trott nimmt?
Die Geschichte des Christentums ist ursprünglich als Ende aller Menschheitsgeschichte gedacht gewesen. Das Evangelium war als eine heilsgeschichtliche Botschaft gedacht, die durch das baldige Wiedererscheinen des Christus alle bisherige Geschichte beendet. Der Mensch, so ihr Fazit, hat es nicht fertig gebracht, Urheber einer humanen Geschichte zu werden.
Wir haben im frühen Christentum eine heilsgeschichtlich eschatologische Bewegung vor uns, die das Weltende als Welterlösung herbeisehnte. Das Christentum hat m.a.W. überhaupt nicht daran gedacht, künftige Weltgeschichte ins Auge zu fassen. Und schon gar nicht hat sie für ein einzelnes Volk einen Spielraum eröffnet, sich als auserwähltes Volk zu verstehen und so seine profane Geschichte heilsgeschichtlich mitzuverstehen. Solche Züge bleiben denn auch, von Einzelerscheinungen wie Jeanne d´Arc abgesehen, historisch singulär. Selbst als die Parusie ausblieb, blieb als Ziel eine plotinisch-christliche Lebenspraxis: Gottes Willen zu erfüllen und in den Himmel zu kommen. So aber konnte das Christentum sich nie als eine Religion mit einer ethnischen Verwurzelung verstehen wie etwa das Judentum. Im Christentum spielt sich kein göttliches Wagnis mit einem Volk mehr ab, das wie das Judentum durch Leiden und Exile und Tod zu gehen hat. Unwissenheit und Ratlosigkeit, wie es das Bild der jüdischen Prophetie kennzeichnet, kennt das Christentum kaum. Als dann das Christentum mit der Zeit gleichwohl eine geschichtliche Kraft wurde, als im Sog der Auflösung des Imperium Romanum und der Übernahme römischer Macht Kirche zu einer religiös-politischen Instanz wurde und Herrschaft wahrnahm (Papsttum, Investitur von Kaisern ...), begründete und stützte sie diese ihre Herrschaft, indem sie aus dem Glauben an den auferstandenen Christus ein alleiniges und unerschütterliches Wissen um alle Wahrheit ableitete. Sie mußte sich um keine Fragen Sorgen machen. Das Primat würde unfehlbar das Richtige verkünden. Mochte der einzelnen auch unwissend sein, das betraf ihn als Sünder, nicht aber die Macht der Kirche. Das Christentum ließ sich also als Kirche mit der Geschichte ein, ohne sich doch grundsätzlich der Geschichte zu stellen. Spuren geschichtlicher Begegnung (Schisma, Zerfall) finden sich meist nur insofern, als die Kirche ihr Credo durch stets neue und aberneue Sätze erweiterte, die man dann als Offenbarung des Geistes feierte, die aber heute eher als Wunden und Zeichen des Mißverstehens erscheinen. Dass Christen gegen Christen sich wegen Glaubensartikeln ereiferten, dass sie sich bekämpften und Glaubenskriege führten, dass man sich rühmte, für die Sache Gottes getötet zu haben oder als Märtyrer gestorben zu sein, konnte nicht auf die Dauer gut gehen ...
Das Christentum verstand es, die Lebenszeit des Menschen immer auch als eine Zeit der Vorbereitung (auf den Himmel) zu begreifen. Es ist eine Art kindlichen Zugs, der damit das Leben begleitet und es schön und lebenswert macht. Kinder freuen sich auf ihren Geburtstag, sie erwarten Weihnachten, sie bereiten sich auf Feste vor. Unsere Begabung besteht nicht im Feiern von Festen, wohl aber im Erwarten und Vorbereiten von Festen.
Wird man des Gottes an einer Stelle ansichtig und faßt man ihn da, so entzieht er sich einem an 999 anderen Stellen. Allahs tausend Namen scheinen nicht in ein System zu passen. Ein anderer scheint der Gott zu sein, der den Kosmos umfaßt; ein anderer der Gott der Stämme und Völkerschaften. Wieder ein anderer der Gott der Sieger und Unterdrücker; wieder ein anderer der Gott der Armen, der Kranken, der Einsamen, der Gedemütigten und Entrechteten. Endlich mag es neben den Namen, die ausgesprochen werden können, auch Namen geben, die nur im ersterbenden Schweigen ergründet werden.
Das Problem, das sich dem historischen Jesus stellte: ob er der Messias ist und, wenn ja, wie er sich als Messias offenbaren könne und offenbaren müsse. Wie das Vater-unser andeutet führt der Nichtmessias Gott in Versuchung und wird schuldig,, wenn er von Gott Beistand für Taten erbittet, die nur dem Messias vorbehalten sind. Der Messias aber machte sich umgekehrt schuldig, wenn er sich nicht um die Vollbringung dieser Taten (des Willens des Vaters) bemühte. Diese aber bestanden, wie die Emmausgeschichte und andere Stellen des N.T. andeuten, vornehmlich in der Rettung und Erlösung Israels. Während nun aber das N.T. die Gewalt Jesu über die Natur eindrucksvoll schildert, die in der Bibel ja als Zeichen der Macht über die Chaosgötter von der Geschichte der Menschheit überhaupt nicht zu trennen sind, bleiben die eigentlich geschichtlichen Taten aus. Natürlich sagen wir heute aufgeklärt, wie wir sind, dass solche ja nie hätten geschehen können. Doch war das gewiß nicht die Ansicht Jesus und seiner Anhänger, wie auch nicht die Ansicht der Qumraner. Man sehe sich nur in den Psalmen um, wo auf die Schöpfungswerke Gottes unmittelbar die Geschichtswerke (das Handeln an den Ägyptern etc.) folgen. Und vielleicht hat der Cäsaropapismus darin eine seiner Wurzeln, dass die Kirche glaubte, so den zu Jesus Zeiten ausgebliebenen Sieg über das römische Kaisertum nachholen zu müssen, bzw. dem chiliastischen Christus den Weg vorzubereiten.
Gewiß, die Kirche mußte im frühmittelaltlerlichen deutschen Kaiserreich Sitz und Stimme haben (z.B. als Kurfürsten). Geistliche und weltliche Belange mußten aufeinander abgestimmt sein. Damit aber war die Gefahr gegeben, dass sich anstelle oder neben den geistlichen Belangen die Belange der Kirche als eigenständige politische Macht geltend machte. Es kommt nicht von ungefähr, wenn Fürstbischöfe späterer Tage sich scharenweise in der Pose eines mazedonischen Alexanders oder ähnlicher Gesellen darstellen ließen.
Im Vergleich zu anderen Religionen wie etwa dem Buddhismus fällt auf, dass in christlichen Texten, Gebeten und Liedern viele Stellen vorkommen, wo von Macht, Herrschaft, Stärke, Reich die Rede ist. Dies zeigt an, dass das Christentum zu Beginn mit gewaltigen Widerständen und unter Kämpfen und Verfolgungen zu leiden hatte! Doch freilich reicht die Tradition noch weiter zurück. Für die Propheten des A.O. reichte der Glaube an den Sieg des Guten über die Erinnerung der geschichtlichen Heilstaten ihres Gottes bis zum Chaoskampf zurück, der überhaupt erst die Schöpfung ermöglichte (vgl. etwa Enuma elis). Nur in diesem Natur und Geschichte umfassenden Glauben sahen Propheten wie Jesaiah für ihr Volk Bestand "Wenn ihr nicht glaubt, habt ihr keinen Bestand" (Im lo thaaminu, ki lo theamenu (Is.7.9). In diesem Sinn beschwört wohl auch die zweite Bitte im Vater-unser die Ankunft des göttlichen Reichs auf Erden herauf, die nach dem Tod Jesu von der Naherwartung (Parusie) getragen wurde. Wenn das Reich Gottes kommt, so die Hoffnung bei Paulus und vornehmlich auch in der johanneischen Theologie, die streng zwischen der Welt der weltlichen Machthaber ("diese Welt") und der göttlichen Welt ("jene Welt"),zwischen Belial und Gott unterscheidet, verschwindet das verhaßte Joch des Imperium Romanum. Als das Joch der Römer verschwand, ohne dass der Christus wiedererschien, und man gar ihre Macht übernahm, behielt man die Bitte zwar bei, doch was hoffte man dann? Und was für eine Haltung ist heute bei dieser Bitte schicklich, wo es längst nicht nur kein Imperium Romanum mehr gibt, wo auch die Allianz von Thron und Altar zerbrochen ist, wo die Kirche mit ihrer Hoffnung kaum mehr im Bewußtsein lebt, und wo nichts absurder wäre, als dass ein Gottessohn auf den Wolken des Himmels zur Erde herab käme, nach Feinden Ausschau haltend, um sie zu besiegen und sein Reich zu errichten?
Wurde das Christentum reduziert auf Erinnerung und Gedächtnis (Mnemosyne)? Und wurde die Naherwartung (Parusie) fallen gelassen?
Was nützte ein Evangelium, das zum Trost erdacht worden wäre, in sich aber der Wahrhaftigkeit entbehrt? Und muß nicht ein Evangelium, wenn es auch einstens die ganze Welt aus dem Schlaf riß, immer mehr für Erfindung gelten, wenn es durch die Jahrhunderte hindurch den Geist der Wahrhaftigkeit verliert?
Hält man vergleichsweise einmal neben das Christentum den Islam, wie er sich etwa im Erzählwerk von 1001 Nacht dokumentiert, so erkennt man eine Nachbarschaft von Religion und praktischem Leben, wie sie im Christentum unmöglich war. Wenn wir den Menschen im Islam, auch wenn er sich zu böser Tat anschickt, zuvor sein Morgengebet verrichten sehen, so empfindet dies der Moslem offenbar nicht als blasphemisch. Oder gar ein Himmel ohne Weibchen, das wäre für einen Moslem undenkbar! Religiöse Praktiken und profane Handlungen stehen unbedenklich ebenso dicht beieinander, wie sie auch im täglichen Leben beieinander stehen. Im Gegensatz dazu stellt das Christentum von Beginn an die Frage nach der Wahrheit in derartiger Radikalität, dass es nicht verwundert, wenn die an solchem Fragen geschulte abendländische Aufklärung endlich auch an das Christentum die Wahrheitsfrage richtet: Wie ernst ist es der Kirche mit der Wahrheit des Christentums? Oder huldigt sie einem Aberglauben, da sie es sich als geschichtliche Institution zu eigen gemacht hat, eigenmächtig über die Menschen zu herrschen (vgl. Dostojewskis Großinquisitor)?
Geschichtlich betrachtet besteht die Wahrheit des Christentums nicht in der Verkündigung des einen und wahren Gottes, sondern in der Tatsache, dass es ihr gelungen ist, den Raum dicht und damit alle den Menschen qualvoll anstürmenden, weil unlösbaren Fragen gegenstandslos zu machen. Indem der Himmel selbst für den Menschen zu sorgen schien, wurde der Mensch für die Welt auf ungeahnte Weise frei.
Wenn wir Abendländer an Gott glauben, so setzen wir seine Existenz voraus. Wir glauben also um die Existenz Bescheid zu wissen, ehe wir an ihn glauben. Der Glaube des Sokrates z.B. unterscheidet sich hiervon. Sokrates glaubt zwar an das Gute, er setzt aber dessen Existenz keineswegs als bekannt voraus. Er ist z.B. auch damit einverstanden, dass zu diesem Guten gehört, dass der Mensch nach seinem Tod nicht zu den Heroen und Halbgöttern gelangt, um sich mit ihnen zu unterhalten; das Leben nach dem Tod könnte z.B. auch aus einem ewigen Schlaf in Bewußtlosigkeit bestehen. Sokrates läßt diese Fragen offen. Er setzt nicht eine spezielle Lösung voraus, um dann, wie wir, an diese zu glauben. - Sprächen wir zu Sokrates: Lieber Sokrates, so glaubst du denn an das Gute und weißt noch nicht einmal, woran du glaubst? so würde er lächelnd sagen: Ja so ist es. Und würde dann vielleicht so fortfahren: Hab ich euch nicht schon immer gesagt, dass ich weiß, dass ich nichts weiß? Führe dann aber einer fort, ihn mit der Frage zu behelligen, ob ihm nicht jedermann ein X für ein U vormachen und das Gute auch das Schlechte sein könne und all sein Glaube sinnlos sei, "guter Freund", könnte er dann sagen, "ich glaube, dass die Erde und das All und das Leben auf Erden sinnvoll eingerichtet ist, nicht nur für Pflanzen und Tiere, vornehmlich auch für den Menschen. Ich glaube, dass alles, was immer uns widerfährt, selbst wenn man mich einmal verurteilt, den Schierlingsbecher zu trinken, nichts Absurdes für uns enthält. Ich glaube an eine Weisheit, die alles im voraus bedacht hat, dass wir nicht nur leben und sterben können, dass er vielmehr auch zutiefst unserer Natur und unserem Streben nach Harmonie entspricht. Auf solche Weise lebe ich einen jeden der mir zugeteilten Tage, ohne ängstlich auf etwas zu warten."
Der Mensch, selbst wenn er durch eigenes Verschulden im Elend ist, zieht gerne den Schluß, dass es einen Gott geben muß, der ihn dem Elend entreißt. Was aber hat ein Gott mit der Notdurft des Menschen zu tun? Ist der das sogeartete Alphatier des menschlichen Rudels?
Warum wir an keinen Gott mehr glauben? Weil wir uns nicht vorstellen können, dass einer so dumm ist, einen so unattraktiven Beruf wie das Gott-sein sich auszusuchen: man kümmert sich um alle und alles, und keiner nimmt davon auch nur gelegentlich Notiz.
Wie Kleinkinder scharten wir uns gern im goldenen Zirkel des Glaubens, wenn wir nur keinen Grund hätten, uns zu mißtrauen. Kirchenleuten sieht man oft an, wie sie unter diesem Widerspruch leiden: sie bejahen e professo den Zirkel des Glaubens, obwohl sie hinlänglich Erfahrung gemacht haben, dass man sich dort nicht wohlfühlen kann.
Die christliche Dogmatik hat uns fast 2 Jahrtausende lang erklärt, was alles zu glauben ist. Sie hat Sätze gesagt über Gott, den Vater, über den Sohn und über den Geist, über die Kirche etc., die dann mittels der von der Philosophie (ancilla Theologiae) ausgearbeiteten Denklehre zu Schlußfolgerungen führte. Wenn Gott das und das ist, und wenn das so und so ist: dann ...
Dabei liegt diese spezielle geschichtliche Entwicklung durchaus nicht im Sinn ihres Stifters! Der Jesus der Bergpredigt lehrt nicht den Reichtum der theologischen Erkenntnisse. Die Seligpreisung betrifft die Armen im Geiste. Indem wir uns aber angewöhnt haben, so über Gott und über Geheimnisse zu sprechen, haben wir uns unserem Denken und Können zugewandt und haben die ursprünglichen Geheimnisse aus dem Auge verloren. Galilei und seiner Zeit fällt es dann nicht mehr schwer, die von der Dogmatik gelieferten Axiome durch die von der Natur und dem menschlichen Erkennen gelieferten Axiome zu ersetzen. Indem Theologie und Geisteswissenschaft den Naturwissenschaften das Feld räumen, bleibt ersteren nur noch das Restgeschäft, die Geschichte des Christentums zu schreiben und dasselbe zu entmythisieren.
In einer Welt, in der die wiss. Erklärbarkeit oberstes Axiom ist, hat das geschichtliche Walten eines Gottes keinen Platz mehr. Doch scheint das das Heer unserer christlichen Theologen herzlich wenig zu erschüttern, geschweige denn, dass sie darunter leiden.
Der Gott des A.T. töpfert, indem er die Schöpfung schafft, der Gott der Griechen, entsprechend ihrem Fortschritt in der Geometrie, treibt Geometrie. Der Gott unserer Tage würde wohl etwas von Physik und Astronomie, von Quanten und Vakuumpolarisation verstehen. Doch wo bliebe dann der Mensch? Ließ sich nur auf einer "einfachen" Kulturstufe, analog zum Königshof, ein Pantheon postulieren?
Das Problem ist weniger, ob es einen Gott gibt oder nicht, sondern ob es uns recht wäre, wenn es einen gäbe, und was für Gedanken wir damit verbinden (z.B. der Bereicherung des menschlichen Lebens).
Auf welche Weise vermag der Gott der Christen auch heute noch sein Wort in die Welt zu entsenden und um was für Botschaften kann es sich da handeln? Von einem x-beliebigen Christen würde niemand Notiz nehmen, auch die Kirche nicht, auch wenn ihm der Herr wirklich erschienen wäre und ihm einen bedeutsamen Auftrag erteilt hätte.
Auch wenn es Jesus Christus der jüdischen Obrigkeit gegenüber an Gehorsam fehlen ließ, so kann doch Christus - so die Amtskirche - keinem erscheinen, der es an Gehorsam der katholischen Obrigkeit gegenüber fehlen läßt.
Immer wieder hören wir einmal von öffentlichen Erscheinungen Mariens, nie aber von solchen des Christus. Vielleicht, dass solche schon seit langem von der Kirche verboten wurden, nicht nur aus Machtgründen, wie beim Großinquisitor Dostojewskis. Paulus könnte dazu den Anstoß gegeben haben, worauf die Stelle hinweisen könnte, wo er von der Fehlgeburt redet, der der Christus als letztem erschien. Nun mag man einwenden, dass dort vornehmlich an die Apostel gedacht ist; doch gab es gewiß auch gute Gründe, Christuserscheinungen nicht als alltägliche Begebenheit anzuerkennen. Vermutlich glaubte Paulus selbst aus tiefer Überzeugung so sagen zu dürfen, da er von der baldigen Wiederkunft des Herrn überzeugt war. (Als ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt könnte so der Siegeszug des rationalen Weltbildes mit in die Wege geleitet worden sein.)
Kein Gott wird dir erscheinen, wenn du dies nicht für möglich hältst, wohl aber Dämonen und Gespenster.
Was für eine Geschichte hätte das Christentum und seine Kirchen genommen, wenn man es auf den Glauben eingeschworen hätte, dass Auferstehung und Erhöhung des Herrn wie auch die Ankunft des hl. Geistes vom Tun und Treiben jedes einzelnen seiner Mitglieder abhängig sind? Wenn sich bewähren und wahr werden wichtiger gewesen wären als triumphierendes Verkünden von Wahrheit?
Gleichgültig Andersdenkenden gegenüber war der Stifter des Christentums gewiß nicht. Und auch jeder religiöse Mensch neigt wohl dazu, in gewisser Sicht kompromißlos zu sein. Doch folgt daraus, dass man intolerant oder gar feindlich Andersdenkenden gegenüber sein muß? Folgt daraus, dass Mord und Menschenopfer an der Tagesordnung bleiben? Dann allerdings wäre zu überlegen, ob man sich nicht lieber gar keine Kirche, ja ob man sich, falls ein festes Bedürfnis auf Kirche im Menschen besteht, überhaupt Menschen wünschen sollte.
Das Christentum hatte nie ein Land zur Heimat wie das Judentum das Land Israel. Das war ein Nachteil für die geschichtlich konkrete, leibseelische Erfahrung. Der Gott des Christentums verflüchtigte sich und wurde abstrakt. Dies war aber auch ein Vorteil, ein möglicher Weg zu universalem Verstehen, so dass Germanen und Slawen sich im Christentum erkennen und zu kultureller Höhe erheben konnten.
Dass Götter auf Erden sich mit irdischen Menschenfrauen paarten und Kinder zeugten, wie Jupiter mit Alkmene den Herakles, woran man vor 2000 Jahren gewiß noch glaubte, liegt uns fern. (So schnell wandeln sich kulturbedingte Vorstellungen bzw. Glaubenswahrheiten.) Aber auch dass Jesus, um als der Christus legitimiert zu werden, einer besonderen Beihilfe Gottes (hl. Geist) bedurfte, paßt nur wenig in die Vorstellung von einem allmächtigen Gott. Gibt es einen solchen Gott und hat er etwas Großes mit der Menschheit vor, so kann er sich der menschlichen Natur bedienen ohne alle Vorkehrungen oder Einschränkungen. Wir brauchen keine Erzählungen und keine Sinnbilder (und auch Paulus in seinem Evangelium braucht solche nicht), die wir eher als Zugeständnisse an unsere plumpen farbenhungrigen Sinne denn als Zeugnisse des Geistes erachten.
Man braucht keine Dogmen, wo man unerschütterlich glaubt; und wo man nicht glaubt, helfen sie nicht weiter. Die Geschichte der christlichen Glaubensdogmen lesen sich wie die Leidens- und Krankheitsgeschichte des Leibes Christi.
Dem kommenden Christus noch zu Lebzeiten wiederzubegegnen, wie es Paulus ursprünglich wohl geglaubt hat: es muß eine ungeheuerliche Motivation gewesen sein, etwas aus dem Leben zu machen. Was für eine Zuversicht und Hoffnung dann aber auch, was für ein Wille, das Todesleiden des Christus auf sich zu nehmen, wenn Paulus dann später (Röm. 14.8) zum Ausdruck bringt: "Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn; ob wir also leben oder sterben, wir gehören dem Herrn." Paulus glaubt dann doch immer wenigstens noch von einem Sterben zu wissen, das zum Leben führt. Wir, 2000 Jahre nach Paulus, wissen fast nur noch von einem Leben, das zum Tod führt. Voll Ahnen, einer schlechten und langweiligen Unendlichkeit entgegenzutreiben, ist unser Leben anstrengend geworden und ermüdend, vielleicht sogar verflucht. Mag es auch keinen anderen Weg gegeben haben, es hat sich nicht gelohnt, dass wir uns darauf eingelassen haben, uns auf uns selbst zu verlassen.
Wie weit sind wir uns im Klaren darüber, ob wir in der Lage sind, für jemanden oder für etwas zu leben? Oder täuschen wir uns, wenn wir solcherlei Fragen für erheblich erachten? Kann und will der Stärkere etwas anderes als seine Macht demonstrieren? Und ist der von Natur und Gesellschaft schwach Gemachte nicht dazu verflucht, zu leiden und zu dulden?
Leben wir das Leben, wenn wir uns bemühen, es auszukosten? Oder täuschen wir uns, und es entflieht uns hinter unserem Rücken? Verlieren wir das Leben in dem Maß, in dem wir nach ihm suchen? Suchen wir es aber nicht, sind wir dann anders, als jetzt schon tot? Bleibt schließlich nur noch das Bild des Gekreuzigten?
Was haben wir davon, wenn wir geschichtlich oder logisch deduktiv verstanden haben? Man nehme etwa den Satz Christi aus der Passionsgeschichte, er werde den Tempel niederreißen und ihn in drei Tagen wieder aufbauen: Was nützt für das Verständnis dieses Satzes die Tatsache, dass Herodes, der Große, den Tempel hat aufbauen lassen: ein Mann, an den der fromme Jude nur mit Abscheu dachte!? - Es scheint sich meist nur eine Schwächung der Glaubensbereitschaft zu ergeben, wenn wir uns daran machen, verstehen zu wollen. Das Zeitalter der Aufklärung ist zugleich das Zeitalter der Glaubensschwächung.
Man hat die menschliche Natur Jesu zwar nie geleugnet, sie aber doch deutlich seiner göttlichen Natur untergeordnet. Insbesondere was die Passion angeht, haben sich schon die Synoptiker bemüht, Jesus ein Vorwissen zuzubilligen, wenn sie den nachösterlichen sagen lassen: Mußte nicht Jesus leiden? - Das Schreckliche an dieser Passion dürfte aber eben gewesen sein, dass das Vorrecht des Frommen, dass der Gott ihm hilft, a fortiori dem Messias zukommt, ja ihn vielleicht gar als Messias ausweist. Hier aber mußten die Jünger Jesu eine unerträgliche Erfahrung machen.
Die Aufklärung sagte nicht: "Du kannst dir ein vollständiges Wissen erwerben über alles Göttliche." Sie sagte: "Über alles, was man prinzipiell über das Göttliche wissen und wie man es verstehen kann, kannst du dir Bescheid verschaffen." Sie redete also nicht von dem einem jeden Menschen erreichbaren und unverrückbaren Frieden mit sich selbst, mit seinem Schöpfer und mit der Welt. Sie redete von den Möglichkeiten der Ratio und verabschiedete sich damit von jeder übernatürlichen Offenbarung.
Was wir am wenigsten mehr verstehen, das ist die Idee des hl. Geistes. Weder als den Geist, der das Unmögliche vollbringt, der der Armut und der Verzweiflung und dem Tod entreißt, noch gar den Einheit stiftenden Geist. Oder wurde das Wehen des Geistes nicht eben gerade damals, in jenem Augenblick der Urgemeinde, postuliert, als es um den Glauben und die Einheit unüberbietbar schlecht stand?
Mit dem Monotheismus und mit dem Christentum verhält es sich wie mit dem Individuum: Seine Einmaligkeit und Besonderheit resultiert nicht daraus, dass es an und für sich schon anders ist als die anderen, sondern daraus, dass sich die anderen in seinem Menschsein wiedererkennen können.
Einst zog der Gott mit Israel aus. Wo aber der Gott philosophisch abstrakt wird, muß er überall sein und kann nicht mehr ausziehen. Er muß es dulden, dass er, wiewohl er den Menschen in all seiner Weisheit und Allmacht nach seinem Bilde schuf, von dem gemein denkenden Wesen "Mensch" beschämt wird: dass die Welt, wiewohl er ihr die Erlösung gebracht hat, sich um diese Erlösung herzlich wenig kümmert.
Wo sind wir zu Hause? Wo und wann und wie kann Heimat erfahren werden? Das Christentum hat nie vergessen, dass das irdische Dasein eine Art Exil bedeutet und dass es gilt, einen Heimweg zu finden. Dieses Bewußtsein steht wie eine Legitimation am Anfang des Christentums. Jesus ist der Christus, so der Osterglaube der Urgemeinde und des Paulus, weil er durch seinen Tod und seine Auferstehung den verbannten Kindern Evas (exules filii Hevae) den Rückweg zum Paradies eröffnet hat. Das Unterwegssein ist als Weg nach Hause Mittel zum Zweck. Mögliche Freuden dieser Zeit sind zu verachten und die Leiden gering zu achten im Vergleich zu den Freuden der kommenden Zeit.
Das Bild vom Christus in Knechtsgestalt zu Beginn des Philipperbriefs gehört wohl ebenso zum Bereich des griechischen Mysterienkults wie zur Äbäd-Jahwe-theologie. Um den Menschen vom Tod zu erlösen muß ein Gott in Knechtsgestalt Dienst tun. So Apollon bei Admet, so auch vermutlich der göttliche Herakles, so auch Jesus, der Christus.
Ohne Hinweis auf die Schriften, in denen der Tod und die Auferstehung des Messias vorhergesagt stehe, hätte wohl auch die beste übernatürliche Offenbarung nichts genutzt, diesen Glauben in der Schar der Jünger Jesu zu befestigen. Und selbst der Hinweis wirkte noch nicht, als die Jünger des Täufers im Täufer den Messias zu erkennen suchten. Die Jünger Jesus machen darüber hinaus geltend, dass man am Messias kein Gebein zerbrechen dürfe, was aber doch eigentlich ein schwaches Argument ist.
Wenn man nicht mit Paulus den Osterglauben teilt, kann man ihn leicht als eine Art Rattenfänger mißverstehen. Doch war es nicht Geringschätzung des menschlichen Lebens, wenn man liest, dass er für das Menschenleben ohne diesen Glauben keine Perspektive sieht, sondern die Hochschätzung des Glaubens, dem er sich sklavisch unterstellte. (Überhaupt handelt es sich hier weniger um ein subjektives und expressives Bekenntnis als um ein im volkstümlichen Denken der Griechen verankertes Argument, das schon bei Euripides auftaucht, dass nämlich alle Mühe um Gerechtigkeit und Tugend nutzlos ist, wenn es keine Götter gibt, die mit dafür sorgen.)
Wenn die Karfreitagstrauer die Osterfreude hätte auffinden lassen, dass man also den Osterglauben zur Bannung des Grams erfunden hätte: wäre dann der Osterglaube wertlos?
Eine besondere Art, die enorme Spannung zwischen Wollen und Können, die Differenz zwischen dem gesteckten Ziel und dem Erreichten, zwischen höchster Anstrengung und größter Erfolglosigkeit auszuhalten, zeigt sich bei den ersten jugendlichen Verkündern des Christentums, insbesondere bei Paulus. Unüberbietbar das Wollen, rastlos der Fleiß. Und doch gehört es zu seinem Selbstverständnis, dass er nichts kann, wenn ihm nicht von oben geholfen würde ("sola fide"). Und andernorts (Luk. 17.10.) heißt es: "Wir sind nur unnütze Knechte".
Paulus hat seinen Glauben wohl kaum jemals als eigene freie Entscheidung verstanden, eher als etwas Göttlich-Zwanghaftes, Göttlich-Gnadenhaftes, Preiswürdiges. Dann aber waren für ihn auch die Konsequenzen aus diesem Glauben nichts Freies, vom Verstand zu Entscheidendes.
Der lebenslange Kampf gegen das Urteil, zu nichts zu taugen bzw. zu nichts getaugt zu haben: der Gottesbote anerkennt es in Demut vor seinem Herrn und wehrt und kehrt sich zugleich unerbittlich gegen jede Trägheit in sich selbst.
Eine Gesellschaft, die mit der paulinischen Maxime, sich seiner Schwachheit zu rühmen, nichts mehr anzufangen weiß, kann sich immerhin rühmen, nichts mehr mit dem Christentum anzufangen.
Die Vorstellung, dass einen ein Gott an den zukommenden Platz stellt, auch wenn es nur ein mittelmäßiger oder schlechter Platz ist, wie z.B. im "Jedermann", ist i.a. leichter zu ertragen, als wenn man weiß, dass man ihn der Laune von Leuten zu verdanken hat, denen nichts an einem liegt.
Der zuvor allgemein geteilte und für richtig erachtete Glaube des einzelnen verkommt und wird Aberglauben, wenn er um ihn erlischt.
Es ist ein Hang im Menschen nach Wundern und Visionen. Wenn er nicht von den Männern und Frauen der Kirche (z.B. in der sonntäglichen Auslegung der Schrift) gestillt wird, stillt er sich von allein (Marienerscheinungen etc.).
Die Schrift hat durchaus recht: Wer hat, der bekommt noch dazu. Und wer nichts hat, bekommt noch das wenige genommen. Fühlt man sich wie ein Kind begleitet und beschützt, so vermag man die Leiden und Kümmernisse des Lebens leichter zu ertragen.
Wie kommt ein Mensch zu dem Ergebnis, dass er ein Nichtsnutz ist und dass er nie zu etwas nützlich sein wird?
Selbst der beste Helfer der Menschheit ist nicht so uneigennützig, dass er nicht selbst einen Helfer brauchte, wenn er nicht mehr Helfer der Menschheit sein könnte.
Wie viele Tage und Nächte haben wir, die Werke des Tags zu besorgen und den Geheimnissen der Nacht nachzusinnen? Wieviele nutzen und wieviele verschlafen wir?
Brauchen wir in Gedanken die Ewigkeit, weil wir uns sonst die Zeit zunutze zu machen nicht schaffen?
Wer nimmt sich der geschändeten Opfer an, die sich schämen, sich vor der Öffentlichkeit zu zeigen?
Die Bibel gibt uns nicht nur einen Begriff von der wertvollen Zeit, sie leitet uns auch an, mit uns geduldig zu sein. Gewiß, es gilt, Frucht zu bringen zur rechten Zeit (Ps.1). Doch man muß sich nicht verwirren lassen, wenn die Tage an uns vorübereilen und wir den Eindruck haben, als hätten wir unsere Zeit nutzlos vertan. Alles - so der Prediger - hat ja seine bestimmte Zeit, also auch die Anfechtung, wo wir uns unnütz vorkommen.
Für Rousseau ist das Ideal eines widerspruchsfreien Mitsichübereinstimmens (s'accorder avec soi-meme) das Residuum eines christlichen Ideals, das er nach dem Dafürhalten eines geschichtlich gescheiterten Christentums in kleinen Gesellschaften wieder aufzurichten versucht. Indes, wird nicht schon durch den in uns allen befindlichen, schon mit dem um Existenzsicherung und Selbstbehauptung auszutragenden Kampf ums Dasein die Idee eines allen gemeinsamen und gleichen Maßes verletzt?
Wenn wir keinen Plan in der Evolution sehen, der zum Menschen führt, sondern nur Sackgassen voll ausgestorbener Arten oder noch bestehende Nischen, die vom Menschen gewalttätig zerstört werden, so ist gleichwohl die Tendenz der "Höherentwicklung" (Gehirnfunktionen, Gedächtnisbildung, Denken) beim Menschen unverkennbar. Der biologischen Materie scheint eine Tendenz innezuwohnen in Richtung auf ein immer noch besseres Bewältigen der artspezifischen Lebensaufgaben, die beim Menschen über die Bestellung elementarer Lebensaufgaben und Besorgungen hinausgegangen ist. Und wenn es auch stimmen mag, dass wir die Saurier, wenn sie sich denn hätten bis in unsere Zeit entwickeln können, unbarmherzig ausrotten würden, so ist doch unsinnig, den Menschen am Aussterben der Saurier für schuldig zu erklären.
Wenn wir keinen Plan in der Evolution erkennen, der zum Menschen führt, so geben wir diesen Plan auf. Und wenn wir keinen Plan im Menschenleben erkennen, so geben wir auch hier einen apriorisch vorliegenden Plan auf. Es ist aber wohl kaum zu bestreiten, dass in der biologischen Materie eine Art (biologischer) Höherentwicklung liegt. Gewiß, wir hätten die Dinosaurier ausgerottet, hätten sie sich uns in den Weg gestellt, oder hätten sich uns verstandbegabte Nachkommen von ihnen in den Weg gestellt. Doch sollen wir daraus schließen, dass wir deshalb Verworfene sind? Oder dass es von daher keinen Gott des Lebens geben kann, jedenfalls keinen, der an uns auch nur eine Spur Interesse oder gar Wohlgefallen haben könnte?
Keiner merkte es, als das Christentum aus der Welt verschwand. Man hatte ja doch immer noch den Papst, die Bischöfe und die Gotteshäuser.
Man will den Papst nicht mehr und schon gar nicht mehr die Anmaßung seiner Unfehlbarkeit. Doch hat man nichts dagegen, selber als Papst (der deutschen Literatur, der Wissenschaften, des Dirigierens ...) zu gelten.
Zum Verdienst eines Wittgenstein gehört gewiß, dass er das Christentum mit der Trennung des logisch Beweisbaren vom logisch Nichtbeweisbaren ein Stück weit wieder zu seiner Quelle zurückgeführt hat. Niemand muß sich mehr um einen logisch stringenten Gottesbeweis mühen. Gott ist der Beweisbarkeit entrückt. Die Nichtbeweisbarkeit Gottes müßte wieder als ein Stück der Armut vor dem Geist begriffen werden, der die Seligpreisung in der Bergpredigt gilt.
Können wir Reichen den christlichen Gott glaubwürdig verkünden?
Man kann sich keine Welt vorstellen, in der es keine Gesetzmäßigkeiten gibt. Schon Raum und Zeit als die Bedingungen der Erfahrung setzen gesetzmäßige Zusammenhänge voraus: der Raum bestimmte Verhältnisse von materiellen Körpern zueinander und die Zeit zyklischer Wiederkehr. So erscheint auch die uns zugemessene Lebenszeit, sofern wir sie als eine zu ordnende bzw. geordnete Zeit begreifen, als verwandt mit den sie ermöglichenden Zusammenhängen.
Der Schöpfergott in der Genesis hatte nicht nötig sich zu loben. Es genügte ihm, dass er sah, dass gut war, was er geschaffen hatte.
Dunkelheit und Stille, die die Mauern der Seele aufbrechen lassen und den Blick freigeben: "In den Nachtwachen geht mein Sinnen nach dir." (Ps.63)
Ein heiter erfreulicher Gedanke zu sein im Gedächtnis der kommenden Generationen, das könnte vielleicht genügen.
Wie kann man Gott loben? Sage mir, wie du Gott lobst, und ich sage dir, an welchen Gott du glaubst.
Man fragt den Täufling, ob er an Gott glaubt. Doch betrifft die Frage eher die Auskunft darüber, ob der betreffende der Gemeinschaft der Getauften beitreten will. Wir wissen nicht, was das bedeutet "an Gott glauben". Der Gott müßte uns zu Hilfe kommen und in uns und für uns das Glaubenszeugnis übernehmen. Wir können bestenfalls den Glauben bekennen, dass eine göttliche Instanz für uns glaubt, z.B. der vergöttlichte Messias oder der hl. Geist, wie es Paulus im Römerbrief andeutet. Was wir aber darüber hinaus können, das ist, uns um die Lauterkeit des Herzens bemühen, wie uns schon viele Psalmen und Hymnen und Gebete aus ältester Zeit bedeuten. Doch freilich kann man der Lauterkeit des Herzens kaum eine an ein göttliches Wesen gerichtete Stimme verleihen, wenn man nicht davon überzeugt ist, dass sie gehört wird. Man muß also doch schon auch ein wenig an einen Mithörer glauben, um freimütig und unverstellt zu sprechen.
An der Macht, ihrem Faszinierendem und Erschreckenden (fascinosum et tremendum) erfuhren die Alten das, was sie meinten, wenn sie von ihrem Gott redeten. In ihrem König, wenn sich der Gott seiner als seines Mediums oder als seines Knechts machtvoll bediente, war der Gott lebendig. Solch ein Zugang konkreter Gotteserfahrung ist uns heute verschüttet. Freilich war auch ein Zugang zur Meditation des Göttlichen in der Natur, inbesondere im Geschehen von Geburt und Tod. Vielleicht war dies der Bereich, wo das Staunen erwachte und um sich griff? Hier ist Gott (Ecce deus). Wenn dem so ist, so war von hier aus der Weg der Analyse und der Exploration (Woher das Leben kommt ... und wie man die Phänomene berechnen kann) zwar prinzipiell (als tabuisierter, verbotener) möglich. Es gab aber neben dem Weg zum begrifflichen Nachdenken auch noch Wege zum hymnischen Lobpreis. Doch auch dieser Zugang scheint uns verschüttet. Das "ecce deus" ist uns ferne gerückt, es sei denn, dass es noch die Kinder erfahren.
Wenn man Kinder aus jedem Gottesdienst aussperrt, damit sie als Erwachsene eine freie Entscheidung über eine Mitgliedschaft in der Kirche treffen, enthält man ihnen auf jeden Fall jenen Gottesdienst vor, den man nur als Kind auszuüben befähigt ist.
Ähnlich wie wir nach Sokrates zum Suchen bestimmt sind, nicht aber genau wissen, was wir zu suchen haben, ähnlich sind wir nach Paulus, wiewohl wir nicht genau wissen, worum wir zu bitten haben, zum Bitten bestimmt. Und wie das Daimonion dem Sokrates zur rechten Entscheidung mithilft, ähnlich hilft der Geist dem Gläubigen bei Paulus im Gebet.
An wen richte ich meine Worte? Von wem wünsche ich gehört zu werden, wenn ich spreche?
Je höher die Pflicht, um so weniger können wir sie erfüllen. Das wäre sonst etwa so, wie wenn jemand sagte: "Für heute habe ich mein Vater-unser gebetet." Da müßte sich der himmlische Vater doch wohl etwas abgespeist vorkommen.
Der Gott, den wir zu kennen meinen, ist aus dem Stoff unserer Anbetung geformt.
Kleist, ein deutscher Don Quijote, der bald wie ein bittendes Kind, bald wie ein hinterlistiger Schachspieler dem lieben Gott Wege eröffnet, sich zu erkennen zu geben.
Der Glaubensritter, ein Don Quijote in der Nachfolge Christi! Er ist nicht nur davon überzeugt, dass Gott im Innenbezirk des menschlichen Herzens Wunder zu wirken vermag, er glaubt ebenso unerschütterlich, dass Gott in die Welt eingreifen, dass er seine Macht überwältigend vor aller Welt bekunden und, wenn er will, auch die Geschichte der Menschheit heute noch beenden kann. Dass er dem Volk Israel in der Schreckenszeit der Verfolgung nicht geholfen hat, bewahrt er als ebenso unantastbares und unaussprechbares Geheimnis, wie dieses, dass Gott Jesus Christus nicht geholfen hat. Er sieht dabei vermutlich messianische Zusammenhänge.
Der Mensch hätte nie so handeln sollen oder handeln dürfen, dass sich ihm der Gedanke aufdrängte, Gott könne nicht ins Menschenleben und in die Geschichte der Menschen eingreifen. Doch wieviele Juden mögen nicht in den Gaskammern Hitlers den Psalm 77 gebetet haben. Gott aber errettete keinen. Freilich errettete er auch nicht den Messias. Doch ist in den Evangelien von der Legion Engel die Rede, und selbstverständlich glaubten die Apostel und die Evangelisten, Gott hätte Jesus retten können, habe es dann aber aus gewissen Gründen nicht getan (Verweis auf die Schrift, Stellvertretendes Leiden ...). Heute glaubt keiner von uns mehr daran, dass Gott Jesus hätte retten können. Wir haben nicht mehr die Kraft in uns, die einen solchen Glauben tragen könnte. Gott, so sind wir uns wohl leider einig geworden, greift nicht in die Geschichte ein.
Auch wenn wir wüßten, dass Religion nichts sein sollte als infantile Regression und Massenwahn (S. Freud), so würde ein Goethe gleichwohl für die Religion plädieren. Vielleicht würde er zu Freud so sprechen: "Im Gegensatz zum Menschen hat das Tier keine andere Wahl, als dass es im unergründlichen Dasein zuhause ist. Doch dem Menschen ist etwas darüber hinaus gegeben, worin er sein Dasein zu begründen vermag. Jawohl, jeder Tag und jede Nacht, jede Arbeit und jede Ruhe geben mir Fingerzeige, dass unser Dasein sich keineswegs in der Algebra des Hier und Jetzt erschöpft. Man nenne es schönen Schein oder Religion, was uns begleitet. Der Name spielt keine Rolle. Wenn wir uns nur in einer zweiten Welt einquartieren und heimisch machen, so können wir den unerträglichen Gedanken überwinden, als wären wir nur in ein unergründliches Dasein verbannt. - Und vermutlich hatte schon Sokrates Recht und es ist schon dies ein Stück Religion, wenn wir daran glauben, dass jemand da ist, der uns zuhört, wenn wir in der Stille der Nacht mit uns im Gespräch sind, und dass wir zufriedener werden, wenn wir an ein umfassendes Gutes glauben."
Um Religionen abzuschaffen, genügt nicht, ihre soziopsychologischen und anthropologischen Wurzeln freizulegen. Der vom Religiösen Überzeugte sieht hier so etwas wie eine Summe natürlicher Randbedingungen; der Ungläubige bleibt mit seinem negativen Prinzip allein. Nur mittels eines positiven Prinzips könnte dem Ungläubigen gelingen, Gleichgesinnte um sich zu scharen. Doch das hieße, neuerdings eine Art Religion einzuführen.
Wenn wir auch verlernen, nach dem Guten Ausschau zu halten, so bleibt uns doch der Haß. Und wenn wir aufhören, nach einem göttlichen Licht in uns Ausschau zu halten, bleibt das Dunkel.
Der homo religiosus hätte nie nach einer der modernen Psychologien verlangt. Er wollte seine Bindungen vertiefen, nicht sich von ihnen befreien. Die Verkünder moderner Psychologie aber versuchten den einzelnen aus Bindungen zu befreien, die sie aufklärerisch für veraltet und schädlich ansahen.
Giotto malte noch im Dienst der christlichen Botschaft. Später dann trat die Kunst für sich auf und entsprechend änderte sich das Selbstverständnis der Wissenschaften. In der Tat: ist z.B. Mathematik Gottesdienst, wozu bedarf es dann noch eines weiteren Gottesdienstes? Dann muß einen nicht befremden, wenn z.B. Dirichlet noch auf dem Totenbett einem Konvergenzproblem nachging ... Vielleicht sind dann die Kirchen noch dazu nütze, dem einzelnen eine äußere Form zu geben, wie es der alte Goethe verstand?
Religiosität ist zweifellos eine praktische Kunst, vielleicht eine brotlose Hungerkunst oder eine Kunst gewisser Kranker ...
Aufklärung und Wissenschaften haben uns aus althergebrachten und überlieferten Bindungen befreit, sie haben uns aber auch um Bindungen ärmer gemacht.
Der aufgeklärte Mensch weiß bestenfalls, wer er hier und jetzt ist und sein kann; doch kapituliert er vor der Frage, wer er war und wer er sein wird.
Kann es dem aufgeklärten Menschen gelingen, in radikaler Selbstbeschränkung angstfrei zu werden? Selbst der homo religiosus hat immer auch Angst, und viele Formen der Angst sind Vorboten oder Begleiter seiner Glaubensbereitschaft.
Wir suchen nicht mehr nach einem Zipfelchen Schuld in unserem Bewußtsein, dass es uns den Glauben an Gott und sei es auch nur an den Gott des Paradoxes wiederbrächte, wir suchen nach einem Stückchen Angst, das uns gestattet, unser Schuldbedürfnis als eine innerpsychische Verirrung zu entlarven und jedes Leiden weit von uns wegzufegen.
Etwas von der Größe und Bedeutung des historischen Jesus oder auch des historischen Buddha hat wohl seine Wurzel in der Angstfreiheit dieser Männer: eine Angstfreiheit, die an Wahnsinn grenzt und die doch die Grundvoraussetzung ist für Erlösung. Sie glaubten nicht, weil sie Angst hatten, sondern, weil sie keine Angst kannten, konnten sie so unermeßlich stark und unerschütterbar glauben.
Die Verkünder des Christentums haben nicht gut daran getan, wenn sie dafür gesorgt haben, dass das Leben der Gläubigen ausgefüllt bleibe mit der Angst vor der Riesenschlange des Nichtmehrseins.
Ewigkeit, ein Wort mit einem einstmals kolossalen Gehalt. Uns, die wir kaum die Fähigkeit haben, auch nur einen einzigen Tag gut zu gestalten, fehlt der Atem, das Wort zu beleben.
Wir haben die Welt dicht gemacht gegen jede Einflußnahme eines höheren Wesens. Wenn ein Gott zu uns sprechen will, so muß er zu uns als aufgeklärter Geist durch unsere Vernunft sprechen, nicht mittels eines raumzeitlich begrenzten Phänomens. Ein Meteor, eine Sonnenfinsternis oder Erscheinungen können uns nicht mehr überraschen. Dem Argument indessen, dass wir nie alles wissen können und dass von daher einem Gott noch immer genug Wege zur Verfügung stehen, sich zu offenbaren, können wir auch heute noch nicht viel erwidern. Wir wissen noch immer nicht allzu viel, doch glauben wir genug zu wissen, um eine solche Parteinahme ausschließen zu können.
Man gebe keinem Gott die Schuld, als habe er uns in eine haltlose Welt hineingeworfen, wenn der Mensch um sich herum eine haltlose Welt erbaut. Kein Gott wird auf Wolken thronend in unsere Welt Einzug halten, um die Folgen unserer Fehler aufzuheben.
Der unendliche Mangel des Christentums, dass die Herrschergestalt des Christus fehlt, was besonders tragisch wurde, als man aufhörte, auf die nahende Wiederkunft des Christus zu warten.
Das Bild des auf den Wolken kommenden Menschensohnes ist nicht deshalb nicht mehr am Platz, weil ein Pilot ihn aus seinem Flugzeug heraus als lächerlich empfände, sondern weil der Grund seines Kommens (gemäß Johannes sind dies Sünde, Gerechtigkeit und Gericht) von keinem mehr verstanden würde.
Das heidnische Rom hätte bequem verstanden, was das christliche Abendland längst nicht mehr versteht: die Botschaft vom sündhaften Menschen wie auch von der Sünde der Welt, von denen der Messias Erlösung gebracht hat.
Gott, Sünde, Schuld, Gericht ... Fragen, auf die es keine Antwort gibt ... Wir kennen Fragen, auf die man falsche Antworten gegeben hat oder auch Fragen, deren Heraufkunft wir als geschichtlich bedingt zu begreifen verstehen. Das heißt aber nur, dass wir die Frage als Frage begreifen, nicht aber, dass die Frage auch uns noch begreift und umgreift. Kann es nicht sein, dass gewisse Fragen, die uns nicht mehr umgreifen, in uns eine Polarisation und eine Art Schuldgefühl bewirken, und dass eine gewisse Ahnung um diesen Sachverhalt uns nahelegt, solche Fragen als gegenstandslos von uns zu weisen?
Kann einer schuldig sein für Dinge, die er nie getan hat? - Hörst du von einer Tat, so tust du sie schon in Gedanken. Im übrigen wäre der Frage nachzugehen, wie weit wir voneinander abhängen. Im Normalfall (Mode, Sitten, Gebräuche, Regeln, Gesetze) richten wir uns danach aus, was auch die anderen tun. Und wenn einer etwas tut, was allgemein als verkehrt angesehen wird, so tun wir auch, was die anderen tun, und kehren ihm den Rücken. Und so sind wir nicht unschuldig, weil wir als Individuen ein reines Gewissen hätten, sondern weil wir als Mitläufer und Wendehälse immer zur rechten Zeit die Bewegungen der Mehrzahl mitmachen.
Kaum eine Zeit vor uns hat es wohl gegeben, die so wenig verstanden hat, was es mit Sünde und Schuld auf sich hat. Die einen von uns sind darüber froh, die anderen nachdenklich oder gar traurig. Man kennt zwar Verbrechen, man weiß um Sozialisationsprobleme, aber man redet nicht mehr von Sünde (allenfalls noch, um etwas Lust nach Sex zu wecken). Schon bei Shakespeare kommt das Wort nur mehr noch in einem semantisch eingeschränkten Umfeld vor: als Versäumnis von Pflichten, die man sowohl sich selbst gegenüber als auch gegenüber anderen (Familie, Gemeinde, Staat, Kultur ...) hat, seine Talente auszubauen und zur Geltung zu bringen. Was Schuld und Sünde im religiösen Bereich angeht, so hat sie Nietzsche vielleicht etwas zu einfach mit Unlustgefühlen in Zusammenhang gebracht: Religion entsteht seines Erachtens im Kampf mit Unlustgefühlen (Zur Genealogie der Moral, Hanser, München, 1966, II., S.872), und so wären auch Sünde und Schuld eine Art Epiphänomen, was dann von Freud aufgegriffen wurde und dessen Psychotherapie mitbegründet.
Was wäre die wichtigste Frage, die du insgeheim an einen Menschen richten möchtest? Ist es die Frage "Glaubst du an die Vollkommenheit? Oder "Bedeutet dir die Idee des Vollkommenen etwas? Und strebst du selbst nach einem solchen?" - Immerhin bedeutete Nietzsche die Vollkommenheit noch etwas, wie z.B. sein Urteil über Adalbert Stifter zeigt, während viele seiner Leser, die ihn verstanden zu haben wähnen, längst nichts mehr damit verbinden.
Der Glaube an die Sünde hat (auch) eine befreiende Kraft, während die Ablehnung der Sündhaftigkeit des Menschen leicht zur Einübung von Selbsttäuschung und Lüge führt. Der auf die Vergebung vertrauende Sünder muß nicht Angst haben, sich über Gebühr Blößen zu geben. Er kann mit seiner Unvollkommenheit fertig werden. Zumal im Blick auf den Tod kann er die Mißerfolge und Fehler in seinem Leben überwinden, ja sie sogar als wichtige Bausteine seiner Biografie begreifen. Und so kann er sein gröberes Selbst ablegen und frei und heiter werden für den Tag der Auferstehung.
Neben dem Privileg, auf die Vergebung der Sünde zu hoffen, gibt es die Versuchung der Selbstübersteigerung, zumal wenn der Mensch überdurchschnittlichen Erfolg hat. Er begreift sich dann leicht als auserwähltes Medium, als Gottgesandten und als gottähnlich.
Sollte ein geheimes Bedürfnis in uns walten, uns von Zeit zu Zeit für schuldig zu bekennen? Dann hätte das Christentum vielleicht noch eine kleine Chance, ihre Agonie etwas herauszuzögern. Doch wäre wohl besser, wir hätten endlich ein ebenso sprachmächtiges wie verschwiegenes Selbst begründet, das stark genug ist, ohne solche infantilen Regressionen auszukommen.
Wir mußten sterben, weil wir von der verbotenen Frucht gekostet haben: so die Deutung des Spätjudentums und des Paulus. Später dann machte sich die entgegengesetzte Deutung geltend. Shakespeare in seinen Sonetten rät zur Liebe zwischen Mann und Frau, weil sonst das Bild der jugendlichen Schönheit erlischt.
Wir haben ein Gewissen, es kommt von Gott und sagt uns die Wahrheit: so glaubten wir früher. Heute sind wir eher davon überzeugt, dass wir eine Instanz in uns haben, die man mit der früheren Nomenklatur als "Gewissenlosigkeit" bezeichnen könnte: eine Instanz, die sowohl äußere soziale Bestimmbarkeit zuläßt als auch in Wechselwirkung damit innere Rechtfertigung und Attribuierung erlaubt: eine Instanz, die dazu da zu sein scheint, uns so zu leiten, dass es zu keinen Störungen und Behinderungen unseres Verhaltens und unserer Entfaltung kommt. Was man früher mit Gewissen bezeichnet hat, erachten wir heute als eine Gefahr, das Lebensnotwendige außer acht zu lassen und so an uns irre zu werden (vgl. Kafkas Strafkolonie); und was man damals im Sinn des Gewissens mit Lüge bezeichnet hätte, anerkennen wir heute als Überlebensstrategie und kennzeichnen sie mit Formen existentiellen Daseins oder mit der Notwendigkeit eines lebensfördernden Scheins.
Die grandiose Gestalt der Pyramide, vor der die Sphinx wacht, beschmiert mit dem Blut der Sklaven, das dieser stolze, der Zeit trotzende Bau eingefordert hat. Erhöhung zum Herrscher und Erniedrigung zum Sklaven, Palast und Hungerturm, Beweihräucherung und Erschießung, Hosianna und Kreuzigung, Kotau und Galgen, Polarisierung in Rechtgläubige und Ketzer, in Richter und zu Richtende, in Gerechte und Verbrecher ... die Erziehung der Jugend vor dem Hintergrund eines nur wenig oder überhaupt nicht belehrbaren Menschengeschlechts: das alles läßt uns kritisch fragen, ob es überhaupt ein gemeinsames Werk aller Menschen, einen sichtbaren Ausdruck der Menschheitsfamilie gibt.
Wie gut wir doch die Bibel beherzigen! Man kann nicht zwei Herren dienen, heißt es da. Deshalb dienen wir nur uns selbst.
Auf welche Weise kann man heute noch Schaden nehmen an seiner Seele? Früher war dies möglich, wenn man mit dem Zeitlichen kokettierte. Dem faustisch gesinnten modernen Menschen liegt indessen nicht mehr viel daran, seine Seele in Christus zu heiligen (wie etwa noch ein Klaus von der Flüe mit dem "Seele Christi heilige mich ..."). Indem Faust nach Selbstverwirklichung strebt, stellt er die Unsterblichkeit der Seele dem Wohl der sterblichen Seele hintan. Er will sein irdisches Leben erfahren (Gretchen); er sucht nach Wissen (Gelehrter) und er sucht den Aufstieg in der Gesellschaft (der Hofmann im II. Teil). Endlich hofft er, ähnlich wie schon Gilgamesch, dass der Ruhm seiner Taten nicht in Äonen untergeht (die neue Form der Unsterblichkeit).
Die Frage nach Gott hat für Faust noch einen anderen vollen Klang als für viele von uns heute. Er denkt an den, den keiner nennen noch bekennen kann. Wir heute denken an psychologische und soziologische Faktoren, die etwas mit solchen "Hypostasenbildungen" zu tun haben.
Die Götter Griechenlands waren durchaus auch unberechenbar, hinterlistig, verschlagen und gemein. Da bedurfte es nicht noch eigens eines Teufels.
Um zu erfahren, was Gott für einen bedeutet, fragt man ihn am besten nicht danach, ob er an Gott glaubt, sondern ob er an den Teufel oder an das Böse glaubt, und dann legt man ihm gegebenenfalls die Frage vor, ob der Teufel von gleicher Wesentlichkeit und Wirklichkeit ist wie Gott.
Mitunter träumt mir, als habe Luzifer das Licht der Weisheit Gottes in die Welt bringen wollen, doch die Menschen hätten das Licht nicht gewollt. Da aber habe Gott, da er sich bloßgestellt gesehen, den Luzifer zur Rechenschaft gezogen und bestraft. Eine Weile später aber habe Gott seinen Sohn in die Welt gesandt, mit eben dem Auftrag. Doch auch er habe nichts erreicht. Und seitdem verzerren Trauer und Gram das Antlitz Gottes.
Die Hoffnung auf die Unsterblichkeit der Seele und das Verlangen nach dem ewigen Leben sind bei uns nicht mehr in Kurs. In der Tat, wen gelüstet es, einmal drüben auch wieder mit jenen trüben Gesellen beisammen zu sein, die man sich hier schon nur mit Mühe vom Leibe hält?
Gott - das erinnert an einen Baum, der plötzlich für ein Kind da ist, wenn in seiner Vorstellung ein Untier auf es zukommt, wo es in Windeseile droben ist und Schutz findet.
Wann ist der Glaube stark, wann schwach? Sind wir stark im Glauben, wenn wir kein Eingreifen Gottes in diese Welt mehr brauchen oder stark, wenn es uns wie den historischen Jesus dazu treibt, in der Sache Gottes und der Heiligung seines Namens den Tempelberg zu erstürmen und gegen die römischen Götter (nicht gegen die Wechsler, von denen die doch etwas feigen Evangelisten reden) die Hand zu erheben: im unerschütterlichem Vertrauen, dass Gott die Legion seiner Engel zu Hilfe schicken wird? Mußte nicht gerade der Messias groß sein im Glauben, so groß, dass ihm auch das Versetzen eines Berges als etwas Kleines vorkam? Um wieviel mehr, wo es bei der Ankunft des Reiches Gottes ausschließlich um die Sache Gottes ging! - Kinder glauben ebenso verwegen wie der historische Jesus, nur kann man bei ihnen nicht von Glaubensstärke reden ebenso wenig wie von Glaubensschwäche, weil sie noch nichts von den Naturgesetzen wissen, an die wir seit Galilei glauben! Für sie ist durchaus vorstellbar, dass der Berg, der heute noch vor dem Haus zu sehen ist, über Nacht verschwindet.
Jener Tag, als man nicht mehr die Tage oder Jahre zählte, die schon vergangen waren seit der Herr die Erde mit der Verheißung verlassen hatte, bald zurückzukehren und die Seinen abzuholen, sondern als man die Naherwartung aufgab und sich in der Welt einrichtete und sich mit ihr arrangierte! Wollte man die Kirchengeschichte im Sinne ihres Stifters und im Sinn der Urgemeinde schreiben, so müßte man über jenen Tag schreiben: Tag des Antichrists.
Arme bitten nicht um Reichtum. (Der Arme, den es nach Reichtum verlangt, betet nicht, der revoluzzert.) Sie empfinden ihre Armut eher als gesetzwidriges Verhalten oder als Kennzeichen einer Schuld und richten ihr Gebet darauf aus, dass man ihnen dieselbe vergeben und sie beschützen möge.
Als die Kirche reich und politisch mächtig zu werden begann, begann sie unglaubwürdig zu werden als Verkünderin des Evangeliums an die Armen.
Wer den im Rollstuhl sitzenden, sterbenden Papst kritisiert, er erweise der Kirche keinen Dienst damit: hat noch nie etwas vom Ecce-homo, von der Nachfolge Christi und dem leidenden Antlitz der Kirche gehört.
Die Erbärmlichkeit meiner Hochachtung
Der Fluch und das Stigma der Erbärmlichkeit und der Armut, die sich in allen Gesellschaften äußern. Nicht so viel zu haben wie die anderen, auch wenn es zum Leben ausreicht, gereicht zur Schande, zumal in unserem Zeitalter der Proklamation und Kultivierung immer größerer Bedürfnisse. (Früher einmal gab es das mönchische Ideal des Reichtums der selbstgewählten Armut.)
Arme bitten nicht um Reichtum. Sie empfinden ihre Armut eher als gesetzwidriges Verhalten oder als Kennzeichen einer Schuld und richten ihr Gebet darauf aus, dass man ihnen dieselbe vergeben und sie beschützen möge.
Gibt es noch einen anderen Weg vom Christentum des 1. Jahrhunderts, als man noch annahm, dass Welt und Geschichte zu Ende gehen, ins 3. nachchristliche Jahrtausend, mithin also in eine Welt technologischer Revolutionen und grenzenloser Selbstbestimmung, als die Feststellung eines dem Menschen liebgewordenen Aberglaubens?
Der Begriff der Menschheit ist nur punktuell und peripher bzw. familiär faßbar. Man muß ja nur aus dem Haus gehen und sich etwas aus der Nachbarschaft entfernen: schon gehört man zur grauen Schar der Unbekannten, der Niemande, an denen jedermann grußlos und blicklos vorbeigeht und die freilich auch selber entsprechend tun. Und wagt man sich gar in den Straßenverkehr oder in die Stadt, so wird einem nur doppelt klar, dass die Menschen kein gemeinsames Zuhause haben. Nein, diese Menschheit kann man nicht lieben; sie geht einen nicht viel an. Man ist froh, wenn man sie nur schnell wieder los wird. Man hat nichts mit den anderen gemeinsam und will auch nicht wissen, wie sie leben, streiten und sterben. Und stellt man sich in Gedanken einen Gott vor, der diese Menschheit wirklich liebt, so kann er einem fast ein wenig leid tun. So, möchte man ihn beraten, so darf man sich nicht ans Kreuz schlagen lassen, wenn man noch eine Spur von Vernunft und Selbstachtung in sich hat.
Im Traum siehst du jemanden an einem Kreuz hängen. Ist es ein Tier, ein Mensch, ein Gott? Du weißt es nicht, und du legst dir die Frage auch nicht vor. Erst nach dem Aufwachen, wenn der Verstand arbeitet und analysiert, gewinnt diese Frage an Raum. Und dein Glaube, genauer, das im Dienst des Glauben stehende Denken macht dich mit der Möglichkeit bekannt, dass da ein Gott am Kreuz hängt.
Wahrheiten werden zu Unwahrheiten und Religionen entarten zum Aberglauben, wenn ihnen der Geist der Gesellschaft fehlt, der sie trägt. So erscheint der christliche Geistliche, der früher inmitten staunenerregender Kathedralen seelsorglich tätig war, vielerorts nur noch als Museumsangestellter. Aufklärung und wissenschaftlicher Blick zurück in die hinter uns liegenden Jahrhundertausende der Evolution wie auch der Blick in die Zukunft des Sonnensystems und der Sterne: diese Wahrheiten haben unser Leben keineswegs bereichert, sie haben uns ärmer gemacht. 2000 Jahre Christentum erschienen bestenfalls wie eine kleine, historische Verirrung im Fluß der Jahrmillionen.
Kaum eine Berufsgruppe hat heutzutage so viele Kranke aufzuweisen wie die christlichen Geistlichen. Der Geistliche ist krank geworden, weil es kaum mehr Kranke gibt, die der Heilung durch einen Geistlichen bedürfen.
Die traurig komische Geschichte der Diener des Herrn, die auf der Fahrt im Kirchenschiff seekrank geworden sind und die nun ihr Heil darin suchen, dass sie beim Ausstieg aus dem ihnen unbehaglich gewordenen Schoß der Kirche auf sich aufmerksam zu machen suchen. Die einen üben sich in Psychologie, die anderen in Soziologie oder in historischen Kapiteln, alle aber sind sich darin einig, dass die Kirche an vielem schuld ist.
Wenn einem am Fortbestand des Christentums gelegen wäre, so müßte er hingehen und der kleingewordenen Schar der Geistlichkeit die Hand reichen, ehe sie im See von Genesareth ertrinkt.
Aller Weltgeschichte zum Trotz wollen wir doch nicht glauben, dass die Menschheit nichts ist als eine der verschlagensten und gefährlichsten Ausgeburten der Evolution. Indessen, wenn ich gelegentlich im Eschbachtal an den Dreifaltigkeitsbildsäulen vorüberkomme - Dokumenten der Volksfrömmigkeit früherer Jahrhunderte, wo auf einer hohen Säule ein Gottvater auf seinem Thron sitzt, gebeugt über seinen am Kreuz hängenden Sohn -, befällt mich die bange Ahnung, ob dieser Gott dort droben neben seinem Kummer nicht auch darüber nachsinniert, ob es nicht besser gewesen wäre, das verfluchte Menschengeschlecht nicht zu erschaffen.
Mitunter suchen wir (allen Trostverschmähern zum Trotz) Trost und Beruhigung in dem Gedanken, dass ein höherer Wille uns und alles zum besten lenkt; mitunter aber schmeichelt uns auch, dass es auf uns selber ankommt, was wir mit uns anfangen und wie wir uns und diese unsere Welt ausgestalten.
Der Mensch ist auf der Erde - so lehrte früher der Katechismus -, um den Willen Gottes zu erfüllen und in den Himmel zu kommen. Doch wissen wir heute kaum mehr, was der Wille Gottes ist, und wir trauen auch niemandem zu, dass er es weiß. Bestenfalls wissen wir, wie wir uns verhalten können, um anderen kein Leid zuzufügen und sie als Mitmenschen zu achten. Bleibt aber die Frage, wozu der einzelne als Mensch da ist oder da sein kann. Kann er sich erlösen, wenn wir unter Erlösung den Prozeß verstehen, wo der Mensch zu sich und zu seinem Leben ja sagt? Und schafft er diese Aufgabe allein oder benötigt er andere (Ahnen, Familie, Gemeinde ...) dazu? Dies aber wiederum hängt von seiner gesellschaftlichen Natur und von seiner gesellschaftlichen Stellung ab.
Viele von uns haben zwar keine religiöse Heimat mehr und wollen auch keine mehr haben, haben aber noch immer religiöse Probleme.
Man glaubt, auf jede Art von Erlösung verzichten zu können, insbesondere auf die christliche Botschaft von der Erlösung aus den Banden des Todes. Indessen fließen der Gesellschaft durch den Verfall des Christentums Aufgaben zu (Substitution von Idealen, Sublimierung der Angst, vor allem vor der Zukunft ...), die sie weit überfordern, von denen sie aber im Augenblick noch kaum etwas weiß.
Die menschliche Gesellschaft, insbesondere an den Produktionsstätten des Wohlstands, schließt sich zu immer größeren Einheiten zusammen, sie wird allumfassend, "katholisch"; während der Glaube, dem keine gesellschaftlich tragende Bedeutung mehr zuzukommen scheint, gänzlich zur Privatsache verkommt und ins beliebige zerfließt.
Wir sind so liberal, dass wir zumindest denen, denen nicht mehr zu helfen ist, den Spleen lassen, etwas zu glauben und zu erhoffen.
Der Name, der ein Programm, ein Vorbild, eine Weise des verfügbaren Daseins, ein Stück Heimat vor- und widerspiegelt: Für Kinder ist dies nicht schwer zu erfassen.
Im "Amphitryon" Kleists bedauert Jupiter, dass er am Menschlichen keinen Anteil hat, ein indirekter Hinweis auf die Bedeutung des Christentums mit dem Christus als Gottmenschen, der dann bei Kleist auch durch die Weissagung der Geburt des Herakles erläutert wird. Mit dem Ableugnen göttlicher Erscheinungsweisen in der Welt gibt es keine Irritation mehr und keinen großen Augenblick, der an Amphitryon und Alkmene erinnert.
Erst wenn der Kleistsche Amphitryon gesteht, dass er nicht Amphitryon ist, sondern Jupiter, wenn ihm also aufgeht, dass er in Jupiter und als Jupiter vor Alkmene erschienen ist, wird er von Jupiter als Amphitryon anerkannt. In dem Augenblick aber dämmert es Alkmene, dass sie sich, indem sie Juppiter den Vorzug gab, an ihrem Manne vergangen hat. "Laß ewig in dem Irrtum mich, soll mir dein Licht die Seele ewig nicht umnachten" läßt Kleist daraufhin Alkmene zu Jupiter sagen, was nun fast den Gott zu einer tragischen Person macht, da er so vom Bereich des Menschlich-Mitmenschlichen ausgeschlossen wird.
Mitunter, wenn einem von uns das Licht ausgeht, beginnt er von Gott zu stammeln.
Frühere Zeiten versuchten humanes Verhalten zu begründen auf einer Einsicht in die menschliche Begrenztheit, in den Abgrund eines Menschenherzens (Vgl. Jeremia, 17.9), in den Typhon in uns, in die Ohnmacht des Wollens und des Handelns, in das Wissen um Ehre und Schmach (Laotse). ... Dann kam der Mensch, der homo faber, der machen kann, was er will. Ist es ein Zufall, dass wir als Kinder das Lied sangen: Hans Michel ... kann machen, was er will ... ? Heute warten oder ängstigen wir uns vor dem neuen Typus Mensch, den uns das 3. Jahrtausend n. Chr. bringen wird.
Der ursprüngliche Platz des Menschen im Christentum ist nicht in dieser Welt, auch nicht in einer künftigen innerweltlichen Welt, sondern in einer aus der Kraft des Christus kommenden Welt. In der diesseits orientierten Welt soll sich der Mensch wie in einem Durchgangsstadium empfinden. Er soll sich in ihr nicht einrichten, sich nicht mit allen Organen einwurzeln, nicht sein In-der-Welt-sein verstehen als ausschließliches Hier-sein. Ein noch so schöner Sommermorgen über einem Sommergarten ist kein Paradies. Er mag an das Paradies erinnern, wenn er paradiesisch schön aufgeht. Damit zugleich erinnert er aber auch an den Menschen, der dieses Paradies verspielt hat.
Steckt hier ein Stück allgemein anerkennbarer Wahrheit im Christentum, dass wir nur als Mangelwesen, als Exulanten, im Bewußtsein unserer verbrecherischen Existenz gemeinschaftsfähig sind?
Widerspruchsfreies Mitsichübereinstimmen (s'accorder avec soi-meme) ist im Christentum grundsätzlich gefordert durch das Ideal der Geschwisterschaft in Christus. Wenn Paulus auch nicht die Macht hat, die gesellschaftlichen Klassen aufzuheben, so relativiert er sie doch als unbedeutend: Sklaven und Freien, Juden und Nichtjuden, Schwarze, Indios und Weiße gehören in der christlichen Gemeinschaft unterschiedslos zusammen. Doch das Christentum kann sich nur verwirklichen als geschichtliches Gebilde und mithin als ein Gebilde von dieser Welt. Selbst die Apostelgeschichte zeigt schon, wie die Organisation Kirche nicht ohne straffe Führung und Macht auskommt. Ungeachtet der Notwendigkeit aber, sich in der Geschichte einzurichten und zu behaupten, ungeachtet aller Fehlentwicklung, wie sie etwa Voltaire in seinem Candide satirisch artikuliert, lebt der Gedanke der Gleichheit aller Christen weiter. Diese geistliche Idee wird letztendlich in der Aufklärung zur politischen Idee: die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die dann die Heraufkunft der demokratischen Verfassungen vorbereitet.
Vergessen wir auch nicht, wenn wir uns fragen, was der moderne Mensch dem Christentum verdankt, dass die zur Zeit der frühen Gotik sich entwickelnde devotio moderna des 14. und 15 Jh. eine erste allgemeine Bildungstheorie darstellte, die dem Einzelnen erste Begegnungen mit sich erschloß.
Der Verfasser des Johannesprologs hebt das Wort der Schöpfung deutlich ab vom augenblicklichen Zustand der Welt. Die dem Menschen in die Hand gegebene Weiterführung der Schöpfung scheint ihm auf Abwege geraten zu sein. Der Mensch hat nicht dem Wort nachgehört und es weitergeführt, er hat selber das Wort ergriffen und das große Wort gemacht.
Im Anfang das Wort ... Der Mensch das Wesen, das nach Ansprache und Aussprache verlangt. Unerträglich der Gedanke an das Schweigen der sich ins Unendliche verlierenden Räume, unerträglich sprachloses, stummes Geschehen.
Unsere hündisch-soziale Natur, die auch unseren religiösen Bedürfnissen zugrunde liegt, macht, dass wir nach Einordnung und Unterordnung streben und darin unseren Frieden suchen. Freiheit hingegen erscheint schnell als Last, als Elend und unerträgliche Verantwortung.
Wenn die johanneische Wahrheit frei macht, so als Einordnung und Unterordnung unter das Gesetz Christi.
Das Wort Gottes als aufgeschriebenes Wort der Bibel wurde oft eher als heilig verletzlich, denn als mächtig oder gar einheitstiftend erfahren und so dann auch erachtet. Es wurde vor den Gläubigen verschlossen, um die Gefahr der Ketzerei zu bannen.
Wenn es der Glaube an uns ist, der unseren Taten vorausgeht und so versuchsweise und antizipatorisch aus uns macht, was wir werden können und worunter wir, wenn wir es nicht werden, leiden: so müssen wir vor uns nicht so sehr von unseren Taten Rechenschaft ablegen als vielmehr von dem Glauben, der unserem Tun zugrunde liegt.
Der Mensch braucht eine Beschäftigung, die seinen Atem in Gang hält. Wenn du aufstehst, stehst du um dieser Beschäftigung willen auf, und wenn du dich abends zur Ruhe begibst, denkst du um eben dieser Beschäftigung willen an den vergangenen Tag zurück.
Paulus kennt die Unschuld der Schuld. Sie ist für ihn gegeben, solange es noch kein Gesetz gibt. Sokrates und die griechische Tragödie kennen die Schuld der Unschuld, die zum menschlichen Handeln gehört, da der Mensch nicht um alle Voraussetzungen und Bedingungen weiß. Bei Paulus spiegelt sich der Glaube wider, dass ein Gesetze offenbarender Gott das Zusammenleben der Menschen zu garantieren vermag, bei Sokrates und Euripides, dass menschliches Handeln nicht durchweg als vollständig planbares und als entschieden gutes gelingt.
Was suchen wir denn herauszufinden: dass wir uns über ein paar Jahrtausende eingebildet haben, vor etwas Großes und ewig Gültiges zu gelangen, was wir bislang nur aufgrund unüberwindlicher Schwierigkeiten auf dem Weg durch eine Flucht von vielen tausend Zimmern noch nicht erreicht haben, während wir nun endlich zur Gewißheit gelangen, dass es nichts gibt neben und hinter unserer Sisyphosexistenz?
Gott vermag alles: Im Licht dieses Homer und den griechischen Tragikern wie überhaupt der antiken Welt vertrauten Glaubenssatzes könnte sich manch ein modernes Projekt zur Erforschung des Menschen (Gewissensbildung, Selbstbildung, gesellschaftliche Profilierung, Verarbeitung von Träumen ...) im voraus als überflüssig, wenn nicht gar als gefährlich erweisen.
Hineingeworfen in eine Welt, in der wir fremd sind: das war auch schon früher, zur Zeit des Christentums, eine allgemein anerkannte Aussage. Nur, dass man damals die Welt als eine Schule Gottes ansah, seine Regeln und Satzungen zu erlernen.
Denken, Sophistik, Relativierung, Verfremden ... sind nur nütze, wenn nach vorübergehendem Verunsichern eine bessere Stabilität erreicht wird.
Starke Gefühlsbetonung im Christentum hat zwar einen großen Vorteil bei der Unterweisung von Kindern und im Blick auf die Volksfrömmigkeit, birgt aber zugleich auch die Gefahr, dass die Liebe zum gekreuzigten Christus in Haß umschlägt gegenüber Andersdenkenden. Ist es uns Abendländern schon gelungen, unsere Gefühle und Affekte zu kultivieren?
Was für einen Weg hat die Seele im Christentum eingeschlagen? Haben wir über dem Leiden und dem Tod Christi Tränen vergossen, die nicht hätten vergossen werden sollen, und so ewige Grundsätze verletzt, die die Menge menschlicher Erregung nur weiterhin unselig vermehrt und neuartige, schreckliche Ängste erzeugt hat (vgl. Tschuang-Tse)?
Die Angst um eine unsterbliche Menschenseele begann nicht immer mit der Beseitigung der Angst in dieser Seele.
Unruhe über Unwissenheit, die sich in Angst äußert, hat nicht viel mit der Haltung eines Sokrates zu tun, der sich bei aller Unwissenheit seiner gleichwohl gewiß bleibt. Das erinnert viel eher an jene Leute, die El Greco gemalt hat, deren Gesichter ausgemergelt und ausgebleicht zu einem Himmel aufblicken, von wo sie sich endgültige Gewißheit und Rechtfertigung erhoffen. Gesichter, die gepeitscht sind von Unruhe, gejagt von Mißerfolgen, gequält durch das Blut von Verurteilten und verstört über das Ausbleiben einer göttlichen Offenbarung, die ihnen die Gewißheit hätte verschaffen sollen, dass sie nicht einem sinnlos verbrachten Leben zum Opfer fallen.
Der Grieche dachte sich die Unterwelt diesseitsbezogen. So sagt Achill, wie ihm Odysseus in der Unterwelt begegnet, das Los eines Knechtes auf Erden sei besser, als das eines Heroen in der Unterwelt. Und Teiresias gibt dem Odysseus Ratschläge für seine fernere Lebensgestaltung. Das Christentum träumt vom Himmel als von einer qualitativ neuen Heimat. Doch keiner vermag etwas über diese so herrliche Heimat zu sagen. Selbst Paulus bekennt, dass noch kein Auge etwas davon geschaut und kein Ohr etwas davon vernommen, worüber Shakespeare dann im Sommernachtstraum leise spöttelt.
Kierkegaard sprach davon, dass die ethische Kategorie durch die religiöse Kategorie außer Kraft gesetzt wird (vgl. die Opferung des Isaac). Kulturgeschichtlich aber ist das Umgekehrte der Fall: zuerst war die strikte Erfüllung kultisch ritueller Vorschriften und Aufträge, um deren Herkunft niemand zu wissen brauchte. Sagte man zu dir: Töte! so gingst du hin und tötetest, und du tatst deine Pflicht. Auch wenn sich das Opfer vor dir zu Boden warf, es nützte ihm nichts. Konrad Lorentzens 7 Todsünden gab es nicht, noch auch ein Schuldig-werden.
Die Offenbarung aller Offenbarungen: die Gewißheit nämlich, dass unser Leben einmündet in einem sinnvollen Großen und Ganzen, so dass sich all unser Mühen gelohnt hat: sie scheint vor dem Fortschritt unseres Wissens zurückzuweichen. Wenn überhaupt noch einer, so scheint es der Unwissende zu sein, der die Bedingung der Erfahrung des Glaubens erfüllt.
Wenn eine Offenbarung not tat, so dazu, die Verbindung herzustellen zwischen einem Gott und seinem Volk. Wo es aber kein Volk mehr gibt, gibt es auch keine Gottesoffenbarung mehr, vielleicht noch Engel- oder Marienerscheinungen.
Wie der Charakter eines jeden von uns beflügelnd und begrenzend auf die Charaktereigenschaften der uns Umgebenden wirkt, ähnlich verhält es sich auch im Großen. Der Charakter von Gesellschaften und Nationen wirkt einerseits hemmend und begrenzend, andererseits fördernd und beschleunigend auf die Eigenschaften der Gottheiten, an die die Sozietäten glauben. Man mag sich von daher überlegen, was für ein Pantheon augenblicklich über unserer hemdsärmeligen Leistungs- und Konsumgesellschaft besteht. Eine schrittweise Selbstoffenbarung Gottes, die vornehmlich auf den intelektuellen Fähigkeiten der Menschen beruhte, dürfen wir wohl für ein nettes Märchen halten.
Wieviel Vorwissen und Wissen brauchen wir, um an etwas glauben zu können? Vergleiche in diesem Sinn den König von Frankreich in Shakespeares "Ende gut, alles gut (II.1)", der Wissen sammelt, bis er Helena glaubt, dass durch sie an ihm ein höheres Ereignis stattfinden soll. Doch man argumentiert heutzutage umgekehrt: Wenn man nicht viel Wissen braucht, um an etwas glauben zu können, wie jedes Kind beweist, so kann aller Glaube nur etwas Kindisch-Infantiles sein.
In dem Maß, in dem man das Christusereignis theologisch und philosophisch und endlich historisch wissenschaftlich zu erklären suchte, und man nicht mehr am Kairos (dem singulären und unbegreifbaren Ereignis) genug hatte, der sich durch die Wirkung der Gotteskindschaft (vgl. Prolog des Johannesevangeliums) als hinreichend wahr erweisen würde, nahm man ihm die Möglichkeit, Heimat zu stiften.
Fragen zu stellen oder Gegenfragen zu erheben und Widerspruch vorzubringen wurde durchaus nicht immer für selbstverständlich und gut gehalten. So war im Mittelalter die Bibel durchaus kein Buch zum Lesen, und dies nicht, weil die Leute nicht lesen konnten. Man hätte ihnen ja das Lesen beibringen können. Doch begnügte man sich meist mit bildlichen Darstellungen für das Volk. Wer las und nachfragte, setzte sich der Gefahr aus, auf Fehler zu stoßen, die, da solche selbstverständlich in diesem Buch nicht sein konnten, des Teufels waren. Entsprechend mußte keiner nachfragen über die ständische Ordnung, über die Macht und die Privilegien der Könige, über die Richtigkeit von Gesetzen, die Notwendigkeit von Kriegen ... Und hätte man es vermocht, man hätte auch noch die Gedanken kontrolliert und alles Unschickliche bereits in der Vorstellung ausgejätet.
Wort (Experiment und Theorie) und Wahrheit fallen in den Naturwissenschaften zusammen. Ein Lehrbuch trägt die ihm eigene Wahrheit (bzw. begrenzte Wahrheit oder auch Unwahrheit) in sich. Anders die Bibel. Sie liest und erklärt sich nicht von allein. Sie bedarf eines väterlichen oder mütterlichen Lehrers, der prinzipiell nicht austauschbar ist. Wer in den Naturwissenschaften den Stoff beherrscht, ist austauschbar; er taugt immer als Wissensvermittler. Und auch dies gilt wohl, dass zwei, die zusammen Naturwissenschaften betrieben haben, dennoch gute Freunde bleiben können, wenn einer das Studium der Naturwissenschaften aufgibt. Wenn aber zwei sich um die Lehre der Bibel bemüht haben und einem die Freude daran vergeht, dann tritt zwischen sie eine nur schwer überbrückbare Trauer.
Was ist ein Religionslehrer, der die Wahrheiten der Bibel als Wissen und vielleicht gar noch als abfragbares Wissen vermittelt? Man schaffe solche wertlosen Erwerbszweige ab!
Als wir noch von Bedeutungen aufgesucht, heimgesucht, durch solche verfolgt, aber auch erlöst wurden, glaubten wir noch an den hl. Geist (vgl. den Geist, der nach Paulus in uns seufzt ...). Als wir uns aber daran machten, selber Bedeutungen zu definieren und in Zusammenhängen aufzusuchen, da hatten wir die Wissenschaften.
Gott - einer, der früher (vgl. die Botschaft des alttest. Psalters) die Stämme betreut und ihnen in seinem Segen Lebensfülle und Nachkommenschaft gewährt hat. Dann (im Christentum) einer, der, voll ewigen Lebens, sich um den einzelnen bekümmert bis in den Tod und durch den Tod hindurch. Solch eine Gottesvorstellung kann hilfreich sein, etwa beim Tod eines lieben Menschen, wenn uns Trauer das Herz einschnürt, weil wir ahnen, dass wir versäumt haben, uns ganz auszusprechen und zu erkennen. Hier weiß das Christentum um den hl. Geist, eine göttliche Kraft, die dem Vergessen im Tod wehrt und die ein Wiedererkennen ermöglicht, wenn wir uns auch nur fragmentarisch im Leben erkannt und bewährt haben.
Die Geschichte der christlichen Theologie hätte darauf eine Antwort zu geben, ob sich die Theologie zuviel anheischig gemacht hat, sich als Wissenschaft zu etablieren und aufzählbares Wissen zu dokumentieren: so dass an ihre Stelle Psychologie und Soziologie getreten sind.
Der Lehrer der Lehre hält die Einheit der Lehre im Blick. Und so breitet sie sich ihm in der Unterweisung nicht aus als Rede über das Himmelreich und Gotteskindschaft oder als Rede über die Leidenserlösung und den heiligen Pfad Buddhas oder als Rede vom Tao und dem Nichstun, sondern in Abbild und Gleichnis. Wer die Lehre in Inhalt und Form trennt, wer sie objektiv zu beurteilen oder gar als falsch zu erweisen trachtet, spricht nicht mehr aus der Kraft der Lehre, sondern er spricht über die Lehre, wie über etwas Gemachtes, Objektives, Totes.
Für den Menschen des mosaischen Bundes war die Lehre in der Tora verankert. Sie enthielt die Gesetze und Beschlüsse, die für den einsichtvollen und gerechten Menschen als gut erkennbar waren. Dagegen muß man unsere Gesetze heute kennen, auf dass man weiß, was man alles tun soll oder lassen darf oder wie man sich, wenn man einmal eine Dummheit getan hat, geschickt den Fallstricken der Justiz entwindet.
Mit dem Bild vom Menschen als einem sozialen und politisch-öffentlichen Wesen waren in der abendländischen Antike Bilder eines glücklichen Jenseits nur in gesellschaftlichen Räumen denkbar, etwa als Bild einer Hochzeitsgesellschaft oder eines idealen Staatswesens. Heute ließe sich das Pauluswort - dass dann nichts mehr sein wird außer Gott, der alles ist in allem - eher so ausdeuten, dass man selber mitsamt allen langweiligen Verwandten und Zeitgenossen hinter dem göttlichen Angesicht verschwindet, so dass man an alle die Peinsamkeiten und Unzulänglichkeiten nicht weiter mehr erinnert wird. Der Glaube an die Gemeinschaft der Heiligen, wie ihn der Schluß des nizäanischen Credos bezeugt, ist vielen von uns bedeutungsarm, wenn nicht gar bedeutungsleer geworden.
Ein Gaube, dessen Inhalte und Sätze nicht mehr Gegenstand einer geheimen Freude und einer Leidenschaft sind, die das Leben nicht mehr durchdringend bestimmen, ein Glaube, der es vielmehr nötig hat, historisch abgeleitet und auf tausend Arten verständlich gemacht und begründet zu werden, ist längst gestorben.
Mitunter scheint es, als ob einer erst beweisen müßte, dass er sich freut oder seelisch bewegt ist oder überhaupt, dass er ist: weil alles, was ist, als begründbar gedacht wird, und mithin nur das der Fall sein kann, was begründet worden ist.
Melancholie, die verloren gegangene Ideale umspielt. Wie, wenn an der Stelle des Glanzes des früheren christlichen Gottesideals nur noch Scherben voll Melancholie blieben? (Oder sind wir - was in der Antike nirgends der Fall war - dem Gott zu nahe gekommen?)
Eine Gesellschaft, die das Gesetz nur noch in den beiden Erscheinungsweisen kennt - als Erkenntnis der Wirklichkeit bzw. als Richtlinie zur Tat - , vergißt die Lehre als lebenstiftende Kraft. Der Türhüter vor dem Gesetz (Kafka) warnt zwar den Mann vom Land, an ihm vorbei ins Gesetz einzudringen, indem er aber den Eingang als speziellen und persönlichen ausweist, lädt er ihn zugleich dazu ein, das Gesetz anzurufen. Das Endliche erreicht die Einheit des Unendlichen nicht, es sei denn, dass das Unendliche das Endliche in sich aufnimmt. Der Türhüter (Geistliche) wäre also dazu da, dass Weg und Lehre nicht mißverstanden werden.
Was ein Geistlicher einmal vom Evangelium sagte, dass es nie Unrecht habe, sondern dass es nur recht gelesen werden müsse, läßt sich füglich verallgemeinern. Man kann seinen Blick vornehmlich auf die nahrhaften Körner der Wahrheit richten.
Das Christentum, was für eine reichhaltige Ruine! So versucht man u.a., dem heilsgeschichtlichen Begriff des Kairos einen neuen Gehalt zu geben, indem man ihn lerntheoretisch als fruchtbaren Augenblick für Pädagogen übernimmt.
Dadurch dass das Christentum grundsätzlich geschichtslos konzipiert war, war es im Stande, eine Philosophie aufzubauen, die sich im Dienst der Theologie den Grundlagenwissenschaften (Ontologie, Metaphysik) zuwandte. Der heutige Mensch, der Theologie als Wissenschaft nicht mehr ernst nimmt, ist leicht auch zu dem Vorurteil geneigt, als habe jene scholastische Philosophie niemals etwas zu sagen gehabt. Jener Tag aber, als z.B. Thomas von Aquin entdeckte, dass des Paulus theologische Botschaft vom Leib des Christus, an dem die Christen teilhaben und der für sie ihre eigentliche Existenz und ihr wahrer lebendiger Körper bedeutet, dass außer dem Christus nichts und nur in ihm das Seiende Bestand hat, als er entdeckte, dass diese Botschaft deckungsgleich ist mit dem Philosophem, dass die Gattung rangmäßig alle Einzelwesen übertrifft, dass also die Gattung (der Christus) auch philosophisch gesehen das Erste und Hauptsächliche ist und er die Gattung hypostasierte, dürfte wohl zu den großen, herausragenden Tagen seines Lebens gezählt haben. Auch wenn man sich heute längst gegen Thomas von Aquin entschieden hat (Universalienstreit), so kann diese Auffassung gleichwohl nicht als falsch, aber eben auch nicht als wahr erwiesen werden. Und doch: was unfruchtbar zu sein scheint angesichts der überprüfbaren Sätze der modernen Naturwissenschaft, muß nicht schon immer unfruchtbar gewesen sein und war es im Mittelalter gewiß auch nicht, zumal im Blick auf das kreative Denken.
Versteht man denn nicht, dass jene Jünger und Zeugen Christi in Liebe zu Christus entflammt waren? Hatten sie nicht das peinsame Gefühl zu überwinden, durch ihre Passivität am Tod Jesu mitschuldig geworden zu sein? Und liegt ferner nicht nahe, dass die Erhöhung zum Gott, wenn sie schon den röm. Cäsaren zustand, auch Jesus, dem Christus, zustehen mußte? Und wenn Leute um der Gesundung des Kaisers Tiberius willen den Tod auf sich nahmen, wenn der Glaube an solch stellvertretendes Leiden in Rom lebendig war, lag dann nicht auch nahe, den Kreuzestod Jesu als ein stellvertretendes Leiden zu verstehen?
Wäre Herodes nicht in Gunst bei den Römern gestanden und hätte er den Tempel Salomons nicht wiederaufbauen lassen, so hätte die Hoffnung auf den Messias gewiß nicht so viel Macht und Bedeutung erlangt, und das Christentum wäre nicht geschichtliche Tatsache geworden. So aber war der Tempel in den Augen der Zaddikim eher ein Skandal und eine Gotteslästerung, zumal auch, nachdem Herodes die Makkabäerin Mariamne ermordet hatte. Man mußte den Tempel niederreißen und ihn neu wieder erbauen.
Die Römer zur Zeit des Augustus waren keine Heiden; indem sie an Gottheiten glaubten und einen Begriff von Schuld und Sünde hatten, waren sie eher Christen als wir heute.
Das Schuldgefühl, das universale Ausmaße annehmen kann, wenn dem Geliebten etwas fehlt, wenn er krank wird oder gar stirbt: "Mußte nicht der Christus alles das leiden" beginnt der Osterchristus seinen Zuspruch an die von Schuldgefühlen gequälten Apostel.
Das Abendmahl der Verräter und der Seinvergessenen. Wir müssen aufessen und immer wieder aufessen, wovon wir nur soviel verstehen, dass wir es nicht verstehen, dass es aber für uns wichtig sein dürfte. Auch dies gehört wohl in den Umkreis des sokratischen Nichtwissens.
Wohl werden wir den Erfinder eines Medikaments gegen den Krebs wie einen Gott verehren, und das wahrlich zu Recht. Und doch wird seine Erfindung die ideelle Höhe des Abendmahls niemals erreichen.
Mit dem Fortschritt arbeitet sich auch die in uns befindliche Verzweiflung immer deutlicher heraus.
Uralte Regungen im Einzelnen (z.B. beim Ernten im Garten): dass auch das, was wir uns durch unserer Hände Arbeit erwirtschaftet haben, uns nur wie ein Raub gehört.
Wir haben von der Frucht des Lebens gekostet und sie für gut befunden. Und so werden auch wir dazu stehen und sagen: Das Leben, es ist gut.
Der Mensch: zum Wagnis der Freiheit bestimmt oder ein vergessener Gottesgedanke?
Selbsterhöhung ist im Evangelium eine Form der Selbsterniedrigung, und Selbsterniedrigung ein möglicher Weg, dem anderen gegenüber gerecht zu werden.
Das Mißverständnis im Ansatz und in der Definition, dass wir Freiheit als allgemeines Recht des einzelnen, als Anrecht auf gewisse bürgerliche Rechte, zu fassen suchen. Zur Verwirklichung menschlicher Freiheit gehören wenigstens zwei: Vater und Kind oder Mutter und Kind, Vater und Mutter, Lehrer und Schüler. Sie hat mithin eine dialogische Struktur.
Wenn dies im Satz von den zwei oder drei, die in seinem Namen versammelt sind, wo er mitten unter ihnen ist, mitgemeint ist, dass dort Freiheit herrscht und Zufriedenheit und Glück, so ist der Gott wesentlich in der Begegnung im Du. Dann ist er erfahrbar als dialogisches Prinzip, und nicht in der philosophischen Reflexion oder in der Selbsterfahrung.
Wo Gemeinschaft ist, da ist Glaube an etwas Göttliches, und wo Eltern nicht miteinander leben können, da sucht man auch bei den Kindern vergebens nach einem Glauben an etwas Göttliches.
Die nachösterliche Gemeinde bemühte sich zu sagen, warum nicht spätestens in jenem Garten von Gethsemane eine Legion Engel aufgetaucht ist, ja sogar, warum sie nicht auftauchen konnte.
Die Götter des Olymp gehören nicht zu der Klasse der Götter, die das Mysterium des Todes durchleiden.
Wenn Paulus im 1. Korintherbrief sagt: "Die Liebe ist geduldig, langmütig, bläht sich nicht auf", dann macht er keine sentimentalen Worte, deren er sich zu schämen hätte. Er formuliert den auferstandenen Christus und damit zugleich die Aufgabe, die der Gemeinde als dem Leib Christi zukommt.
Gewiß, es ist peinsam, an unsere Gottebenbildlichkeit zu glauben und zugleich zu sehen, wie wir Menschen uns wie eine verschlagene und schlaue Bestie aufführen. Und es ist nicht minder peinsam, wenn Leute das Amt für sich in Anspruch nehmen, über die Gottebenbildlichkeit anderer zu befinden. Es ist nur recht und billig, wenn die Gesellschaft die Rechte des einzelnen achtet und ihm die Zielbestimmung im Rahmen seiner Identitätsgewinnung überläßt. Es ist aber doch auch bedrückend, wenn Erzieher die ihrer Natur nach idealisch gesinnte Jugend anleiten, jedes höhere Prinzip in sich zu unterdrücken.
Katechismus und Sündenregister reflektieren und unterdrücken nicht nur, sie wecken auch Bedürfnisse und verführen zur Sünde. Wenn ich mir z.B. den Menschen nicht nackt vorstellen darf, so muß ich ihn mir doch erst einmal nackt vorstellen, damit ich weiß, was ich mir nicht vorstellen darf.
Unter denen, die lehrten, das Kreuz zu tragen, waren nicht nur Gekreuzigte. Statt das Kreuz auf sich zu nehmen, brachte man es fertig, dass die anderen nicht ohne Kreuz blieben. Dabei haben sie zwar gewiß ohne den Geist des Christentums gehandelt, und doch haben sie wohl noch nicht einmal gänzlich dessen Wahrheit verfehlt. Denn die unter der Last des Kreuzes Gequälten mochten hoffen, dass ihnen dasselbe eines Tages abgenommen werde. Die aber kein Kreuz mehr haben, was bedürfen die einer christlichen Hoffnung?
Was für eine Chance, wenn den Jesuiten das Experiment gelungen wäre, in Paraguay einen Gottesstaat ohne Sklaverei aufzuerbauen. Doch die Welt war nicht weit genug. Der Versuch scheiterte an der europäischen Allianz von Thron und Altar, und so ist uns nicht viel mehr geblieben als Utopie und Träumerei. (Die Rede Las Casas vor Karl V. bliebe noch auszuarbeiten im Blick auf den Großinquisitor Dostojewskis.)
Das Prinzip der Unbestimmtheit wie es von der Bildungstheorie seit der Wende zum 19. Jahrhundert gefordert wurde, die Feststellung, dass der Mensch "von Natur aus nichts" (Schlözer) ist, ist ein Postulat aus den Erfahrungen der europäischen Glaubenskriege, die man in beklemmendem Gegensatz zur christlichen Frohbotschaft erlebte. Die Praxis der Allianz von Thron und Altar stand nicht länger mehr in Übereinstimmung mit der Lehre. Absolutismus und Gottesgnadentum wurden zweifelhaft und damit auch das von dort verkündete Welt- und Menschenbild, vor allem das Geborensein in feste Stände mit festen Aufgaben. Und freilich dürfte auch die Weise des Umgangs mit Menschen, wie sie Hamlet seinen Schulkameraden Rosenkranz und Güldenstern vorwirft (dass sie ihn wie eine Flöte behandeln und auf ihm spielen und ihn mißbrauchen wollen), dem Absolutismus nicht fremd gewesen sein. Gerade die höheren kulturtragenden Fähigkeiten, so wird deutlich, gedeihen nicht kraft der Natur, sondern durch menschliche Zuwendung und Erziehung. Was das Prinzip der Unbestimmtheit im besonderen angeht, so weist es implizit bereits hin auf die moderne Bildungstheorie, nach welcher kein Regime und keine Erziehung für das Kind die letzten Ziele festzulegen vermag: weil dies Sache eines jeden Einzelnen ist, die Bildungsarbeit in der Gesellschaft an sich selber zu vollenden.
Penetrantes katechetisches Fragen, wozu der Mensch da sei, macht leicht hochmütig oder ist schon Ausdruck einer solchen Gesinnung. Da wird die Frage gestellt, weil man eine Antwort bereit hat, die man auch vom anderen hören möchte, oder - schlimmer noch - zu der man den anderen zu zwingen sucht. Mit der Frage nach dem gottgewollten Ziel des Menschen beginnt auch das Verfahren der Inquisition, die auch vor inhumanen Mitteln zur Bekehrung nicht zurückschreckt. Andererseits wirkt sich der generelle Verzicht auf jedes Fragen nach dem Wozu unseres Daseins nicht nur günstig aus. Wer nicht weiß, wozu er da ist oder sich qualifizieren möchte, darf sich auch nicht beklagen, wenn ihn unsere hochspezialisierte Gesellschaft nicht gebrauchen kann. Und schlimmer noch: die Gesellschaft muß unter solchen Umständen damit rechnen, dass Vertreter radikaler Kräfte und Parteien herausfinden, wozu sie den ansonsten unnützen und unbrauchbaren, hilflos allein gelassenen einzelnen manipulieren können.
Mit den Ängsten vor den Göttern haben wir wohl zu leben verstanden, nicht aber mit den Ängsten vor den Priestern.
Manch eine selbsterzählte Bekehrungsgeschichte erinnert an Patienten, die stolz darauf sind, wenn an ihrem Bett der Chefarzt zu seinem ärztlichen Gefolge von der besonderen Krankheit spricht. Denn mag auch "der Bekehrte" fest davon überzeugt sein, nur von einem wunderbaren und geistlichen Ereignis zu verkünden, so spricht er doch oft nicht minder davon, wie herrlich es ist, endlich einmal aus der grauen Masse der Unwichtigen und Belanglosen hervorzutreten und als ein Besonderer von etwas Besonderem zu sprechen.
Vielleicht sollte nur der sagen, dass sich die Hoffnungen des Christentums nicht erfüllt haben, der darunter leidet.
Gott ist da in der Kraft unseres Hoffens. So ähnlich lesen wir im Psalter.
Den Karfreitag, den Tag der Gottesferne, kann man nicht feiern, nur erleiden. Doch erlebt die Kirche solche Tage? Oder hat sie sich nicht zu selbstsicher und mithin blind und überheblich gemacht, als sie sich anschickte, einen hl. Geist zu ihrem ewigen Schutzgeleit einzuspannen?
Womit wir uns beschäftigen, das ist es auch, was sich mit uns beschäftigt. Nur täuscht man sich leicht, wenn man sich den heiligen Geist vorstellt, während es ein ganz anderer Geist sein kann, dem man gleicht und den man begreift.
Was für Aufgaben sind den Oberhäuptern der christlichen Kirchen geblieben, nachdem sie der vornehmsten Aufgabe verlustig gegangen sind, nämlich die weltlichen Könige und Fürsten in ihrem Amt mit himmlischem Segen zu bestätigen?
Wo man sich die Menschen als fromm wünschte, wünschte man sie sich auch gern als unmündig. Auch auf diese Weise diente der Altar dem Thron.
Wir sollen skeptisch bleiben, wenn wir im Glück sind, empfehlen uns die Alten. Aber wir sollten auch skeptisch sein, wenn wir uns nicht sonderlich wohl fühlen. Man könnte den Versuch machen, es zu erlernen, ob man sich's nicht versagen kann, sich für unglücklich zu halten. Ein faktisch als Unglück auszumachendes Ereignis läßt sich ja auch als eine Vorstufe und Vorbereitung anvisieren zu einer neuen Epoche.
Vom besten, was die Menschen gedacht und uns hinterlassen haben, den Kindern rechtzeitig mitteilen, bis sie es par coeur können: damit sie auch später daran erinnert werden auf ihren Pfaden durch die Welt. Z.B. Ps.23. "Der Herr ist mein Hirt. Nichts wird mir mangeln ..."
Die Frage nach dem Gott, welche parallel dazu Antworten auf die Frage nach dem Menschsein des Menschen und damit Bausteine zu einer Geschichte der Humanitas liefert: da ist der Gott als überhöhter Ausdruck und Glaube an die Unsterblichkeit des Stammes, sodann als chthonische Macht und ewige Wiederkehr des Jahres im agrarisch eingebundenen Dasein, des weiteren als glanzvoller Ausdruck einer Herrschaft (z.B. David), als Glaube an die Macht des Geistes (Theos geometrei, Nus-theos, Logos), der sich in der Schöpfung bekundet, endlich auch als Glaube an Wahrheit und Gerechtigkeit, an Belohnung und Vergeltung ...
Weil wir ahnen, dass wir nur herzlich wenig über uns und unser Mensch-sein Bescheid wissen und dass wir uns viel besser kennen müßten, drängt sich uns der Gedanke auf, dass jemand da sein könnte, der dies vermag. Sokrates scheint das Wissen dazu zu gebrauchen, sich diesem jemand zu nähern. Platon und später Plotin machen dann den Versuch der Begründung einer Prinzipienwissenschaft als eines absoluten Wissens. Paulus, an diesem, wenn auch für den Menschen nicht voll erfaßbaren Wissen festhaltend, sieht im hl. Geist den Gott, der uns erkannt hat, ehe wir uns erkennen, und der uns dieses unser wahres Selbst einmal erkennen lassen wird.
Ist es ein Triumph unseres forschenden Verstandes oder ein trauriger Ruhm unserer müde gewordenen Seele, dass es uns gelungen ist, in unserer Endlichkeit und Bedingtheit das Ewige zu zerstören?
Bei Paulus ist es Gott, der den Menschen in seinem wahren und ewigen Sein erkennt, später dann, zur Zeit der Aufklärung und des deutschen Idealismus ist es der Mensch, der behauptet, Gott zu erkennen, so weit überhaupt Gott ist. Und heute ist das Thema vom Tisch.
Man darf Gott im Nächsten lieben, nicht nur im Armen, Zerlumpten, Sterbenden, auch im feingebildeten Mann, in der liebenswerten Frau ...
Götter als Ausdruck imperialer Macht und geschichtlicher Größe. Ob sie z.B. in Rom darüber hinaus Eigenexistenz besessen haben, kann bezweifelt werden. Jupiter, so etwa Cicero, war eben der Gott des römischen Erfolgs, und man kann hinzufügen, er starb auch, als es im Imperium Romanum keinen Erfolg mehr gab. Dann kam das Christentum mit seinem Gott, der in einem doppelten Sinn der Welt entrückt war: einmal, weil man ihn als Messias nicht anerkannt, sondern ermordet hatte; sodann, weil der Gott der Exils- und der Nachexilszeit es verabsäumt hatte, sich als geschichtsmächtiger Gott zu bewähren.
Geschichte als Suche nach dem Selbst und zugleich als Selbstbehauptung in aller Wandlung.
Wenn du eine Frage tun dürftest, die dir wahr beantwortet würde: was für eine Frage wäre dir wichtig? Vielleicht würden Jugendliche wissen wollen, ob ihnen ihr Partner treu ist oder treu bleibt oder ob sie einmal eine Anstellung und ein Auskommen in einem Beruf finden. Und von den Erwachsenen würden einige wissen wollen, ob sie Karriere machen und ob sich ihr Geld und ihre Anlagen weiterhin gut vermehren. Andere, die damit nichts zu tun haben, wollten vielleicht wissen, ob ihr Verein absteigt oder aufsteigt ... Sodann wären vielleicht noch einige wenige, die eine metaphysische oder religiöse Frage bewegte: Etwa, ob Jesus von den Toten auferstanden ist. Und endlich wär da und dort noch einer unserer erlesenen Geister, der, um zu demonstrieren, dass keine metaphysische Frage uns heute mehr nützt, die Frage stellte, ob es sich denn lohnte, eine metaphysische oder religiöse Frage zu stellen.
Wer wünschte sich eine Auferstehung der Toten, um dann zu erleben, wie Verbrecher abgestraft werden? Und wer wünschte sie sich lustig und unbehelligt?
Wir haben uns längst damit abgefunden, dass der Glaube an eine Auferstehung der Toten eine geschichtlich hermeneutische Angelegenheit ist. Uns interessiert m.a.W. allenfalls noch, was die Leute damals so glauben ließ, was inzwischen für uns allenfalls noch eine beklemmende untragbar gewordene Last darstellt.
Wer keine Hoffnung auf ein ewiges Leben nötig hat, fragt nicht danach und glaubt auch nicht daran.
Man kann nicht an das ewige Leben glauben, ohne an sich und an das Gute in sich und an das Gute im Menschen zu glauben.
Liebe glaubt, auch wider alle Hoffnung, an die Auferstehung der Liebe.
Wer glaubt, dem genügt nicht zu glauben. Der versucht auch, alle Zugänge und Poren zu verstopfen, auf denen der Unglaube zu ihm vordringen kann (vgl. z.B. die Zahlensymbolik der jüdisch-christlichen Testamente, in denen gleichlautend neben der verbalen Sprache von JHWH und vom Kyrios Christos die Rede ist.)
Dass Göttersöhne (wie Asklepios) den Tod als Strafe empfingen, weil sie ein Gebot der Schicksalsgottheiten übertreten hatten, ist ein Aspekt. Ein anderer Aspekt ist das Mitleiden mit den Menschen, das selbst nicht vor dem Mysterium des Todes zurückschreckt.
Gut und fruchtbar ist jeder Glaube, der dadurch, dass er zu nützlichen Taten begeistert, der Gefahr wehrt, menschliches Leben für sinnlos zu halten.
Wenn uns die Weltgeschichte eine nicht enden wollende Galerie von Menschen zeigt, die sich in erhabener Gottherrlichkeit gefallen, so könnte sich uns das Göttliche in schlichter Mitmenschlichkeit zeigen.
Mehr als Glück oder Unglück zählt beim Propheten die Macht, die ihn beherrscht und die ihm Sicherheit gibt. Er ist fest davon überzeugt, dass einer zu ihm gesprochen hat: sprich so und so!
Leer und nichtig sind Wollen und Denken, kann sie kein höherer Wille lenken.
Als Katze und Maus gestorben waren und sie vor das Tor des Himmels gelangten, begann die Katze, sich über des Lebens Herrlichkeit zu verbreiten, wie wundervoll es gewesen und wie großartig es doch der Schöpfer eingerichtet, dass er ihr jeden Tag mindestens eine Maus beschert habe. Als darauf die Maus an der Reihe war: "Nein", sprach sie, "das Leben ist nicht gut gewesen. Tag für Tag habe ich aufpassen müssen, keine Ruhe und keinen Genuß am Leben habe ich gehabt, selbst als mir der Himmel in schönster Jahreszeit eine Schar der niedlichsten Mäuschen beschert hatte, war mir nicht möglich, auch nur ein bescheidenes Glück zu genießen. Immer quälte mich der Gedanke, ob sie nicht nur zum Gefressen werden geboren sein wollten. Nur im klirrend kalten Winter, wenn meterhoch Schnee über der Erde lag, war das Leben halbwegs erträglich. Mußten wir auch hungern, so waren wir doch wenigstens des Lebens sicher." Darauf wurde der Katze das Tor zum Himmel aufgetan, die Maus aber mußte draußen bleiben, weil sie das Leben nicht gebührend gerühmt hatte.
Auch uns hat in unserer Jugend das Los der Maus nachdenklich, ja fast traurig gemacht. In die beste aller Welten nämlich, wo es Aufgabe jeder Kreatur ist, das Lob des Schöpfers zu verkünden, will das Zusammenspiel von Katze und Maus nicht recht passen. Das müßte ein recht sarkastisches Lob sein, wo die Maus vornehmlich als Futter für die Katze und die anderen Mäusefresser geschaffen wurde. Im Zug der französischen Revolution und des Darwinismus wurde dann allerdings das Problem entschärft, indem man das Problem unter Ausschluß von Theologie und Ontologie biologisch evolutiv anging. In einer Zwischenfassung aus dem Mund der Pariser Aufständischen von 1832 (in: V. Hugo, Die Elenden, Berlin, 1960, S.769) lautet dann die Geschichte so: "Als der liebe Gott die Maus geschaffen hatte, sagte er: "Ach, da habe ich eine Dummheit gemacht. Und er schuf die Katze. Maus plus Katze ist der durchgesehene und korrigierte Probeabzug der Schöpfung." Wenn dem aber so ist, dann wäre inzwischen wohl auch der Erschaffung des Menschen durch eine Korrektur zu erwidern.
Es gibt Leute, die sich damit abfinden können, etwas nicht zu erreichen, auch wenn sie dieses für gut und erstrebenswert erkannt haben. Sie fassen ihr Unvermögen auf als eine Art Prüfung und Bewährung. Im übrigen sind sie wie Kinder, für die es nichts gibt, was sie dem lieben Gott nicht an Gutem zutrauen. - Nun mag einer sagen: Die Geißel eines Hitlers kann niemals gottgewollt sein. Hier darf niemals Anerkennung geschehen. In der Tat könnten hier Gründe liegen für das Aufkommen der ateleologischen Bildungstheorie, die sich stark macht für die Mündigkeit und die Verantwortung eines jeden Einzelnen von uns. Vielleicht sollten wir aber unterscheiden zwischen einem äußeren und einem inneren Weg. Denn wenn der demokratische Bürger auch öffentliche Verantwortung trägt, so wäre doch schlecht, wenn er als Einzelner zu keiner inneren Zufriedenheit und Ausgeglichenheit mehr fähig wäre. Wenn die Großen der Welt weniger einverstanden wären mit ihren nicht stets glücklichen, weltherrschaftlichen Leistungen, könnten die Kleinen leichter Übereinstimmung gewinnen mit der Welt, wie sie nun eben ist.
Es gibt Leute, die allergisch reagieren, wenn man davon spricht, dass der Mensch in der Schöpfungsgeschichte als Krone der Schöpfung gedacht war. Es gibt Leute, die ungehalten darüber sind, wenn man eine Betrachtung anstellt, was alles hat sein müssen, damit überhaupt diese Erde und Leben auf dieser Erde und endlich auch dass der Mensch hat entstehen können. Es gibt Leute, die darüber ungehalten sind, vermutlich, weil sie befürchten, dass man daraus den Schluß zieht, dass man die Hände in den Schoß legen und gelassen allem Treiben zuschauen kann, als ob jemand hinter den Wolken wäre, der schon alles wieder gerade rückte und zum besten fügte. Es wäre aber verheerend, wenn wir aller Gelassenheit den Abschied zu geben hätten, nur weil wir fürchten, dass hinter jedem Busch ein Hitler lauert.
Nach Paulus war der Rang des Menschen derart groß, dass durch sein Vergehen (Die Sünde Adams) die ganze Schöpfung in die Verderbnis geriet. Das ist die andere Seite des Menschen, der als die "Krone der Schöpfung" gedacht war.
Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, heißt es in der Botschaft des Christentums, könnt ihr nicht in das Himmelreich eingehen. Doch der Mensch unserer Zeit gleicht nur wenig einem Kind. Er interessiert sich für kein Himmelreich und er hätte vermutlich auch Angst, als Kind angesehen zu werden. An schönen Frauen mag man etwas Kindchenappeal für chic halten, doch der Mann darf keine kindhaften Züge verraten. Er steht für sich und sorgt für sich als seines Glückes Schmied. Die Kindheit als Zeit der großen Erwartung ist ihm fremd geworden. Er erwartet nichts und er erhofft nichts, als wofür er Urheber ist und was er selber in Gang gebracht hat.
Haben wir zulange an den Gott geglaubt, ohne ihn in uns selber zu suchen? Der Gott der Kindheit ist der Gott des guten Ausgangs. Haben wir verabsäumt, uns in uns des Gottes zu versichern, der den guten Ausgang ermöglicht?
Ist der Himmel nur noch so etwas wie eine Einbildung, ein für großartig gehaltenes, unerreichbares Ziel in der Ferne, eine Illusion unserer lüsternen Seele, ein Ziel ähnlich wie das Rotschwanznest unter unserem Hausdach für die Nachbarskatze, die geradezu verrückt nach dem Nest oftmals ganze Tage darunter verbringt, vielleicht davon träumend, dass sie dahinfliegen kann?
Man fragte den amerikanischen Präsidenten, als man nach dem Terroranschlag eine Gebetsstunde anberaumt hatte, wofür er denn bete. Er zögerte erst, dann sagte er, er liebe ja doch die Kinder. Inzwischen kennt er zumindest den Feind und die Achse des Bösen.
Hat sich Gott aus der Welt zurückgezogen, seit uns unser Ich mehr bedeutet als seine Huld und Gnade? Das war nicht immer so wie etwa Ps. 139. 1-6 zeigt. Man will frei sein, nicht mehr Kind, auch nicht Kind Gottes. Denn das müßte über die Vaterschaft von Geistlichen geschehen, denen man mißtraut. Was aber bedeutet dann noch "Vater-unser"? Sind das nicht leergewordene Worte?
Früher sagte der Geistliche: "Gott offenbarte sich dem Menschen in dem Maß, in welchem er fähig wurde, die Offenbarung zu verstehen. Doch was ist das für eine Befähigung, die zunimmt? Etwa eine moralische? Ist der Mensch besser geworden im Lauf seiner Geschichte? Läßt sich Geschichte als Bildungsgeschichte der Menschheit verstehen? - Dagegen sagt der ateleologisch orientierte Historiker: Der Mensch konstruierte immer schon Gegenbilder von sich, die er früher mit Gott benannte und die sich zusammen mit dem Wandel des Menschen- und Selbstbilds in der Geschichte verändern.
Nicht ein von uns unabhängiger Gott ist es, der sich uns offenbart, sondern der in uns waltende, ein Teil von uns darstellende und unser Denken und Fühlen offenbarende, ein zu jeglicher Metamorphose fähiger Gott. So war es die Beutegöttin, die den habgierigen Odysseus mitsamt seinen Kollegen von Sparta hinaus in die Welt begleitete. Den Sokrates begleitete sein bekanntes, auf Maß und Logos achtendes Daimonion. Jesus war erfüllt vom Geist des Herrn, der sich in Jerusalem vor aller Welt als herrlich offenbaren sollte. Das christliche Abendland aber hat, während es die Verehrung der Götter des Kriegs nie vergaß, aus dem Gott Jesu einen höchst aufgeklärten vernünftigen und fast gar überflüssigen Herrn gemacht. In unserer Zeit scheint ein Gott oder ein Dämon auf sein Kommen vorzubereiten, dessen Wonne es sein wird, wenn Menschen, den Tod umarmend, unsere hochtechnisierte Zivilisation in den Abgrund reißen.
Ein moralischer Imperativ hat nicht die Kraft, sittliches Handeln zu gewährleisten. Wohl aber könnte aus einem religiösen Imperativ eine solche Kraft fließen, wie etwa aus dem Satz des Evangeliums, rein und vollkommen werden zu wollen wie der himmlische Vater rein und vollkommen ist. Nur dass dies voraussetzt, dass es einen solchen Vater gibt, was die weitere Voraussetzung nach sich zieht, dass es Söhne und Töchter gibt. In einer Welt aber, in der weder an eine Gemeinschaft der Heiligen, noch an eine Vergebung der Sünde, noch an eine Auferstehung der Toten geglaubt wird, verhallt fast jedes Vater-unser wie eine Blasphemie.
Wenn sich schon kein Mensch um unsere Versuche und Fortschrittsbemühungen kümmert und uns überall nur Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit entgegengähnen, muß man einem da nicht wenigstens die Fiktion eines Gottes lassen, der sich für einen interessiert?
Wissen wir, wenn wir glauben, dass wir glauben, oder ist es etwas in uns, was schon vor allem Wissen glaubt? Dann aber wäre die Behauptung, nicht zu glauben, nur eine unerhebliche Aussage des Dafürhaltens oder Wollens.
Gott muß man nicht in eine Kirche einsperren wollen und doch braucht man eine Organisation, damit sich die Idee des Göttlichen in der Gesellschaft der Menschen entfalten kann.
Nietzsche und mit ihm viele unserer Zeitgenossen reklamieren für sich, Gott getötet zu haben. Sie glauben an keinen Gott und an keine göttliche Bestimmung für den Menschen mehr. Für sie gibt es den Ernst nicht mehr, der mit einem teleologischen Weltbild in engstem Zusammenhang steht.
Jede Gesellschaft bewahrt ihre Götter und vergißt sie in dem Maß, wie die von ihr hochgeachteten Werte und Ideale mit denen der Götter übereinstimmen. So hatten die Götter (der verschlagene Kronossohn, der listenreiche Hermes, die Beutegöttin Athene, die Städtezerstörerin Astarte ...) im Weltbild des von Homer überlieferten, nach Ithaka zurückkehrenden Odysseus noch ihren adäquaten Platz, nicht aber mehr mit dem Weltbild eines Sokrates. Und so muß man sich auch fragen, welches die Ideale des Christengottes sind und ob und in wie weit sie mit den Bestrebungen unserer (westlichen) Gesellschaft (Reichtum, Ansehen, Macht ...) noch übereinstimmen.
Die Ahnung von einem Gott in der homerischen Zeit, der es nicht zuläßt, wenn der Mensch sich den Leiden entzieht. Drum ist es klug von Odysseus, sich der Leiden zu rühmen. Der Leidensmann ist durchaus nicht gleichzusetzen mit dem von der Gottheit Verfluchten.
Wir haben die Welt analysiert, wir haben sie in Stücke und Atome und Teile von Atomen zerlegt, wir haben sie mathematisch beschrieben und uns zugänglich gemacht. Aber selbst, wenn wir diese Zerlegung auch bis zurück zum "Urknall" erfassen, so ist uns doch der Glaube an das Eine, an den Einen, der in den vielen erscheint, an den Gott Ägyptens, an das Gute Platons, an den Gott des Christentums verloren gegangen. Wir haben die Gottheiten aus ihren Verstecken aufgescheucht und diese zerstört. Die Morgenstunde der abend- und morgenländischen Kultur, als man sich noch alles organisch belebt und belebbar vorgestellt hat, wo selbst noch für die Berge, wie der Psalter belegt, eine Geburtsstunde gedacht wurde, ist lange vorbei.
Was für eine Aufgabe bleibt noch der Kunst, wenn mit der Theologie und mit der Teleologie auch der Glaube an etwas Festes und Beständiges von der Welt verschwindet?
Die vielen Gesichter, in denen sich der Eine widerspiegelt, ohne doch genau ebenderselbe zu sein. Der Gott der Kindheit ist nicht der Gott, an den wir in unserer Jugend glauben, und der Gott der Jugend ist nicht der Gott des Alters. Und wieder ein anderer ist der Gott der Einsamkeit und des Todes.
Woher kam die Bedeutung, die das Christentum gerade der Stunde des Todes zumaß? War es nicht doch die Ungewißheit und der Unglaube, sich wirklich in der Schar der Geretteten zu wissen? Und was hatte es mit dem letzten Wort auf sich, das wie eine Offenbarung und wie ein Wink aus dem Jenseits erwartet wurde? Immerhin brauchte nicht nur der Mensch der Antike konkrete Zeichen und Botschaften von seinen Göttern.
Sterben, d.h. an nichts mehr sich festhalten, sich restlos aufgeben. Wer das kann, brauchte den Tod nicht mehr zu fürchten.
Für die vielen, die nicht mehr in der Welt des Christentums leben, hat leicht auch schon die Welt des Christentums aufgehört zu existieren.
Als die einen davon sprachen, sie hätten Gott getötet, riefen die anderen dazu auf, im Paradox den Gott zu suchen. Aber weder ein toter Gott noch ein Gott des Paradoxes haben etwas Einladendes und Begeisterndes.
Gott - ein Geheimnis, das in stiller Verzweiflung zum Reifen kommt? Dem man sich nähert, wenn man qualvoll merkt, dass man sich trotz aller Bemühung von ihm nur noch mehr entfernt? An dem die eigene Vollkommenheit und Gerechtigkeit zerschellt, so dass man erkennt, dass man vor ihm nur "ein unnützer Knecht" ist?
Von den Ängsten im Angesicht der Götter sind uns (nach dem Tod der Götter) die Ängste geblieben.
Die letzte Angst: die Angst vor einer angstbefreiten Welt und als eine der Folgen davon, die Suche nach Leiden.
Das letzte Aufzucken von Schuld und Schuldbejahung in einer Welt, die den Begriff "Schuld" bzw. "Sünde" nicht mehr kennt, ist wie der Versuch, sich am Saum des Kleides Gottes festzuhalten, der lang schon vorübergegangen.
Mit den Orten andächtiger Stille und Besinnung vermögen wir nicht mehr viel anzufangen. Die Zeit des Favete linguis (andächtiges Schweigen vor der Kultzeremonie) scheint vorbei.
Der Heilbringer wird zum Versucher, wenn die Zeit nicht mehr glaubt.
Ob die Frau das Christentum als die ihr eigene Domäne entdeckt, die sie ungeteilt für sich beansprucht?
Der Irrtum vieler Aufklärer und Revolutionäre: sie töten nicht den alten Gott, sie töten nur sein Gedächtnis in sich selbst und verführen einen Teil der Jugend, sie nachzuahmen.
Es ist durchaus möglich und hängt von den gesellschaftlichen Umständen ab, dass der ernsthaft denkende Mensch in einer nahe herankommenden Zeit sich schämt oder gar den Eindruck hat, etwas Unerlaubtes zu tun, wenn er sich heimlich beim Beten ertappt. Ein solcher Mensch gliche in etwa einem in die Jahre gekommenen, angesehenen Praktiker, der, ohne jemals ein Buch geschrieben zu haben, plötzlich sich daran machte, eines zu schreiben.
"Niemals ruft Klage die Toten/ Drunten wieder ans Licht empor./ Auch Söhne der Götter sterben,/ Schwinden in Todesnacht." (Euripides, Alkestis, 984ff.) Mit etwas weniger Pathos, doch nicht ohne Ironie vermerkt Sancho im Don Quijote (25.Kap. S.246): "Mag einen jeden das Schicksal umbringen oder der liebe Gott, der ihn geschaffen hat."
Die im Abendland tradierten kulturellen Deutungsfunktionen und Urbilder sind noch immer in uns lebendig, bis hinein in die verborgensten Winkel unserer Träume. Wenn wir z.B. vom Sterben träumen, stellen wir uns dies meist vor als eine Mischung aus Prüfung und Operation: aus einer Prüfung, die Wissen abfragt, und einer Operation, die mit Feuer oder anderem schmerzhaft läutert.
Wußte der Mensch je, wozu er auf der Welt ist? Und wußte er je, weshalb er sterben muß? Mit der Verdrängung des Christentums als Auskunft und der Ersetzung der Teleologie (causa finalis) durch wissenschaftliche Fragestellungen und Kausalität (causa movens), wird die existentiell bedeutsame Frage nach dem Leben, mehr aber noch die nach dem Tod beiseite geschoben. Gerade die für den Menschen als sinnlos erfahrbare Situation des Todes, die einmal im Glauben an eine ewige Schöpfungsordnung eine Lösung gefunden hatte, bleibt nun außerhalb des wissenschaftlich erlaubten Gesichtskreises. In der Alkestis des Euripides heißt es noch ganz lapidar: "Den Tod bezahlen alle wir als eine Schuld." Vielleicht eine Schuld, die in der Zeugung (notwendiges Übertreten eines Tabus?) der nachkommenden Generation bestand, vielleicht auch als Preis für den Eintritt in eine Unsterblichkeit?
Das Christentum hat uns gelehrt (was freilich auch schon die Stoa lehrte), dass wir nicht verzweifeln sollen, weder am Tod, noch über sonst ein Schrecknis. Das heißt aber nicht, dass uns nichts mehr erschüttern darf. Es wäre unmenschlich, einfach mit "Na und? Der Himmel hat es eben so gewollt" zu antworten oder sich so zu benehmen, wenn man vom Tod eines einem nahestehenden Menschen hört. Von der gewaltigen Erschütterung Jesu angesichts des Todes berichten uns die Evangelien, und dies gewiß nicht nur, um Jesus als den Christus, den Herrn über den Tod anzukündigen, sondern auch, weil die Jünger den irdischen Jesus so erlebt haben. Allzu heftiges Verdrängen und Verschließen von Gefühlen ist gewiß nicht gut. Völlig unempfindlich zu bleiben beim Tod eines einem nahestehenden Menschen aber wäre Ausdruck von Gedankenlosigkeit (und mithin von nicht gerade anmutiger Gottergebenheit) oder das Ergebnis von Prügeln und daraus resultierender abgebrühter Stumpfheit.
Nachdem die These des Paulus von der Schuld Adams als Ursache der Unerlöstheit in der Natur nur mehr noch schwer nachvollziehbar ist, haben sich einige von uns vergebens damit abgequält, über der Riesenmaschinerie von Leben und Tod, von Fressen und Gefressenwerden einen akzeptablen oder gar fröhlichen Gott zu finden.
Man darf es den Glaubensboten nicht verübeln, wenn sie aus Liebe zu Christus glauben, ein Ungläubiger müsse verzweifeln. Gleichwohl steht es dem "Ungläubigen" frei, den Gegenbeweis zu erbringen.
Paulus neigt grundsätzlich zum Wissen. Viele Sätze in seinen Briefen beginnen: "wir wissen", oder "wir wissen ja" oder "wißt ihr nicht?" Und ähnlich steht es mit dem, der sich für gläubig hält. Der Glaube hat mehr mit Wissen zu tun, auch wenn der einzelne nicht bzw. noch nicht weiß. Was Paulus angeht, so glaubt er zu wissen kraft der natürlichen Einsicht oder aber kraft der Offenbarung. Wo aber weder das eine noch das andere zutrifft bzw. eintrifft (etwa in der Frage der Wiederkunft Christi und der Unsterblichkeit des Gläubigen), erhebt sich das Sorgenkind "Hoffnung". Dann ist aber nicht von Nichtwissen, sondern von Sehen und Nichtsehen die Rede (z.B. Röm.5 oder 1.Kor. 13).
Der Gläubige glaubt zu wissen, der Ungläubige beschränkt sich darauf, nicht zu wissen. Der dem Sokrates zugesprochene Satz "oida uden eidos" weist ihn als Skeptiker oder als Ungläubigen aus. Doch der Unterschied ist gering: Ob gläubig oder nicht: wir sind Menschen und haben uns als Mensch zu bewähren.
Kann man nicht gläubig sein bzw. gläubig sein wollen und zugleich auch den ernst nehmen und freundlich behandeln, der das nicht will?
Strindberg legt die Frage vor, ob die Fortschritte in der Humanität ein Erfolg des Christentums seien oder ob nach des Augustus Zeiten nicht ein solcher Umbruch unabdingbar war. Nach der Hitlerdiktatur stellt sich die Frage nur noch dringlicher.
Als man dem Christentum den Rücken kehrte, legte man sich neue Kultobjekte und Kultbibeln zu.
Um Gott als das Wort im Anfang und lebenspendende Wort am Ende der Zeit zu erweisen, dürfte niemand schon vor seinem Tod verstummen, geschweige denn, von der Kirche zum Verstummen gebracht werden.
Der Glaube könnte sich allein schützen, wenn alle guten Willens wären und nichts sonst Gewalt hätte als eine stille, sanfte, nur zum Gotteslob aufmunternde Kraft. Wo dies aber nicht der Fall ist, wo insbesondere Machtgelüste dominieren und wo Mittel der Disziplinierung und Züchtigung verwandt werden, da erhebt sich auch der Ketzer und rechthaberische Rebell.
Zur Idee des Wissens müßte sich die Idee eines Glaubens hinzugesellen und zwar dergestalt, dass der Glaube an einen Gott so vom unerschütterbaren Glauben an den Menschen getragen würde, dass auch im schlimmsten Verbrecher der Wille zum Gotteslob lebte.
Glaube als unerschütterliches Bekenntnis zur Humanität. Dass wir uns zur Verbesserung der Welt gewisse Verhaltensweisen zu eigen machen sollten, auch wenn wir (spätestens seit Hitler) genau wissen, dass sie utopisch sind und die Welt dadurch niemals besser wird. Glaube als Festhalten an diesem Paradox oder an dieser Lüge, z.B. indem man dem Feind auch noch die linke Wange hinhält, auf dass auch er oder seine Kinder friedfertig werden.
Wieviele Leute gibt es, die die Kirche kritisieren, ohne ihr anzugehören? Und wieviele gehören ihr noch immer an, um in ihr zu herrschen? Und wieviele gehören ihr an, die an der Unzulänglichkeit der Kirche im stillen leiden, die m.a.W. daran leiden, dass die Kirche dem Wiederkommen des Christus im Weg steht?
Wenn einmal das Christentum seine weltpolitische Rolle beendet hat, dann wird Jesus als der Messias nach Israel zurückkehren und endlich auch als dessen großer Sohn Anerkennung finden.
Manch einer, der noch in die Kirche geht, beklagt sich über die abscheulich mangelhafte Verkündigung und hat ja wohl Recht. "Ich gehe nicht in die Kirche, um gemeinsam das Vater-unser zu beten, sagt ein Bekannter, sondern um eine gute Predigt anzuhören." Leider aber kommt er so gut wie nie auf seine Kosten. Indes, sind wir denn nicht Manns genug, uns selber eine gute Predigt zu halten, wenn wir danach verlangen? Haben wir die Talente, etwas aus uns zu machen und aus uns herauszuholen, haben wir das Talent zum geistreichen Gespräch, zur geselligen Unterhaltung, zum schönen Tanz, zum anmutigen Spiel, zur Verzauberung in der Sexualität: und sind doch einfallslose, langweilige Gesellen beim Fest des Lebens?
Wir glauben, den wahren Gott erkannt zu haben und sind unfähig, ihn geziemend anzubeten? Und Leute wie etwa Sappho hätten den wahren Gott nicht erkannt, hätten aber aus der Kraft ihres Glaubens heraus würdig zu beten und Preislieder zu singen verstanden?
Weil wir nicht glauben, fehlt uns auch die Kraft des Gebets.
In unserem Zeitalter, wo das Kapital und der Glaube an das Machbare ihren Siegeszug rund um die Welt feiern und ateleologische Denker dazu die Fanfaren blasen, rücken die Weltreligionen leise aufeinander zu.
Was nützt alles Glaubensbekenntnis, wenn uns nicht immer wieder einmal die Erfahrung überwältigt und ein Zeugnis unmittelbar und spontan aus uns herausbricht, dass es gut ist, dass wir sind und dass diese Welt so ist, wie sie ist. So geben wir Antwort auf den biblischen Schöpfergott, der im Anfang sein Werk betrachtet hat und sah, dass alles, was er gemacht hatte, gut war.
Viel Gutes, wir wissen es, haben wir bekommen ohne unser Verdienst. Und doch möchten wir gern daran festhalten und es zu unserem Besitzstand erklären, als hätten wir es verdient. Und so schleichen wir "um des Paradieses Pforten, uns erbittend ewiges Leben" (West-Östlicher Diwan).
Der Mensch: begabt mit Vorstellungen und Visionen, ein Bündel an Kraft und Wille und Zuversicht, sich eine Welt zu schaffen, wo es sich leben läßt.
Der Mensch: Teilnehmer im Strom des Lebens und zugleich auch Beobachter des gesamten Stromes. Früher noch mit der Aufgabe, als sprachbegabtes Wesen die Sprache des Schöpfers zu erraten und auszusagen.
Warum suchen wir die Begegnung von Mensch zu Mensch?
Gelebt zu haben, ohne dass wir einem wenigstens fehlten: was wäre das Leben?
Wir wissen noch nicht einmal, ob einer fehlt, wenn er uns nicht fehlt.
Wir müssen die Welt nicht nehmen, wie sie ist. Wenn wir uns aber zu sehr abmühen, sie auch nur zu beschreiben, wie wir sie gerne hätten (vgl. z.B. Adalbert Stifters Nachsommer), ja selbst wenn wir nachsichtig zu sein suchen wie ein Gogol: so laufen wir Gefahr, vor dem unüberbrückbaren Gegensatz zu zerbrechen.
Wer nicht auch das Fauchen und notfalls das Beißen gelernt hat, hat keine Überlebenschance. Es gibt keine Welt für Sanftmütige und Friedfertige. Je sanftmütiger einer ist, um so schärfer wetzt und fletscht man in seiner Umgebung die Zähne.
Zufrieden will jeder sein, friedfertig nur wenige.
Man muß damit rechnen, dass es Voraussetzungen gibt, die die Begegnung von Mensch zu Mensch verhindern. Z.B. bei der Begegnung von Vorgesetztem und Untergegebenem, von Richter und Angeklagtem, von Ausbilder und Auszubildendem ... Ämter, Titel, Machtmittel aller Art sind bestens dazu geeignet, Gräben aufzureißen und Mauern zu errichten, hinter denen sich das menschliche Gesicht nicht nur verdecken und verbergen, sondern auch verunstalten und vergessen läßt.
Bei der Festlegung der Aufgabe seiner Geschichtsschreibung spricht Herodot nur davon, dass die Taten der Menschen nicht in Vergessenheit geraten, was noch etwas weniger ist, als dass wir aus der Geschichte der Menschen etwas lernen können und lernen sollten. Und doch gehört letzteres wohl mit zu den wenigen Dingen, an die wir unbeirrt und unerschütterlich glauben sollten, selbst wenn wir ganz genau wüßten, dass die Menschen noch nie etwas aus der Geschichte gelernt haben.
Wann lernen wir etwas aus der Geschichte, wann etwas aus Erzählungen? Welches sind die Bedingungen, damit uns eine Erzählung aufbaut und erzieht (fabula docet)? Hat Schillers Geßler unser demokratisches Bewußtsein erweitert? Hat Dostojewskis Großinquisitor aus den Brüder Karamasoff als abschreckendes Beispiel römischen Christentums der russischen Orthodoxie geholfen? Und was, was hat uns Kleists Kohlhaas gebracht: außer Ekel und Widerwillen und der scheinbaren Gewißheit, dass wir nicht so brutal sind wie diese Junker? Betrachte dagegen Gogols Mantel! Hier geschieht ein schreckliches Unglück. Doch der Autor verliert nicht sein Lächeln. In gut terenzischer Manier weiß er, dass er auch nicht viel besser wäre, wenn ihn der Zufall auf jene anderen Seiten verschlagen hätte.
Humor hält Distanz, er verliert sich nicht in leidenschaftlichen Auseinandersetzungen, er schlägt und duelliert sich nicht. Doch gibt es zwei extreme Erscheinungen. Es gibt einen Humor, der zu entwaffnen und die Probleme herunterzuspielen sucht, und einen, der irritiert und aufreizt und die Probleme verschärft. - Ein Mensch, der auf einen anderen zugeht, indem er weiß, dass auch er selber dieser Mensch ist, selbst wenn die Begegnung unter einem feindseligen Vorzeichen geschieht, und der dann beschwichtigend einwirkt, vielleicht, indem er sich ein Stück weit selbst erniedrigt: das wäre der Annäherung suchende, attraktive Humor auf der einen Seite. (Er kann freilich durchaus als Schwäche erscheinen und das Gegenteil des erhofften Zieles erreichen.) Auf der anderen Seite steht der abstoßende Humor, der auf jede Ernsthaftigkeit streng verzichtet, der irritiert und aufreizt und durch Arroganz und Verachtung wirkt. Schon sein Äußeres sagt: Wenn ich so dumm wäre, wie du, ging es mir auch nicht besser. Doch das sind deine Probleme, nicht meine ... Dazwischen die unserer dialektischen Natur entsprechenden Mischungen.
Unsere beiden Naturen: die westliche, unterwegs zu sein, und die östliche, doch auch stets irgendwie schon am Ziel zu sein. Wanderschaft und ruhiges In-sich-da-sein, Leidenschaftliches Suchen und Wünschen auf der einen Seite und Nichts-weiter-mehr-nötig-haben und Zufriedenheit auf der anderen Seite.
Seit wir uns auf den besonderen Rang alles Individuellen als eines unaufspaltbaren, nur sich selber verantwortlichen, Wesens verständigt haben, nimmt sich der einzelne bei uns furchtbar wichtig. Du darfst dich wichtig nehmen, sagt die Gesellschaft zu uns fast wie Macchiavelli zum Principe, wenn es nur auf legale Weise geschieht. Sorge also dafür, dass alles, was du tust, legal ist oder legal erscheint.
Man kann sich die Gesellschaft nicht aussuchen, in die man geboren wird. Boccaccio z.B. lebte in einer Gesellschaft, die vom Adel des geistig schaffenden Bürgertums überzeugt war und die groß von sich dachte. Entsprechend strahlt aus ihren Werken ein Widerschein von Erhabenheit und Größe. Heute erscheint die Suche nach Größe verdächtig. Entsprechend sehen die Randbedingungen aus, unter denen wir zu arbeiten haben.
Was ist Größe? Wann ist ein Mann groß, wann eine Frau, wann ein Mensch? Sind wir groß, wenn wir aus innerer Stärke heraus uns klein und unauffällig zu machen verstehen und niemand im Weg stehen?
Die vielen kleinen fluktuierenden Spalte zwischen Vertrauen und Mißtrauen, durch die Irritation und Unheil einschleichen.
Die Notwendigkeit einen Partner zu finden, mit dem man reden kann. Sich unterhalten, sich aussprechen, sich Luft verschaffen, sich anklagen, aber auch Unmut über andere äußern ... Die Rätsel unseres Lebens ( Gott, Unsterblichkeit der Seele oder ein dem Nichts Verfallensein ...) müssen nicht gelöst werden. Es genügt, wenn man sie im gemeinsamen Gespräch teilt. Größe und Rang eines Partners, eines Freundes, vor allem aber auch eine Ehepartners.
Sich vor anderen beklagen und vor ihnen seinen Unmut ausschütten und sie als Quelle der eigenen Mißlichkeit anprangern, heißt nicht, das Leiden sagen und es loswerden, sondern es fixieren. Unmut und Ärger verschwinden von allein und gelangen nicht zum Status der Wirklichkeit, wenn es uns gelingt, über sie hinwegzusehen und ihnen möglichst keine Stimme zu verleihen.
Weder sollte man an der Schwäche leiden, alles aussagen oder gar ausschreien zu müssen, was einen plagt, noch an der Schwäche, es in sich hinein zu pressen in ein tobendes Schweigen.
Manche meinen, der Glaube an einen Gott hindere uns (oder mache uns gar blind dafür), die volle Verantwortung für uns zu übernehmen. Andere, Gott allein schütze uns davor, uns als nackt und gemein zu erkennnen; und so entlaste und beruhige uns der Glaube an ihn, das von uns Geforderte als machbar einzuschätzen und es in Ruhe zu besorgen.
Gäbe es von Natur aus eine verhaltensformende und handlungsbestimmende Anlage im Menschen, die sich zwangsläufig entwickelt, so müßten wir nicht darauf achten, dass sie sich in jedem einzelnen Kind entfaltet.
Heißt Leben Kämpfen? Und geht es nicht ohne Gewinner und Verlierer, ohne Herrschaft und Knechtschaft? Wir wissen heute jedenfalls aus verhaltensbiologischen Untersuchungen an Tieren, dass Gewinner und Verlierer langfristig ihr Verhalten ändern, wir unterscheiden subdominante und submissive Verlierer (letztere haben sich mit der Niederlage endgültig abgefunden, werden apathisch, unfruchtbar ...), und wir wissen, dass auch die Gewinner einen gewissen Preis zu entrichten haben (möglicherweise durch gesteigerte Aggression, kürzere Lebenserwartung ... vgl. Psychobiologie, Grundlagen des Verhaltens, Psychologie Verlags Union, 1988, S.308).
Die wir im Ghetto leben, träumen von der Aufhebung aller Grenzen oder wir suchen uns in aberneuen Ghettos unseres Ghettos zu verstecken.
Zum Porträt des Erfinders des Gefängnisses. Er muß sehr gewalttätig gewesen; vielleicht ist er bei der Grabwespe in die Lehre gegangen.
Massengesellschaft macht in dem Sinne frei, als sie die Scham auslöscht.
Der einzelne, unfrei und unfähig in eine sachangemessene Unterhaltung einzutreten, insofern, als er auf Nebenschauplätzen unendlich mit sich selber beschäftigt ist.
Wenn wir mit Engelszungen redeten, es würde niemand etwas davon merken. Aber wenn und wo ein anderer so redet, merken auch wir nichts. Unfähig aus uns herauszugehen sind wir ein Leben lang ungebildet, d.h. entweder zu dumm für das wahre Wort oder unfrei.
Und wenn es wahr wäre, dass der Mensch nicht zum Guten befähigt ist und nicht dazu erzogen werden kann, so sollten wir doch die "Lügenexistenz eines Lehrers zum Guten" nicht verschmähen. Besser der Lüge vom Guten vertrauen als die Wahrheit, die uns in verteufelter Gemeinheit gefangen hält.
Was sich radikal ändert, das ist nicht die Intention der Frage, wie sich der einzelne als Mensch verstehen kann, was sich radikal ändert, das sind die ebenso unaufhaltsamen wie unhaltbaren Produktionsweisen unserer Gesellschaft (Grenzen der Machbarkeit, Wachstumsbegrenzung, Ressourcen, ökol. Gleichgewicht ...). In dieser Hinsicht ist möglich, dass der Mensch geschichtliche Freiheit verspielt, indem er zum Handlanger und Befehlsempfänger von Automaten wird. Wir wähnen, uns der Geschichte der Menschen zu stellen, ohne zu bemerken, wie die Geister, die wir riefen, uns immer mehr stellen.
Unterstützt durch Maschinen und Techniken ist der Mensch genußsüchtig und schwach geworden; mittels Analgetika und Anästhetika flieht er leicht vor jedem Schmerz. Will er auch weiterhin als Spezies auf der Erde fortbestehen, so ist er angewiesen auf die Kooperation aller Menschen wie auch auf Maß und Selbstbeschränkung und Selbstzucht im Umgang mit den ihm noch verbliebenen, Leben ermöglichenden Ressourcen dieser Erde.
Gilgameschs Streben nach Unsterblichkeit als Lohn eines heldenhaft geführten Lebens. Homers Odysseus und die späteren Griechen (vgl. Pindar) verschmähen die Hoffnung auf Unsterblichkeit. Statt der dem Odysseus von der Göttin Kalypso in Aussicht gestellten Unsterblichkeit auf der
Paradiesesinsel sehnt er sich nach dem Land der Väter, nach dem Rauch, den er schon aus der Ferne aus seinem Haus aufsteigen sieht und nach der mit ihm alternden Gattin. Das Christentum greift den Gedanken an die Unsterblichkeit wieder auf. Nachdem der erste Adam den Aufenthalt im Paradies verspielt hat, gewinnt ihn, so der Glaube, der 2. Adam wieder zurück ... Fast 2000 Jahre lang hatte die abendländische Menschheit an diesem spätjüdisch-christlichen Denken teil, während sich heute die Vorstellung durchsetzt, das Paradies hier und jetzt zu suchen.
Geschieht der Blick auf die Gesellschaft von unten leichter in sozialer Verantwortung als von oben? Denkt der Arme i.a. sozialer? Wir wollen zwar alle, dass es allen gut geht, nur eben nicht auf unsere Kosten. Wir haben Angst, dass es einem besser geht als uns. Vornehmlich, je besser es uns geht und je höher wir uns auf der gesellschaftlichen Leiter befinden, um so empfindlicher und nervöser scheint unsere Angst zu werden. Es wäre doch auch ein Skandal, wenn es einem Privatmann besser erginge als einem Landesfürsten. Auf dem Weg zurück zum Paradies scheint es mithin ein Unbehagen zu geben, das mit dem allgemeinen Wohlstand und Wohlbefinden und Näherkommen ans Ziel wächst.
Wer könnte leben, wenn er hörte, wie das Elend der Welt an seine Türe klopft? Ganz arm muß man sein oder ganz gleichgültig. Wir aber lavieren hin und her, auf dass wir an unserem Wohlstand Gefallen behalten, ohne zu bemerken, dass er doch zugleich Quelle von Unglück ist.
Es ist wohl kaum ein Zufall, dass in ein und derselben Zeit, als die Industrialisierung bei uns begann, Arbeit und Produktionsverhältnisse durchleuchtet, das Recht der Armen erstmalig laut formuliert und die Reste der absolutistischen Herrschaft aus Europa gekehrt wurden. (Nur dass die Revolutionen Reichtum und Armut beibehalten und nur etwas umverteilt haben.)
Läßt sich das Problem der Armut nur so menschenwürdig lösen: dass schlußendlich alle bettelarm sind?
Der Mensch als Mensch ist nicht zuerst Angehöriger einer Stadt oder eines Stamms, noch auch Angehöriger eines Kontinents oder einer Religion. Doch freilich will das gelernt sein, weil wir mit unserer Geburt zuerst alles in der umgekehrten Reihenfolge erleben und weil wir von Natur aus auf Abgrenzung gegen außen (intraspezifische Aggression) angelegt sind.
Wir alle tragen residuell Keime der Menschwerdung in uns, aber wir wissen nicht mehr, was damals geschah. Wie ein Kind, das die euklidische Geometrie lernt und darüber seine topologische Weltvorstellung vergißt, um sie erst später zu rekonstruieren und neu einzubetten: ähnlich haben wir vergessen, was in jenen Zeiten geschehen ist. Nur ahnungsweise läßt sich der Siegeszug des Verstands überblicken: das Bedeutsamwerden des Gedächtnisses, die Herausarbeitung der Möglichkeit von Vorstellungen, das Festhalten an einzelnen Gegebenheiten als Prämissen zu Schlußfolgerungen ... oder das Erkennen des Ichs im Du, die Heraufkunft des Begriffs einer umfassenden menschlichen Identität ...
Bildung kann nicht restlos mit der Ausbildung unseres Verstandes gleichgesetzt werden. Der Verstand ist oft nur der Knecht unserer Wünsche. Und kommt einer zur Macht, so verschafft ihm der Verstand die Einbildung, unnahbarer Herrenmensch oder herablassender Übermensch zu sein, während er zum Unmensch degradiert.
Descartes Individuum mit seinem programmatischen Satz "Cogito, ergo sum" könnte Sokrates folgendes zur Antwort geben: "Lieber Freund, du hast zwar die Erfahrung gemacht, dass du denken kannst und du bist stolz darauf, wie dein Ausspruch kundtut. Doch müßtest du nicht auch wissen, warum du denken kannst? Wäre nicht gut, wenn du auch wüßtest, wer oder was es ist, was in dir denkt? Oder ist nicht möglich, dass ein listiger Dämon von dir Besitz ergreift, dass du Dinge bedenkst, die unnütz sind für dich oder dir gar schädlich, und wieder andere zu bedenken aufhörst, die du bedenken solltest?
Cogito, ergo sum. Was für ein verhängnisvoller Satz! Warum nicht lieber sich aufs Dasein beschränken, freundlich, geduldig und hilfsbereit, und sich nur an einigen wenigen Festtagen ein paar Gedanken zugestehen?
Mit der Kunst des formalen Denkens erwerben wir stets auch die Kunst der Sophistik. Insofern ist mit einer jeden Bildung stets auch ein Saum der Selbstrechtfertigung, wie auch der Selbstverurteilung gegeben, was immer wir auch tun oder getan haben mögen. Mit unserer Bildung vermögen wir, unsere Laster als etwas Besonderes herauszustreichen, ebenso wie wir selbst noch hinter unseren Tugenden ein eitles und gemeines Tier finden.
Shakespeares Malvolio verdient nicht deshalb seinen Namen, weil er schlechte Eigenschaften hat (stolz, streng und unnahbar, aufpasserisch und herablassend ...), sondern weil ihm die Macht fehlt, etwas Positives aus solchen Eigenschaften zu machen.
Macht kommt mit Vollmacht einher, d.h. sie trägt stets ihr Legitimationsschreiben und ihre Ermächtigung bei sich.
Märchenartig und plötzlich beginnt die Kindheit unseres fragmentarisch verstehbaren Menschenlebens, und wie ein wunderlicher Traum ohne Ausgang schwindet es hin im Alter.
Muß man (bei materiellem Wohlstand) denn nicht nur glücklich sein wollen, um glücklich zu sein? Warum kommen wir uns dann immer wieder so unglücklich vor? Was treibt uns, das Tief der Unzufriedenheit zu durchmessen, als ob sich nur so das Glück wiederherstellen läßt? Vielleicht, dass wir uns nicht im Klaren darüber sind, wie wir uns anzustellen haben? Ob Glück eine aktive Lebensweise oder ein eher passiver Zustand ist? Oder ob es aus einer Mischung besteht, aus einer Flexibilität unsererseits, aus einer Achtsamkeit und Bereitschaft zu ständigen, kaum vorhersagbarem Wechsel aktiven Sich-erarbeitens und dann wieder aus Augenblicken eines Stillehaltens und Genießens? Gewiß, man kann Angst bekommen vor einem Glück, das undurchschaubar dunkel und unberechenbar bleibt. Indes, wenn wir auch im Ungewissen sind, so machen wir es dem Glück doch leichter, sich einen Weg zu uns zu bahnen, wenn wir es lernen, mit wenigem aktiv zufrieden zu sein. Und vollends, wenn wir es gelernt haben, schon aus ganz wenigem etwas zu machen, so könnten wir vielleicht sogar mit dem Glück unter einem Dach zusammen wohnen.
Nichts ist so schlimm, wie wenn man sich einredet, es sei sehr schlimm.
Wenn jedem Menschen dieselbe Menge an Glück zuteil würde und du dürftest wählen und aufteilen: zwischen dem Glück der Liebe zum Menschen, der Liebe zu einem Weibchen oder zu einem Männchen, der Liebe zu Gott, dem Glück in der Kunst und dem Glück in der Wissenschaft, oder auch dem Ansehen in Politik oder Sport: wie würdest du wählen?
Fragen wir nicht immer, ob sich unser Tun rentiert. Weichen wir der Versuchung aus, als ob sich der Aufwand, den wir betreiben, um etwas Gutes und uns Zufriedenstellendes zu erreichen, nicht auszahlen könne.
Der Beitrag der Gesellschaft zur Entwicklung zum Menschen wurde in den vergangenen Jahrhunderten vielfach vornehmlich als Dressur verstanden. Erziehung zielte ab auf Kaltblütigkeit, Tapferkeit, Kühnheit, Unerschrockenheit, Draufgängertum, auf Kadavergehorsam und Morden auf Befehl: kurz auf alles, was einen Soldaten auszeichnet. Und die Frauen schienen stolz gewesen zu sein auf solche Bestien an ihrer Seite ... Aber auch unsere heutigen Schulen und Hochschulen haben sich noch weitestgehend der Dressur verschrieben, wenn freilich auch nicht mehr zur Entwicklung der Brachialkraft und nicht mehr mit brutal-brachialen Mitteln.
Frauen: Ausdruck von Kraft und Macht und Reichtum, Ausdruck einer Karriere, eines Standesbewußtseins, einer Vorrangstellung, eines außerordentlichen Daseins, überhaupt des Außergewöhnlichen und Genialen? Gibt es keine Möglichkeiten, diesem Denken durch eine Schule der Frauen entgegenzuwirken, oder durch ein Umdenken und eine Selbstbildung des Mannes?
Um einen gehorsam zu machen, genügte früher ein Stock.
Fragen stellen heißt: innehalten und sich dem Trott der Geschichte entziehen. Wer aber wie Sokrates Fragen stellt, befindet sich rasch am Rand der Gesellschaft.
Man muß sich ein Stück weit der Geschichte bzw. dem allgemeinen Trend, dem on dit und on fait entziehen können, wenn man auf den Gang der Geschichte einwirken will. Dies wären Archimedische Punkte, von denen aus man überhaupt etwas bewirken kann. Es muß unbequeme Institutionen bzw. unbequeme Leute geben, die dies können.
Wenn in einer weltweit vernetzten, globalisierten Weltwirtschaft Geld und Kapital zu unanfechtbaren Machtfaktoren aufsteigen, wird sich auch die Form einer entsprechend weltweiten Demokratie adaptiv entwickeln. Und es steht nicht nur zu befürchten, dass Geld und Kapital die Landschaft der Wissenschaften und des Lernstoffs bestimmen, sondern dass von hier aus auch implizit Rahmenbedingungen mitgegeben werden, wie Bildung sich inskünftig noch auszugestalten vermag. Ein Diskurs zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften erübrigt sich dann vielleicht insofern, als es niemanden mehr gibt, der einen Professor für Geisteswissenschaften bezahlt.
Wir verlieren unsere Zeit und gewinnen Geld: ist das Leben so trivial, ist es so trivial geworden?
Dafür hast du Zeit? fragt man uns.
Paradox: die Angst vor der Länge der Zeit: etwa, dass man den Sonntagabend nicht gut herumbringt, weshalb sich denn auch Fernsehanstalten expressis verbis anerbieten, einem gerade den Sonntagabend so zu vertändeln, dass überhaupt kein ungutes Gefühl aufkommt, wie auch zugleich die Angst vor der Kürze unserer Tage, dass uns jeder absolvierte Tag unserem Tod einen Tag näher bringt.
Wer eine Aufgabe hat, hat seine Zeit eingeteilt, und wer Langeweile hat, hat keine Zeit einzuteilen.
Einerseits scheint uns unsere Zeit zu kostbar zu sein, als dass wir für das nil cogitans Platz haben; andererseits scheint sie uns ziemlich wertlos zu sein, wenn wir uns ablenken lassen, von jeder Zeitung und jedem Geschwätz.
Unsere Gesellschaft sei eine Spaßgesellschaft, kann man hören.
Warum gibt sich unsere Gesellschaft so wenig Mühe, ihre Pädagogen so zu beschützen, dass sie selber Heger, Pfleger und Beschützer der wunderbaren Anlagen unserer Kinder sein können?
Für jede Bildungstheorie ist von Bedeutung, welcher Rang der Ausbildung der geistigen Vermögen zukommt und wer in den Genuß dieser Ausbildung kommt. Zumal da geistige Vermögen nicht von Natur aus sich bilden, sondern nur durch besondere Vorbereitung und Anstrengung und Unterricht, ist diese bildungstheoretische Frage von eminent gesellschaftlichem Interesse. Im elitär aristokratischen Denken des Aristoteles ist am Bios theoretikos nicht zu zweifeln. Für Aristoteles indes war unvorstellbar, diese Lebensform für alle zu fordern, und dies wohl nicht nur, weil man damals ja auch viele Leute brauchte, die der Ernährung und dem Handwerk nachkamen. Doch auch wenn sie für alle erreichbar wäre, so muß man sich fragen, ob dadurch auch schon die Übereinstimmung im Rousseauschen sentiment de l'existence erreicht wäre. Wie zufrieden macht Denken den einzelnen für sich, wie zufrieden untereinander? Ein Staat, der Bildungsprozesse vornehmlich als Denkprozesse erfaßt, muß nachweisen, wozu er diese Bildung braucht. Immerhin wird ein Staat um so schwerer zu führen, je mehr jeder einzelne frei und kritisch zu denken gelernt hat.
Ein Staat, der es verpaßt, seine Bürger in Friedenszeiten zu erziehen, läßt, wie die Historie lehrt, in Krisenzeiten nur allzu leicht auf sie schießen.
Der schwere Weg zur Gerechtigkeit. Zuerst der Zwang der Kriegsführung, um das Lebensnotwendige vor Städtezerstörern zu bewahren. Doch der Krieg kennt keine Gerechtigkeit, nur Kriegsglück auf der einen und Schande der Besiegten auf der anderen Seite. Der Erfolg gab Recht. Alle Mittel heiligte der Zweck. Kriegslist, Gemeinheit, Mord und freilich auch Tapferkeit und Mut und Besonnenheit, technisches Raffinement und Können und strategisches Geschick. Daneben stand die Ordnung des Tempels, die Beachtung von Orakel und Tabu, von kultischer Vorschrift und Reinheit, wovon man das Wohl des Gemeinwesens abhängig sah. War eine Macht zur Weltmacht aufgestiegen, so war die von ihr praktizierte Gerechtigkeit meist nichts als die Ordnung eines Schlachthauses (parcere subjectis et debellare superbos).
Gewiß, Tabus haben auch mit Anstand und Sitte zu tun. Und doch dürfte einer, der für sich selbst und bei sich zuhause nur wenige Tabus (einschließlich derer im sexuellen Bereich) kennt, eher geeignet sein, auch gegen ein totalitäres Regime seine Stimme zu erheben als einer, den viele (und seien es auch fromme) Tabus besetzt halten. Versteht sich, dass Kindern gegenüber strikte Vorschriften und Grenzziehungen und freilich auch ein entsprechendes Verhalten der Erwachsenen unerläßlich sind.
Gemeinheit muß man nicht erlernen. Sie sucht uns auf und nistet sich bei uns ein, ohne dass wir es bemerken.
Wenn die Macht doch nur so mächtig wäre, nicht nur der Ungerechtigkeit der Untertanen Einhalt zu gebieten, sondern auch sich selber in Schranken zu halten! Meist indes gefällt sie sich darin, sich selber anzustaunen, als hätte ein Dämon sie eingesetzt und alles so angeordnet und nichts wäre selbstverständlicher, als dass sie ihrer Natur nach in all ihrem Tun gottwohlgefällig wäre und überhaupt nicht ungerecht sein könne.
Die ungeheuerlichste Ungerechtigkeit in den Augen der Macht: die Macht in Frage zu stellen. Drum weicht sie aus, zieht sich zurück, ist unnahbar. Und doch: was hat "die Gerechtigkeit der Macht" jemals fertig gebracht?
Wenn Macht ein menschliches Gesicht hätte, wenn man ihr nahen könnte, wenn jeder seine Sorgen vortragen dürfte und die Macht sich anschickte, wirklich zu helfen: sie wäre alsbald nichts als Ohnmacht. So buhlt man seit Beginn der Demokratie (vgl. den Agamemnon des Euripides in: Iphigenie in Aulis) um den einzelnen, bis man an der Macht ist, um ihn dann oft nur allzu gründlich zu vergessen (vgl. Stalin), als habe man ihm nichts zu verdanken.
Als zum Denken und Nachforschen neigende Wesen brauchen wir eine Arbeit, die uns ausfüllt und in Beschlag nimmt und die uns blind macht gegen das unabwendbare Schicksal, das uns mit jedem Tag einen Tag näher kommt.
Wahrscheinlich brauchen wir den Schweiß und die Mühsal der Arbeit, um uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass es gut ist, sich nach den Mühsalen des Lebens auszuruhen.
Haben uns im Verlauf der Geschichte des Menschseins nicht Verstand und Vernunft, während sie uns Illusionen der Freiheit vorträumten, meist nur noch gefährlicher in Knechtschaft gestürzt? Die Befähigung, uns Vorstellungen zu bilden und unsere Erinnerungen im Gedächtnis vergleichend zu überarbeiten, hat uns instand gesetzt, uns in einer Wirklichkeit einzurichten, die aus Hirngespinsten besteht.
Wir sind noch lange nicht frei, wenn wir uns einbilden, frei zu sein. Aber wenn zur Einbildung Geduld und Gelassenheit und Beharrlichkeit und Toleranz hinzukommen, können wir selbst unter beschränkten Verhältnissen frei sein.
Wenn man nur das Geraschel von Mäusen kennt, deutet einem alles Geraschel auf Mäuse.
Dämonie der Freiheit. Wer die Freiheit verspürt, etwas aus seinem Leben machen zu können, den setzt die Freiheit unter Zwang. Die Suche nach Ruhm und Unsterblichkeit ist nur die letzte konsequente Stufe in einem Prozeß, der mit der erstaunlichen Entdeckung beginnt, fähig zu sein, etwas Noch-nie-dagewesenes Wirklichkeit werden zu lassen.
Schon die Autoren des Gilgameschepos legen ein Zeugnis davon ab, dass man im Alten Orient um die Freiheit des Menschen wußte. Kein Gott nämlich, auch nicht im Traum, heißt Gilgamesch zu tun, was er tut (Fällen der Zedern des Libanon, Töten des Chumbaba, Tötung des Himmelsstiers, Reise nach Jenseits des Sonnenaufgangs). Götter stehen rings um ihn und um die Szenen seines Lebens. Sie beobachten ihn, begleiten ihn, verfolgen und beurteilen ihn.
Der Bau einer Zikkurat als gesellschaftliches Projekt verplant das Leben vieler einzelner. Vom Standpunkt des einzelnen, vom Individuum aus ist aber das Leben nicht planbar. Sein Leben ist ein Experiment, das in dem Sinn einmalig genannt zu werden verdient, als es ihm gelingt, etwas Einmaliges aus ihm zu machen.
Wie uns die Geschichte der Zivilisation zeigt, scheint es um einiges leichter zu sein, andere zu Sklaven zu machen, als sich selber zu einer autonomen, lebensbejahenden und gebildeten Persönlichkeit.
Der andere Hamlet. Neben dem Hamlet, der objektive Sicherheit braucht zum Handeln und nicht zum Handeln kommt, weil er diese Sicherheit nicht erlangt, gibt es noch den anderen Hamlet, der nicht zum Handeln kommt, weil er durchschaut, dass mit jeder noch so großen Vorname stets auch ein Heer von kleinen und gemeinen Beweggründen mitläuft, die das Handeln verunstalten.
Mit der Erkenntnis der Schlechtigkeit und Gemeinheit der Welt läßt sich durchaus auch ein Stück unserer eigenen Subsistenz erkennen. Man hat nur wenig Grund, sich über jemanden oder über etwas zu beklagen. Man muß sich selbst aushalten.
Geduldig und gottergeben sind wir meist, wo uns eine Änderung unmöglich zu sein scheint, aber unleidig und ärgerlich und gereizt, wo uns eine solche leicht und schnell erreichbar zu sein scheint (gerade auch im Umgang mit eigenen Kindern, wo Wünsche und Hoffnungen den Blick auf das je Machbare so leicht verstellen).
Sich üben, wenn es denn sein muß, in den leisen Tönen der Klage. Sappho als Erzieherin rät ihrer Tochter, auf alles laute Klagen und Sich-beklagen zu verzichten: "Kein Klagelied darf dort, wo man Musen dient, laut erklingen im Haus. Schlecht stünde uns solches." Ein solcher Ratschlag läßt sich an ihren uns überlieferten Liedern überprüfen.
Der Mensch, träge und unbeweglich, zur Flucht vor allen Problemen neigend und Verantwortung vermeidend. Wie schnell sagt er nicht zum Nächstbesten: "Sei du mein Herr und richte meine Sachen für mich", um bereits am nächsten Tag seine Unterwerfung zu bereuen und einen Aufstand vorzubereiten.
Einen Körper haben und ihn nicht zu gebrauchen verstehen, einen Geist haben und ihn den Regungen unseres unverstandenen Innern unterstellen?
Fragen, Aufgaben, Probleme, die uns noch auf unserem Nachtlager bis in den Schlaf hinein verfolgen, gehören zu unserem Leben.
Gewohnheit macht blind. Vor allem, was den freien Gebrauch der uns zur Verfügung stehenden Zeit angeht. Man verlernt ja sehr schnell, wie kostbar sie ist.
Gewohnheit, die alles Hohle und Leere überspielt und Halt gibt.
Der alte Lear versteht nicht die Herzenssprache Cordeliens. Damit aber beginnt alle Katastrophe.
Die Zeit ist an und für sich weder wertvoll noch wertlos. In dem Maße, in dem etwas für uns Wichtiges und Bedeutsames geschieht, gewinnt sie an Wert. Wenn man von der Aufgabe überwältigt und besessen ist, kann sie einem gar wie ein Dieb erscheinen, der sich auf unheimliche Weise davonstiehlt.
Wie wir mit der Zeit umgehen, so geht sie mit uns um: "Die Zeit verdarb ich, nun verdirbt sie mich." (Richard II. V.5)
Wer das Glück oder die Macht oder die Befähigung oder den Glauben besitzt, dass seine Zeitgenossen nicht an ihm vorbeikommen oder dass seine Zeit ihn braucht, vermag inne zu werden, wie kostbar seine Zeit ist. Das ist vermutlich einer der häufigsten Zugänge oder gar der einzige?
Diejenigen, auf die niemand wartet, oder die sich einreden, dass niemand auf sie wartet, haben auch keine Zeit zu verlieren. Nur der Glaube oder das Wissen, dass jemand auf uns wartet, kann uns das Bewußtsein einer für uns kostbaren Zeit geben.
Als sich die Zuschauer von Shakespeare abwandten und das Theater neue Wege ging, war es auch mit der kostbaren Zeit Shakespeares vorbei.
Unsere Träume spiegeln (neben der Eigenart unserer arbeitenden Psyche) unsere Kultur wider, und unsere Kultur unsere Träume.
Jede Zeit braucht kulturkritische Therapeuten und Pädagogen; und zwar solche, die in der Tradition stehen und das Verläßliche und Bewährte pflegen, wie auch solche, die den Geist der neuen Zeit erkennen und die Wege auskundschaften und begehbar machen, die früher noch nicht bekannt waren, wie Sokrates.
Wir sind frei, uns in mehr oder minder großen und bedeutsamen Zusammenhängen zu erleben und zu erkennen. Ich kann zwar nicht an vielen Orten zugleich sein, wohl aber kann ich, wenn ich auf der Gartenterrasse sitze, mich zugleich im Garten anwesend wahrnehmen. Und auch die Landschaft, die von den fernen Bergen mit ihren hohen Maiwiesen bis hin zum Garten drängt, auch sie kann ich als mich umfangend anerkennen, mitsamt dem Taghimmel oder den nächtlich erscheinenden Gestirnen.
Leicht läßt sich behaupten, dass es im Leben der Menschen kein großes Ziel mehr gibt. Besser aber ist der Nachweis, dass das Leben als Quelle großer Erfahrungen auch in unserer Zeit noch möglich ist.
Schönem nahekommen und es einander zeigen ... Gut ist, wenn da auch ein Kind mit dabei ist.
Wenn wir wüßten, wer der Mensch ist und wer er (nicht nur im Bösen) sein kann, wenn wir wüßten, wann und wo und wieviel Ratio wir im heranwachsenden Jugendlichen entwickeln und auslösen sollten, wieviel unbedingtes Selbstvertrauen, wieviel Begeisterung für Erkenntnis, Hoffnung auf Gerechtigkeit, Glaube an Liebe und Treue, wenn wir wüßten, wieviel Beharrungs- und Leidensvermögen er nötig hat, wieviel Anpassungsfähigkeit und Flexibilität, wann Ernst und wann Heiterkeit und Humor: Wenn wir alles dieses wüßten, könnten wir den einzelnen vielleicht erziehen. So aber glauben wir zu erziehen, während wir vielfach nur abwarten, um gelegentlich zu reagieren.
Gerecht sein, d.h. aus der Warte dessen die Dinge sehen, den man beurteilt.
Schon das Kleinkind orientiert sich an den größeren Kindern und schaut auf die ganz Kleinen herab, wenn es um Anerkennung und Größe geht. Einiges davon bleibt und verfestigt sich das ganze Leben über. Sind Umgangsformen nicht möglich, mittels deren es auch den "Kleinen" möglich ist, die Großen lächelnd in Schranken zu weisen? Dann müssen wir wohl stets auf Revolutionen gefaßt bleiben.
Ein Tor, wer blindlings ( wie der Shakespearesche Timon) den Menschen vertraut. Die Menschen sind nicht an und für sich liebenswürdig. Man kann sie sich als einzelne liebenswert machen; doch auch hier ist uns wohl eine obere Grenze gesetzt. Im übrigen ist man auch selbst nicht immer liebenswert, nicht einmal den eigenen Lieben gegenüber.
Verschmähen wir die Narkotika, so brauchen wir Motive, um unser Leben auszuhalten. Ohne Motiv und ohne Ziel kein Lebenssinn. Es ist sonst, als hätte man nie gelebt.
Kinder unter Dauernarkotika?
Nichts und Leere an mitmenschlichem Austausch sind oftmals der Preis für Reichtum und individuelle Freiheit, über die die Vergügungen in der Freizeit hinwegtäuschen sollen.
Entfremdet in der Arbeit (vornehmlich durch Konkurrenz und Wettbewerb im Dienst an Automaten), entfremdet im Konsum (Rousseausche Entfremdung) und schließlich auch entfremdet in der Partikularität der sozialen und kulturell-ästhetischen Existenz, wie sie uns das Bild des verinselten Fernsehzuschauers bietet.
Man muß es dem Fernsehen lassen. Es muß keiner mehr sitzen und abwarten, ob irgendwo etwas Aufsehenerregendes geschieht. Es suggeriert dem Menschen, als ob er in der ersten Reihe säße, während er sich im Nirgendwo aufhält.
Der Mensch fürchtet nicht so sehr die Unfreiheit wie die Freiheit, nicht so sehr das Joch der Menge wie die Last, zu den Ausnahmemenschen zu gehören. Er fürchtet die Herausforderung, selbsttätig für sich da zu sein und alles Fragen und alle Unruhe aus eigener Kraft zum Schweigen zu bringen.
Wieviel hat man vor dem lieben Schlachtvieh voraus, wenn man zuhause nichts anderes mehr zu tun weiß als Essen, Fernsehen, Schlafen, Essen, Fernsehen, Schlafen? In der Tat erscheint das Leben einem außenstehenden Beobachter wie ein Warten in einem Wartesaal, aus dem man die Toten nach und nach herausträgt. Und der Totenpriester trägt eine Tafel voraus, auf der steht: "Gestorben beim Fernsehen bei der Sendung XY"
Da träumt der Mensch vom Glück, das von außen auf ihn zukommt oder das man für ihn erjagt, und wähnt sich zufrieden, nichts weiter mehr mit sich zu tun zu haben, zumal wenn die anderen ebenso träumen.
Wenn die Aufgabe des Lebens darin bestünde, aus einem Heuhaufen die berühmte Stecknadel oder aus einem Misthaufen einen Goldtaler herauszufinden, und unter 100000 gelänge es nur einem: so müßten wir uns gleichwohl ans Werk machen. Da wir aber weder um die genaue Aufgabe noch um den Prozentsatz wissen und da es möglich ist, dass unter 1000 Millionen nur einer erfolgreich ist, ja dass vielleicht überhaupt keiner die Aufgabe löst, so wäre alle unsere Anstrengung absurd, würde uns dabei nicht die Einbildung helfen.
Zu unserer Bildung gehört notwendig auch ein Stückchen Einbildung, auf dass wir uns zutrauen, die Aufgabe zu lösen. Zumal der Jugend steht solche sie beflügelnde Zuversicht wohl an, und ein Lehrer tut nicht schlecht dabei, die Jugend in diesem Zutrauen zu bestärken. Ein solches Stück Einbildung gehört zu unserer Bildung wie der Donquijotismus zu unserer Lebensexistenz.
Wenn ich drei Wünsche hätte für alle Menschen: so wünschte ich für sie: a) die materielle Grundlage, die frei macht von bedrückenden elementaren Sorgen. b) eine große Aufgabe, die jedermann möglichst für sich im stillen besorgen kann, ohne jemals eitlen Beifall nötig zu haben. c) ein Stück täglicher praktischer Bewährung, welche die Liebe zu den einem Nächststehenden (Ehepartner, Eltern, Kinder) lebendig erhält.
Kunst war einst das Vermögen oder wurde als solches gedacht, auf die Natur einzuwirken, dass sie Existenz ermöglichte und Bestand gab und Heimat. Der Goldkranz mit Blumen aus Edelsteinen als Schmuck der kretischen Göttin Ariadne sollte den Frühling zum Erwachen bringen, sobald sie mit ihrem Tanz begann.
Die Bitten und Wünsche, die die Menschen seit alters der Gottheit zutrugen, waren ziemlich unabhängig von den Spekulationen über die Macht und Wesenheit der Götter. Sappho bittet die Göttin Kypris nicht minder inbrünstig um Heil und Wohlergehen als der Beter des Christentums seinen Gott. Selbst die Hinwendung an einen Verstorbenen als Fürbitter geschieht oft mit nicht minder großer Inbrunst. Man könnte fast sagen, wir brauchen uns um die Gottheiten nicht zu sorgen. Die Bitten, nach Homer die Töchter des Zeus, finden den Weg zu den für uns sorgenden Gottheiten.
Ob Tugend lehrbar, Erziehung möglich ist? Wie die Pflege von Pflanzen und die Zucht von Tieren ist jedenfalls Erziehung immer möglich. Eine Wildkirsche bringt keine Edelkirschen hervor, und altes Holz ist nicht mehr gut biegsam, und was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Und nicht indem man dauernd an einem Apfelbäumchen mit der Schere herumschnippelt, stärkt man sein Wachstum und macht ihn zu einem guten Baum. Darüber hinaus aber ist entscheidend, nach was für gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten man die Erziehung ausrichtet. Ob man uniformierte, leicht überwachbare Bürger haben möchte, z.B. preußische Soldaten oder durch Automaten und Computer überwachbare Subjekte, oder ob Staat und Gesellschaft daran interessiert sind, die Erziehung des Jugendlichen in freie Selbsterziehung und Selbstbildung einmünden zu lassen. Ein Gemeinwesen freier Bürger zu schaffen, gehört zu den Herausforderungen unserer Tage, die freilich leicht wieder verspielt werden, wenn andere Interessen höher bewertet werden.
Staat, Gesellschaft, Gemeinwesen, Vaterland, Volk, Masse, Haufen (ochlos): das sind alles Bezeichnungen für ein und dasselbe, nur unter verschiedenem Aspekt, bzw. in verschiedenem Zustand. Hitler nannte die durch seinen Terror und seine Bespitzelungsorgane handsam und optimal manipulierbar gemachte Masse Vaterland. Staat und Gesellschaft sind ebenso etwas Hohes und Hehres, dem man nur allzu leicht Anbetung, Achtung und Gehorsam zollt, wie auch ein Riesentier, dem man nie genau genug ins zähnebewehrte Maul schauen kann. Und doch: kann auch der einzelne auf seinen affektiven Haushalt achtgeben und sich formen und bilden: wer vermag dieses Riesentier zu zügeln und zu kultivieren?
Es liegt im Wesen der Macht, anzuordnen und auszurichten. Insofern läßt sie sich (ähnlich wie auch ein Hitler) stets gern "Heil!" zurufen, hält die Welt ausgesprochen für ihre Bühne und sieht zu, dass möglichst viele Spalier stehen, wenn sie im Triumphzug vorbeikommt.
Auch in der Zeit nach Hitler haben wir kaum Politiker gehabt, die gelegentlich dafür Sorge getragen haben, dass man über sie lachte. (Manche blieben sogar für die Fastnachtsbühne ausgespart.) Die meisten kamen hoheits- und würdevoll daher, als ob man vor ihrer geheimnisvollen Macht und rätselhaften Weisheit am besten in den Erdboden versänke.
Fatal die Folgen, wenn man aus den Geschehnissen nichts lernt und blindlings vertraut (wie etwa König Duncan). Der Glaube an das Gute in der Menschheit bessert die Menschheit nicht; aber das Mißtrauen in sie bessert sie leider auch nicht.
Was für Möglichkeiten gibt es, den Glauben an sich selbst auf Dauer aufrecht zu erhalten?
Glauben wir an die freie Entfaltung des Guten im Menschen und merken, wie man ihm immer engere Fesseln anlegt?
An das Gute im Menschen glauben, genauer noch, daran glauben, dass sich Güte in jedem einzelnen entwickeln läßt. Folglich aber auch nicht vergessen, dafür zu sorgen, dass sich das Erwünschte entwickelt, zuerst vor allem, indem man selber unauffällig das gewünschte Gute zu erbringen sucht. Es wäre ein schrecklicher Irrtum zu glauben, Menschen, zumal in der Masse, handelten gut (vgl. Ps.124).
Man braucht keinen Beweise vom Menschen, um an ihn zu glauben; was man braucht, ist ein Wille, den Glauben zu bewahrheiten.
Was kann der Satz "Gott ist tot" alles bedeuten? Z.B. dies: Wenn wir das notwendig zu Tuende nicht mehr zu tun im Stand sind, so ist auch ein Gott wohlberaten, wenn er uns den Rücken zukehrt und jeden Fingerzeig unterläßt.
Ohne eine gewisse gesellschaftliche Kumpanei kann der einzelne kaum bestehen. Will er sich nicht in die Isolation drängen lassen, so darf er sich den zentripetalen Kräften der Masse nicht durchweg versagen. Er muß mitmachen beim allgemeinen "on fait". Er muß Zeitung lesen, Fernsehen, mit Sportvereinen zittern, in kirchlichen Gemeinden zuhause sein und sonstige Lobbys haben, das verlangt der Selbsterhaltungstrieb, auch wenn es dabei nicht immer mit rechten Dingen zugeht. Puritanische Gesinnung und Robespierrismus als solipsistische Tugend schaden nur der psychischen Hygiene.
Vergebens suchen wir den Menschen als Menschen zu erfassen und zu beschreiben. Stets treffen wir ihn in einem sozialen Umfeld an. Um sich als Mensch verwirklichen, um das Leben erleben und genießen zu können, durch Freuden und Leiden hindurch, bedarf es einer gewissen materiellen Basis. Die herrlichen Abschiedsworte der Andromache an Hektor aus der Ilias z.B. wären nie möglich im Mund eines Armen. Denn gerade der Besitz an Gold und Sklaven ermöglichte eine Freiheit und Sicherheit und damit auch ein Leben in feiner Sitte und voll höfischer Umgangsformen. Der Arme ist stets reich an unheroischem Kampf und Streit; sein Blick reicht kaum über den Tellerrand hinaus.
Wieviel Gold und Sklaven brauchen wir, um gut, d.h. kulturell hochstehend und mithin menschenwürdig leben zu können?
Wie wir unseren Reichtum immer auch vor dem Hintergrund und auf Kosten der Armen genießen, ähnlich genießen wir auch unsere Intelligenz wie auch unsere sittliche Vervollkommnung. Gewiß der Preis ist zu hoch ... und doch waren es auch der Terror und die Unmenschlichkeit, die zur Entfaltung einer Anne Frank, einer Edith Stein oder eines Jochen Klepper beitrugen. - Dostojewski denkt sich den (russischen) Menschen als Karamasoff. Doch da spart er noch etwas aus, die häßliche Folie, den Rakitin z.B., aus dem kaum etwas anderes spricht als niedere Instinkte. Solche Leute wie Rakitin sind wie Katalysatoren, in deren Nähe sich ein Aljoscha vervollkommnet. Von daher hätte Aljoscha durchaus guten Grund, seinen Starez Ernst zu nehmen und die Fehler des Rakitin als seine eigenen zu betrachten.
Was nützt uns die Einsicht, dass wir mit jedem Kind prinzipiell einen herrlichen Beginn in der Welt machen können, wenn sich die Gesellschaft um einen solchen Beginn nichts schert? Selbstverständlich hütet sich eine jede Gesellschaft, unschöne Gesichtszüge zu verraten. Und dies tut sie für gewöhnlich so gut, dass sie entrüstet wäre, wenn man ihr z.B. Kinderfeindlichkeit nachsagte. Immerhin gibt sie doch einem jeden Kind im Straßenverkehr stets recht! Nein, einer Gesellschaft den Spiegel vor Augen zu halten, nützt nichts, wenn nicht eine entsprechende Sensibilität vorhanden ist. Hamlet jedenfalls befände sich auf einem Holzweg, wenn er glaubte, der Tugend den Anblick der Tugend und dem Laster den Anblick des Lasters zeigen zu können. Was nicht gut und schön aussieht, wird nicht als gesellschaftliches Konterfei anerkannt (In der Tat: wie haben die Maler einen Hitler zu dessen Lebzeiten porträtiert und wie geschieht das heute?). Hielte man unserer Zeit den Spiegel vor, so würde man sich vielleicht über die Qualität des Spiegels, den Goldlack der Einfassung und den Wiederverkaufswert unterhalten, kaum aber über das eigentliche Abbild.
Tugend, die ihrer ansichtig zu werden strebt, ist auf dem Weg die Unschuld der Tugend zu verlieren. Das meint auch in etwa das Sprichwort, dass die linke Hand nicht sehen soll, was die rechte tut. Doch der Mensch will seiner ansichtig werden. Was aber ist es dann, wenn nicht Tugend, wonach er strebt und was er zu sehen begehrt?
Was kostet ein Kind? Wenn Hitler hätte klonen können! Es gäbe heute den deutschen Arier, gezüchtet in Brutbatterien und aufgewachsenen in Horten, in millionenfacher Ausfertigung.
Falls ein Kind, das von zuhaus Schläge nicht kennt, sich in der Kindergruppe nicht durchzusetzen vermag und an den Rand gedrängt wird, ohne dass ihm ein Erzieher hilft, so bleibt den Eltern keine Wahl, als es für das gesellschaftliche Leben tauglich zu machen. Wie auch könnten sie ertragen, wenn ihr Kind von anderen, bereits angepaßten, sozialisierten Kinder beim Mitspielen ausgeschlossen würde und wenn ihm, statt dass es die Möglichkeit hätte, sich mit diesen zu vergleichen und im Blick auf sein eigenes Können Selbstbewußtsein und Sicherheit zu erwerben, der Lebensatem knapp würde?
Wenn einer kein Erzieher sein dürfte, den je ein Zweifel am Sinn des menschlichen Daseins angekränkelt hat: so dürfte wohl keiner von uns Erzieher sein. Wenn aber kein Kind Kind sein dürfte, das nicht einmal wenigstens, allein schon durch sein Dasein, dem Erwachsenen Zweifel am Sinn des menschlichen Daseins ausgeräumt hat, so gäbe es dennoch erstaunlich viele Kinder.
Kinder sollten nie die Gelegenheit bekommen wahrzunehmen, wenn wir Erwachsenen uns vom Gedanken ankränkeln lassen, als wären wir zu nichts anderem da als zu einer Mülleimerexistenz.
Gesetzt, wir wüßten, dass alles, was wir tun, für immer aufgezeichnet und zugänglich wäre, wir müßten uns weniger darum bemühen, den Ruhm unserer Erdentage in Büchern und Kunstwerken festzuhalten. Wir könnten gleichsam mit einer Papierkorbexistenz (was immer du tust, es interessiert niemanden, es wandert in den Papierkorb; das antike Ideal des lathe biosas) scherzen und Kurzweil treiben.
Wir Erwachsenen haben gelernt, Zeichen und Bezeichnetes zu unterscheiden, und Syntax und Semantik, und Klassen und Mannigfaltigkeiten, und entsprechende Definitionen zu geben. Wir haben gelernt, mathematische Theorien zu erfinden und sie für die Naturwissenschaften bereit zu stellen. Andererseits tun wir uns schwer, Dinge als unmittelbar gegebene zu erleben. Fragen wir das Kind, was der Herbst oder der Frühling oder eine Tür: so könnte es uns im Gegenzug fragen, ob man denn aussagen kann, was nur in der Unmittelbarkeit und im Einklang mit der Welt erlebbar ist.
Welt, Natur, Geschichte, Wissenschaft, Religion ... all das sind Fäden zu Erzählungen. Was taugt ein Mensch, der nicht merkt, dass er jetzt daran ist weiterzuerzählen? Er kann es aber nur merken, wenn wenigstens einer da ist, dem er zu erzählen vermag. Vornehmlich ein Kind, dem wir keine Gelegenheit geben zu erzählen, konfrontieren wir dann mit der von uns zu verantwortenden Wahrheit, dass es zu nichts taugt.
Bist du nicht? Wenn du aber bist, ist es dann nicht gut, dass du bist? Wenn es dir aber eben nicht gut zu sein scheint, dass du bist, wäre dann nicht möglich, dass du in der Richtung tätig wirst, dass du die Erfahrung machst, dass es gut ist, dass du bist? Vergiß nicht, im Leben der Frauen und Männer nachzuforschen, denen dieses Experiment gelungen ist.
Überlegenheit besitzen, ohne eine Lüge zu begehen, wenn man sie nicht zeigt! Sollte dies die Voraussetzung sein für eine wahrhaft humane Menschheit? Gewiß kann das nicht für die Jugend gelten. Sie muß sich immer wieder vergewissern, was sie kann und dass sie kann, um im Notfall davon Gebrauch machen zu können. Oder übersteigt ein solches Überlegen-werden über sich selbst, dass man es nicht nötig hat, diese Überlegenheit auch nur irgendwie zu äußern? Übersteigt es unsere Fähigkeiten, keinen, auch sich selbst nicht von dieser Überlegenheit wissen zu lassen? Übersteigt das das Menschenmögliche, es sei denn, man wird Eremit in einer Wüste?
Es macht einen Unterschied, ob der Einzelne das von ihm erstrebte Glück als etwas Privates, ihm aufgrund seiner Arbeiten und Verdienste Zukommendes auffaßt oder ob er es als etwas allen Gemeinsames erstrebt. Im ersten Fall ist er Ursache dafür, dass mit seinem Glück stets auch Unglück anderer verbunden ist: sowohl in der Erscheinung der von Rousseau angeprangerten komparativen Existenz als auch als Ursache von Differenzen und Spannungen im sozialen Gefüge.
Reichtum und Vorteile und Privilegien erzeugen auf doppelte Weise Armut: einmal, indem sie die Mittel anders verteilen, sodann aber auch, indem sich der andere, der keinen zusätzlichen Reichtum erhält, bedürftig vorkommt, auch wenn er genügend hat.
Das Programm, ganz bei sich und bei seiner Arbeit zu sein, brächte uns vielleicht den Frieden, den wir brauchen, um unser Leben gut zu leben. Nur leider müßten wir keine zur Gesellschaft hin orientierte, komparative Natur haben, um ohne neidisches Schielen auf den Erfolg anderer auszukommen. (Zum "omnis in hoc sum" des Horaz paßt nur schlecht sein "exegi monumentum".)
Nun darf man aber über all den Nachteilen nicht die Vorteile vergessen, die uns aus unserer komparativen Existenz zufließen. Mitunter, wenn uns eine Kleinigkeit bedrückt und quält, halten wir uns in unserem Egozentrismus für die Allerelendsten und Unglücklichsten. Würden wir hier vergleichen, wir würden durchaus erkennen, wie gut es uns doch immerhin noch ergeht! Wir würden vielleicht das Bild des Eliah in uns erwecken, wie der am Leben irre werdende Prophet sich unter einen Ginsterbusch legt und den Tod erwartet ... Oder Richard II von England würde uns einfallen, der in seinem Unglück an den verratenen Christus denkt, den er allerdings im Leid noch zu überteffen glaubt. Das Christentum hat den leidenden Gläubigen stets den leidenden Christus vor Augen gestellt und ihn so aufzurichten versucht ... Oder sind das alles nur Zeichen von Schwäche, wenn man sich im Unglück solcher Beispiele bedient?
Er litt, und ich sah, dass er litt. Und ich ahnte, dass er sein Leiden überwinden würde, wenn er erst einen Ort erreicht hätte, von wo aus es ihm in einer gewissen höheren Notwendigkeit erschienen würde. Doch konnte ich davon nichts sagen, der Mund blieb mir stumm. Hier konnte man nur geduldig abwarten, bis er sich alles das selber sagen würde. Spott und Hohn nur hätten ihn getroffen, hätte ich in jenen Augenblicken die Gedanken des Herzens verraten.
Früher bezog man aus dem Anschauen des gekreuzigten Heilandes die Kraft, Leiden anzuerkennen und es als das einem von Gott gewiesene Leiden als sein Leiden geduldig zu ertragen. (Doch der Autor des Kohlhaas wäre entsetzt ganz zu schweigen vom Olympier Goethe, dem neuen Prometheus; der hätte nur verächtlich sein Haupt geschüttelt.)
Vergleichen wir nicht, um unser Herz zu verdüstern, vergleichen wir, um uns aufzurichten. Was aber sollen wir tun, wenn wir nicht mehr in der Lage sind, es gut mit uns zu meinen?
Wo über dem Individuellen etwas gedacht wird, was dessen Verhaltensweisen verhaltensbiologisch ermöglicht, steht Natur axiologisch höher als Kultur. Wo es aber auf den Einzelnen ankommt, der sein Verhalten modelliert und auszudrücken versucht, gewinnen Kultur und Gesellschaft als Werk und Ausdruck des Einzelnem an besonderer geschichtlicher Bedeutung. Gesellschaft und Kultur werden dann als Binnenraum gedacht, wo prozeßhaft Erfahrung und Bildung geschieht.
Wüßten wir (etwa im Sinn Herodots, aber auch des Empirikers Aristoteles) um die Geschichte der Menschen, ihre Bestrebungen und ihre Vorhaben, ihre Ziele und Ideale, ihr Scheitern und ihre Siege aufs genaueste Bescheid, hätten wir dann einen Vorrat an Urszenen zur Verfügung, die uns einen empirischen Leitfaden an die Hand gäben, unser Leben zu gestalten?
Eine Gesellschaft, die durch ihre Lehrer dem Einzelnen die Botschaft überbrächte: "Du mußt dich nicht zu viel um dich sorgen. Für dich ist gesorgt. Es genügt, wenn Du in Heiterkeit und Gelassenheit dein bestes zu geben versuchst?" Die Schule könnte so etwas versuchen, doch wäre ihre Botschaft kaum glaubwürdig. Einem Schüler wäre ja nicht geholfen, wenn er dann in unsere Leistungsgesellschaft hinaustritt.
Wenn Weisheit und Kunst und jedes nicht vermarktbare Vermögen in der Öffentlichkeit nur wenig geschätzt werden, wenn man darin ausgebildet vielmehr verkannt wird (vgl. Euripides, Medea V.294ff. Oder auch Adam in "Wie es euch gefällt", II.2 "O welche Welt ist dies, wenn das, was herrlich,/ Den, der es hat, vergiftet!"): sollte man sie dann aus dem Lernzielkatalog der Jugend streichen?
Zu was für Begegnungen, zu was für Erlebnissen und Erfahrungen, zu was für Freuden aber auch tiefem Leid wären wir nicht fähig, wenn wir uns nicht in vielen oberflächlichen Beziehungen verzettelten und versteckten! Wieviel Leben könnten und müßten wir erleben, wenn wir uns ihm stellten! Was könnten sich Ehepartner bedeuten, was Kinder ihren Eltern, was Geschwister, was Freunde füreinander! So bleibt am Ende unseres Lebens das vage Gefühl, dass wir uns nicht genügend ausgesprochen und erkannt haben. Nur in Ausnahmefällen ahnen wir, dass hinter unserem So-sein noch viele, weitere Anlagen verborgen liegen.
Schon das Ausmalen von Freuden sind reelle Freuden. Kinder können das. Warum nützt man dieses ihr wundervolles Potential nur so wenig aus?
Trauer, Preis für einen Verzicht, Preis für ein aggressionsloses Leben ... Der Buddhist, die Klöster, die auf Aggression verzichten, spürt man dort die Trauer? Oder kann der Verzicht so sublimiert, so zur 2. Natur werden, dass Fröhlichkeit weht, wo eigentlich vielleicht noch immer Trauer zuhaus ist?
Um eine gute partnerschaftliche Beziehung zwischen Mann und Frau aufzubauen bedarf es gewiß ebenso vieler Energie und Disziplin wie bei der Hervorbringung geistiger Höchstleistungen. Statt dessen glauben viele von uns, vielleicht aus Angst vor schlechter Erfahrung, dass es genug ist, wenn sie mit ihrem hart erarbeiteten Geld geschlechtsspezifische Genüsse erkaufen.
Ich halte es nicht für ein Zeichen höherer Intelligenz, sich mit seinem Weibchen nicht zu vertragen.
Markiert dies einen Fortschritt an Humanität und ist es ein Zeichen der höheren Bildung unseres Zeitalters, dass die Frau mit der Eheschließung nicht mehr wie früher in den Besitz des Mannes gelangt, sondern als selbständiger und gleichrangiger Partner zu gelten hat? Wissen wir, dass eine Frau als hochgeachteter und liebevoll gepflegter Besitz weniger gut zur Verwirklichung des Menschseins beiträgt denn als Partnerin in einer Partnerschaft, in der stets mathematisch genau gleiche Rechte und Pflichten überwacht und eingeklagt werden?
Darf man sich als Frau nicht pflegen und verwöhnen lassen, weil dies als Einverständnis zur Unterordnung mißverstanden werden kann? Als Mann aber wohl, weil das zu den Rechten eines Paschas gehört?
Mit einem Kuß in der Jugend fängt alles für gewöhnlich an, lange noch, ehe überhaupt an einen Geschlechtsakt gedacht wird. Und mit dem Geschlechtsakt hört es vielerorts auf, ohne dass je mehr an einen Kuß gedacht wird.
Poetische Fiktionen, z.B. als Metamorphose in der Kunst des Ovids, die Augen vor der Häßlichkeit des Todes zu verschließen.
Was lehren uns die Nationalepen? Die Ilias, das Nibelungenlied oder die Geschichte des Taras Bulba und seiner Kosaken? Mehr als dies: dass es eine Schmach ist, im Bett zu sterben, wohl aber etwas Herrliches, das bißchen Leben in einem Krieg, wie immer es auch um seine Gerechtigkeit bestellt sein mag, drauf gehen zu lassen?
Wozu brauchen wir Erwachsenen Kunst und Literatur? Vielleicht noch als Tingeltangel für unsere Trivialphasen? Alle sind wir ja vollgestopft mit unseren eigenen Problemen und sind uns selbst am wichtigsten.
Der Einzelne ist prinzipiell schon durch seine Erwartung kulturschaffend und kulturbildend. Wo ein Publikum eine Literatur erwartet, legt sie zugleich schon den Grund für dieselbe. Wo aber umgekehrt Bücher verlegt werden, um sie zu verkaufen und mit ihnen Geld zu verdienen, wird der Masse das Wort geredet.
Dass wir wenigstens nicht die Zugänge zu den Denkmälern von Kunst und Literatur für unsere Jugend verschütten. Denn sie schaffen die Gegenwart von szenischen Formen und Leitbildern im Bewußtsein, die wir zur Dichtung unserer Erfahrungen und zur Gewinnung einer eigenen Identität brauchen. (Das ist nebenbei auch kostengünstig. Denn man muß sich dann später kein Märchen als Lebensbiografie vom Therapeuten erstellen lassen.)
Mitunter der Eindruck, dass wir als letztes Lernziel vor uns haben, lautlos zu verschwinden.
Könnte Eltern-sein (vielleicht auch Erzieher- und Lehrer-sein) heißen: damit einverstanden sein, alles, was dem Kind an Glück nicht zuteil wird, in die eigene Verantwortung zu übernehmen?
Eltern-sein, insbesondere Mutter-sein mag eine Berufung sein; doch es ist kein Beruf, jedenfalls kein bezahlter, und ist insofern in unserer Gesellschaft nicht viel wert. Wenn wir aber als Erzieher Geld nehmen, so müssen wir uns auch gefallen lassen, dass uns die Gesellschaft vorschreibt, was wir zu tun haben.
Die spezifischen Berufs- und Lebenserfahrungen eines Lehrers, eines Pfarrers, eines Richters, eines Arztes, einer Hebamme, eines Buchhändlers, eines Verkäufers, eines Gefängnisaufsehers, eines Müllmanns ... Sie liefern uns kostbare und spezielle Bilder, die uns vom Menschen unter Menschen erzählen.
Lebenstauglich scheint zu sein, wer viel Geld zusammenscharrt. Das galt seit Erfindung des Geldes und wird immer so sein. (Man bemerke die vielen Synonyma für Geld: Mäuse, Füchse, Kohle, Brötchen, Zaster ...) Ich erinnere mich an einen gepflegt aussehenden älteren Herrn namens Aldo, der uns seine prall gefüllte Geldbörse zeigte. Also war er doch ein Mann!
Gerichtssachen, Geldsachen: Man kann da durchaus allen Respekt und alle Scham vergessen.
Pestalozzis Bildungsprojekt in der Nähe zu Familie und Mutter wäre wohl eine Antwort auf das Pascalsche und das Rosseausche Problem, wie wir Mensch werden und Mensch sein können, wenn nur eben die Mauern der Familie undurchdringlich wären für den Eigennutz und die Ichsucht der Gesellschaft, ja mehr noch, wenn sich von den Familien aus die Gesellschaft reformieren ließe.
Wie kann ein Lehrer, der als zu Besoldender mehr oder minder dem Leistungsdruck unterliegt, die Kinder aus der durch Leistungsdruck entfremdeten Gesellschaft herausführen?
Wenn auch auf der Hand liegt, dass wir Menschen unserer Natur nach nicht ohne Vorlieben und wohl auch nicht ohne uns unbewußte Vorurteile auskommen, so erwartet man doch von einem Lehrer, dass er keine solchen hat. Ja auch eine besondere Förderung von Lieblingsschülern ist ihm untersagt. Wie die Notengebung streng objektiv zu sein hat, so hat auch sein Verhalten sachlich korrekt und objektiv zu sein. Ein solcher Lehrer kann niemals einen Schüler haben, wie Sokrates oder Platon Schüler gehabt haben. Er steht eher wie ein unparteiischer Schiedsrichter im Dienst der vom Konkurrenzkampf bestimmten Gesellschaft.
Hätte man mit Pascal gelernt, sich in einem Zimmer aufzuhalten, so würde man gewiß mehr zuhause sich einzurichten suchen als in die Ferne zu schweifen.
Wie großartig malt man sich doch das Glück des Nachbarn aus, wenn man sich unglücklich vorkommt
Wenn einer eine Reise gemacht hat, ist er wer und kann was erzählen. Früher erzählte uns dann einer z.B., was für Entbehrungen er sich hat auferlegen und was für Kämpfe er hat bestehen müssen. Heute, wo die Massen reisen, lassen wir uns ausführlich erzählen, auf wie großem Fuß und wie fürstlich man gelebt hat. So vergißt einer wenigstens über dem Erzählen der Ferien, wie eng er zuhause lebt und was ihm alles am Besitzstand seines Nachbarn noch fehlt.
Das kostbare Gut der Ruhe und Stille, wo etwas zu gedeihen vermag. Doch der moderne Mensch flieht die Stille des Tages und noch mehr die Stille der Nacht, die bei manchen sogar Schwindelgefühle hervorruft.
Können wir etwas besitzen, was für uns und in unserer Achtung stets hoch steht?
Der sentiment de l'existence wie auch die Forderung des Bei-sich-seins von Rousseau entsprechen dem sokratischen Ideal des ruhig besonnenen Daseins wie auch dem Ideal des guten Menschen, wie ihn Euripides im Hippolytos V.78-81 vor Augen stellt: "Nur wer der Lehre nichts verdankt, nur wem Natur/ Für alle Dinge weisen Sinn und Maß verlieh,/ Darf hier sich Kränze pflücken, doch der Böse nie." Rousseau suchte nach der "Norm des Natürlichen im Entwicklungsrhythmus und in der Spontaneität des Kindes" (vgl. Brockhaus). Daneben suchte er nach Wegen, die aus einer einmal schlecht gewordenen Gesellschaft wieder herausführen, ohne solche jedoch zu finden. Doch hat er vermutlich wahrer gedacht als der deutsche Idealismus, der das Axiom der Entfremdung, das Rousseau zu Diagnosezwecken verwandte, zum Ausgangspunkt einer Bildungsreform zu machen versucht hat.
In der modernen bildungstheoretischen Diskussion plädiert man für den Rückweg aus der Entfremdung, hat indessen zugleich auch Scheu davor. Man setzt das Axiom der Entfremdung nicht als ein vorläufiges, zu überwindendes voraus, sondern man will es als dynamisches Prinzip, als permanent geltendes Axiom. Zumal nach den Vorfällen der jüngsten Geschichte findet man es geraten, sich stets ein wenig zu mißtrauen. Wenn aber die Rede vom Rückweg aus der Entfremdung nur als dynamisches Prinzip und als permanent geltendes Axiom verstanden wird, dann entzieht es sich selbst einer geschichtlichen Überprüfung und steht außerhalb der anvisierten Aufgabe einer je und je neuen geschichtlich hermeneutischen Rekonstruktion.
Im Erfahren vollzieht sich nach Hegel die Geschichte der Bildung als die Geschichte des durch die Bildung gehenden Bewußtseins, die grundsätzlich offen ist. Wir sind prinzipiell und Zeit Lebens offen für neue Erfahrung. (Das Neue ist indessen nie so neu, dass es nicht selber in der Geschichte der Erfahrung seinen Platz hätte.)
Der Tradition können wir uns nur dann anvertrauen, wenn wir sie geprüft und für gut befunden haben, und wenn wir andere neben uns wissen, die ebenso tun.
Kants "interesseloses Wohlgefallen" wie auch Herbarts Begriff des Interesses, "das nicht über seinen Gegenstand disponiert, sondern an ihm hängt", sind der vorauseilenden Forderung verpflichtet, durch begierdefreies Handeln der Rousseauschen Weltverstrickung zu entgehen. Doch dies ist nicht einmal in der Mathematik möglich. Denn auch dort will man ja doch zumindest der Fachwelt zeigen, wie großartig man diese Kunst beherrscht.
Tun wir, was wir von Natur aus nicht tun wollen und wohin uns kein Trieb treibt und keine Begierde zieht, so fällt uns gedanklich zumindest nicht schwer, wieder davon loszukommen. Etwa, wenn wir dem Evangelium gemäß die andere Wange hinreichen; das muß man nicht notwendig wiederholen. Aber wissen wir, ob wir dann auch wieder unsere Seele zurückerhalten oder ob sie nicht irgendwo auf der Strecke bleibt? Und wissen wir, ob uns eine solche Handlung nicht dergestalt verwandelt, dass eine masochistische Lust in uns geweckt wird und übrig bleibt? Es scheint keine sichere Methode zu geben, der Verzweiflung zu entgehen.
Das Christentum lehrt, wenn man auf die eine Wange geschlagen wird, auch noch die andere hinzuhalten; oder auch, man solle den Feind lieben. Dabei ist stillschweigend vorausgesetzt, dass der Feind die Liebe verspürt und sich zur Liebe bekehrt. Doch der Feind liebt es nicht, wenn man ihn liebt. Er haßt es und schlägt einen am liebsten tot, wenn man ihn so provoziert.
Eine Gesellschaft, die durch eine gemeinsam projektierte Arbeit sich als geglückt erlebte ... (vgl. den Sinn des Projekt-unterrichts): Hier würde der Hegelsche Prozeß der Bildung durch Arbeit Erfüllung finden. Doch ist da das Problem der Arbeitsteilung, die Zuweisung wichtiger und weniger wichtiger Aufgaben, über die der allgemeine, alle umfassende Gedanke triumphieren müßte. Manch ein Subjekt, das nach Humboldt auf Selbststeigerung aus ist, das im Vergleich zu anderen Vorsprung und Überlegenheit zu erwerben trachtet, muß dabei ein Stück weit seine Natur unterdrücken.
Immerhin hat ein Gemeinschaftsprojekt Chancen, dass es Gestalt annimmt, wenn auch mit etwas Zwang. Der einzelne, und plane er etwas noch so Bedeutendes, hat es neben der eigentlichen Arbeit immer auch noch mit der Gleichgültigkeit und Kälte derer zu tun, die ihn umgeben.
Echte Anerkennung, wenn ihnen nicht der Neid den Weg versperrt, gibt es bei denen, die verstehen, und Förderung bei denen, die dieselben Ziele verfolgen und mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen haben.
Die Utopie der Hegelschen Bildungsidee als einer Anerkennung im anderen, die Utopie des widerspruchsfreien Selbstseins: das sind, wie Rousseau bereits ahnte, theoretisch postulierte Etappen in einem Bildungsgang, keine genetisch realisierbaren. Denn nur in einem glücklichen Ausnahmezustand wäre möglich, dass einer zur Verfügung stünde, der bereit wäre, wann immer einem Menschen etwas gelingt, sich damit zu befassen und ihn darin zu bestärken. Selbst in unseren Schulen, wo dies am ehesten möglich sein könnte, kommt kaum ein sokratisches Schüler-Lehrer-verhältnis zustande.
Kinder wünschen sich etwas, woran sie sich festhalten können, und dies dürfen wir bei der Erziehung nicht übersehen. Im übrigen aber sollte jede Lehre anderen nur bedeuten, wie weit man selber gekommen ist. Sie ist also eher als eine Art Rechenschaft des Lehrenden und als ein Vorschlag und eine Einladung an den Schüler anzusehen, das ihm Vorgestellte weiter zu erörtern und zu verbessern, als dass die Artikel der Lehre hochtrabend unnahbar und verehrungsheischend wie eine Flammenschrift des Himmels am Schüler vorüberziehen.
Vergiß nicht wenn du dich über Ernstes ausläßt, dass unsere Rolle immer auch eine komische ist. Man braucht keinen Richtertalar und keine Bischofsmütze und keine hochdekorierte Uniform, um etwas besonderes zu sagen. Wenn wir zu wissen glauben, sind wir vom Wissen weit entfernt, und wenn wir unwissend zu sein scheinen, haben wir doch oft eine gewisse Ahnung.
Jeder Urteilsspruch und jeder Beweis, jedes Bekenntnis und jedes Dogma enthält kleinere und größere Unwahrheiten.
Wenn wir nicht viel wüßten, fiele uns (wie den Kindern) aller Glaube leicht. Und wenn wir alles wüßten, könnten wir auf allen Glauben verzichten. Da wir aber wissen, dass wir etwas wissen, dass wir aber niemals alles wissen können, so reiben wir uns am Glauben, weil uns Wissen fehlt, und am Wissen, weil uns darüber ein Stück Glauben verloren gegangen ist.
Kein Wort und kein Bild ist so gut, dass ihm nicht ein nächstes als Widerruf auf dem Fuß folgen könnte. Das beste wäre eine unendliche Folge von Sätzen, die man, auch wenn man ihren Sinn nur annähernd verstanden hätte, zur Beruhigung auswendig vor sich hersagen könnte. Doch kaum hat man einen Versuch gestartet, da tanzen auch schon die Sätze aus der Reihe, und aus diesen Reihen lösen sich weitere Sätze und verzweigen sich und so fort. Und war die Zikade eben noch ein Emblem des Sonnengottes, so erscheint sie plötzlich als das häßliche Kleid des alten, zur Unsterblichkeit verdammten Tithonos.
Ist es nicht paradox, dass Schiller, die deutsche Klassik und der deutsche Idealismus stets auf Griechenland und seine harmonisch ideale Bildungslandschaft verweisen, während in eben diesem Griechenland ein Euripides seine Heimatstadt verlassen und Sokrates den Schierlingsbecher trinken mußten?
Rousseau begründet in seiner Theorie der menschlichen Bildung die menschliche Freiheit mit dem Theorem der Instinktreduktion unseres Handelns und der daraus entstehenden Perfektibilität (Befähigung, das Rechte zu wählen).
Wie frei sind wir? Wie frei zu bejahen und anzuerkennen und gutzuheißen? Und wie frei zu verneinen? Wie frei sind wir, wieviel Duldsamkeit steckt in uns und läßt sich in uns entwickeln, auch Unglück, ja selbst den Tod zu bejahen? Wie weit kommt es dabei auf unser Wollen an? Wenn der sein Leben reflektierende, von bitteren Erfahrungen eingeengte, nach Freiheit ausspähende Robert Walser, der weiß, dass zu jedem Tell ein Geßler hinzugehört, sagt: "Wenn wir denn sterben müssen, so sterb ich lieber gern": wer oder was spricht sich da aus? Ein vom Leben zerschundener Mensch? Einer, der versucht, fröhlich zu erscheinen, wenn er traurig ist? Der sich zwingt, mehr zu wollen und zu bejahen, als er zu leisten vermag? Ein heimlicher Versuch, mit dem todernsten Tod einen heiterfröhlichen Pakt einzugehen?
Raubtier oder Heilsanstalt- vor diese Alternative (Entweder - Oder) stellen uns Leben und Werk Robert Walsers. Ein tertium scheint es nicht zu geben. Auch das Christentum scheint dagegen kein Kraut gefunden zu haben.
Die Potenzen des Staats, seine Organe und auch seine Amtsträger begrenzen die individuelle Freiheit. Dies ist zwar nicht unbedingt notwendig so, wie das Beispiel des Aristophanischen Athens zeigt, bringt aber den Vorteil bequemer Handhabung mit sich. Freiheit darf den Staat nicht zersetzen. Frei geäußerte Gedanken etc. könnten das aber wohl?! Und wenn Tucholski auch hundertmal Recht hat und Soldaten (einer aggressiven Hitlerdiktatur) Mörder sind, so darf der Bürger das nicht sagen, solange der Staat eine Abteilung zur "Verteidigung" (!) unterhält.
Wie groß ist das Ausmaß unserer Instinktreduktion? Kennen wir die Grenzen? Selbst bei bester Einschulung und Einübung sind wir keineswegs sicher, unser Handeln in toto im Griff zu haben. Wann handeln wir frei und wieviel bloßes Re-agieren bestimmt unser Handeln? Achill z.B., der bei keinem Geringeren als beim weisen Chiron in die Schule ging, verletzt mit seinem Handeln immer wieder das Maß. So kann er nicht widerstehen, nach der "männerehrenden Feldschlacht" den toten Hektor leichenschänderisch hinter sich herzuschleifen. Wenn ein Dämon zum Handeln treibt, wenn urtümliche Instinkthandlungen zutiefst wie Vulkane hervorbrechen, statt dem Überdenken den Vortritt zu lassen: dann ist es nicht mehr der Mensch, dem das Handeln über das Maß schießt, dann ist es der Dämon der Leidenschaft (z.B. der Rache oder des Zorns), der den Menschen beherrscht.
Wo einen Menschen Dämonen treiben, Dämonen der Gesellschaft wie etwa im zerfallenden Europa des 19.J.H.s, oder Dämonen des Triebs wie im konsumorientierten Europa und Amerika des 20. und 21.J.H.s, dort ist kein ich zuhaus. Und wenn sich ein Ich meldet, so ist es das Ich der Dämonen, das sich des Sprecherichs annimmt, ohne dass dieser es merkt. Er glaubt, selber der Sprecher zu sein, und ist doch nichts weniger. Nur wo die Kraft der Überlegung und der Entscheidung in unserem klaren Urteil liegt (die Phronesis der N.E. des Aristoteles) und je mehr dies, gestützt auf die angeeignete Kunst der Selbstbeherrschung, der Fall ist, um so mehr ist überhaupt ein Ich da.
Durch gezieltes Einschulen, Denken und Wollen lassen sich auch Rohheiten und Unmenschlichkeiten zur Perfektion bringen. Wir sind also auch Urheber der Dämonen, wie gut genährt und stark sie über uns sind.
Es ist selbstverständlich, dass Bildungstheoretiker geneigt sind, das im Menschen nicht von Natur festgelegte Bildungspotential möglichst groß zu veranschlagen. "Von Natur aus ... nichts", heißt es denn in Schlözers Weltgeschichte von 1785, worauf die moderne Bildungstheorie gerne zurückgreift (vgl. G. Buck, Rückwege, S.136. Vgl. auch die moderne Verhaltensbiologie, die ganz entsprechend über die Verhaltensemanzipation des Menschen von der genetischen Determiniertheit spricht.). Wenn Lichtenberg (Aphorismen, S.409) etwa um dieselbe Zeit nicht ohne ironisches Augenzwinkern (nach dem Studium Kants) vermerkt: "Ein Meisterstück der Schöpfung ist der Mensch auch schon deswegen, dass er bei allem Determinismus glaubt, er agiere als freies Wesen", so ist damit noch kein Gegensatz zur These von der obigen Zielunbestimmtheit des Menschen gesetzt. Diese richtet sich gegen Präformation (mithin auch gegen ein zeitunabhängiges Vorbild) und Entelechie, gegen eine übergreifend zeitlos göttliche Bestimmung des Menschen und nicht zuletzt freilich auch gegen eine Klassengesellschaft im Sinne des Barock und des europäischen Absolutismus, nach welchem ein Mensch schon von Natur aus notwendig so und nicht anders zu werden hat. Gegen Lichtenberg wäre zu erwägen, ob sich die Determiniertheit notwendig gegen die menschliche Freiheit richtet, die sich ja gerade in der Selbstdeterminierung als Selbstbestimmung und Gewinnung einer humanen Identität ausweist. Bemerkenswert ist, dass wir um den Umfang der die kulturelle Genese des Menschen mitbestimmenden Faktoren, insbesondere um die Möglichkeiten menschlichen Selbstseins trotz 5000 Jahre abendländischer Menschheitsgeschichte noch kaum mehr wissen als eine Reihe von Vokabeln: Humanitätsbildung, Wissenschaft als Bildungstheorie, Reflexion der eigenen Praxis als Bestandteil dieser Wissenschaft, Bildung zur Vernunft als Ausdruck und Verfassung allgemeinen Menschseins, Identitätsbildung ...
Die Bildungstheorie unserer Tage hat den Nachweis zu erbringen, dass sie sich keineswegs als Flucht vor der Frage mißversteht, wozu der Mensch da ist, und als scheinbares Heilmittel gegen die Verzweiflung, die einen leicht überfällt angesichts des in der Geschichte versagenden Menschen. Ihrer geschichtlichen Herkunft (Rousseau, Schiller, deutscher Idealismus) nach als Rückführung aus der Entfremdung einer egoistisch entarteten Gesellschaft gedacht, kommt sie nicht darum herum zu sagen, was Mensch und Gesellschaft wechselseitig sein können. Es genügt nicht, dass sie summarisch und allgemein verkündet, dass der Mensch alles sein kann, dass sie uns im übrigen aber keine Antizipation und keine Vorbereitung an die Hand gibt für die auf uns zukommenden geschichtlichen Konstellationen.
Die Geschichte der Pädagogik ließe sich verstehen als Prozeß der Erforschung der geschichtlich anvisierten und verwirklichten Möglichkeiten der Menschwerdung, wobei sich dieser Prozeß auf die jeweiligen Gesellschaftsformen mitsamt ihren Denkformen und Weltbildern wie auch auf die Genese des Individuums innerhalb derselben bezöge. Dabei wäre von besonderem Interesse, wie der Mensch unter diesen gesellschaftlichen Randbedingungen gestaltbar und veränderbar ist, wie er in ein und derselben Situation als ein ganz anderer in Erscheinung zu treten vermag ...
Unser Leben gleicht dem Aussprechen eines Satzes. Wenn man ihn beginnt, weiß man noch nicht recht, wie er aufhört. Man hat eine Vorstellung von dem, was man zu sagen wünscht, noch keineswegs aber von der genauen Syntax oder der Wortauswahl. Mitunter kommt es aber vor, dass einem ein Satzelement den auszusprechenden Gedanken verstellt und ihn in andere Richtung fortleitet.
Einübung, Eingewöhnung und Gewohnheiten verschaffen uns unsere zweite Natur, so sagt man uns seit alters. Doch fügt Aristoteles immerhin doch hinzu, dass die Gewohnheiten sich gemäß dem orthos Logos und dem Vorbild des Phronimos ausbilden sollen, also im Rahmen verstehbarer und erprobter Verhaltensweisen. Das Zauberwort von der 2. Natur scheint uns von der Nabelschnur der (ersten) Natur frei gemacht und ein laissez passer in die Hand gegeben zu haben. Man scheint alles tun zu dürfen, wenn es einem nur gelingt, sich und andere daran zu gewöhnen, dass das so in Ordnung ist.
Auch das, was uns die Verhaltensforschung als die sieben Todsünden der Menschheit schildert, kann durch eine zweite Natur verwischt und überschrieben werden. Man betrachte nur die Tötungsverfahren in Homers Ilias. Die Frage ist vielleicht weniger, wo wir an der Nabelschnur der Natur unabtrennbar hängen, sondern wie weit wir in unserer Freiheit gehen sollen.
Wenn unser Wollen inzwischen vornehmlich ein Produkt der 2. Natur geworden wäre! Wollen wir denn dann wirklich noch und verstehen wir uns in unserem Wollen? Verstehen wir uns in beidseitigem Wollen? Artähnliche Weibchen im Tierreich z.B. müssen heiß sein und in Stimmung gebracht werden. Ist das fast alles beim Menschen bedeutungslos geworden? Ich erinnere mich an eine junge unverheiratete Frau, die sich darüber beklagte, dass nicht sie, sondern nur ihre Unterwäsche geliebt würde.
Unter einer gewissen Perspektive sind die von Natur aus gesetzten Unterschiede unter den Menschen allerdings minimal. Ob einer bis auf 10 zählen kann oder bis auf 100 oder gar bis auf 1000, und ob einer 10 Wörter im Gedächtnis behalten kann oder 100 oder 1000: darauf läuft alles letztendlich hinaus. In der Gesellschaft allerdings wird damit Sein oder Nichtsein verbunden.
Ein kleiner Unterschied in der Naturanlage und Begabung, ein kleines Plus an elterlicher Zuneigung oder an Vorliebe beim Erzieher, mitunter auch nur eine kleine Laune des Zufalls: und Welten klaffen alsbald zwischen zwei ansonsten fast gleich veranlagten Menschen.
Rousseaus Bildungsreform ging vom Beisichsein des Menschen aus. Festigen wir Kinder und Jugendliche erst in sich selbst, lassen wir sie zu sich kommen, geben wir ihnen Zeit, sich Welt zu erschließen und sich dann an dieser selber erschließen (Idee der kategorialen Bildungstheorie), ehe wir sie dem babylonischen Geschrei unserer Tage aussetzen.
Wenn die nachcomenianische Bildungstheorie Identität als Bildungsziel versteht, und wenn dieses Ziel (Telos) nur in Wechselwirkung und Auseinandersetzung mit der je und je gegebenen historischen Situation der Gesellschaft erreicht werden kann, so stellt sich statt der Frage, wer der Mensch ist, die Frage, wer der Mensch in der Gesellschaft werden und sein kann. Die Selbstverwirklichung des einzelnen muß als Prozeß in der Gesellschaft verstanden werden und die Selbstverwirklichung der Gesellschaft als Prozeß unter dem Aspekt der Kommunikation der in ihr sich verwirklichenden Individuen.
Rousseaus naturhafter Zustand könnte für das Kind prinzipiell zumindest gewährleistet werden, d.h. sofern man das Kind nicht verwöhnt und es zum Herrn über seinen noch schwachen Willen macht. Das Kind muß die geschichtlich bedingten Konstellationen nicht notwendigerweise bemerken. Hier, im Zusammensein mit dem Kind, wäre vielleicht ein Heilmittel gegen den von Rousseau geäußerten Pessimismus zu finden, ein Gefangener in der Gesellschaft von bourgois bleiben zu müssen. Hier, bei den Kindern, könnte der Erwachsene ein Gespür (sentiment) zurückgewinnen, wie Bedürfnis und Können in eine Balance zu bringen sind.
Wir wissen nicht gut, was sich aus Menschen machen läßt, es sei denn in elendem und schlechtem Sinn. Ein Volk von lauter Sokratesleuten scheint uns unmöglich. Auch ein Volk aus lauter Rousseauschen Emiles ist kaum vorstellbar. Die Führer eines Volkes müssen wissen, was man über sie spricht. Sie können sich nicht restlos dem Rousseauschen Ideal des Mit-sich-in-Übereinstimmung-seins ("s'accorder avec soi-meme") verschreiben, solange dieses Ideal nicht von allen geteilt wird. Zumal demokratisch gewählte Führer müssen ihre Handlungsweisen mit den Augen der anderen, auch solcher, die nicht im Einklang mit sich sind, überprüfen und ihre Wirksamkeit im voraus berechnen. Aber auch der einzelne kann unmöglich mit sich in Einklang sein, wenn er sich nicht zugleich mit den anderen in Einklang weiß. Unsere soziale Natur drängt uns, uns stets mit den Blicken der anderen anzusehen und auch dann danach zu trachten, in ihren Augen wert zu sein, wenn es sich um Scheinwerte im Rousseauschen Sinne handelt.
Eine umfassende universale Sprache auffinden und erfinden, in der sich der Mensch in seinem Menschsein wiedererkennen kann.
Marginal bleibt gegenüber der Aufgabe, das Leben gut zu meistern, die Weise, wie wir darüber reden: ob wir hier eine höhere Instanz anerkennen, die uns in ihren Dienst nimmt, oder ob wir dies als Werk der Menschenvernunft und des Denkens bezeichnen. Geben wir dem unseren Beifall, der ihn durch seine Praxis verdient!
Wer keine Aufgabe hat, kommt sich schnell wertlos vor und ist es endlich auch. Das gilt für den Einzelnen ebenso wie für die Gesellschaft oder für eine ganze Epoche.
Die eigentliche Aufgabe aller Herrschaft wäre eine mäeutisch-protreptische: jeden dahin zu führen, wo er für sich eine Aufgabe findet, die ihn erfüllt und auf die er stolz sein kann. Aber schon für Homers Telemach ist Herrschaft vornehmlich ob der Erträge, die sie abwirft, erstrebenswert, und daran hat sich noch immer fast nichts geändert.
Dem Satz "Dulden muß der Mensch sein Scheiden aus der Welt wie seine Ankunft: Reif sein ist alles." (Lear, V.2, Montaigne) ließe sich ein zweiter Satz zur Seite stellen, der daran erinnert, die Dinge so zu besorgen, dass sie die Reifung nicht verhindert.
Das Gegenteil von dem, was wir als Bildungstheoretiker und Erzieher erreichen sollten, das ist, dass Kinder Heimaträume verlieren, kaum dass sie welche gefunden haben.
Als "Lohn" einer geglückten Kindheit breitet sich das Erinnerungsbild einer Heimat aus, das den Gedanken an Glück wach hält, auch wenn es einmal nicht zu sehen ist. Wer hat, dem wird noch gegeben. Hier wäre auch das Feld, den unerschütterlichen Glauben und das sublime Glück von Eltern und Erziehern zu begründen.
Von Natur aus in gewissem Umfang gleich entwickelt sich der Mensch ungleich, je nachdem, wohin sich der einzelne auf Grund äußerer gesellschaftlicher Konstellationen sowie eigener Anstrengungen hin entwickelt. Vermutlich war es dies, was man an Leuten wie Napoleon bewunderte.
Manche Vorstellungen gedeihen wie Samen in guter Erde, zumal wenn sie dem Zeitlauf entsprechende Möglichkeiten eröffnen und befördern. Gutes Gedeihen spricht aber noch nicht für gute Frucht. Auch die Samen des Unkrauts gedeihen in guter Erde.
Wie groß ist dieser Spielraum, den der Mensch zu seiner Selbstentfaltung mindestens braucht, und was für eine Aufgabe kommt dabei der Erziehung (Eltern, Lehrern, der Gesellschaft) zu? Mit dem Hinweis auf die "Komplexität, Zufallsbedingtheit und Unplanmäßigkeit des Geschehens, in dem sich die Identität eines Individuums ausbildet", den G. Buck (S.224) gegen die Philosophie der Bildung des jungen Humboldt äußert, will die moderne Bildungstheorie gewiß nicht diesen Spielraum in toto negieren: ein total unplanbares Geschehen wäre Sache des Zufalls oder des Fatums. Die moderne Bildungstheorie versteht sich indessen durchaus nicht agnostizistisch, sondern ist nur bestrebt, diesen Raum gegen jegliches metaphysische A-priori als genuin geschichtlich bedeutsamen Raum zu sichern! Je bedeutsamer dieser Raum, so ihre Meinung, um so weniger genügt ein schlichtes Zutrauen, als ob an höherer Stelle schon gesorgt und alles recht würde. Von diesem empirisch experimentellen Ansatz der modernen Bildungstheorie aus versteht sich auch die psychologische, die psychosoziale und vor allem auch die psychoanalytische Arbeit in unserem Jahrhundert.
Was sind Eltern für das Kind und was können sie sein? Was kann ein Kind alles für seine Eltern bedeuten? Kommt z.B. im wechselseitigen Zulächeln von Eltern (Vater?) und Säugling stets nur Liebe und Wohlwollen zum Ausdruck? Was für Konsequenzen hätte ein Verhalten, wenn ein Vater - um einmal einen exotischen Fall einzuschieben - das Zulächeln seines Kindes dauernd als Unterwerfungsgeste oder als Bestätigung seines Besitzrechtes interpretierte?
Kann nicht auch etwas von dem feindlichen Verhältnis von Herr und Knecht, wie es Hegel in der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins (Phänomenologie des Geistes) entwirft, sich mehr oder minder stark auch im Verhältnis von Vater und Sohn oder von Lehrer und Schüler bekunden und den genetischen Prozeß unbewußt und gleichwohl nachhaltig beeinflussen? Und schafft es der selbständig werdende Jugendliche und schafft es der Erwachsene, alle seinen Werdegang oft auch belastenden Faktoren so in seine Biografie einzuarbeiten, dass er sich zu einer Persönlichkeit ausbildet, die ein widerspruchsfreies Selbst verwirklicht? Oder brauchte er einen, der ihm eine ganz neue Biografie anbietet und ihn das Vergangene vergessen macht?
Jeder Mensch bedarf, um sich eine Biografie zu erstellen, einer Deutung stiftenden Vorlage.
Selbst die Träume, in denen sich uns die Epochen unseres Lebens darstellen, führen uns auf Spuren deutungstiftender Elemente.
Welche Voraussetzung, welche Vorbildung, welche Berufsausübung setzen instand, die Diagnose der Entfremdung unseres gesellschaftlich ausgerichteten Daseins zu stellen und Wege daraus zu finden? Bei Aristoteles setzt die Theorie der Praxis eine umfassende Praxis in der Polis und einen entsprechenden Überblick voraus (Ein junger Mann aus der herrschenden Schicht damals durchlief fast alle Staatsämter in kürzester Zeit), wie er bei uns unmöglich mehr vorausgesetzt werden kann. Welche sachbezogene Legitimation haben dann aber die Bildungswissenschaften, wie erlernt es der einzelne Wissenschaftler und wie erfolgt die Verständlichmachung der Erfahrung (Epagoge) etwa in der Schule? Kann man den Begriff der Fremde allein schon dadurch loswerden, indem man den Begriff des Zuhauseseins und der Heimat als einen von den Kindern zu findenden und zu rekonstruierenden Begriff thematisiert? Absurd wäre schon, wenn wir Erzieher, die wir die Komplexität dieser unserer Welt mitsamt unserer eigenen menschlichen und mitmenschlichen Schwierigkeiten nicht zu überschauen in der Lage sind, kurzerhand alle Überschaubarkeit leugneten, um uns blindlings mit den Kindern auf den Weg zu machen in eine heile Welt.
Das Problem der gesellschaftichen Entfremdung und das Problem der kognitiven Entwicklung beim Kind sind zweierlei. Im ersten Fall liegt eine sozialgeschichtliche Aufgabe vor, die versuchsweise zusammen mit einer geeigneten Jugenderziehung angegangen werden könnte. Im zweiten Fall liegt das übergeschichtliche, von jeder Kultur zu lösende, Problem vor, das Kind aus seiner naturbedingten Unwissenheit zu führen und zu einem brauchbaren Mitglied der Gesellschaft zu machen. Die Scholastik (Thomas v. Aquin) verband hier ganz zwanglos den theologischen Gedanken der alienatio (Das Sein in der Fremde aufgrund der Erbsünde) mit der naturbedingten Unwissenheit und Unmündigkeit in der Ontogenese des Kindes, aus welcher das Kind herauszukommen strebt. Das Kind erwartet ja ganz selbstverständlich, dass es sich lohnt, in die Gesellschaft der Erwachsenen hereinzufinden.
Nicht alle Beschränkung ist Zeichen eines genialen Geistes, manche verrät auch Unwissenheit und Beschränktheit.
Wäre dies die Wahrheit über den Menschen: dass er sich das Leben durch Lächerlichkeiten und Unmenschlichkeiten vertreiben muß, seit er es gelernt hat, sich von der Besorgung elementarer Aufgaben zu befreien? Und dass nur der Ausweg bliebe, dass wir die Lächerlichkeiten und Unmenschlichkeiten ernst nehmen?
Viele Sprüche sind krottenfalsch. Statt "Zweier Zeugen Mund tut alle Wahrheit kund" sollte es besser heißen: "Zweier Verleumder Mund tut eigne Schande kund."
Beschwören wir keine Gespenster über unsere Jugend herbei, indem wir erklären, dass der Mensch in sich nichts sei oder dass wir nur eine Sackgasse und Verirrung in der Evolution darstellen.
Nicht daran glauben, dass uns als Lebenswerk nur etwas Lächerliches zu erlangen möglich ist, und doch lächeln, als ob man auch mit einem solchen Fall sich arrangieren und zufrieden sein könnte.
Ein Tagebuch, wo man in den Stunden der Ungewißheit oder der Verstummung ein Stück weit sich wiederfinden kann oder doch zumindest einen Faden hat, der einem zeigt, wo man einmal war.
Um Wahrheiten muß man ringen und streiten. Und da solches Tun ein Leben lang währt, müssen sie einem den Einsatz und den Preis eines ganzen Lebens wert sein. Wenn wir aber ahnen, dass wir nicht im Besitz der Wahrheit sind, dann müssen wir einen anderen, der einer anderen Spur folgt oder eine andere Meinung vertritt, nicht bekriegen.
Auch wenn wir ahnen, dass wir nicht im Besitz der Wahrheit sind, müssen wir nicht gleich aufschreien, wenn andere sie für sich reklamieren; jedenfalls nicht, solange keine Gefahr besteht, dass man uns deswegen verfolgt.
Es gibt Päpste, die die Wahrheit gepachtet haben, und Päpste, die verbieten, dass einer die Wahrheit pachtet.
"Glaubst du vielleicht, dass ich an etwas glaube, was mich schwach macht vor dir? Wenn du nicht mit mir glauben willst, dass der Mensch den Menschen nicht totschlagen soll, so bist du mein Feind und dann schlage ich dich tot." Wurden in den letzten 2000 Jahren nicht oft auf diese Weise Kriege vom Zaun gebrochen?
Vergiß nicht: auch dein Feind ist nur ein Mensch. Auch in ihm brodeln unterirdische vulkanische Massen; auch er ist von den Gefahren des schrecklichen Todes bedroht. Wir alle können froh sein, wenn nichts weiter geschieht, was uns verhindert, weiterhin die zu sein, die wir gern sein möchten.
Die Menschheitsgeschichte im allgemeinen und die Biografie eines jeden einzelnen ist die Abfolge von Unregelmäßigkeiten, Sprüngen, erhofften Siegen und erlittenen Niederlagen im Gefolge von Hoffnungen und Gesichten, von Ansprüchen und Erwartungen. Was sich nahtlos der Konvention einfügt, hat kein eigenes Gesicht.
Was wir zu erleben hoffen, das wird zu unserem Schicksal (Schein wird zum Sein), und was auf uns zukommt, gestaltet und transformiert sich gemäß unserer Erwartung zu unserem Erleben (Sein wird zum Schein).
Wenn man in unserer Gesellschaft keine großen umfassenden Ziele mehr anerkennt und man über alle Teleologie wie über Kinderkrankheiten erhaben ist, bleibt uns nur noch der Raum für einen Roman, der ebenso abenteuerlich ausfällt wie der des Helden aus der Mancha.
Nachdem man in Deutschland 200 Jahre lang gerade auch in pädagogischer Hinsicht Goethe verherrlicht hat, unterrichtet man uns jetzt, dass er in die moderne Bildungslandschaft nicht mehr hineinpaßt. Vornehmlich Goethes Gedanke der geprägten Form, Goethes entelechische Form, Goethe als Naturgenie, der unabhängig von den äußeren Umständen stets und überall sich verwirklicht, stößt auf Ablehnung. Doch warum? Ist es nicht selbstverständlich, dass ein jeder von uns, inclusive Goethe, voll Zuversicht an die eigene Kraft glaubt, mit der er seinen Weg gesucht hat und gegangen ist? Dass daneben viele glückliche Umstände mitgewirkt haben, bleibt ja unbestritten. Oder ist das schon ein historisches Ereignis, wenn es einmal einer Gesellschaft gelingt, in einigen ihrer Mitglieder aufmerksam und aufgeschlossen einem Jugendlichen gegenüber zu sein? Hätte der frühe Goethe der Straßburger und später der Weimarer Zeit nicht die Leute vorgefunden, die sich für ihn interessierten, es hätte sich freilich schwerlich bei ihm die Haltung ausgeprägt, etwas Gutes und Brauchbares zustande zu bringen.
Haben wir Pädagogen uns schon darauf vorbereitet und wissen wir, wie der Mensch nach der Rückkehr aus der Entfremdung seinen Tag zu gestalten vermag?
Goethes bekenntnishaften Ausspruch, der den Schluß des Gedichts "Der Bräutigam" bildet ("Wie es auch sei das Leben es ist gut"), könnte man so paraphrasieren, dass Goethe entschieden darauf geachtet hat, nie der mephistophelischen Versuchung nachzugeben und zu behaupten, dass es besser gewesen wäre, wenn nichts je entstanden wäre, und nie darauf zu warten, dass bald schon nichts mehr ist. Der Mensch weiß sich gefragt und gibt Antwort darauf. Dass das Leben gut ist, diese Antwort kann ganz zweifellos als eine Erfahrung angesehen werden, die zugleich ein Stück übergeschichtlicher Humanität widerspiegelt.
Mittels des Begriffs der Bildung mag man heutzutage vornehmlich dies zum Ausdruck bringen, dass wir das Leben im gemeinsamen Lebensvollzug als etwas uns Befriedigendes verstehen lernen. Gegenüber diesem soziologisch wichtigen Aspekt muß aber der Feiertag als komplementäre Kraft nicht übersehen werden. Mit "Feiertag" meine ich die Erfahrung, dass das Leben auch als etwas zu verstehen ist, was (sokratisch zumindest) nicht gänzlich verstanden werden kann, sondern was im Vorgriff von uns anerkannt und gewürdigt werden will als Vorgeschmack von Gutem.
Wie, wenn wir uns alle noch immer in der Arche befänden: Menschen, Tiere und Pflanzen: und Wasser und Erde als Grundlage unseres Lebens würden uns tragen?
Das Gewissen des Führers war nie identisch mit dem Gewissen der Geführten, und ihre Religion war wohl auch nie identisch mit der der Geführten. Führer haben nicht so sehr darauf acht, ein Überich mit anderen zu teilen, als vielmehr ein Überich für andere darzustellen. Mehr oder minder können solche Unterschiede schon dem Kind deutlich werden. Das Kind ahnt gewiß nichts Falsches, wenn es einmal ebenso frei und mächtig werden will wie die Erwachsenen, insbesondere wie der Vater.
Der Unschuldige wird schon schuldig, wenn man ihm eine Schuld andichtet und unterstellt, und der Schuldige weiß sich unschuldig, wenn er die Rede in der Öffentlichkeit entsprechend einzuschränken und zu kanalisieren versteht. Das alles hängt mit unserem Gewissen und mit unserer sozialen Natur zusammen.
Zwei Möglichkeiten, gewissenlos zu werden: in der Masse, wo man mittut, und als Machthaber, der sich in den Besitz absolutistischer Machtfülle zu bringen sucht.
Wir haben Talent zum Spieler. Doch scheint sich das Modell einer Welt von Spielern nicht zu bewähren, weder wenn einer vom anderen etwas will, noch wenn alle mit einem Mund reden und mit einer Hand anpacken sollen. Wenn wir uns durchsetzen und behaupten zu müssen meinen, hören wir auf zu spielen. Da werden wir ernst, verschanzen uns hinter unserer Amtswürde und drohen mit der uns zur Verfügung stehenden Macht.
Macht auszuüben mitsamt Unmenschlichkeit, Grausamkeit und Morden ist leider nicht ganz so schwierig wie es uns Shakespeare im Macbeth vorstellt. Wenn Macbeth nach der Ermordung des Königs Duncan bemerkt, dass es von nun an nichts Ernstes mehr im Leben gebe ("Alles ist Tand, gestorben Ruhm und Gnade!/ Der Lebenswein ist ausgeschenkt, nur Hefe/ Blieb noch zu prahlen dem Gewölbe." Macbeth, II.3), zeigt sich nur, dass er nicht das Zeug zum Souverän hat. Er hat nur gelernt, im Schlachtfeld über Leichen hinwegzugehen, nicht aber (wie ein Hitler oder ein Stalin) sich die instinktiven Verhaltensweisen der Menschen zunutze zu machen.
Die bestprämierten Photos eines Zeitraums zeigen uns stets Beispiele menschlicher Brutalität und menschlichen Elends. Warum hat man dann nicht Stalin und Hitler zu den Männern des 20. Jh. gewählt? Sind sie nicht ein überzeugender Ausdruck dafür, wie in einfachem Milieu sich über Nacht Monstren entwickeln, wenn nur die äußeren Bedingungen stimmen? Und dass wir alle vermutlich das Zeug dazu haben, als Monstren zu gedeihen?
In der durch die konträre Verneinung bestimmten Weltsicht der Kleinkinder gibt es nur zwei Reihen von einander wechselseitig bedingenden Merkmalen: einerseits die Reihe: gut, groß, stark, mächtig, schön ... Und andererseits die Reihe: schlecht, klein, schwach, ohnmächtig, häßlich ... Wie wenn wir in unserem emotional-kognitiven Weltempfinden eine solche Weltsicht und Weltverarbeitung weiterlebt? Dass das Lebenswerk auch großer Verbrecher als Großes und mithin als Bewundernswertes empfindbar und einschätzbar ist? Sind wir uns denn sicher, dass es für jeden einzelnen von uns besser ist, ohne alles Gedächtnis zu sein, als mit einem häßlichen Lebenswerk im Gedächtnis der Menschen weiterzuleben? Und kuschen wir nicht schon für gewöhnlich vor den Titeln und Insignien einer jeden Macht? Wie, wenn etwas in uns lebt, was auch mit dem Ruhm unrühmlicher Taten liebäugelt? Wir kennen doch solche Geschichten, wo sich Leute durch unrühmliche Taten einen ruhmvollen Namen zu verschaffen gesucht haben! Wie vollends, wenn die Denkmäler an den Holocaust, statt jene Menschenschlächter der Verachtung preiszugeben, ihnen ungewollte Achtung, Achtung vor der Größe und dem Ausmaß des Verbrechens, sichert? (Führt man in Israel auch Araber und Palästinenser vor diese Mahnmale?) Kann dann dies unbedingt dem Lernziel dienen, dass man die Verbrechen nicht vergißt? Kann dies eine der Lösungen sein, die Herodot zu Beginn seines Geschichtswerks fordert, dass die Taten der Menschen nicht umsonst gewesen seien?
Gibt es einen Ruhm der Sittlichkeit? Vielleicht. Daneben aber gibt es gewiß auch noch andere Taten als Quellen von Ruhm. Zweifellos sind beide Quellen ganz anderen Entwicklungen der Wirklichkeit und Erfahrungsebenen in uns zuzuweisen.
Wenn wir in die Zukunft schauen könnten, was aus einer solchen oder einer solchen Entscheidung wird: hätten wir dann eine Handlungshilfe? Was würden wir z.B. anders machen, wenn wir das Jahr 1900 schrieben, hätten aber die Erfahrung des Jahres 2000? Wie würden wir einen Hitler vermeiden? Gewiß, er käme nicht mehr aus Braunau ...
"Ein Mann stiehlt einen Beutel und wird bestraft. Ein anderer stiehlt einen Staat und wird ein Fürst." (Tschuang-Tse)
Überall geht es um Macht, in der Politik ebenso wie in der Wissenschaft, in der Industrie oder in der Kirche. Der Mächtige aber ist nicht so gefährlich, weil er Macht hat, sondern weil er dazu neigt, sich blindlings und radikal der Dämonie der eigenen Macht zu unterwerfen und ihr sich und andere zum Opfer zu bringen.
Macht beherrscht zwar aufs genaueste die anderen, sie ist aber, insofern sie von niemand kontrolliert werden kann und sich stets im Recht weiß, unbeherrschbar, ja mehr noch, sie ist ihrer Natur nach unbeherrscht.
Wollen wir nicht den einen Herrscher nennen, der sich selbst beherrscht?
Ein Herrscher (im landläufigen Sinn), der sich nicht im Recht weiß, taugt kaum zur Herrschaft (=Beherrschung der anderen). Im Kampf um Herrschaft scheint es von daher auch kein Verbrechen und keine Verbrecher zu geben.
In einem Staat von Verbrechern (wo also der Verbrecher das Gesetz gibt) ist der Gerechte (da er die Verbrechergesetze übertritt) ein Verbrecher.
Hat es das jemals gegeben in der Geschichte der Menschheit, dass Gesetze in pädagogisch protreptischer Hinsicht erlassen wurden, um den Einzelnen zur Selbstverantwortung anzuleiten und in ihm ein autonomes Gewissen zu begründen? (Was steht in Platons Nomoi?)
Was habe ich zu tun, um einmal zu mir sagen zu können? "Was ich getan habe, habe ich gut und recht getan!" und "Das Leben, das ich vebracht habe, war gut und hat sich gelohnt!"
Man fragt den entthronten Machthaber, warum er das getan hat und verlangt von ihm Verantwortung. Doch wie soll er sich verantworten, wenn er es nie gelernt hat? Die Mächtigen sind zwar begabt darin, andere zur Verantwortung zu zwingen, verlernen es aber rasch, sich selbst zu verantworten.
Rührend, wenn kleinere Politiker, nachdem sie das Feld der Politik haben, Fehler eingestehen. Nicht minder rührend aber auch, wenn man von einem gewesenen Machthaber Reue oder ähnliches verlangt. Der Mann der Macht kennt allenfalls strategische Fehler. Sittliche Verfehlungen (Krieg, Ausrottung ...) schätzt er als Notwendigkeiten ein oder sie haben etwas mit den Privilegien zu tun (Liebelei, Bereicherung ...), die ihm seine Ausnahmestellung zusichert.
Warum möchte man die Übeltäter und Verbrecher aus Herzensgrund aufschluchzen und um Vergebung betteln sehen? Handelt es sich hier um Machtgelüste des kleinen Mannes, nachdem ihm der Weg zur Lynchjustiz versperrt ist?
Der Mächtige rechtfertigt seine Ausnahmestellung oft gern mit seinem Können und Wissen, mit seinem unbeirrbaren Ehrgeiz und mit der Kraft seines Willens. Und er baut Rangordnungen und Dienste auf, die die unter ihm Stehenden durch Verdienst und Ehre und Einkommen und Privilegien und Auszeichnungen an ihn binden.
Rechenschaft ablegen (das aristotelische logon didonai) wird oft gleichgesetzt bzw. mißverstanden mit dem Zwang sich zu rechtfertigen, und zwar, dass alles so in Ordnung ist, wie es ist, wenn man denn nicht Gründe zu haben glaubt, dass da andere sind, die schuld daran sind, dass es einem nicht besser ergeht, wie man es wohl verdient hätte. Ebenso wenig wie die früheren absolutistisch herrschenden Fürsten kommt kaum einer auf die Idee anzuerkennen, dass man auf der Gewinnerseite steht und dass er Privilegien genießt und dass er sich eine andere, gerechtere gesellschaftliche Ordnung denken könnte, wo er weniger gut dastünde (Wir haben nichts aus der Geschichte gelernt!). Man lege nur einmal dem wohlsituierten Zeitgenossen die Frage vor, ob es nicht recht wäre, gerade die Leute gut zu bezahlen, die die Dreckarbeit machen, und die weniger zu bezahlen, für die die Arbeit als solche bereits einen hohen geistigen Wert hat. Da hört man dann: wenn die sich angestrengt hätten, so hätten sie es auch so weit gebracht wie ich, als ob das in deren Macht gestanden hätte. Andere hingegen machen im selben Atemzug geltend, dass für ihre Arbeit ein Kopf erforderlich ist, von dem sich jene kleinen Leute noch nicht einmal eine ungefähre Vorstellung machen können. Wieder andere, und das sind die meisten, vergleichen ihre Arbeit ausschließlich mit noch besser Verdienenden: Was ich verdiene, habe ich mindestens verdient im Vergleich zu dem und jenem. Endlich hört man von etwas sensibleren Gemütern: Ein wenig hab ich schon auch verdient, was ich verdiene. - Würde sich einer entschließen, in dem Sinn am Ist-zustand zu rütteln, dass es einem zu gut geht: er müßte wohl befürchten, eine Revolution zu entfachen und gelyncht zu werden. Dabei wäre eine entsprechende Bewußtseinsänderung durchaus als Gewissensschärfung zu einem humaneren Klima unter uns Menschen eines Versuches wert.
Den Kleinen hat man den Begriff der Ehre eingeimpft, ehe man sie auf das Feld der Ehre führte, d.h. ehe man sie zu Gewalttaten und Mord zwang. Und oftmals geschahen diese "ehrenvollen" Dinge nur, um dem Feind einen Quadratmeter Land zu entreißen und ihn dem fürstlichen Hoheitsgebiet hinzuzufügen (vgl. Hamlet).
Warum willst und suchst du die Begegnung von Mensch zu Mensch?
Man muß damit rechnen, dass es Voraussetzungen gibt, die die Begegnung von Mensch zu Mensch verhindern. Z.B. bei der Begegnung von Vorgesetztem und Untergegebenem, von Richter und Angeklagtem, von Ausbilder und Auszubildendem ... Ämter, Titel, Machtmittel aller Art sind bestens dazu geeignet, Gräben aufzureißen und Mauern zu errichten, hinter denen sich das menschliche Gesicht nicht nur verdecken und verbergen, sondern auch verunstalten und vergessen läßt. (Hat das Shakespeare, verführt durch die Lektüre des Plutarch, bei seinem Cäsar nicht gänzlich vergessen?)
Der Mächtige neigt zu dem Glauben, dass in der Ausübung seiner Macht für alle aufs beste gesorgt ist. Im Erreichen seines Glücks sieht er ganz selbstverständlich auch das höchsterreichbare Glück der von ihm Beherrschten.
Mächtige bleiben für gewöhnlich gerne an der Macht, auch wenn der Erhalt derselben ungezählte Todesopfer kostet. Dieser Preis ist ihnen ihre Macht ganz fraglos wert.
Die Physiognomie der Macht spiegelt sich wider in den Organen der Bürokratie und Herrschaft. Das Problem ist aber vermutlich noch um einiges subtiler als es Hamlet dem Polonius gegenüber darstellt (vgl. Hamlet, II.2). Es scheint durchaus auch ehrgeizige Bewegungen und Bestrebungen in uns zu geben (vornehmlich im religiösen Bereich), wo wir mit einer Sklavenrolle zufrieden wären.
Als wäre gerechtfertigt, was alltäglich und Brauch ist, skandalös aber, was nur selten vorkommt oder was der herrschenden Macht zuwider ist. So erscheint der Plan zum Tyrannenmord schon in der Vorstellung als eine wahnwitzige Handlung, die Morde der Tyrannen dagegen als ein dunkles Schicksal.
Die Macht der Mächtigen scheint ausreichend zu sein, um ihnen Qualität und Menschenkenntnis und Menschlichkeit zu bescheinigen. Man läßt sich von ihnen prüfen, verabsäumt es aber, sie zu prüfen, wenn man sich in ihren Dienst begibt.
Kam Macht jemals anders daher als mächtig und prächtig? Wenn Friedrich II. von Preußen an Voltaire betreffs des schlesischen Krieges schrieb "Ehrgeiz, Eigennutz und der Wunsch, von mir reden zu machen, rissen mich hin; und der Krieg war beschlossen", so war er sich sicher, dass man niemals anders als voller Bewunderung über ihn reden könne. In der Tat: man kann auch über Hitler voll Bewunderung reden: Schließlich gelang ihm, dass das Volk der großen Dichter und Denker 12 Jahre lang nach seiner Pfeife tanzte!
Das Wissen um die Endlichkeit und Sterblichkeit treibt den Menschen zu Taten, damit sie aufgezeichnet und im Gedächtnis (Mnemosyne) behalten werden. Auf diese Weise erhofft der Mensch, wenigstens eine Art von Unsterblichkeit zu erhalten. Dabei ist es keineswegs die sittliche Tat, die ihm am Herzen liegt. Die große Tat, mit der er Geschichte zu machen gedenkt, die große Tat, von der auch noch die Enkel und Urenkel erzählen, kann durchaus sittlich fragwürdig oder gar schlecht sein, sie schließt selbst Mord und Verbrechen nicht aus. Die als "groß" in die Geschichte eingingen, waren meist nicht ohne Bluttaten.
Tote können wir kaum mehr ehren. Mit den unvergänglichen Orten für ihr Gedächtnis haben wir auch ihre Namen verloren. Der unbekannte Soldat im Alten Orient hatte es da noch besser. Man gedachte stets auch seiner bei den Totenehrungen.
Homer erscheint es viel besser, in der Schlacht einem stärkeren Gegner zu unterliegen und ehrenvoll bestattet zu werden, als unbemerkt im Meer in einem Orkan unterzugehen. Selbst Hektor, von Achill schweinisch geschändet, hatte da noch einen ruhmvollen Untergang.
Selbst Buddha hätte vielleicht nie das Ideal eines geschichtslosen Lebens verwirklicht, wären da nicht Ananda und die anderen Jünger gewesen, die das Leben des Meisters nachahmten und verbreiteten und es im Gedächtnis bewahrten. Das Ideal der Geschichtslosigkeit wurde so zur Geschichte.
Hat Buddha nicht vergessen, sich um eine Staatslehre zu kümmern?
Voltaire meinte wohl die Fürsten, vornehmlich Friedrich II. von Preußen, wenn er in seinem Candide im 4. Kapitel notierte: "Die Menschen werden zu reißenden Wölfen, obwohl sie nicht als solche zur Welt kommen."
Betrachte die Mächtigen (zumal die Preußen und die deutschen Fürsten), wie sie ihren Untertanen begegneten und vergleiche damit, wie sie ihre Frauen behandelten und was sie vom weiblichen Geschlecht hielten.
Muß nicht gerade der Kleine und Untergeordnete, um nicht zu verhungern mitmachen, wo alle Welt mitmacht? Und muß er nicht oft so leben, als gäbe es ihn nicht, nur damit er weiterleben kann? Hier zeichnen sich Grenzen ab für einen Bildungsbegriff, der seit Goethe als (freie) Selbstbestimmung gedacht wurde.
Dem Kleinen tut man Sünd' um Sünd' aufzählen,
er zahlt die Zeche, wenn die Großen fehlen.
Armut verrät sich nicht, denn das wäre eine Schande, und Reichtum verrät sich auch nicht, denn das würde nur die anderen neidisch machen. Und so scheint eine Gesellschaft meist hübsch ordentlich und nach einem höheren Willen eingerichtet zu sein.
In den Jahrhunderten deutscher Geschichte hatten wir viele, die uns das Weinen und das Hassen und das Totschlagen lehrten, aber nur wenige, bei denen wir in der Kunst der Heiterkeit und des Lachens ausgebildet worden wären.
Deutschland hatte keinen Erzieher oder glaubte sich keinen leisten zu sollen, um aus dem Kind Adolf Hitler einen brauchbaren Menschen zu machen.
Wer einmal Macht gehabt hat, genießt Respekt, auch wenn er entmachtet ist. Man frage Nietzsche, vor wem er mehr Respekt hätte: vor einem Hitler oder vor einem Sokrates. Wenn das aber am grünen Holz geschieht, was soll man zu der Jugend sagen, die der Faszination der Macht erliegt?
Auch der in der Demokratie Mächtige wird nur bedingt dem geschriebenen Gesetz Achtung erweisen; er erläßt es hauptsächlich und sorgt für die Durchführung.
Heute haben wir viele Leute, die uns ins Gewissen reden. In Notzeiten sind es nur wenige, die sich zur Verantwortung gerufen wissen. Von Nero berichtet Sueton (Cäsarenleben, Nero. 37) den Ausspruch "Vor mir hat noch kein Fürst gewußt, was er sich alles erlauben kann." Nero hat sich dann u.a. auch erlaubt, den Senator Pätus Thrasea, nach Tacitus (Ann. XVI.21) "die Tugend selbst", zum Selbstmord zu zwingen, weil er "die finster-mürrische Miene eines Pädagogen zeige."
Der verantwortungslose Mitläufer ist (leider) stets gerechtfertigt.
Die am Rand der Gesellschaft Lebenden spiegeln die Gesellschaft wider; sie tragen die Spuren der Auseinandersetzung mit ihr.
Wenn es uns schlecht geht, schauen wir gern auf die, denen es noch schlechter geht. Warum schauen wir nicht auch auf die, die es weniger gut haben als wir, wenn es uns gut geht? Wir könnten da unser Gewissen und unsere Verantwortung schärfen.
Nicht die Massen, die Wissenschaftler, die Dichter und Denker, die Politiker und nicht zuletzt auch alle die, die in den öffentlichen Medien in Erscheinung treten, muß man erziehen! Doch wer soll das leisten, wo sie gewohnt sind, sich selber das letzte Wort vorzubehalten und sich mit Preisen und Lobfeiern aufzuwarten?
Wen man viel lobt oder gar anbetet, verliert schnell die Fähigkeit zu loben und anzubeten.
Wir leben in einer inhaltsleeren Von-der-Hand-in-den-Mund-gesellschaft. Wir sind froh, wenn heute etwas ganz Schreckliches passiert, damit wir morgen etwas haben, womit wir uns befassen können, wovon in den Zeitungen geschrieben steht und worüber man uns abends im Fernseher unterhält. Das Schreckliche scheint nötig zu sein, damit unser Leben eine Gestalt und einen Sinn bekommt.
Wie sonst gewinnt man die Mehrheit der Stimmen, als dass man sich den Massen als Kumpan anbietet? Nein, eine Demokratie scheint ohne Elemente der Demagogie kaum möglich. Nun sagen die Politiker zwar zu den Lehrern, sie sollen die Jugendlichen zur Mündigkeit erziehen, doch das ist kaum der Königsweg. Daran nämlich wird sich kaum jemals etwas ändern, dass man der mitreißenden Rede des Antonius (in Shakespeares Julius Cäsar) vor der akademisch nüchternen Rede des Brutus den Vorzug gibt. Der feinen sorgfältig ausgearbeiteten Rede des Brutus hört man interessiert aber ruhig und leidenschaftslos zu. Von der auf Effekt und Affekt setzenden Rede des Antonius läßt man sich leicht mitreißen, zumal wenn ein solcher Vorgang in der Menge einsetzt. Solange die Politiker der Versuchung nicht widerstehen, sich durch agitatorische Fähigkeiten Macht zu verschaffen (und wer widersteht, wenn er anders nicht an die Macht kommt?), kann eine Demokratie immer entarten. Um eine Demokratie zu stabilisieren, müßten die Lehrer nicht die Kinder, sondern die Politiker erziehen. Wenn die vielen nur unter guten Politikern eine Auswahl zu treffen hätten, könnte eine Entartung nur viel weniger passieren.
Dem Mächtigen, vornehmlich wenn er zuvor nur wenig Macht besessen, aber auch, wenn seine Macht nur in Einbildungen besteht (ersteres gibt zu bitterbösen Tragödien, letzteres zu entsprechenden Komödien Anlaß), verwandelt sich alles unter dem Eindruck seiner Macht in Besitz, mit einem von ihm festsetzbaren Kauf- und Verkaufpreis, mit dem er schachern und wuchern und überhaupt auf jede ihm beliebige Weise schalten und walten kann. Freundschaft, Liebe, Ehre und Treue verkommen ebenso zum Besitz wie die Menge, die sich nichts sehnlicher erhofft, als dass sie der Mächtige in Besitz nimmt und sie wie einen wertvollen Besitz schätzt und hütet.
Nichts irritiert die Macht mehr als ein Kind.
Ein mächtiger Lehrer ist ein Widerspruch in sich.
Wir scheuen uns vor der Gemeinheit vor allem im Beisein anderer. Verrät das Schwäche und zeigen die unverschämten Gegenbeispiele (eines Nero oder eines Stalin) Stärke, weil sie sich nichts daraus machen?
Wir bewundern Stärke (auch wenn ein Verbrechen mit im Spiel ist) und reagieren aggressiv auf jede Art von Schwäche. (Ich finde den schwachen Charakter eines Othello unausstehlich, während mich die verbrecherische Erfindungskunst eines Richard III amüsiert. Ein Othello gehört in die Komödie.)
Selbstgerechtigkeit und Heuchelei helfen uns dabei, was wir als ehrenwerte Bürger als unseren Besitz anzusehen haben. So halten wir uns gern für klug und weise, haben aber nichts mit den Bösewichten zu schaffen.
Goethe hielt nichts vom Haß. Nicht, dass die Welt gut wäre, aber Haß macht unfähig, sich aufzuschließen. Haß ist ein Mißverständnis, wenn Kommunikation nicht oder nicht mehr zustande kommt. Haß macht unfrei, verkrampft, blind und unfähig, dem Kommenden entgegenzusehen und es zu gestalten. Haß macht zum Spielball des Augenblicks und des Affekts, macht zur Masse. "Selig, wer sich ohne Haß, vor der Welt verschließt", sagt der junge Goethe. Und augenzwinkernd und mit der für ihn markanten Ironie, die das Erdendasein erträglich macht, gesteht der alte Goethe: "Soll ich hassen, hasse gleich in Massen" (West-östlicher Divan, Buch des Unmuts).
Jahrhunderttausende evolutionärer Erziehung haben es fertig gebracht, dass ein ungutes Gefühl, ein Affekt, dass negativ geladene Emotionen in Windeseile wie eine Lawine eine Riesenkette von Menschen durchsetzen, während ein guter Gedanke oder ein Vorschlag zu besonnenem Handeln meist schon beim nächsten Mann ins Stocken gerät.
Viel zu oft, statt uns ruhig zu besprechen, gehorchen wir voreilig den uns unterjochenden Affekten und klagen an.
Wer etwas leistet und dafür Anerkennung findet, kann sich auch etwas leisten. Er kann sich sowohl etwas gönnen, was andere sich nicht gönnen können, und er hat in gewissen Maßen die Macht, sich etwas herauszunehmen, was man an ihm vielleicht sogar lobt, an anderen aber tadeln oder gar bestrafen würde. Zuerst sind es nur kleinere Rechte, die er sich herausnimmt, später, wenn niemand ihm wehrt, verletzt er leicht auch Besitzrechte, Sitten, Gesetze.
Es ist gut, wenn wir uns vom Mißbrauch einer ewig gültigen Moral zu Dressurzwecken verabschiedet haben, und wenn wir, was Recht ist und Sitte, stets neu und möglichst von allen ausloten und definieren. Dabei sollten wir nicht die gestalterischen Kräfte vergessen, die es zu kultivieren gilt, das Leben lebenswert und schön zu machen.
Regeln (und später Sitten, Konventionen) bestimmen schon das Verhalten des Kindes und geben ihm Halt. Die Suche nach Regeln und Gesetzen leitet sodann zum Studium der Natur und des Kosmos. Selbst, wo keine Regelmäßigkeit besteht, suchen wir Regelmäßiges.
Gewiß sollen wir die eigenen Talente möglichst gut ausbauen. Doch da man die eigene Fitnessmaximierung im meist erbitterten Konkurrenzkampf besorgt und so leicht Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit befördert, so wäre besser, die Spanne der Talente etwas zu unterschätzen, wie etwa, ob ein Schulanfänger den Zahlraum bis 100 oder bis 1000 beherrscht, statt sie mit dem Mikroskop sich anzusehen und Zensuren bis auf kleinste Bruchteile genau zu bestimmen.
Nichts macht einem Talent mehr zu schaffen als bei anderen Talent anzuerkennen.
Wir anerkennen nur den, von dem wir anerkannt werden. Da aber der, der uns anerkennen soll, mindestens so bedeutend sein muß wie wir selbst, ist alle Anerkennung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Vielleicht, dass die Liebe da eine Ausnahme macht.
Ein Schüler, der von seinem Lehrer nicht anerkannt wird, wird nur den Tadel, nie das Glück einer fördernden Zurechtweisung erfahren. Und ein Lehrer, der von seinen Schülern nicht anerkannt wird, findet bei diesen auch kein zu förderndes Talent.
Der fleißig praktizierte Grundsatz unserer Leistungsgesellschaft lautet etwa: Streng dich an und bring etwas zustande! Dann zeige dich den anderen, bis auch der letzte verstanden hat, dass er an dir nicht mehr vorbei kommt.
Hermeneutik, die uns daran erinnert, dass jede Zeit die Geschichte neu zu schreiben hat. Indessen, was sollen wir Geschichte treiben und was können wir dabei lernen, sofern sie bestenfalls Paradigmen enthält, aus denen wir heute lernen können, die übermorgen aber schon nicht mehr gelten? Und wie können wir aus der Geschichte lernen, wenn sie sich ganz unterschiedlich verstehen läßt? Rousseau feiert Sparta und verwirft das weltpolitisch ehrgeizige Athen; und Schiller rügt die Barbarei der Spartaner und feiert das ästhetisch gebildete Athen, das ja doch ohne seine Gewaltpolitik niemals dieses Leben hätte führen können.
Mögen sich die geschichtlichen Verhältnisse und Spielräume global auch rasant verändern, unsere Verhaltensweisen ändern sich nur wenig. So dürften als Handlungsmotive avaritia und luxuria (vgl. Sallust), mithin das Streben nach Besitz und nach Luxus, nach Macht und Ehrgeiz und Ruhmsucht und prunkvolle Selbstinszenierung bis ans Ende der Zeiten andauern.
Wenn wir 1000 geklonte Napoleons hätten, so könnte doch nur einer L'empereur werden. So bleibt denn der Faktor des Milieus übrig, der die Selbstentwicklung mitbestimmt. Eine kleine andere Umwelt könnte dann schon eine Änderung in der Entwicklung bewirken. Was sich uns als unsere Identität darstellt, zeigt sich aus anderer Sicht als Ergebnis zeitbedingter schmetterlingsartiger Flügelschläge.
Die geschichtlichen Konstellationen scheinen es zu sein, zumal in krisenhaften Zeiten, die die Akteure berufen oder erschaffen: einen Sargon, einen Mose, einen Julius Cäsar, einen Brutus, einen Napoleon oder auch einen Hitler ... und ebenso verhält es sich auf den Gebieten der Religion, der Kunst und der Wissenschaft.
Untergeordnete, Untergebene und in jeder Hinsicht Abhängige, alle mithin, die sich in unserer Zeit gefallen lassen müssen, wenn man sie maßregelt, schikaniert, demütigt, haben nach Euripides kein Vaterland und keine Heimat, auch wenn sie im übrigen als Einheimische im eigenen Land leben. "Nicht sagen dürfen, was man denkt, ist Sklavenlos!" (Phönikerinnen, V. 392). - Vollends im Hitlerdeutschland, wo man so viel von Führer, Volk und Vaterland sprach, gab es Euripides gemäß nur Vaterlandslose. Man verfügte zwar über Leute, die den Euripides kannten und humanistische Bildung besaßen, doch das genügte offenbar nicht.
Wir kannten das Bekenntnis aus dem Tell zum einigen Volk von Brüdern und wir sangen Beethovens Ode an die Freude. Und doch fiel uns leichter ein Volk von Untertanen eines bestialisch gearteten Führers zu werden als ein Volk solidarisch gesinnter Bürger.
Wer war es? ich oder ein berühmter Zeitgenosse, der so zu mir sprach: Manchmal überkommt mich die Lust, vor meiner eigenen Größe zu versinken.
Man muß aufhorchen, wenn sich ein Staat als Familie darstellt. Denn der Führer ist nicht der Vater und das Volk sind nicht die Kinder und das Vaterland ist nicht der für die Kinder nötige Binnenraum. Im übrigen freilich behauptet der Führer-Vater gern, allein zu wissen, was für das unmündige Volk am besten ist, auch wenn er es dann in den Tod schickt.
Ein gemeinsames Vaterland schaffen, d.h. an einer Gesprächskultur arbeiten, wo jeder schicklich zu sagen vermag, was er denkt, weil man ihn zu verstehen sucht.
Wird die Selbstbestimmung dadurch verspielt, dass der Erzieher von sich aus das Kind in die Selbstbestimmung einübt? Und wird sie verspielt, indem es lernt, sich so zu bestimmen? Gewiß, wenn ich glaube, das beste Handeln gefunden zu haben, und mein Handeln gewohnheits- und routinemäßig wird, etwa wie ein Autofahrer das Fahren ausübt, gewinnt die Gewohnheit über mich Macht. Grundsätzlich wird die Selbstbestimmung aber wohl kaum verspielt, wenn wir aufmerksam stets von neuem das jeweils beste zu erreichen suchen. Widerspruchsfreies Sein und innere Einheit als "restteleologisches" Bildungsziel ist dann kein statisches Sein jenseits allen Widerspruchs, sondern eine in lebendigem Umgang je sich verwirklichende Daseinsform. Der Übergang von der kindlichen Unmündigkeit zur autonomen Persönlichkeit oder mit Kant ausgesprochen, wie Selbstbestimmung möglich ist aufgrund pädag. Determination, erklärt sich dann fast von selbst.
Soviel scheint jedermann in unserer Gesellschaft noch unbezweifelbar, dass man Kinder zu schützen hat, wo sie sich noch nicht selbst zu schützen vermögen. Doch wie weit reicht dieser Schutz? Wenn man damit liebäugelt, das Kind möglichst früh mit gesellschaftlich politischen Prozessen und Aufgaben zu konfrontieren, dass es lerne, sich hierdurch selber zu bestimmen: gewährt man ihm dann Schutz oder konfrontiert man es mit Dingen, denen als vorzeitigen etwas Unzeitgemäßes anhaftet? Und wenn es heißt, es komme "beim Rückzug auf naive Sachlichkeit" auf das rechte Fragestellen an und weiter: "den Anfang müssen die grundsätzlich Fragenkönnenden machen" (A. Häußling, in: Kinder auf dem Wege zum Verstehen der Welt, Klinkhardt, 1997, S.265, 270): wird da das Kind nicht wie früher auch wieder manipuliert? Hier wünscht man sich Kinder zu sehen, an denen die Methode mit Erfolg einexerziert wurde.
Das Prinzip der Gleichheit ist nicht naturhaft, sondern ein Stück Kultur, es ist ein Ergebnis humaner Erfahrung und Bildung (Vgl. Euripides, Phönikerinnen: Gleichheit ist der Menschen Urgesetz).
Wenn wir keinen Versuch machen, wissen wir noch nicht einmal, ob wir etwas durch Erziehung des Kindes erreichen. Und wenn wir bemerken, dass wir etwas nicht erreichen, ob es an uns liegt oder an der Natur des Kindes oder an der speziellen Eigenart der jeweiligen Gesellschaft, die eine Entwicklung verhindert.
Was vermag Erziehung und was vermag sie nicht? Was vermochte Aristoteles am jungen Alexander? Oder wer arbeitete an der Ausbildung eines Sokrates? Wer formte einen Jesus, wer und was beeinflußte den Werdegang eines Mohammed? War die Selbsterziehung das entscheidende, die sich immer stärker geltend machte, je mehr die zeitlichen Umstände als unbefriedigend und drängend erkannt wurden? Oder waren zuerst die gesellschaftlichen Verhältnisse, die auf einzelne besonders wirkten? Wie war es bei einem Hitler: wurden hier nicht auch die zeitlichen Umstände als unbefriedigend und belastend empfunden? Wenn aber die Zeit in ihrer Haltlosigkeit beruft: die einen zu einem erstaunlich menschenwürdigen Werk, andere aber zu Geißeln der Menschheit: was kann dann die Pädagogik tun, um die Genese geschichtlicher Schreckensereignisse zu verhindern? Ich wünschte mir ein Schauspiel, das uns Pädagogen zeigt, wie sie an der Erziehung Hitlers versagt haben. Oder wären Historiker, Soziologen und Bildungstheoretiker dazu da, immer erst im nachhinein auf die Bedeutung solch zeitlicher Augenblicke hinzuweisen?
Die alten Denker und Künstler sind nicht tot, solange es ein Gespräch gibt hinweg über die Zeiten. Da ist Homer, der Erzieher und das große Vorbild der griechischen Literatur. Das von ihm entworfene Idealbild ehelicher Gemeinschaft ("Denn nichts Stärkeres und nichts Besseres gibt es, als wenn Mann und Frau mit gleicher Gesinnung in Eintracht walten im Haus" (Odyssee, VI. 182 ff.)" formuliert dann Euripides zu Beginn der Medea: "Denn dieses ist des Erdenlebens höchstes Glück, wenn mit dem Manne sich des Weibes Sinn verträgt." Oder da unterhalten sich Euripides und Shakespeare über das Abwaschen von Schuld, eines der großen Probleme im Blick auf die Menschwerdung. Euripides sagt (Iphigenie bei den Taurern V.1193): "Des Meeres Flut spült alle Schuld der Menschen ab." Und Shakespeare, der Beobachter des titanisch emporstrebenden, von ehrgeiziger Selbstverwirklichung träumenden Menschen, antwortet darauf (Macbeth II.2) "Kann wohl des großen Meergotts Ozean/ Dies Blut von meiner Hand rein waschen? Nein,/ Weit eher/ kann diese meine Hand mit Purpur die unermeßlichen Gewässer färben/ Und Grün verwandeln in ein einzig Rot."
Oder man betrachte die Ähnlichkeit des letzten Satzes aus dem Mund des Hamlet ("Der Rest ist Schweigen.") mit dem letzten Satz des Aias aus dem Aias des Sophokles ("Der Rest gehört den Toten in der Tiefe.").
Oder um noch ein Beispiel zu geben für das Gespräch zwischen den griechischen Tragikern und Shakespeare: Im Orest des Euripides sagt einer: "Wahr sprichst du, freundlich aber war die Rede nicht." Im Sturm läßt Shakespeare den Gonzalo sagen: "Der Wahrheit, die du sagst, fehlt die Gelegenheit und etwas Milde." Oder wenn sich Shakespeare mit Homer über Glück und Unglück und deren Verursachung unterhält: Zu Beginn der Odyssee beschwert sich Zeus darüber, dass die Menschen ihr Übel immerfort den Göttern zur Last legen, statt zu erkennen, wie sie selber schuld daran sind. Bei Shakespeare ist es Edmund im König Lear (I.2), der, nachdem er seinen Vater Gloster gegen seinen Bruder erfolgreich aufgehetzt hat, so räsonniert: "Das ist die ausbündige Narrheit, dass wir die Schuld unserer Unfälle auf Sonne, Mond und Sterne schieben, als wenn wir Schurken wären durch Notwendigkeit ... und alles, worin wir schlecht sind, durch göttlichen Anstoß." Im selben Stück läßt er (IV.1) aber auch den Gloster sagen: "Was Fliegen sind den müßigen Knaben, das sind wir den Göttern. Sie töten uns zum Spaß", was ihn wieder in die Nähe von Homers Welt rückt.
Hephaistos, der Humpler! Das Defizitäre ist Grund eines dauernden Unwohlseins. Seine Eltern (Zeus und Hera!) hätten ihn nicht in die Welt setzen dürfen, so seine eigene Aussage. Gleichwohl wird er entschädigt: beherrscht er doch die Kunst wie sonst keiner, wunderbare Geräte zu verfertigen mit Silberschmuck und feinem Goldrand.
Schuld, die da ist, wiewohl kein Vergehen nachweisbar wäre (Schuld im Zusammenhang mit dem Gewissen des einzelnen), und Schuld, die geleugnet wird, wiewohl Schreckliches geschieht (die Allmacht des Staates und der Staatsdiener, die recht behalten). Dazwischen die Einzelfälle des Schuldig-werdens, die nach Sühne und Tilgung verlangen. Der einzelne, Kleine und Schwache, den zu hören verlangt - auch wenn er objektiv etwas verbrochen hat -, dass er unschuldig sei oder zumindest, dass ihm die Schuld genommen sei. Er glaubt an das Geheimnis der Sündenvergebung aus dem Glauben an eine Allmacht.
Man möchte ehrlich sein, aufrichtig, unvoreingenommen und objektiv; man möchte alles auf den Tisch legen, sich restlos aussprechen und bedient sich dabei der Psychologie. Doch die Maschinerie der Psychologie führt keineswegs nur zur Aufklärung und zur Erhellung und Beilegung von Differenzen, sie kann auch zu weiterer Verdunkelung, zur Vertiefung von Rissen bis hin zur Verzweiflung führen. - Es kommt weniger auf den klaren Blick und auf die genauen Tatbestände an als auf den guten Willen, der zur Aufhebung der Spaltung und zur Versöhnung führt. Deshalb kann im Prinzip jeder Psychotherapeut sein, selbst wenn er von unseren Anlagen und Reaktionsweisen nichts verstünde. Er muß nur ein Ausstrahlungsvermögen besitzen, das an Aufhebung von Spaltung und an Versöhnung glauben macht.
Ist es Ohnmacht oder weise Kunst, sich auszusprechen und Luft zu verschaffen und mitunter einmal auch zu schimpfen und auf den Tisch zu hauen? Besser ist auf jeden Fall, wenn man gelernt hat, ohne im Innern Schaden sich zuzufügen, darauf zu verzichten.
Inwiefern wissen wir, ob das, was wir mit Fehlform, falschem Verhalten, Entfremdung, Zorn, Haß, Krieg bezeichnen, nicht unaufhebbar zur Natur des Menschen dazugehört (z.B. als intraspezifische Aggression und Fremdenhaß), auch wenn wir es vernünftigerweise nicht wollen? Und ob Desiderate wie etwa Rousseaus bei sich sein ("s'accorder avec soi-meme") nicht dem Reich der Utopie angehören? Wissenschaftlich betrachtet wissen wir erst dann genau Bescheid, wenn wir alle Verhalten bestimmenden Faktoren kennen und die einzelnen Faktoren getrennt zu untersuchen vermögen. Indessen gibt es die Erfahrung im Leben eines jeden von uns; als einzelne wissen wir, was uns in welcher Situation gelingt und was nicht, ob wir in der Lage sind, das eine zu unterlassen und das andere zu realisieren ...
Gehört das zu unserer unabdingbaren, der Selbsterziehung unzugänglichen Natur, dass wir vornehmlich dann in Freuden ernten, wenn wir in Trauer und unter großen Schwierigkeiten gesät haben? Und dass uns das Brot, das wir unter Tränen essen, besonders schmeckt? Und dass wir die Peitsche brauchen, ehe man uns Manna und Zuckerbrot reicht?
Für den Homer der Ilias waren große Erfahrungen gerade in Zeiten des Kriegs möglich, wie die Schilderung seines Achill oder auch die Begegnung Hektors mit Andromache zeigen. Doch wenn wir auch mit Shakespeares Troilus und Cressida herzlich allen Krieg verachten: woher beziehen wir dann heute große Erfahrungen? Oder ist schon die Suche nach Größe verdächtig? Und müssen wir uns um des Friedens und des Überlebens willen mit kleinen Erfahrungen begnügen?
Um eine verlockende Frau in Besitz zu nehmen, scheint ein Krieg trotz all seiner Schrecken kaum der Rede wert. Und umgekehrt scheint der, der wie Alexander oder Cäsar Kriege siegreich zu Ende führt, ein selbstverständliches Anrecht zu besitzen auf jede attraktive Frau. Dass Eroberungskriege und Eroberungen von Frauen von uns als ähnliche Handlungen eingeschätzt werden, wäre ja weiter nicht schlimm, wenn nur ein Kommentkampf wie bei der Tieren stattfände und nicht, im Ernstfall, heute gleich die ganze Welt auf dem Spiel stünde.
Es ist wundervoll, eine Frau zu sein, sagt eine Diva. Sie hat ja auch keinen Grund sich zu beklagen, solange man sie auf Händen trägt und anbetet. Wer als Frau attraktiv und geachtet und mächtig sein will, sehe rechtzeitig zu, dass die Männerwelt keinen Kampf scheut, sich ihr zu Füßen zu legen. Denn das Leben einer Frau ist sehr kurz.
Das abendländische Denken und Handeln ist erobernd expansiv. Der Weg führt wie beim Dädalus des James Joyce vom Ich hinaus in immer größere raumzeitliche Zusammenhänge. Man könnte aber auch den östlichen Weg gehen, der vom Ich hinein und hinabführt zum Ein- und Ausatmen, zur Erfahrung des Selbst, des Atems der Welt, zum selbstlosen Selbst, zum namenlosen Einen.
Haben wir zu wählen zwischen Krieg und Hochkultur einerseits, und zwischen Frieden und Hollywoodspektakel andererseits? Oder gibt es noch einen dritten Weg?
Die Menschheit wird untergehen, wenn sie das Kriegshandwerk nicht verlernt. Sie wird aber vielleicht auch untergehen, wenn sie es verlernt, sofern sie sich darauf beschränkt, ein Stück fundamentaler, zur Kultivierung anstehender Natur zu unterdrücken.
Wie kann der Umgang mit sogenannten Fremden geschehen, wenn wir in dem uns Ähnlichen-Fremden seit Kindheit eine Bedrohung verspüren? Da genügt kaum zu konstatieren, dass alle Fremde sind. Am Esstrog ist sich jeder selber der Nächste. Das Bewußtsein des Fremd-seins müßte in einer allgemein verbindlichen positiven Konnotation eingebunden sein, wie etwa in früheren Zeiten in der Idee der verbannten Kinder Evas.
Ist man als Fremder dann einheimisch geworden, wenn man die Sprachbarriere überwunden hat und in einem handfesten Streit als ernstzunehmender Teilnehmer mitmischen kann?
Voll Geld und prosperierender Wirtschaft, wozu man aber einen Schlüssel braucht, über den keineswegs alle verfügen, das ist Deutschland. Im übrigen ist es ein Land ohne Traum von einer zu verwirklichenden Zukunft, behaftet nur mit dem Alptraum seiner Vergangenheit. Ist das genug? Geben wir auch den Deutschen in Deutschland eine ideale Heimat, insbesondere der von uns mehr und mehr vernachlässigten, randseits stehenden Jugend. Keiner sollte einen Ausländer bei uns beneiden müssen, weil er neben dem Wohnort bei uns auch noch von einem Ort träumt, wo seine geistigen Wurzeln sind und wohin er sich zurückziehen kann.
Der Besitzende verspürt den Drang, angesichts des Besitzlosen sich zu rechtfertigen. Doch entweder sieht er ein, dass er den Besitz wegzugeben hat (wie es der Apostelgeschichte nach von der Urgemeinde gefordert wurde), weil er ihn am gemeinsamen Menschsein hindert, oder er übt sich in Rechtfertigungen, die nie zu Ende kommen oder in Selbstbetrug enden.
Das Streben nach Besitz und Sklaverei sind nur verschiedene Seiten ein und derselben Sache.
Eine Gesellschaft, die es fertig brächte, ihren Mitgliedern insgesamt das Bewußtsein zu vermitteln, sich als wertvoll zu verstehen: sie müßte, statt egoistisch zu sein, selbstlos sein, statt nach Besitz zu trachten auf Ideale schauen, statt nichts zu bedenken als Selbsterleben und Selbstverwirklichung die Erziehung der Jugend voranstellen: das Aufspüren von Begabungen und die Förderung von Genügsamkeit und Zufriedenheit.
Wenn es wünschenswert wäre, auf gewisse Dinge zu verzichten: Kann man auf etwas verzichten, was man nie besessen hat, auch nicht in der Vorstellung und in Gedanken? Etwa auf Erfolg und Anerkennung und Besitz? Oder auf Ausübung von Trieben, von Aggression und Sexualität, auf Liebe und Krieg? Wie wäre solcher Verzicht lehrbar?
Brauchen wir einfach gestrickte Krimis, mittelprächtige Kriminalprozesse und etwas blutrünstige Exekutionen, um unsere dunklen Instinkte mit der ihnen nötigen Nahrung halbwegs zu befriedigen? Oder wär's nicht möglich, solche Gelüste und Begierden uns abzuerziehen, ohne dass sie dann wie in einem tiefen Kerker in uns hausen, ohne dass wir wissen, ob sie einmal ausbrechen und uns zerstören?
Der (buddhistische) Mönch, der verzichtet, tut dies nicht aus Faulheit, Bequemlichkeit, Unfertigkeit oder Unfähigkeit. Sobald er aber als Mönch nach Besitz verlangt, dem er doch abgeschworen hat, ist er zum Mönchtum untauglich geworden.
Wie wenig lassen sich Handlungen, wie wenig Bewertungen oder Selbstanklagen vom Ausführenden verstehen! Ist der Wunsch zum Tode verurteilt zu werden (vgl. F. Dürrenmatt, Die Panne) ein Zeichen eines Zu-sich-kommens, eines moralisch aufblühenden Bewußtseins oder sind es Nachzuckungen einer sexuellen Lust, einer Lust sexuell motivierten Selbstmords?
Wenn jeder Schritt in unserer evolutiven Entwicklung mit dem Gewinn einer neuen Sprachebene verbunden war, dergestalt, dass ein entscheidender neuer Entwicklungsschritt die vorigen Entwicklungszustände in sich aufhebt und vergessen macht: dann hilft uns unsere jetzige Sprache, zumal in ihrer logisch gegliederten, diskursiven Gestalt nur wenig, uns unsere evolutive Heraufkunft verständlich zu machen. (Aber auch die Bildersprache Boschs oder die Passagen aus Kafkas Schloß schließen uns eher ein und ab, als dass sie uns weiterbringen.) Entweder es gelingt uns, die ältesten Sprachen zurückzugewinnen (doch wie?), oder es bleibt uns nichts anderes übrig als der Glaube, ein Gott habe uns so erschaffen und gewollt, wie wir nun einmal sind.
Haben wir mit der sexuellen Freizügigkeit das bestrickend schöne, bestialische Tier in uns in den Griff bekommen? Oder haben wir es nur salonfähig gemacht, so dass es rücksichtslos die Persönlichkeit auffrißt und partnerschaftlich humanes Verhalten zerstört? Wo wäre flankierend dazu der Beitrag der Erziehung? Etwa in der sexuellen Aufklärung von Grundschülern?
Zerschneidet die Unterscheidung zwischen Kinderwunsch und sexueller Selbstbefriedigung das lebendige Band, das uns einmal als Kinder der Natur mit allen übrigen Lebewesen zusammengehalten hat?
Der freie Gebrauch und die Abtrennung der Sexualität aus der Gesamtheit der gemeinschaftstiftenden und erhaltenden Handlungen scheinen darauf hinzudeuten, dass das Modell Ehe ausgedient hat in unserer Zeit. Hinzu kommt die Forderung der Gesellschaft, sich nach oben zu kämpfen und unangefochten seinen Mann zu stehen. Um sich der Rivalen zu entledigen und den Wettbewerb zu gewinnen, bedarf es vieler öffentlicher Auftritte und Demonstrationen der Sicherheit Souveränität und Kompetenz, aber auch der Kunst des Augenblicks und des Überblicks. Menschen und die Dinge gut zu übersehen, sie zu kontrollieren und sich ihrer entsprechend zu bedienen ist eine der wichtigsten Vorbedingungen, um ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu gelangen. Übersehen, um nicht übersehen zu werden ... Solange einem eine Lady Macbeth beim Aufstieg behilflich ist, ist alles noch gut. Doch wehe, sie sieht sich eines Tages selber vernachlässigt und übersehen. Wehe, wenn sie dahinterkommt, dass man sie stets nur als Magd (ancilla domini) im Dienst der eigenen Karriere mißbraucht.
Was für ein herrlicher Anblick, ja was für ein Wunder, wenn ich hin und wieder zwei alte Menschen sehe, wie sie händehaltend über die Straße gehen! Der Mensch ist von Natur aus zwar kaum zur Einehe geschaffen, doch ist er auch nicht unfähig dazu. Wenn nur beide Partner wollen, wenn sie gemeinsam ein wenig Religion besitzen und wenn das gesellschaftliche und soziale Umfeld stimmen, kann eine solche Beziehung gelingen.
Der Doppelaspekt der Schönheit. Einerseits spiegelt sie Vertrautheit, Vertrauenswürdigkeit und Güte wider, die jüngste, aktive, kulturschaffende Stufe in der Evolution, andererseits lauern dahinter geheimnisvolle Fremdheit, Wildheit, Gewalt, Gefahr, Eroberung, Mord und Tod. Nur von dem, der zu alledem bereit ist, läßt sie sich erobern.
Versteck- und Verwandlungsspiel in der Sexualität kaschiert und sublimiert die rohe Gewalt und suggeriert sie als heiter-gebändigte Kraft in einem heiter-gebändigten Spiel.
Die Schönheit, von der Shakespeare im Hamlet sagt, dass sie nicht mehr mit der Tugend einhergehe, ist die künstliche geschminkte und aufgeputzte Schönheit, die aufmerksam machen und verführen soll. Sie löst beim Mann nicht Güte aus, sondern Jagdverhalten und Aggressivität. (Und doch wären wir wohl Heuchler, wenn wir bestritten, dass unser Bedürfnis auch immer wieder nach jener niederen Schönheit und Lust zielt.)
Wenn wir unter absolut Vollkommenen und geistig uns Überragenden leben müßten!? Ein wenig brauchen wir schon auch das Unvollkommene und Schlechte um uns herum, damit wir als brauchbare und ehrenwerte Leute existieren können.
Homo homini lupus: Der gnadenlose Egoismus zerkrümmt und zerkümmert das Gesicht des Menschen, während die selbstverständliche Unterordnung des Hundes unter den Menschen demselben geradezu einen Anstrich von Persönlichkeit und Würde verleiht.
Es ist ja wohl noch besser, auf den Hund zu kommen, d.h. sich einen Hund zuzulegen, der einem das Gefühl gibt, dass man noch gebraucht wird, als dass man sich davon überzeugen läßt, wie überflüssig man ist.
Es ist ein Zeichen der Resignation und des Alterns, wenn wir nachzugrübeln beginnen, was uns die Kraft gibt, dass wir uns von Tag zu Tag weiter am Leben erhalten.
Das Alter, wann es sich einstellt? Wenn du noch willst und auch noch sicher zu können glaubst, der Körper dir aber ausweicht mit pathologischen Reaktionen.
Das Leben kocht uns gar, bis uns der Tod verzehrt. Das Leben, der Garkoch des Todes.
Können wir uns nicht auch eine Gesellschaft vorstellen, wo man, wenn man etwas geleistet hat und sich großartig vorkommt, auch ein wenig egoistisch und anmaßend sein darf, zumindest in der Jugend? Nicht dass einer egoistisch und anmaßend ist, ist ja so sehr befremdlich, als vielmehr der Fall, wenn er vergisst, dass er es ist.
Wann reden wir von einem geglückten Menschenleben, was gehört zur menschlichen Verfassung in der Eudaimonia? Wenn z. B. ein Forscher wie Faraday nichts anderes gemacht hätte, als in seinem Leben der Aufspaltung der Spektrallinien in einem Magnetfeld nachzujagen, ohne Erfolg: wäre er dann als unglücklich zu bezeichnen? Er hätte Triebverzicht geleistet und doch nichts dafür erhalten. Könnte ein solcher Mann gleichwohl zufrieden, ja glücklich sein? Läßt sich eine Gesellschaft denken, die ihren Mitgliedern hilft, auch in solch einem Fall mit sich zufrieden zu sein? Hätten wir andererseits aber nicht auch Angst vor einer Gesellschaft, die es sich zur Pflicht machte, jedermann zufrieden zu machen und glücklich zu sehen?
Spuren der Angst in der Geschichte der Menschen.
Wir haben erfahren, dass uns der allgemeine Glaube an die Vernunft und an einen absoluten Endzweck wenig hilft, die Geschichte der Menschheit zu bestehen. Statt dessen glauben viele von uns an die Selbstorganisation der Dinge, die zwar in der Natur zum Zug kommen mag, nur eben unter Ausschluß des Menschen.
Staunenswert jede einzelne Pflanze, die uns in ihrer perfekten Maschinerie an ein chemisches Labor im Kleinen erinnert. Rühmt der Psalmist noch die Werke der Natur als erstaunliche Werke des Schöpfers, die zum Lobpreis auffordern (was noch ein Kind gut verstehen kann), so ist unser Standpunkt doch längst ein anderer geworden. Sind wir zwar auch als Erzieher vermutlich gut beraten, die kindlichen Kräfte des Gemüts als lebensstabilisierende und bejahende Kräfte gerade auch in solcher Hinsicht zu entfalten, so müssen wir doch feststellen, dass diese Gemütskräfte im Erwachsenenalter unserer Epoche spurlos verschwinden. Auch wenn für den Erwachsenen Staunen noch gut wäre, so wird es vom faustischen Bedürfnis nach Wissen, vom Krebsgeschwür wissenschaftlichen Wissens und technischen Könnens abgelöst. Was man anfanghaft erkannt hat, will man endlich vollauf wissen und können. Man will nicht staunen, man will verstehen, und zwar möglichst alles.
Widerspruchsfreies, Unrecht ausschließendes Selbstsein läßt sich nicht als einheitliches, praktisches Prinzip begreifen, da der einzelne nie sicher sein kann, wie der andere widerspruchsfreies Selbstsein auslegt. Für einen Cäsar ist widerspruchsfreies Selbstsein gewiß etwas anderes als für einen Brutus oder für den Bürger der römischen Republik.
Wenn Cäsar lieber im Dorf der erste sein will als in Rom der Zweite, so heißt das nur, dass er im Dorf damit beginnt, der erste zu sein, um dann in Rom der erste zu werden. Selbstverständlich ist ihm das Fähnchen, das vom dörflichen Kirchturm weht, völlig gleichgültig. Parteibücher und Glaubensbekenntnisse, Kirchen und Fahnen sind im egal. Er glaubt nur an sich und an seine Berufung durch den Gott der Macht. Und gewiß hätte er auch seinen Sohn in eine Schule geschickt, wo dieser der erste gewesen wäre und wo er sich dann Mühe gegeben hätte, in einer noch besseren Schule der erste zu sein.
Widerspruchsfreies Selbstsein setzt voraus, dass einer für sich sorgen kann. Wer nicht für sich sorgen kann, muß zufrieden sein, wenn man für ihn sorgt. Bewegt uns aber nicht vielleicht noch etwas, wenn wir wollen, dass ein jeder für sich sorgt? Weil wir Angst haben, dass sich einer anmaßt, für uns zu sorgen, während wir doch für uns selber sorgen wollen?
hat.
Ich wollte die Biografie der Menschen lesen, wo nur ihre Sorgen aufnotiert wären, von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter. Worum wir uns Sorgen machen und was uns als Sorge umtreibt: das ist doch unser Leben.
Der Mensch unserer Tage, der Mensch der Masse, der Mensch des Konsums und der Ichsucht: unfähig geworden zur Begegnung, ja selbst schon zum Gruß. Er geht an seinesgleichen achtlos vorbei, insbesondere aber an Armut, Alter, Krankheit ...
Jeder Politiker weiß: Masse setzt Denken außer Kraft und macht verantwortungslos. Masse hat kein humanes Gesicht.
Von der prinzipiellen Gleichheit aller ausgehend erscheint das Ziel mitmenschlichen und brüderlichen Handelns leicht als etwas verteufelt Humanes, wie Goethe einmal ironisierte. Wie auch könnte sich menschliches Leben gesellschaftlich politisch organisieren, käme nicht das Prinzip von Unter- und Überordnung strukturierend hinzu?
Tritt der Einzelne in die Gesellschaft, so verwandelt er sich: entweder zur denkfaul gemachten, früher noch mit dem Stock bearbeiteten, willfährig gemachten Masse, oder zum Aufseher und Amtsinhaber.
Über Jahrhunderte hinweg waren Stock und Prügel die vorwiegend erzieherischen Maßnahmen, unter denen Kinder groß zu werden hatten. Der Erzieher war somit ein Büttel im biologischen Selektionsmechanismus und mithin eben auch ein Vermittler der Propädeutik des Kriegshandwerks.
Das gefährliche Projekt Erziehung, als man mit dem Stock zuschlug. Dabei schlug man nicht nur Triebhaftes und Unbotmäßiges tot, man erweckte auch mancherlei solches.
Wie kann man zu einem Konsens kommen, der allen Menschen gerecht wird und ihnen ein menschenwürdiges Leben garantiert, wenn es nie zu einem umfassenden, gemeinsam bekundeten Willen kommt und wenn die einzelnen nie angeleitet wurden, darüber nachzudenken, wie ein für sie und für die anderen menschenwürdiges Leben aussehen könnte?
Nicht Weisheit und Humanität entscheiden zumeist über die geschichtlichen Probleme, sondern Erfolg, Gewinnsucht, Durchsetzungsvermögen und Macht.
Narren dürfen vieles sagen, ehe man sie stäupt oder aufhängt, weil man sie nicht ernst nimmt. Es wäre eines Versuchs wert, die Weltgeschichte im Spiegel der Narren der Fürsten und Mächtigen ihrer Zeit lesbar zu machen. Vielleicht begänne ein solches Buch so: Die Weltgeschichte ist total unempfindlich dagegen, ob man sie lobt und rechtfertigt oder verdammt ...
Ein Narr an der Seite des Sokrates? Er läßt sich kaum anders denken als realistisch kalkulierender Jedermann. Das aber war das damalige Athen. Nur dass die Mehrheit Sokrates als Narren ansah.
Die Geschichte des Don Quijote ist als Geschichte eines spanischen Narren (oder des spanischen Volkes) lesbar. Ihm ist es gelungen, der Inquisition zu entrinnen. Mit einem Wink in dieser Richtung hätte Cervantes das Leben seines Helden beenden können. Doch vielleicht war das damals zu gefährlich.
Das große Tier Menschheit. Man kann es wohl nicht bändigen ohne Zwang.
Man ist noch lange kein Tier, wenn man auf Tierhaft-Instinktives bei sich stößt, man verliert aber an menschlicher Qualität, wenn man ihm unbeschränkten Raum gibt.
Das Schillernde und Zwielichtige unseres Wesens, das ans Licht getreten ist, seit wir begonnen haben, Ställe zu bauen und Tiere darin zu halten: Denn wie kann man mit einem Tier auf vertrautem Fuß leben oder wie kann man einem Lebewesen begegnen, von dem man weiß, dass man es schlachten und aufessen wird? Natürlich haben wir Städter nichts damit zu tun. Oder doch? Hätte nur der Bauer die "Schuld" und wir wären exkulpiert, wenn uns hin und wieder ein Stückchen Fleisch schmeckt? Blieb uns keine andere Wahl, als dass wir die Kunst der Selbsttäuschung erlernten?
Spiegelt der Umgang des Menschen mit dem Tier auch etwas vom Umgang zwischen Mensch und Mensch? - Der Bauer kann mit dem Tier, das er später eigenhändig zu schlachten gedenkt, unmöglich in trautem Zusammensein leben. Wie freundlich er auch dem Tier entgegenkommt, immer weiß er doch, dass er einmal Hand anlegen wird. Würde er mit dem Tier Brüderschaft schließen, so würde ihn die spätere Absicht schon jetzt als Mörder abstempeln oder aber er müßte den Gedanken an das Schachtmesser aufgeben. Doch das tut er nicht. Sein Verhalten ist infolgedessen meist so eine Mischung aus Fürsorge und Eigennutz. Dem Tier wendet er die fürsorgliche Seite zu, wenn er das Tier füttert, den Stall säubert ... Für sich aber schätzt er die Zunahme des Gewichts ab, besieht sich das schöne Fell und bewundert das gute Aussehen, das ihm Geld bringt. Gesetzt, der Mensch hat solches Verhalten nicht nur dem Tier gegenüber in sich: so müssen wir folgern: dass wir nur nicht zutraulich sind, ehe wir nicht genau wissen, dass uns nicht Fürsorglichkeit und Freundlichkeit und Höflichkeit und Lächeln mit dem Schlachtmesser bewaffnet entgegenkommt. Doch hier lauert auch eine Gefahr: wenn nämlich der Mensch zwar eine solche latente Befähigung aufweist, er aber die Kraft besitzt, sie zu unterdrücken und über die Herr zu sein: so könnten anhaltende Angst und Skepsis vor dem mit dem Schlachtmesser zustechenden Menschen schließlich gar seine Schlachtmesser-Natur befördern. Aber mit Harmlosigkeit und bloßem Glauben an das Gute ist's doch wohl auch nicht getan. Es müßte ein Glaube sein, der so mächtig einherkäme, dass keiner daran zweifelte, dass er Berge versetzen könnte.
Und wenn wir nichts wert wären im Kosmos, wir müßten uns einen Wert vormachen ... Doch suchen wir lieber die Gesellschaft der Kinder auf, als dass wir uns von Versuchungen belästigen lassen. Warum aber fühlen sich Erwachsene (Männer) durch ein Kind oftmals ähnlich verspottet wie durch einen Affen oder sonst ein Tier?
Steigerungsformen von "menschlich"!? Menschlich - allzu menschlich - gleichgültig - feindselig und gemein? Oder menschlich - übermenschlich - uneigennützig - hochherzig - ein wenig auch selbstvergessen und auf die Würde des anderen bedacht? Polarisierungen wie menschlich (=sündig) - göttlich führten in der Geschichte meist zu nichts Gutem. Man redete da von etwas, was meist gedankenleer ist, was sich aber als Machtmittel gut gebrauchen ließ. Von hier aus lagen dann auch eine andere Mißverständnisse nicht fern wie die Polarisierung von Leib und Geist, oder dass man die unsterbliche Seele in die Nähe des (heiligen) Geistes rückte. Aristoteles hat die Seele als Prinzip des Lebens verstanden. Die neueren Psychologen hingegen fassen sie als leibliches Prinzip, welches Erfahrungen und Erinnerungen und Wünsche artikuliert. Das Menschenbild Freuds (mit Ich, Es, Überich) ähnelt einem Kind. Denken oder Freiheit haben da wenig Platz.
Abgründige und dunkle Seiten wie Gemeinheit, Niedertracht, verbrecherische Anlagen gehören zu unserem Bodensatz. Es gibt humane Darstellungen dieser Dinge in Geschichten aus 1001 Nacht, bei Lukian, Rabelais oder bei Cervantes. Human nenne ich eine Darstellungsweise, wo der Zuhörer aufmerken und lernen kann, ohne die Freude am Leben zu verlieren. Dagegen sticht eine Darstellung ab, wo einem am Schluß die Wut das Hirn durchbraust und man sagt: "Wenn die Menschen wirklich so schäbige und gemeine Wesen sind, dann rotte man sie doch aus. Dann wäre besser, wenn die Erde schon heute mit ihnen zugrunde geht."
Was läßt sich erlernen aus dem Leben einer Jokaste und eines Ödipus oder eines Lear? Wir suchen Gründe für die Tragödie und finden Grundlosigkeit. Oder nehmen wir die Ilias: ist das ein Lehrepos über das rechte Maß im Zorn, das Achilleus verletzt? Das Leben in seinen extremen Situationen läßt sich nicht vorbereitend erlernen noch meistern. Man kann froh sein, wenn nur kleinere Leiden auf einen warten.
Die Komödie, zumal die eines Moliere oder auch eines Raimund oder eines Nestroy, als exzellente Nebenbei-Bildungsanstalt. Man darf zwar auch ein wenig lachen, sollte dann aber mit dem Nachdenken einsetzen. Denn nur der Simpel lacht, wenn's nichts zu lachen gibt.
"Die Menschheit will nur recht poetisch aufgefaßt sein, ein klarer Beweis, wie prosaisch sie ist." (Nestroy)
Die Heiterkeit der Komödie erleichtert eine Identifikation (so einer bin ich auch) wie auch eine Einsicht, was geändert werden müßte, ohne dass leidenschaftliche Aufwallungen und Erregungen dabei stören.
Zwingt uns die Tragödie zum Kauen und Herunterschlucken, so schmeichelt uns die Komödie, dass sich doch vieles verdauen und herunterschlucken läßt.
Die eigentliche menschliche Komödie, die Tragikomödie unseres Menschseins, die wir alle spielen angesichts der Ahnung, dass wir nichts mehr sein werden nach unserem Tode.
Die großen, über Jahrhunderte dauernden, Zuversicht und Zutrauen ins menschliche Können steigernden Projekte (Pyramidenbau, gotische Kathedralen ...) spiegeln nicht die Gleichheit der Menschen, sondern die strikte Aufteilung der Gesellschaft in Klassen und Stände wider. Selbst die Ausgestaltung eines alle umfassenden Projektes dürfte kaum jemals ohne Zwang möglich gewesen sein. Wo große Projekte und damit die Einbindung von aktiv umgesetzter Energie und von Aggression fehlen oder scheitern, macht sich Gleichgültigkeit und Langeweile und Melancholie breit.
Muß man das Fehlen von längerfristigen Vorhaben heute als Indiz für eine unsicher gewordene, ziellos dahintreibende Gesellschaft begreifen, die sich im Konsum erschöpft? Jedenfalls fördert unsere Zeit ein Milieu des Konsums und der Langeweile.
Viele von uns, denen Cervantes Don Quijote ein Lieblingsbuch ist, bedauern, dass Don Quijote, wiewohl er doch immer wieder Widerstand gegen sein Ritterprojekt erfährt, sich auf die Verteidigung seines Ideals beschränkt, statt auch einmal zur Anklage überzugehen. Denn was anderes vermag ein mutbegabter Ritter, sofern die Gesellschaft nicht an ihn glaubt, was anderes vermag er zu tun, als Windmühlen zu bestürmen und Lämmerherden zu vernichten? Von hier aus erschienen auch die Zauberer, gegen die sich Don Quijote zur Wehr setzen muß, nicht als pathologische Ausgeburten seines Geistes, sondern als die bösen Geister einer ausschließlich mit sich beschäftigten, alles Idealische abweisenden, Gesellschaft.
Der Geist des Menschen setzt bald auf die eigene Größe, bald leidet und zweifelt er am Menschen.
Größe gewinnen, indem man in der Jugend etwas Großes zu schaffen sich müht, und Größe gewinnen, indem man sich im Alter mit dem wenigen Erreichten als Zeichen des Wollens und Strebens zufrieden gibt und heiter verzichtet.
Was für ein Verhältnis hat die Gesellschaft zum einzelnen? Die Form der jeweiligen Verhältnisse spiegelt das in der Gesellschaft maßgebliche und praktizierte Menschenbild wider.
Auf wen kann man sich verlassen, wenn es soweit kommt, dass man sich nicht einmal mehr auf sich selbst verlassen kann?
Wer wird einem zum Tod Verurteilten sagen? "Sei vernünftig!"
Der Verstand verschärft das Problem des Nichtmehrseins und überläßt uns der Aufgabe, Bilder dazu auszumalen.
Was für ein egozentrisches Relikt, was für ein Wahnsinn, was für eine Gefahr: Dass uns empört, dass nach uns noch etwas ist, und dass man glaubt, gelassener sterben zu können, wenn nach uns nichts mehr wäre. Fürsten früherer Tage ließen ihre Dienerschaft mit sich begraben.
Der Verstand ist nicht in der Lage, uns zu zeigen, dass das Leben gut sei. Indem wir uns ihm verschreiben, hält er uns davon ab, die Frage zu stellen. Von den Rätseln, die er entschlüsselt und gelöst hat, haben uns zwar manche von Ängsten befreit, aber auch von damit verbundenen Hoffnungen und Tröstungen. Er entleert unsere Welt von allem Wunderbaren und Überwältigendem.
Es gibt Indizien, die befürchten lassen, dass in den großen Romanen der Zukunft kein Dialog mehr auftaucht. Vielleicht, dass dann nur noch die Kinder da sind, die uns an jene verloren gegangene Fähigkeit erinnern, ein Gespräch zu führen.
"Der Rest ist Schweigen." Gilt das nur in dem Sinn, dass die sapientia eloquens des hamletschen Humanismus im Tod ein jähes Ende findet, mithin im Sinne eines großen Einerleis? Wenn Goethe der Überzeugung das Wort redet, dass das Leben gut ist, so beruhigt ihn, dass für uns hinreichend gesorgt ist und dass wir über den Tod hinaus nichts zu sagen brauchen.
Pythagoras glaubte einst, mittels der Mathematik sich dem Göttlichen zu nähern. Doch Mathematik ist anders, als dass sie uns als Mensch helfen könnte. Da sie bislang aber noch jedem ein Problem zum Knacken übrig gelassen hat, und da sie niemals abgeschlossen vorhanden ist, weil sich immer neue Begriffe und Theorien bilden lassen, bietet sie uns immerhin einen unermeßlichen Raum, unser Mensch-sein zu vergessen. Insofern ließe sie sich wohl auch eine liebe lange Ewigkeit betreiben, ohne dass der liebe Gott Angst haben müßte, dass es den Menschengesellen langeweilig würde.
Man braucht nicht viel, um glücklich zu sein, aber auch nicht viel, um sich unglücklich zu fühlen.
Den Tag sinnvoll gestalten und ausfüllen und damit zugleich die Optik erlernen, die uns feststellen läßt, dass uns im Leben nichts gänzlich Schlechtes widerfahren ist.
Immer war er ein Mann des Wollens, wenn auch nur selten des Könnens.
Blumengeschmückt, mit Kränzen im Haar, wie die Mädchen der Sappho. Dem besten sollten wir nie mit Zweifeln begegnen.
Ein Partner, mit dem wir die Herrlichkeiten des Lebens erfahren und durch den und mit dem und in dem wir diese Erfahrungen bewahren.
Wir haben keinen Grund, an der Menschheit zu zweifeln. Sie beginnt in uns.
Wenn es zum Menschsein gehört, für etwas zu leben und zu sterben: wofür rentiert es sich dann, zu leben und zu sterben?
Keiner deutet sich restlos aus und nichts kann restlos ausgedeutet werden. Der Kontext umgibt uns wie eine Wand, die uns Halt gibt und uns zugleich zurückhält.
Mitunter bemerken wir, wie wir uns einen Floh ins Gehirn setzen, um die auf uns zukommenden Tage mitsamt deren Ende bestehen zu können. Doch geben wir ihm zumeist zärtlichere oder ehrfurchtsvollere Namen.
Wenn wir zurückblicken auf unsere Tage, so fallen die mißlungenen besonders ins Auge. Indes, wieviele von diesen könnten wir nicht auch auf der Habenseite verbuchen, hätten wir nur ein winzig Kleines damals anders gemacht.
Auch die von uns gemeisterten und gelungenen Tage sind unwiederbringlich dahin, nicht anders als die Eltern, die wir in der Kindheit für unsterblich hielten und nach denen wir heute vergeblich rufen.
Wenn die Evolution aus einem tierischen Leib einen menschlichen Leib mitsamt einem denkenden Organ gemacht hat: läßt sich dann die Synthese erreichen, indem wir uns verhalten, als wären wir Tiere?
Sollte Shakespeares Hamlet doch Unrecht haben: dass nämlich unserer Zeit Gewinn aus nichts anderem besteht denn aus Essen, Trinken und Schlafen und trivialen Besorgungen? Sollte der Mensch in seiner Bestform nichts sein als Gras, über das ein Wüstenwind hinwegweht, weil alles Suchen nach Bestand und Ewigkeit zu nichts anderem führt als zu Hybris und Neid und Elend?
Abgehakt, gestorben und vergessen? Wo wir indessen schon zum Lesen eines Briefes kaum Zeit haben! Man bedauert und betrauert zwar den Verstorbenen und rühmt ihn auch gern ob seiner enormen Verdienste: doch wehe wenn sich da einer herausnähme, ein schriftliches Vermächtnis zu hinterlassen, und alle Trauergäste müßten nach dem Leichenschmaus einen lieben langen Abend und dazu noch eine geschlagene Nacht hindurch dasitzen und zuhören! Denn selbst wenn der Tote mit Engelszungen gesungen hätte, man würde es doch als Affront erachten, da schon der primitive Anstand verbietet, Gäste über Gebühr zu strapazieren.
Wir wünschen uns, Charakter zu sein und sind leicht in Gefahr, wenn wir uns genügend eingeredet haben, einen festen und unerschütterlichen Charakter zu besitzen, mit dem Vorspiel einer lächerlichen Rolle zu beginnen.
Wir kennen kaum unsere Verhaltensweisen, mittels deren wir einem jeden unserer Bekannten, Freunde, Nachbarn, Kollegen begegnen. Erst im nachhinein, wenn wir unser Verhalten analysieren, entdecken wir Spezifisches, Gesetzhaftes. Wir erscheinen einander als etwas unverwechselbar Identisches und tragen doch zur Identität des anderen ganz wesentlich bei. Es mag an zwei Atome erinnern, die sich zu einem Molekül verbinden.
Was bedeutet da Objektivität, wenn ein Lehrer jedem Schüler anders, auf je eigene Weise begegnet?
Wir können über die Dinge und Vorfälle in eben so viel Zungen reden, wie es Verhaltensmöglichkeiten und Erlebnisweisen gibt. In Nestroys Talisman ist es eine Perücke, die Karriere macht und dann auffliegt. Hätte uns Nestroy das Scheitern eines Erfolgssüchtigen gezeigt, es wäre keine Komödie geworden.
Wann haben wir etwas Bedeutendes erlebt? Gleich, wenn es vorüber ist? Müssen wir das Gesehene nicht auch noch verarbeiten, es gleichsam wie eine Meermuschel aussaugen oder austräumen? Oder genügt, dass wir uns einbilden, etwas gesehen zu haben, was sonst keiner so gesehen und erlebt hat?
Nuancen in der deutschen Alltagssprache: Einerseits kann man oft das Maul nicht voll genug bekommen und andererseits ist man leicht geneigt, die Schnauze voll zu haben. Oder: In die Augen blicken, ins Gesicht sagen.
Ein Privileg der Jugend: von den Fesseln der Gewohnheit sich losmachen können. Das Alter braucht die erworbenen Gewohnheiten, selbst wenn sie schlecht sind: den Alkohol etwa oder den Tabak, die Zeit-ist-Geldmentalität und hektische Betriebsamkeit ... Selbst eingeübte Streitereien in der Ehe, wie lästig und verhaßt sie einem auch sein mögen, werden schließlich noch zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Lebens.
Wir Gewohnheitsmenschen. Selbst Störungen, die ausbleiben, können uns betrüben. Dass wir endlich gar noch als Störung empfinden, wenn wir nicht mehr gestört werden. Das Alter weiß davon zu erzählen.
Wer sein Zuhause als einen Ort der Unruhe zu erleben sich angewöhnt hat, wie soll der Zuhause Ferien machen? Doch anderswo kann er es dann vermutlich genau so wenig.
Häßliche Szenen beginnen nicht erst bei den Typen, die wir aus der Komödie kennen, bei dem zanksüchtigen Weib, dem raffgierigen Geschäftsmann oder der geizigen Alten, die jeden Abend die Geldscheine, nachdem sie sie sorgsam abgezählt hat, unter dem Kopfkissen verbirgt, während der Sohn darauf wartet, dass er sie endlich beerbt. Schon eine leichtfertige Wortwahl, Witzeleien u.ä., alle diese harmlos erscheinenden Anfänge können leicht in bitterbösen Szenen enden, auch wenn wir darüber lachen.
Für jeden spielen wir eine andere Rolle, und jeder verwandelt uns gemäß den verschiedensten Zuständen, in denen wir uns gerade befinden, meist ohne dass wir es wissen.
Zum Portrait des Männlichen: man traut sich etwas zu, man zeigt den anderen, dass man sich etwas zutraut, man imponiert und gibt wohl auch gerne immer wieder mal etwas an.
Als der Sohn noch sehr klein war, brachte ich ihm schon bei, vor jeder Aufgabe zu sagen "läpsig, bäpsig!" Als nicht jede Aufgabe zu schaffen wäre!
Eltern, die rückhaltlos stolz sind auf ihren Sohn, sollten sich nicht wundern, wenn dieser später Züge des Egoismus nicht zuletzt auch gegen die eigene Frau entwickelt, die über das schickliche Maß der Selbsterhaltung hinausgeht.
Portrait des Männlichen aus dem Selbstverständnis des Mannes. Was dem Mann besonders schwer fällt: das ist, ein Wort zu widerrufen, eine Entscheidung aufzuheben, eine Anordnung rückgängig zu machen. Ein Beispiel dafür gibt uns Shakespeare in der Gestalt des Angelo ("Maß für Maß"), wo es darum geht, eine Entscheidung, die als nicht gut einsehbar ist, zu widerrufen. Der Widerruf einer so getroffenen Entscheidung erschiene dem Mann leicht als Eingeständnis von Schwäche und Verzagtheit, als Blöße und Lüge. Ein Mann muß stark sein, er muß recht haben und stets möglichst recht behalten, ja mehr noch, er muß zusehen, dass er die Voraussetzungen schafft, dass keiner an seiner Stärke zweifelt. Keiner darf je den Eindruck haben, dass er am Ende ist und nicht noch mindestens eine Trumpfkarte in der Hand hält. Der Mann muß einen Schutzraum um sich haben, den keiner antastet, auch er selber nicht; das brächte ihn sonst in die Gefahr, sich selber zu nahe zu treten. Keiner würde ihm ja abnehmen, dass er einen Entscheid aus besserer Einsicht rückgängig gemacht haben könnte. Man würde es ihm als faule Ausrede, als Feigheit und Unmännlichkeit anrechnen. Männlichkeit geht über jedes Argument und über alle Vernunft. Wo der Ruf der Männlichkeit in Gefahr ist, eine Beschädigung zu erleiden, hat die Weisheit des Handelns nicht mehr viel mitzureden. Deshalb muß der Mann alles tun, dieses Bild, das man von ihm hat, aufrecht zu erhalten, im schlimmsten Fall selbst dann, wenn er es mit seinem Tod zu bezahlen hat. Schon bei Sophokles (Ödipus auf Kolonos) stoßen wir auf diesen Typus, wenn Eteokles bei seinem Zug gegen Theben den Segen des Vaters nicht erlangt, er aber, wiewohl er weiß, dass er nicht siegen wird, es gleichwohl nicht über sich bringt, das Heer zu entlassen. Auch im Herrscher Kreon zeigt uns Sophokles (Antigone, V.657) einen solchen Mann.
Imponieren, renommieren, massakrieren: drei männliche Eigenschaften.
Der Macht fällt es leicht, das Ich strikt von den Verhaltensweisen zu trennen ... Jede Psychologie, die sich um Konzepte der Führung bemüht, wird dieses Vorurteil ganz selbstverständlich als Axiom an die Spitzte stellen. Das ist der Blick von oben, der Blick der installierten Autorität.
Nehmen wir an, wir hätten ein praktikables Modell, das uns ein bestmögliches Zusammenleben aller gestattete. In diesem Modell bekäme jeder den seinen Fähigkeiten und gesellschaftlich politischen Verhältnissen entsprechenden Platz. Würde der Mann an Platz 2 seinen Platz mit dem Mann an Platz 1 tauschen, so hätten wir unserem Modell zur Folge eine etwas weniger gute Sozietät. Vermutlich würde nun aber der Mann an Platz 2 gleichwohl darum kämpfen, den ersten Platz zu erlangen. "Das Modell", so würde er sagen, "stimmt ja nur für jetzt. Wenn ich aber den Mann an der ersten Stelle verdrängt habe, so haben sich die geschichtlichen Verhältnisse geändert und die beste Sozietät ist gegeben mit mir an der ersten Stelle." Aber selbst, wenn wir ihm im Modell beweisen könnten, dass wir mit ihm an der ersten Stelle einen schlechteren Zustand bekämen, so würde er vielleicht sagen: "Was versteht ihr unter dem besten und dem zweitbesten Zustand? Für mich ist allemal der Zustand am besten, wo ich der erste Mann bin!" - Nur in einem Idealstaat von citoyens (gemäß Rousseau) gäbe es eine in einem gemeinsamen Willen sich bekundende Vernunft, die nicht durch den Trieb und die Leidenschaft der einzelnen außer Kraft gesetzt würde. Und nur in einem solchen wäre es möglich, dass der einzelne zu Gunsten der anderen auch ein Stück weit auf Glück und Macht verzichtet.
Lauert unter der Liebe der Geschlechter immer auch ein Stück latenter Verrat? Sind Vertrauen und Glauben nur notwendig, weil dahinter unausrottbar Unglaube und Untreue hausen? Sind wir Männer, spätestens wenn die Frauen nicht mehr zur sexuellen Liebe neigen, wankelmütig und untreu, wie es im Lied heißt?
Leichtgeschürzte Mädchen scheinen uns Männern den Blick auf das andere Geschlecht zu erleichtern und zu erheitern. Aber eine Frau, zumal junge, verheiratete, sexuell abgesättigte, in hohen Posten stehende, um Ansehen und Anerkennen kämpfende junge Frauen, mit ernsten, weitaufgerissenen Augen und streng bedeutsamen Blicken, irritieren uns ziemlich, dass wir fast gar noch unsere eigene Frau daraufhin überprüfen: "Aber du? Du bist doch wohl nicht so?"
Wenn Don Juan nur mehr noch den Blick für Weibchen besitzt: was soll er sonst sehen, was sonst tun, als auf Weibchen Jagd machen? Dass er Frauen zwingt und vergewaltigt, scheint da eher einer Moral halber inszeniert worden zu sein, als dass es wahr wäre.
In der Ferne erscheint manch ein Männchen bzw. Weibchen reizend, das sich in der Nähe sehr langweilig ausnimmt.
Ovid, der Dichter der Metamorphosen, ist gewiß nicht zufällig auch der Mann der ars amandi. In der Sexualität liegt wohl eine außerordentliche Quelle an Verwandlung. Die häufigsten Formen scheinen die Verwandlungen der Kirke zu sein.
Wir wissen noch immer nicht viel um das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern, insbesondere von Vater und Sohn bzw. von Vater und Tochter.
In der Schwiegermutter sieht der verliebte Schwiegersohn leicht das Bildnis seiner Braut und im Schwiegersohn der Schwiegervater leicht den Räuber seiner Tochter.
Hat ein Mann in einer bürgerlichen Familie zu wenig Platz? Verrät er, wenn er sich in einer Ehe wohlfühlt, dass er nichts hat, was ihn erfüllt und umtreibt? Mann und Frau sollten etwas haben, was sie ausfüllt und beschäftigt. Doch was wird dann aus den Kindern?
Früher war es ein Lob, wenn es von einem Mann hieß, Krieg zu führen sei seine Lust. Wir haben verstanden, dass das nicht länger so sein kann, wenn wir uns auch schwer damit zu tun scheinen. Auch das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn kann unmöglich unbeschränkt Geltung haben.
Wir brauchen keine Kriege mehr, um einen Charakter voll Heldenmut und Tapferkeit zu beweisen, oder um dem eigenen Volksstamm maximale Fortpflanzung zu garantieren. Wir können uns diesen Luxus nicht länger mehr leisten.
Zwei Spielarten des Pazifismus: der Pazifismus des Sokrates bzw. des Dalai Lamas, wo man jede Aggression verschmäht, auch wenn man geschlagen wird; und der militante Pazifismus, wo man dem anders Denkenden den Krieg erklärt und wo einem jedes Mittel recht ist zum Erreichen des Zieles.
Wenn schon der Krieg der Vater aller Dinge ist, wie Heraklit sagt, so sollten wir uns zumindest den rechten Gegner zulegen. Nicht Deutschland gegen Frankreich und nicht Amerika gegen Rußland darf es dann heißen, sondern z.B. der Kampf aller gegen Armut und Elend auf Erden ...
Hinter jeder Polemik versteckt sich auch ein Problem, das mit dem Polemisierenden zu tun hat.
Wie können wir den Wunsch nach einer besseren Welt schicklich artikulieren?
Die Welt der Frau und des Weiblichen, in der die Männerwelt zur Kultur befähigt wird, wie es in der Odyssee Homers um Arete und Nausikaa zum Ausdruck kommt: das Verlangen nach Schmuck und Schönem, nach Gestaltung des Augenblicks, nach Vermittlung und Versöhnung, dass einige (z.B. Ranke Graves) gar meinten, Homers Odyssee sei von einer Frau geschrieben, statt anzuerkennen, dass es einem Mann wie Homer gelungen ist, sich Charme und Adel im Umgang mit Frauen zu erwerben.
Mann und Frau sind dazu begabt, zusammen etwas aus sich zu machen.
Es gibt gewisse Besorgungen und Pflichten, an denen wir festhalten sollten, auch wenn wir sie ungestraft abdelegieren oder vernachlässigen können. Ich denke an Arbeiten das Wegkehren des selbstgemachten Drecks, an Aufgaben unseren Lieben gegenüber oder an die Tischkultur ...
Die Kunst der Bitte, die dem Mann so viel schwerer fällt als der Frau. Vgl. die Bitte Mariens bei der Hochzeit von Kana, die Bitte um Verzeihung von seiten der Herzogin von York für ihren Sohn Aumerle (Richard II. V.3), das tragisch endende Bitten der Desdemona für Cassio, während Othello nichts von der Kunst des weiblichen Bittens versteht. Dann die Physiognomie des stolzen Coriolan, der Bitten als unmännlich zurückweist ... Wenn Männer bitten, so bitten sie ihren Gott. Salomon bittet ihn um Weisheit, und Julius Cäsar vermutlich um die Weltmacht.
Wenn du dich schämst, mit einem Manne zusammen zu sein, mußt du ihm zugestehen, wenn er seinen Stolz darauf verwendet, deine Gegenwart zu meiden.
Männer bitten nicht, Männer fordern. Das scheinen sie ihrer Herrlichkeit schuldig zu sein. Angenehm scheint ihnen auch zu sein, wenn sie ihren Feind soweit demütigen, bis er sich aufs Bitten oder aufs Sich-entschuldigen verlegt. (Man betrachte sich nur das Politspektakel im Bundestag!) - Wär ich der liebe Gott, ich ließe keine "Herrlichkeit" in den Himmel, ehe sie mir nicht ordentlich zu bitten gelernt hätte.
Wenn es uns schlecht geht, fragen wir nach, wo der Himmel ist.
Gibt es einen Ort, wo wir nicht unglücklich sein könnten?
Bestürm den Himmel nur mit deinen Bitten, und du hast Gnade wider Recht erstritten.
Die Sorge, was für eine Spur wir zurücklassen, ist überflüssig und schädlich, weil sie nur noch weitere Sorgen und Kümmernisse produzieren würde.
Ungerecht wäre das Bedauern, keinen Schüler gehabt zu haben. Wir hatten ja doch immerhin uns selbst.
Herrlich der Tag im späten September, wo wir noch einmal eine Schar Schwalben über unsere Häupter hinwegziehen sehen. Doch können wir nicht lernen, jeden Tag und jedes Ereignis als etwas derart Unerwartetes aufzufassen?
Wie kein Schauspieler ein Schauspiel gut machen kann, wenn der Autor nur einen mäßigen Text geschrieben hat, so kann auch der einzelne in einer Gesellschaft mit festem Drehbuch nur sehr begrenzt wirken. Er muß gleichsam stets etwas textverändernd zu wirken versuchen wie im Stegreifspiel.
Klein kommen wir zur Welt und sehnen uns danach groß zu werden; und sind wir groß geworden, so sehnen wir uns mitunter danach, wieder klein zu sein.
Lieblich die Kindheit, die große Vorbilder hat, lieblich das Alter, dem man etwas abgewinnen kann.
Wie muß eine Gesellschaft beschaffen sein, damit das Alter, statt zu verwildern und lächerlich zu werden, zur Quelle von Lebenserfahrung und Weisheit wird? Und wie muß das Alter seiner bewußt werden, um die Gesellschaft zu einer humanen umzugestalten?
Im Alter, wenn man nicht mehr wählen kann, hat man auch keine Freiheit mehr. Doch braucht man auch keine Freiheit mehr, sofern man es schafft, die Freiheit der Jugend durch das Zuhause-sein im Alter zu ersetzen.
Der altwerdende Mensch, wie ein Wanderer über einer immer dünner werdenden Eisdecke ...
Ob es etwas Wahres und Wichtiges ist oder Unwahrheit oder Schein oder endlich etwas, was wir uns nur einbilden, wir wissen es oft nicht. Was wir sagen können, ist oftmals kaum mehr, als dass wir mit dabei waren. Doch wer verwehrt uns, abzuwarten, was sich ergibt, zumal wenn wir uns in guter Absicht auf den Weg machen? Und wer verwehrt uns, uns auch ein wenig einzubilden, dass es gut ist, dass wir mit dabei sein können?
Wir kennen Wahrheiten: logische, formale ... Doch die Wahrheit? Die Wahrheit über uns, über den Sinn unseres Daseins, über die Welt? Nun, wir haben uns längst von ihr verabschiedet, so dass wir uns darüber keine Sorgen zu machen brauchen.
Grundsätzlich läßt sich wohl besser Umgang mit den Menschen halten (wie die Anekdote von den beiden Müllern von J. P. Hebel zeigt), wenn man ihnen recht gibt und für wahr hält, was sie uns sagen, als wenn man stets überall nur Lüge wittert.
Häßlich ist die Rolle eines schmähsüchtigen und zu kurz gekommenen Thersites. Andererseits aber handelt es sich auch nicht immer um etwas Bedeutendes, wenn alle Welt sich in stürmischen Beifallsovationen ergeht.
Nicht die Wichtigkeit unserer Handlungen erheischt oft den Beifall, sondern der Beifall schafft oft den Dünkel unserer Wichtigkeit.
Wenn man es schafft, nur das für wichtig zu halten, was man kann, und alles das für unwichtig, was man nicht kann, so braucht man sich keine Sorgen zu machen, ob man seinen Platz ausfüllt und der allgemeinen Achtung und Anerkennung wert ist. (Doch dann gehört man wohl auch schon zu denen, die niemanden mehr über sich haben und nur wenig Rechenschaft schulden.)
Einen Weg des Verstehens suchen, der nicht zwischen Herrscher und Untertan, nicht zwischen Mächtigem und Schwachem, nicht zwischen dressierter Bestie und Dresseur statthat, sondern zwischen Mensch und Mensch.
Keinem nützt ein Glück, das zu so später Stunde kommt, dass man es nicht mehr sehen kann (Altägyptische Spruchweisheit).
In unserer rationalisierten Welt ist der Blick für Glücks- und Unglücksfälle weitgehend geschwunden: dass oftmals ein Windhauch genügt, um uns, statt in die höchste Freude zu erheben, in die tiefste Trauer zu stürzen. Der homo faber hat den Gedanken an Schicksal, Kismet, Vorherbestimmung verdrängt, bis er plötzlich erkennt, dass auch über ihm ein launisches und tückisches Schicksal waltet. Dabei sind wir es so oft, die durch Selbstsucht oder bloß durch träges Desinteresse dem anderen zur schmerzlichen Welterfahrung Anlaß geben.
Mißtrauen und schlechte Erfahrungen bewirken in Familie und Staat, dass der Grundsatz des Auge um Auge wie auch der Prävention in Mode bleibt.
Wenn die Familie als ein Zuhause zum Anfang würde für eine familienähnliche Gesellschaft ... Doch steht zu befürchten, dass unsere modernen Gesellschaften durch ihre Forderungen nach Leistung, Flexibilität, Ortswechsel ... wie auch durch ihre Parole der Selbstverwirklichung, durch Konsum, Medien und Freizeitangebot die Bildung und den Zusammenhalt von Familien erschweren.
Eine Gesellschaft, die sich an der Jugend orientierte, wo der Jüngling dem von ihm auserkorenen Mädchen zu gefallen sucht ...
Wenn wir uns im Vertrauen auf ein allgemeines Sittengesetz sagten: "Mag jeder zusehen, wie er das Leben gut lebt! Dann wird schon alles gut werden!" weil wir die leidvoll geschichtliche Erfahrung gemacht haben, dass von den Volksführern viel zu schlechtem Zweck unternommen wurde, so hätten wir bald schon den Krieg aller gegen alle.
"Mit mir macht ihr das nicht!" oder "Ich bin mir zu gut, als dass ..." oder "Ich darf doch wenigstens Achtung erwarten!" Wer spricht so? Etwa der Untergebene?
Moralität: eine der vielen Leinen zur Disziplinierung von Kindern und Untergebenen, ein billiges Instrument, alle auf gleiche Weise auszurichten, ein Vehikel, den Neid gegen andere zu ummänteln und gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Denn der Mensch übersieht oder verurteilt für gewöhnlich alles, was kein scharfes Profil hat; er bestaunt aber alles, was ins Gigantische geht, und denkt dabei an die Mithilfe von Göttern und Dämonen, mag man auch wie ein Hitler in 12 Jahren einen gigantischen Leichenhaufen auftürmen und Europa in Schutt und Asche legen.
Was blieb einem übrig, dessen Nachbar ein Miesepiter (das sind Leute, die kaum jemals zufrieden sind mit sich und der Welt und die immer gleich nach der Polizei schreien) war und ein braunes Parteibuch hatte, als sich schnellstmöglich auch ein braunes Buch anzuschaffen?
Ein Guter genügt kaum, die Barbarei zurückzuhalten, wohl aber ein Barbar, das Gute zum Ersticken zu bringen.
Die Form (in Gestalt von Konventionen, Sitten, Gebräuchen, Gesetzen ...) schützt; sie schützt gleichermaßen Bewährtes und Nichtzuhinterschauendes wie sie freilich auch Unrecht und Machtmißbrauch zu schützen vermag. Auch die Formen müssen mithin hinterfragt werden. Doch wer darf an der Form rütteln?
Wenn ich sage: "Ich will davon nichts wissen" und ich mich distanziere, habe ich dann im nachhinein nichts gewußt? Hier muß man wohl unterscheiden, ob es sich um die Mitwisserschaft eines Verbrechens handelt oder um kleinere Machenschaften wie z.B. der Möglichkeit einer Bereicherung, die man nicht teilt. Aber die Übergänge sind fließend.
Korrekte Kleidung und Mode suggerieren leicht ein sorgfältiges und unanfechtbar korrektes Verhalten.
Uniformen bringen oft nichts als die Amtsgewalt zum Ausdruck. Müßte jeder Uniformierte sichtbar am Revers seinen Namen tragen, so wäre zwar vielleicht der unbedingte Gehorsam geringer, dafür aber das Bewußtsein lebendiger, dass man stets mitverantwortlich ist für das, was man tut.
Die Autokolonnen der arbeitenden Bevölkerung, die sich morgens in die Stadt hereindrängt, während Kühe auf der Wiese anbei ruhig grasen. Man hat den Eindruck, als habe der Mensch mit der Erfahrung, dass er über Zeit verfügen kann, die Erfahrung verloren, dass es ein Sein in der Zeit gibt.
Unser Wissen bleibt immer auf der einen Seite. Deshalb nutzen wir auch nicht die Zeit, wenn wir auf Wissenszuwachs aus sind, das sokratische Nichtwissen herauszuarbeiten. Wir vergessen es viel eher.
Ähnlich wie wir von Zeit zu Zeit mit dem Nachbarn ein Schwätzchen halten, oder wie wir einen Anruf tätigen oder eine kleine freundliche Post expedieren, um eine gute Freundschaft wachzuhalten und keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, ähnlich sollten wir mit uns selber von Zeit zu Zeit ins Gespräch eintreten und uns mitteilen, dass alles gut so ist, wie es ist.
Mitunter mag auch gut sein, wenn keiner uns mißversteht und alles klappt wie am Schnürchen: dass wir uns ein wenig an der Nase herumführen.
Oft scheinen wir über etwas Bestimmtes zu reden und reden doch zugleich noch von ganz anderem. Dies kommt vornehmlich in den kleineren Gesprächsthemen des Alltags zum Ausdruck, etwa, wenn wir uns über das Wetter unterhalten. Als es einmal sehr heiß war, sprach eine junge unverheiratete Frau davon, dass der Garten austrockne und dass es jetzt halt etwas regnen sollte; dass das aber wohl eben so sei, dass wenn es heiß sei und trocken, man sich's naß und kalt wünsche, und dass man es gern warm hätte, wenn's kalt sei. Worauf ihr der junge Mann aus dem Nachbarsgarten erwiderte: "Ach ja, wir müssen uns eben anpassen, so gut es geht."
Sparen wir nicht an dem, was uns als Mensch auszeichnet. Man kann zwar z.B. auf Tischschmuck und auf den Augenblick der Besinnung verzichten, ehe man zu essen beginnt, und entsprechend alles in Hast und Eile verrichten. Doch bleibt fraglich, ob sich die eingesparte Zeit rentiert. Vielleicht ist der Überfluß das Notwendige.
Wir brauchen einander gerade auch dort, wo wir einander mißbrauchen.
Die Möglichkeiten der Erfahrung, dass wir zusammen gehören, nicht ungenutzt vorübergehen lassen. Hier entscheidet sich, in welchem Maß wir zu einer Sinnstiftung fähig sind.
Der Mensch zwischen Furcht und Hoffen. Vgl. König Heinrich VI. 1.Teil, V.5 :"So heftige Spaltung fühl ich in der Brust,/ Von Furcht und Hoffnung, ein so wild Getümmel,/ Dass der Gedanken Drängen krank mich macht."
Mit der Sprache als Sprache über die Dinge und der Ausrichtung auf Objektivität sind wir den Dingen immer ferner gerückt. Bedeutendes und Bedeutetes sind in der Ur- und Traumsprache noch eins: was im Traum erscheint ist ineins Ding und Sprache, Bild und Botschaft. Deshalb beeindrucken uns auch die Bilder des Traums, ein helles, lichtüberflutetes Tal, ein Fluß, eine Wolke ...
Um uns als Mensch in der Welt zu verstehen, bedarf es keines philosophischen Seminars und keiner Ausbildung in Logik und Rhetorik, wohl aber eines Du, mit dem wir uns austauschen können.
Die Muttersprache als eine allen Menschen gemeinsame Sprache sprechen lernen. Einen der ersten Sätze dieser Sprache hat schon das alte Ägypten formuliert, wenn es notiert, dass ein Mutterschaf nicht auf sein Lamm tritt. Es sind Sätze, die aus der Schlichtheit des Herzens kommen, für die man keine Übersetzung braucht.
Man kann den Egoismus nicht rundweg verurteilen; wir müßten uns alle selber verurteilen. Es gibt genügend Beispiele, wo das Bestreben um eigenen Vorteil auch anderen Vorteil verschafft, wiewohl dies freilich keine Rechtfertigung ist.
Talente auszubauen hat nichts mit Egoismus zu tun. Das ist unser aller Recht. Wenn man darüber aber die Seinen vergißt oder sie nur noch als Mithelfer in eigner Sache zu gebrauchen versteht, wird der Fall problematisch.
Mitunter sind wir da, als würden wir nur darauf warten, nicht mehr da zu sein, als wären wir nie gewesen.
Vergiß nicht die Kerze am Fenster anzuzünden und den leeren Stuhl an den Ofen zu stellen! Es ist besser, sich einzureden, als sei jemand zu uns unterwegs oder erwarte uns, als dass wir für ausgemacht halten, dass niemand mehr da ist.
Das Zimmer hat ein Fenster und eine Türe: ein Fenster, das wie ein Ufer die Bewegung und Fülle des Seins in die Nähe rückt, und eine Türe als Ausgang. Wenn die Stunde kommt, verlassen wir das Zimmer. Doch da gibt es Unterschiede. Der eine braucht viele Dinge in seinem Zimmer, ein anderer wenige, wieder ein anderer braucht nicht einmal einen Stift, um etwas aufzunotieren. Vielleicht kommt einer sogar ohne innere Bilder, ohne Vorstellungen und Gedanken aus. Vielleicht genügt ihm ein kleiner Ausblick auf ein Stück Wiese oder auf eine Geranie in einem Blumentopf. Oder er hat sich so ruhig und leer gemacht, dass er wie ein Buddha überhaupt nichts mehr braucht.
Nach Montaigne und Pascal ist für das Unglück der Menschen symptomatisch, dass sie sich nicht ruhig in einem Zimmer aufhalten können. In diesem Unvermögen spiegelt sich die Unbeständigkeit, die Langeweile und die Ruhelosigkeit des Menschen wider, der nach Zerstreuung sucht, während nach Pascal des Menschen Bestimmung wäre, sich selber gegenüber zu treten und sich in seiner wahren Beschaffenheit zu erkennen.
Nur in dem Maß, wie wir uns selber zu begegnen vermögen, vermögen wir auch anderen zu begegnen.
Haben wir es gelernt und hat es uns jemand gelehrt, uns selber und einander zu begegnen? Oder wissen wir nicht darum und scheinen uns zu fliehen, während wir doch nur wie Blinde in der Gegend herumtappen?
Mit der Fähigkeit, sich Vorstellungen zu machen und innere Bilder zu verfertigen, ist eine gewisse Fähigkeit verbunden, aus der Gegenwart herauszutreten. Das Vergangene läßt sich ebenso evozieren, wie wir über das Zukünftige ahnungsweise und probeweise nachzusinnen. Der Mensch, der dank der gesellschaftlichen und technischen Gegebenheiten dieses Organ für seine Sicherheit und für den Existenzkampf nur noch partiell nötig hat, kann sich dieses Vermögens neu bedienen, z.B. zur Lösung wissenschaftlicher oder künstlerischer Aufgaben. Er kann aber auch unlösbare Ängste wecken und an der Zukunft leiden ...
Kunst und Wissenschaft als Weisen des Daseins, mittels deren wir dem Alptraum unlösbarer Ängste zuvorzukommen suchen, in der Kunst mitunter sogar, indem wir diese Schreie darzustellen versuchen.
Warum bin ich so oft unruhig und meine, dass der Tag schon gelaufen und vertan ist, während er doch kaum erst angefangen hat? Selbst aus wenigen Stunden läßt sich noch etwas machen, wenn man sich's nur verbietet, sich aufzugeben.
Allein-sein und einsam-sein muß man nicht verwechseln. Vielleicht betrifft das Problem von Natur aus mehr die Männer als die Frauen.
Für den Ruhelosen ist das Glück immer anderswo.
Casanova verschmähte das Pascalsche Zimmer. Er bevorzugte den Genuß von Festen und das Abenteuer der Lust, die ihn durch ganz Europa trieben. Lange vor S. Freud glaubte er, in der Gestaltung und Kultivierung der Lust die eigentlich menschliche Bestimmung gefunden zu haben.
Über ein Versagen kann man sich mit häßlichen Erzählungen trösten. Man kann aber auch zu trefflichen Erzählungen Zuflucht nehmen und sich zu ändern suchen. Und wenn man Grund zu Freude und Triumph zu haben glaubt, kann man sich vor Augen halten, dass andere auch so glücklich geworden wären, wenn sie nur ein kleines Quantum Glück gehabt hätten.
Immer lauern wir auf reizende Vergnügungen und tragen doch meist nur Herb-enttäuschendes, Nichtzuvernichtendes mit uns in der Erinnerung.
Wir wissen nicht, wer wir sind, wenn wir nicht spielen, und wenn wir spielen, ob es gut ist, wenn wir die sind, die wir spielen. Während wir spielen, halten wir Ausschau, ob und von wo aus man uns applaudiert.
Die Auskunft, die wir über Mensch und Welt machen, selbst im flüchtigsten Aphorismus ist immer auch eine Auskunft über uns. So sagte Goethe z.B. im Westöstlichen Divan "Alle Guten sind genügsam" und hatte damit gewiß recht. Wahrhaft genügsame Menschen indes würden so nicht reden. Sie sind genügsam, ohne die Genügsamkeit als eine besondere Tugend zu bemerken.
Wir feien uns nicht vor Verzweiflung, wenn wir uns eine Theorie verschaffen, die alle Widersprüche als überwindbar ausweist. Wir feien uns, indem wir uns bemühen, Widersprüchliches jeweils rechtzeitig zu sehen und mit ihm fertig zu werden.
Wer im Frieden lebt, vergißt leicht, dass der Friede nicht selbstverständlich ist. Man pries in früherer Zeit sogar den Krieg als notwendiges Intermezzo in schal gewordener Friedenszeit. Ähnlich verhält es sich mit der Gesundheit, mit schönem Besitz, mit überflüssigem Gut ... Und brauchen wir gar noch den Tod, um zu wissen, was für eine köstliche Frucht das Leben ist? - Nur sollte man gestorben sein, ehe man zu leben beginnt.
"In Anbetracht, wie es mir gehen könnte, geht es mir blendend gut." So spricht nicht ein kräftiger Jugendlicher oder ein Reicher oder ein Gesunder, sondern mein kranker Freund, der froh ist, dass sich seine Laborwerte nicht weiter verschlechtert haben.
Wir wollen stets gesund sein, doch keineswegs stets gesund leben.
Wenn tobende Eifersucht und verzehrender Haß Begleiterscheinungen nicht erreichter Ziele sind, wenn sie sich als Leerformen und Blindbewegungen auf ein verfehltes Gutes erweisen: wieviele Verbrechen ließen sich dann nicht durch die Kunst der Gesellschaft und ihrer Erzieher vermeiden, indem man sich um das Einüben und Erreichen guter Ziele bemühte!
Manchmal zeugt es von Stärke, wenn einer einen Beistand verschmäht, manchmal aber auch von Torheit und Mißtrauen.
Bis zu einem gewissen Grad sind wir bereit, uns ein wenig vorzubägeln, wie gut und recht und wichtig alles sei. Kommt man aber darüber hinaus, so glaubt man sich nicht mehr.
Wir erleichtern uns nicht oft, wenn wir uns beschweren, aber wir beschweren uns oft, wenn wir uns nicht erleichtern (und z.B. alles in uns hineinfressen).
Wie weit wir es doch bringen in der gemeinen Kunst, uns und anderen das Leben zu vergällen und uns froher Tage zu berauben!
Millionen von uns sind überaus erregt, wenn ihr Sportverein den Klassenerhalt nicht schafft, während sie sich daran gewöhnt haben zuzuschauen, wenn man ihnen in den Nachrichten zeigt, wie Menschen sich abschlachten.
Wenn N. einen Faustball verschlägt, trommelt er sich wie ein Orang mit den Fäusten gegen die Brust, als säße der da drinnen, der an dem Fehlschlag die Schuld trägt.
Einen Menschen abschätzen, wieviel Freund und wieviel Feind er einem sein kann, hieße abschätzen, wie gut und schlecht man selber sein kann.
Um den Menschen zu verstehen, muß man ihn leiden und man muß an ihm leiden, beides mit Maßen.
Wir haben genug vom Menschen erlebt, als dass wir noch weiterer Zeugnisse über die Entfaltungsmöglichkeiten seines schrecklichen Wesens bedürften. Doch wie steht es mit der Erkundung unseres eigenen Gutseins? Schrecken wir davor zurück, weil wir Gutsein und Güte mit Schwäche gleichsetzen? Sind wir lieber ein wenig hart gesotten, weil wir uns dann behaupten und es uns gut geht, während uns Güte arm und wehrlos macht?
Solange man Sträflinge brauchte für die Galeeren, hatte man auch Sträflinge. Müssen wir daraus schließen, daß, wenn wir nur auch wirklich gute Menschen brauchten, wir auch gute Menschen hätten?
Achte darauf, dass du gut für dich sorgst. Doch vergiß nicht, die Affekte sorgfältig einzubinden, auch wenn sie von Natur aus dazu da sind, für uns zu sorgen.
Vermutlich trifft auf Gefühle besonders zu, dass sie mit der Geschichte ihres individuellen Trägers identisch sind. Drum sollten wir möglichst vorsichtig sein, etwas als häßlich oder gemein anzusehen und zu bewerten.
Haben wir Deutschen (im Unterschied zu den Franzosen) kein Nationalgefühl, weil uns der Blick zurück in unsere Geschichte nicht stolz machen kann und wir kein geschichtliches Bewußtsein haben?
Unfreiheit, die durch Gewohnheit und Vorurteil kommt ...
Der Mensch ist das Wesen, das sich Sorgen macht. Haben wir nämlich die fundamentalen Sorgen um Beruf und Partner und Essen und Wohnen behoben, so melden sich weitere, neue, bislang noch unbekannte. Und vielleicht sind die Sorgen die gefährlichsten, die sich einstellen, wenn uns schon fast nichts mehr fehlt.
Gesetzt auch, dass jeder Mensch ein paar Sorgen zum Leben nötig hat, so sorgen wir dafür, dass uns nur solche Sorgen begleiten, über die wir hin und wieder auch scherzen können. Es ist gewiß gut, wenn wir uns so zu eigen sein können, dass uns nur wenig stört (vgl. die Ataraxia der Stoiker). Sorgen wir uns also möglichst nur um Sorgen, die wir als leicht einschätzen. Schwere Sorgen sorgen schon alleine dafür, dass wir sie nicht übersehen. Aus leichten Sorgen indes verschafft man sich leicht schwere, indem man es sich angewöhnt, sie als schwere Sorgen zu bewerten.
Was unserer Obhut anvertraut ist, darum sorgen wir uns. Der Rest läßt uns meist kalt. So sorgte ich mich um den Hausrotschwanz, als er bei uns brütete. Als er im Jahr darauf anderswo brütete und ich die Jungen sah, hätte ich wohl auch dem Neuntöter ruhig zugeschaut, hätte er auf sie Jagd macht. Im Jahr zuvor wäre ich herausgeeilt und hätte ihn verscheucht.
Um Fremdenhaß zu vermeiden, müßte der Fremde, der zu uns kommt, unserer Obhut anvertraut werden.
Hat man nicht alles, was man zu brauchen vermeint, dann lebt man entschieden gefährdeter als wenn man nicht viel braucht.
Es ist nicht schwer, Menschenfreund zu sein, wenn einem die anderen voll Achtung und Aufmerksamkeit entgegenkommen.
Das Wissen um einen Freund, den aufzusuchen uns ein besonderes Bedürfnis ist oder der sich die Mühe macht, immer wieder einmal uns zu besuchen, um gemeinsam einen Abend zu verbringen, ist gut. Doch man darf nicht zu viel begehren. Auch wenn mir etwas gelungen ist, wenn ich eine besondere Idee habe, einen guten Gedanken, so kann ich nicht davon ausgehen, dass der Freund jederzeit alles stehen und fallen läßt und mir zuhört. Man muß vom Freund auch nicht verlangen, wozu man selber nicht in der Lage ist, und schon gar nicht muß man ihn zum Kumpan erniedrigen, mittels dessen man Ziele erreicht und Karriere macht.
Bald geht uns die Zeit zu langsam vorüber und wir empfinden Langeweile und sehnen uns nach Zerstreuung; bald eilt sie uns zu schnell, und wir beklagen uns über ihre Flüchtigkeit.
Heute bin ich in Berlin, morgen in London, übermorgen in New York und Tokio: als ob diese Pseudowichtigkeit ein Beweis wäre für ein ausgefülltes Leben fern aller Langeweile.
Wenn wir wählen könnten und man würde uns am späten Nachmittag, wenn uns die Arbeit nicht mehr recht voran will, zwei Stunden hinzugeben, wir würden sie vermutlich nicht wollen, auch wenn wir dann pro Tag jeweils zwei Stunden mehr Lebenszeit hätten. Woraus wir schließen, dass unsere Tage genug Stunden haben, und ähnlich verhält es sich wohl auch mit unserem Leben.
Je mehr Achtung wir genießen, um so duldsamer sollten wir sein und um so kleiner sollten wir uns machen. Freilich darf ich mir auch meines Wertes bewußt sein, indem ich mir vergegenwärtige, dass ich manches geleistet habe und dass ich gewisse Dinge kann, die andere nicht können. Auch ein Goethe hätte kaum zu leben vermocht, hätte er stets nur auf Shakespeare geschaut.
Kinder und Schwache lieben das Lob.
Wie können wir achtgeben, sobald wir anfällig geworden sind für jeden Lufthauch?
Wir machen uns lächerlich oder werden tragisch, wenn wir uns einbilden, viel zu wissen und viel zu vermögen; wir werden aber bedeutungslos und überflüssig, wenn wir uns einreden, zu nichts nütze zu sein.
Unerträglich mit einem Menschen zusammen zu leben, der glaubt, alles besser zu können. Mitunter aber sind wir selber solch ein Mensch, mit dem wir zusammenleben müssen.
Wer kein Recht hat, dem wird man auch kein Recht geben. Und wer sich Recht zu nehmen versteht, dem wird man auch sein Recht bescheinigen. Doch wie steht es bei den Kindern und wie beim Übergang zum selbständigen Mitglied der Gesellschaft? Muß man nicht Kindern und Jugendlichen auch deshalb schon Recht zu geben versuchen, damit sie sich daran gewöhnen, Rechte zu haben, zum mindestens das Recht, Rechte für sich einzufordern?
Wir alle sind großteils Narren, fühlen uns aber nicht als solche. Mitunter wäre indessen gut, wir fühlten uns als Narren. Dann wäre das Übermaß an Ernst und Rechthaberei nicht auf der Erde zuhause.
Lächerlichkeit umgibt die Eitelkeit wie ein schlecht erzogener Hund.
Arbeiten sollten keine Mühsal sein. Und schon gar nicht sollte einer den Drang verspüren, sich der Arbeit zu entziehen, weil er schlecht bezahlt wird ...
Die Sorge um das Allgemeinwohl bietet einen idealen Windschatten zum geräuschlosen Mitführen privater Interessen. Was für ein Bild, wenn die beiden Gehilfen, der Eigennutz und die Rechtschaffenheit, einem flink und bieder zur Hand gehen!
Wer das Lachen verlernt, hat nichts mehr zum Lachen.
An ernsthaften Männern fehlt es uns nicht in der deutschen Geschichte. Doch wo sind die großen Deutschen, bei denen wir Heiterkeit und Lachen erlernen?
Durch zuviel Ernsthaftigkeit ist gewiß mehr Übel in der Welt entstanden als durch zuviel Heiterkeit oder Gelächter.
Zähle dich ruhig zur großen Welt und halte dich für etwas Besonderes, wenn dir daraus ein schönes Äußeres und Tugenden zuwachsen.
Man beherrscht nur unvollkommen das Gesicht. Wenn du verdrießlich bist, ist es dir angenehmer, das Gesicht zu verbergen, als es gewaltsam zu beherrschen. Auch wenn man gelernt hat, keine Miene zu verziehen, so dringt doch noch viel Ausdruck aus einem heraus, der verrät, wie es um einen steht.
Die Weisheit, die darin besteht, dass sich der Mensch seine Heiterkeit und gute Laune auch dann nicht rauben läßt, wenn ihn das Schicksal nicht verwöhnt ...
Die Kultur des Lachens gehört vornehmlich zur Kultur des Weiblichen. Männer erwecken oft den Eindruck, als vergäben sie sich etwas oder als ließen sie sich in ihrer Schwäche ertappen, wenn sie (bei einem Grußwechsel) das Gesicht zu einem Lächeln verziehen. Ich kenne männliche Wesen, die mit ihrem Lächeln derart geizen und die es derart dosiert einsetzen, als handle es sich um hochkonzentriertes Gift. Gibt es etwas Schöneres und Herzerhebenderes, als wenn ein Kind aus Herzensgrund lacht, und wenn später die jungen, noch unverheirateten Mädchen die Köpfe zusammenstecken und kichern und auf sich aufmerksam machen? Und selbst eine älter gewordene Frau, blüht sie nicht wundervoll auf, wenn sie lächelt?
Man verprügle die Männer, die bei billigen Witzeleien unbedenklich lachen, während ihre Frauen zuhause das Lachen verlernen.
Kein Mensch, der nur aus Abstoßend-Bösem bestünde, und keiner, der nicht auch etwas Unvollkommenes an sich hätte. Nichts ist so vollkommen, dass es ein unerreichbares Ideal wäre und nichts so verworfen, dass man nicht zur rechten Zeit aufhelfen könnte.
Was für eine Gegenwart beim Mahl-halten! Der Wein würde mir gewiß nur halb so gut schmecken, wenn ich nicht immer wieder einmal in die Rebberge hinausginge und mir die Reben in ihren Trieben und Blütenständen anschaute. Auch bei der Weinlese einmal mit dabei gewesen zu sein, hebt den Geschmack. Ähnlich verhält es sich mit dem Korn und mit den Kartoffeln etc. Man muß wenigstens einmal die Aussaat und das Wachstum, die Reife und die Ernte miterlebt haben, am besten in der Jugend. Jüngst schaute ich mir mit Vergnügen sogar die Brauerei an, woher wir das Bier beziehen.
Verstand und Vernunft prunken gern und feiern sich mit erhabener Rhetorik, als hätten sie Einblick in alles Weltgeschehen. Sobald aber Unvernunft und Leidenschaft die Macht an sich gerissen haben, verstummen sie rasch und sind zufrieden mit dem Brot der Knechtschaft. Ähnlich verfügen wir in der Gesellschaft über viele große Männer, solange die Männer der Unvernunft und der Leidenschaft noch nicht in ihren Verstecken erwacht sind.
Beißen zu können, ohne je davon Gebrauch zu machen. Doch das ist illusorisch, wenn man strikt auf alles Üben verzichtet. Wie also kann man anderen gegenüber Stärke beweisen? Oder braucht man keine Stärke, etwa als Lehrer einer Klasse den Kindern gegenüber? Sokrates gebrauchte offenbar keine. Doch fragt sich, was für ein Erzieher und wofür er Erzieher war und ob die Anklage hier nicht jedenfalls ein Korn Wahrheit aufgedeckt hat. Dem ungezügelten Widerspruchsgeist der Masse hatte Sokrates nichts entgegenzusetzen, weder Zuckerbrot noch Peitsche.
Entgegengesetztes aushalten und anerkennen.
Dinge und Handlungen als Bedeutungsträger: einmal, indem sie uns bereits als solche überliefert sind, sodann auch, indem sie unsere je persönliche Geschichte mitverwahren. Die im Mai blühenden Ginsterbüsche erinnern an den Ginsterbusch des Eliah und mithin daran, dass es nicht gut ist, wenn wir uns in finsteren Stunden von bösen Gedanken vergiften lassen.
Gibt man einem einzigen bösen Gedanken freien Raum, so zieht er eine Lawine böser Gedanken hinter sich drein.
Wie sollen und können wir miteinander umgehen, wie uns aneinander binden? Mitunter spielt der Verstand unserem Herzen Streiche, dass es nicht zum Wagnis einer Entscheidung kommt; mitunter aber ist es auch das Herz mit seinen Visionen, das dem Verstand einen Streich spielt, so dass die Augenöffnerin Zeit schmerzliche Revisionen erzwingt. Und doch, sind die Visionen unseres Herzens falsch, wenn sie sich nicht durchsetzen lassen? Wie, wenn es Übungen gibt, Übungen des Glaubens und des Hoffens, die wir nur nicht kennen oder die wir vernachlässigen, die aber die Macht haben, jene Visionen ans Ziel zu bringen? Hier, so würde Sokrates bemerken, ist unser Nichtwissen gewiß nicht gut.
Einmal sind wir unempfindlich gegen alles, und dann wieder reagieren wir schon überempfindlich gegen ein Wort, das wir dem anderen unterstellen, als hätte er es geäußert.
Wer stirbt, dem stirbt die Welt mit und drum wär's ihm oft auch ein Labsal, wenn nach ihm nichts auf der Welt übrig bliebe.
Leiden schreiben sich uns tiefer ein als Freuden. Darum erachten wir die uns bekannte Wirklichkeit leicht mehr als eine Welt der Leiden. (Vgl. die Identität schaffenden Leiden im tragischen Weltbild der Griechen, z.B. Euripides, Helena, V.593)
Dem unmenschlich behandelten, allein gelassenen, von Leiden gepeitschten und von Ohnmacht zerrissenen, aufs tiefste gedemütigten und erniedrigten Menschen ist oftmals kein Preis zu hoch für seine Rache. Shakespeare hat den Shylock zugunsten des Ausgangs der Komödie (Der Kaufmann von Venedig) etwas verzeichnet. Denn da ihm das eigene Leben nicht mehr viel wert war, hätte er es leicht zusammen mit dem Tod des Kaufmanns aufgeben können.
Sind wir Tiere, dass wir uns Gesetze geben, die uns einzäunen und bestrafen?
Ein geprügelter Hund kann nicht heiter lächeln.
Gesetze, die seit alters der Macht kosen.
Der Gesetzgeber und der Mächtige sehen zu, dass sie gegebenenfalls auch Gedächtnislücken haben dürfen. Man könnte ja immerhin gewisse Gedächtnislücken unter hohe Strafen stellen.
Drücke nicht die Lippen so deutlich und fest gegeneinander, damit niemand bemerkt, dass dich eben ein Rausch erfaßt, was für ein famoser Junge du doch bist!
Gebote, die sich an viele richten, wie etwa in einer Schule, finden kaum Beachtung, wenn sie nicht eine affektive Botschaft (Androhung von Strafe ...) mitenthalten. Wir ähneln einer Tiergruppe, die sich bedingungslos dem mächtigsten Tier unterordnet.
Wer der Staat ist oder wer sich für den Staat hält und wie sich eine Gesellschaft interpretiert zeigen uns die Gesetze und die ausführenden Organe eines Staates.
Wer in allen Gestalten der Menschheit zuhause ist wie ein Shakespeare: versteht der die Menschheit? Doch wo ist er zuhause?
Ein Heiterkeit weckendes und in der Lebensfreude bestärkendes Buch muß nicht schnurrig und kauzig sein.
Geduld, die anstrengt, hat immer auch einen Anteil an Ungeduld. Und Hoffnung, die anstrengt, etwas von Furcht und Verzweiflung. Geduld aber, die nicht anstrengt, ist keine mehr. Und Hoffnung, die nichts kostet, hat etwas von Leichtsinn und Gedankenlosigkeit.
Wer kommt uns zu Hilfe, wenn (wie bei Eliah) weder mehr eine Aufgabe auf uns zu warten scheint, noch auch wir die Kraft haben, auf eine Aufgabe zuzugehen und sie an uns zu reißen?
Ein Arzt, der einen Kranken aufgibt, mag zwar bei der Fakultät gerechtfertigt sein, und doch handelt er dünkelhaft und unmenschlich. Ähnlich verhält es sich mit dem Lehrer, dem Erzieher, dem Richter ...
Der Arzt sucht zu beruhigen, wenn er seinem Patienten das Seil der Sicherheit in Aussicht stellt. Der Staatsanwalt beunruhigt, wenn er dem Angeklagten droht und ihm Angst macht.
Ein Knecht mag über seine Schwachheiten Herr werden, wenn er sieht, wie sein Herr über diese Schwachheiten Herr wird.
Dreh- und Angelpunkt aller Rattenfängerei: dass sich der Mensch beeilt, blindlings das anzuerkennen, was sich allgemeiner Anerkennung erfreut.
Reden wir uns ein, dass uns die Zeit davonläuft, so läuft sie uns auch davon. Machen wir uns aber klar, dass wir auch jetzt noch immer in der uns gegebenen Zeit leben, so gelingt uns vielleicht ein Stück Beständigkeit.
Mit Regungen, Erregungen, Aufregungen fertig werden: ein Stück Kultur
Verbrechen aus Angst, um Angst zu vertreiben.
Gewöhnen wir uns doch ab, Lust auf Angst zu haben, und lassen es auch bleiben, Kindern Angst zu machen.
Leicht und schnell und wie von selbst bilden sich Gesellschaften der Angst, die in Anarchie und Revolution oder Gewaltherrschaft enden. Anders ist es bestellt um die Entstehung einer Gemeinschaft tapferen freien Mutes.
Einerseits wünschten wir uns den Menschen frei von jeglicher Angst; andererseits beängstigt der Gedanke an eine angstfreie Menschheit, weil solche Freiheit leicht in Willkür ausarten könnte. Oder trauen wir uns, wenn wir uns so ängstigen, dem Menschen zu wenig zu?
Freiheit: das ist die Verneinung der Angst und der Zuversicht auf Sinnstiftung des Menschseins in Selbstbestimmung.
Wir leben im Jetzt, und das Jetzt muß uns nicht nur ängstigen. Es ist durchaus auch etwas, was uns an der Hand halten kann (maintenant), wie die französische Sprache beruhigend versichert.
Wer schreit, wird gehört.
Mit dem Leben zurechtkommen heißt, mit dem Übermaß zurechtkommen, mit dem Übermaß an Leid, aber auch mit dem Übermaß an Freude.
Wie Hans im Schnakenloch (was er will, das hat er nicht; und was er hat, das will er nicht) warten wir den Winter über auf den üppig warmen Sommer. Und ist der Sommer endlich da, so sind wir ihn schon nach ein paar Tagen wieder leid.
Der Bauernbursche träumte mitunter, einmal König zu sein und die Augen aller Welt auf sich zu ziehen, und dem König hinwiederum träumte bisweilen, einmal als Bauernbursche ein Dasein in aller Stille, ungestört zu verbringen.
Brauchen wir die ständige Abwechslung, um zufrieden zu sein? Oder brauchen wir immer wiederkehrend Unzufriedenheit, um sie von uns zu schütteln und auszuschnaufen und dieses Ausschnaufen als Zufriedenheit zu empfinden?
Einerseits leiden wir an den Bindungen, die uns ein geordnetes Leben ermöglichen, andererseits verlangen wir nach etwas, was uns bändigt und erhebt.
Wenn es uns schlecht geht und uns elend zumute ist, tut uns kaum etwas so gut, wie von anderen zu hören, denen es noch schlechter ergeht.
Was wir geliebt und verehrt haben, war gewiß nicht alles bedeutsam, und was wir mit unserem Haß verfolgt haben, war oft eher erbarmungswürdig. Wir und die Personen und Gegenstände um uns gewinnen und verlieren an Wert, nicht nur, weil sie sich selber verändern, sondern auch, weil sich unsere Maßstäbe ändern. Was uns gestern gefiel, ist heute nur noch so viel wert, wie unser gestriges Ich noch heute für uns an Wert besitzt.
Überhaupt hängen wir an dem, was wir hassen, nicht minder fest als an dem, was wir lieben. Haß ist eine Art von Schätzung, während wir das, was wir nicht schätzen, übersehen.
Was immer wir getan haben, und mag es auch noch so gut sein, wir sind doch nicht in der Lage, es für uns in der Stunde der Abrechnung geltend zu machen. Denn neben der Tatsache, dass das erreichte Ziel schon bald nach dem Erreichen gewaltig an Wert verliert, haben wir immer nur einen Teil von den hohen Zielen erreicht, während wir vieles nicht haben realisieren können. So sehen wir selbst einen Goethe vor dem Altarbild des van d Eyck (Theodor Hetzer, Aufsätze, Vorträge II. Seemann, Leipzig S.217) bewegt von der unheimlich erschütternden Einsicht, dass wir uns trotz aller Hoffnung auf wahrhaft Bedeutendes doch zu sehr auf uns beschränkt haben und in uns begrenzt geblieben sind.
Der Mensch ließe sich gern eine Extrawurst gefallen, wo möglich alle Tage. Und doch haßt er nichts so sehr, wie wenn er außer sich eine Ausnahme entdeckt. Die Ausnahme, das Privilegium, das von der Natur gegebene, vor allem aber das gesellschaftlich bedingte Privilegium ist der ewige Stein des Anstoßes, die Mutter aller Revolutionen, Brutstätte des Unheils.
Wer die anderen überragt, polarisiert seine Umgebung. Teils ist es Haß, teils Stolz, den er hervorruft: Haß von Gleichrangigen, die nicht dasselbe Glück gehabt haben, in der Gesellschaft aufzusteigen, und Stolz von solchen, die um sein gesellschaftliches Ansehen wissen und die sich schmeicheln, daran zu partizipieren.
Armut macht solidarisch. Reichtum aber polarisiert und dissoziiert, erregt Anstoß und macht proletarisch.
Die edle Gestalt der Armut in der Literatur bei V. Hugo oder bei Dostojewski: Diese Menschen wissen um Gut und Böse genau Bescheid. Wenn sie einmal schlecht handeln oder gar haben handeln müssen, so tut es ihnen leid. Wenn sie einen Fehler begangen haben, entschuldigen sie sich und nehmen die Konsequenzen in Kauf. Und wenn einer gegen sie schuldig geworden ist, sind sie in der Lage zu verzeihen. Nur dass die Schilderung solcher Armut leider kaum konkrete Ansatzpunkte für die Praxis liefert. Menschen, die das Leben niedergedrückt und verbittert hat, merken meist nicht mehr, wenn sie im Dschungel ihrer Welt eben auch alle die Gemeinheiten begehen, die sie an anderen anprangern. Armut und entsprechend soziales Milieu verdirbt den edlen Charakter, der gewiß prinzipiell in uns allen wohnt. Die edle Gestalt der Armut (wie etwa Dostojewskis Sonja) ist bestenfalls als pädagogisches Credo an das Gute im Menschen zu verstehen.
Wir sind aufs Handeln und auf den Erfolg beim Handeln angewiesen. Schrecklich, wenn du einem lieben Menschen in seiner Krankheit Linderung zu verschaffen suchst: und du erreichst nichts. Der Kranke müßte fast gar noch seinen Pfleger trösten.
Der Kranke findet Beruhigung beim Anblick anderer, die ebenso krank oder noch kränker sind als er. Und der Gedemütigte und Erniedrigte, wenn er sieht, dass auch anderen übel mitgespielt wird. Doch ist es nicht gut, wenn sich der Gedemütigte an der Demütigung anderer erlabt, wenn er lachend davon erzählt, statt gegen dessen Peiniger aufzubegehren. Die Gemeinheit wird nie verschwinden, wenn die Armen und Entrechteten, die Gedemütigten und Beleidigten die Gemeinheit gegen andere tolerieren oder gar benötigen zum eigenen Verschnaufen.
Es gibt Vögel, die die schwächsten ihrer Jungen töten, wenn das Futter zu knapp wird. Sollte es ähnliche Verhaltensweisen beim Menschen geben, dann wäre es nicht nur eine humane, sondern auch eine moralische Pflicht, auf alle Weise Hunger und Armut in der Welt zu bekämpfen. Goethes Lied des Harfners (Ihr laßt den Armen schuldig werden) wäre dann endlich vielleicht sogar noch in dem Sinn verstehbar, dass es in einer Gesellschaft nur streng kontrollierte und eng begrenzte Rang- und Einkommensunterschiede geben sollte.
"Das verstehe ich nicht" kann ein Zweifaches bedeuten. Entweder einer merkt, dass ihm der Durchblick ermangelt und er wünscht sich Belehrung, oder aber einer drückt damit aus, dass das in Frage Stehende an und für sich oder für ihn unverständlich und widersinnig ist. Im ersten Fall sind es meist Leute, die lernen wollen, im zweiten Fall Leute, die wissen oder auch nur besser wissen.
Wenn die Ohren verschiedene Farben hätten, dass man ihnen ansehen könnte, ob einer nur auf sich und auf seine eigenen Worte hört ...
Dass Don Quijote alles Böse in der Welt zu besiegen trachtete, war gewiß ehrenwert. Dass er dabei seinen männlichen Trieb leidlich gut beherrschte war ein Geschenk der Natur. Dass er aufgrund seiner Heldentaten Kaiser oder doch zumindest Erzbischof werden wollte, macht ihn als Mensch sympathisch. Auch wir, wenn wir uns nur ein wenig über die Schultern schauen, beginnen unsere Karriere oft so, als wollten wir Bundespräsident oder wenigstens Außenminister werden. Dass er endlich seine Torheiten einsah und als Mensch starb, antizipiert unser aller gemeinsames Schicksal.
Unsere antimephistophelische Natur: wir wollen Gutes und erreichen oft Schlechtes. Deshalb verbietet sich Sokrates im Zweifelsfall das Handeln. Deshalb handelt auch Dostojewskis Fürst Myschkin fast nur probeweise und im Innern.
Es gibt Leute, die, wenn sie von einer Krankheit hören, gleich besorgt sich fragen, ob sie sie nicht auch haben.
Wenn dich einer fragt, was du tust, möchte er dir oft nur erzählen, was er Tolles tut. Man muß also nicht immer gleich die Angelegenheiten des eigenen Herzens auszubreiten und es auszuschütten. Man darf zurückhaltend sein.
Wieviele Todfeindschaften hätten nicht schon vermieden werden können, wenn man nur sein Herz verborgen gehalten hätte.
Menschen, die stolz sind auf ihre Krankheit, weil sie sonst nichts haben ...
Darf man nicht auch einmal mit dem Himmel etwas Geduld haben?
Wir müssen uns über niemanden ärgern oder ihm gar ewige Rache schwören. Das Leben bestraft ihn genug.
Sich ärgern ist oft nur eine schlechte Gewohnheit, die man anfangs leicht durch ein anderes Verhalten ersetzen könnte. Oftmals muß man sich's nur einreden, z.B. dass einen das Zwitschern der Vögel stört, und schon stört es einen. Oder aber man redet sich ein, wie schön und herrlich doch auch ein nasskalter Sommer sein kann, und man beginnt die Welt so wahrzunehmen. Wenn es gelänge, alle überflüssigen Affekte zurückzuhalten, es wäre gewiß besser um die Welt bestellt. Zeigen wir schon den Kindern, wie nützlich es ist, nicht immer gleich sich selber angesprochen und angeschossen zu fühlen. Viel besser ist es, die Dinge erst einmal von der von uns unabhängigen Seite zu nehmen.
Einem mitzuteilen, dass wir ihn mögen, dazu benötigen wir nicht vieler Sprachen. Dass wir einen aber nicht mögen, das können wir ihn auf tausenderlei Weise wissen lassen.
Um im Umgang mit Hoch- und Höhergestellten zu reüssieren, muß man sich nicht unbedingt kleiner machen als man ist. Nicht indem man sich verkleinert, sondern indem man den anderen behutsam erhöht, schmeichelt man ihm. Indem man den anderen erhöht, erhöht man sich notwendigerweise auch selber vor ihm. Denn wer möchte auch von einem Unwürdigen gelobt werden? In der Tat, wenn die Eitelkeit nicht so schrecklich blind und einfältig wäre, so dürfte man es sich nicht herausnehmen, einem anderen zu schmeicheln. Doch hast du nur ein wenig Geschick, so merkt man es nicht, sondern registriert zufrieden, dass die Zusammenkunft mit dir gut und ergiebig war.
Sokrates riet, die Triebe möglichst ruhen zu lassen und ihnen erst dann nachzukommen, wenn sie sich von alleine melden. Man lernt ja schnell, die durch zu leichte Erfüllung gesteigerten und intensivierten Bedürfnisse als natürlich zu erachten und sich sklavisch ihrer Befriedigung zu unterstellen.
Wenn wir von unseren Handlungen aus zu den Anfängen unseres Denkens einen Weg suchen, so stoßen wir auf Wälder von Affekten, auf Hecken voll Begierden und stolpern über ein Wurzelgeflecht unausrottbarer Triebe. Und wenn wir von den Motiven der Leidenschaften kommend die Wege zum Handeln verfolgen, finden wir sie mit dem Pfropfreis von Überlegungen und Gedanken verknüpft.
"Das Gewebe unseres Lebens besteht aus gemischtem Garn, gut und schlecht durcheinander. Unsere Tugenden würden stolz sein, wenn unsere Fehler sie nicht geißelten, und unsere Laster würden verzweifeln, wenn sie nicht von unseren Tugenden ermuntert würden." (Shakespeare, Ende gut, alles gut. IV.3)
Wir müssen uns unserer Fehler nicht schämen, wenn wir an ihnen wachsen.
Kleine Liebenswürdigkeiten ebenso wie kleine Fehler, die einen verraten.
Es ist, als müßten wir gewisse Aufräumarbeiten und Vorarbeiten immer erst noch besorgen und zu Ende bringen, ehe wir mit den eigentlichen Lebensaufgaben anfangen.
Überschau dein Leben und sage, wann du am glücklichsten warst! Auf eine solche Aufforderung nennen dann manche die Tage der Kindheit, andere die Tage der Jugend, wieder andere die Tage der ersten Liebe oder der ersten beruflichen Erfolge. - Goethe würde vermutlich den Tag hier und jetzt nennen. Heute, würde er sagen, heute ist der Tag, wo ich Ursache habe, am glücklichsten zu sein. Und wir stimmen ihm zu. Denn, wenn wir uns auch gerne in die früheren und vergangenen Tage unserer Biografie versenken und wir derer gedenken, die uns wohlwollend und hilfreich zur Seite gestanden: so ist doch der jeweilige Tag, an dem wir leben und den es auszugestalten gilt, bei weitem der wichtigste. Nur der, welchem eine Aufgabe für heute fehlt, wird sich verstärkt für gestern oder morgen interessieren.
Wir sehen die Welt nicht wie sie ist, sondern wie sie sich durch die Werkstatt unserer Wünsche und Leidenschaften und vermittels unserer Gedanken und Vorstellungen uns vorstellt. Kein Märchen ist so unwahrscheinlich, dass es uns nicht etwas von dieser inneren Wirklichkeit zeigen und keine Tatsache ist so plump, dass sie uns nicht als Türe zu etwas Wunderbarem vor Augen treten könnte.
Mitunter sollten wir auch uns gegenüber mehr auf Distanz achten. Denn auch das, was wir nur zu uns selbst und ganz im stillen sagen, wird Wirklichkeit und verändert uns.
Kein Satz, keine Vorstellung, kein Bild, keine Anschauung, keine Theorie ist so einfältig oder wertlos, dass sie nicht als Anstoß zur Überprüfung von bereits Erworbenem dienen könnte.
Der Drang, der alles Lebendige beherrscht: Mensch und Tier und Pflanze. Wo er nicht erfüllt werden kann, drängt er zu Ersatzobjekten, zu Leerformen, zu Übersprungbewegungen. Mit der Tafel der inneren Vorstellungen erlangte der Mensch ein Organ, das ihm erlaubte, sich neben der tatsächlichen, ihn umgebenden Welt, eine zweite Welt zu erstellen. So kann er den Augenblick repräsentieren und ihm Dauer verleihen. Er kann aber darüber hinaus auch andere Welten konzipieren und in ihnen heimisch werden. Wenn wir uns nur gründlich in einer zweiten Welt einquartieren, können wir vergessen, dass wir in einer ersten schon zu Hause sind.
Fremdes kann uns nicht fremd bleiben. Wir reiben uns am Fremden.
Das Fremde ist wie eine Schneeflocke auf der Hand. Zuerst malt noch die Phantasie am reizvollen Bilde mit. Doch löst die konkrete Begegnung mit dem Fremden, sobald er im Alltag erlebt wird, das Bild leicht auf.
Vorsicht baut Mauern auf mit starkbewehrten Stadttoren und Kasematten und bevorzugt Vorstädte zur Kommunikation. Doch warum auch nicht? Vorsicht ist nicht schlecht. Erziehung zur Vorsicht, Erziehung dazu, lieber etwas mehr zu verschweigen als kund zu tun, alles freilich ohne Skepsis und Mißtrauen. Fröhliche Vorsicht könnte im Zusammenleben der Menschen durchaus nützen.
Wir staunen Diamanten an und verachten Ruß und Kohlenstaub; und ist doch letztlich eines wie das andere aus dem gleichen Atom verfertigt, dasselbe Kohlenstoffatom. Was aber schön zubereitet ist und glänzt und schimmert, steht in der allgemeinen Schätzung ganz oben. Und soviel einer hat, soviel ist einer wert.
Wenn der Affe einen Stein sein eigen nennt, wacht er über diesen Schatz. Ähnlich sind wir vom Drang besessen, alles zu erwerben und für uns einzuzäunen. Was der andere hat, wird dann letztendlich noch zum eigenen, schmerzvollen Nichtbesitz. Es gibt vermutlich eine gewisse sozial relationale Mitte. Wächst der Besitz darüber hinaus, werden wir nicht reicher, sondern ärmer.
Besitz ist nicht nur die Erfüllung eines Triebes, er ist auch, wie bei jeder Triebbefriedigung, die Ursache weiterer Bedürfnisse und Begehrlichkeiten.
Besitztümer und Rechte und Privilegien scheinen nur immer zu weiterem Besitz und weiteren Privilegien und Rechten zu befugen, während man von dem, der nichts hat, erwartet, dass er sich zumindest tugendsam unterwürfig zeigt.
Viele schon mußten ohne politisch-gesellschaftliche Rechte leben (insbesondere die Frauen) und lebten doch ein Leben als Mensch, während manch einer für sich ungeheuerliche Privilegien und Rechte in Anspruch nahm, um sich dann neben seinem Hund ins Grab zu legen.
Der Mensch muß kein Tier sein. Und so müssen wir keinen "Bullen" die Aufsicht über uns übertragen, und wir müssen gegen niemanden die "Sau" herauslassen.
Im Affektiven bestimmen wir zumeist nicht das Thema, sondern das Thema bestimmt uns.
Wer ein Thema gleichermaßen hat als auch demselben zu eigen ist: dem muß alles zum Stoff für sein Thema werden.
Gesetzt der Himmel hätte nur seine Sterne, noch nicht aber die in Sternbilder gegliederte Gestalt: mit was für Sternbildern würden wir uns den Himmel denken?
Es ist besser, an den für uns günstigen Fall zu glauben, auch wenn die Wahrscheinlichkeit wenig dafür spricht, als an der Gemeinheit des Menschen zu verzweifeln.
Vieles, was einen verdrießt, kann auch erheitern, wenn wir uns nur angewöhnt haben, das rechte Register zu ziehen. Da sehe ich z.B. schrecklich wuchernd das Zeckgras am Rand der Terrasse in Blüte. Da ich noch nicht dazu gekommen bin, es auszujäten, wird es sich nun also auch noch versamen! Betrachte ich mir aber die starken Halme und die in der Sonne herrlich schimmernden Ähren auf den Getreidefeldern, und wie sich Gräser vor langer Zeit zum Getreide herausentwickelt haben, und bedenke ich, dass ich diese Gräser nie so herrlich in meinen Garten hätte zu pflanzen vermocht: dann kann mich ihr Anblick ergetzen.
Wenn die Vorschulkinder bemerken, dass sie ein Problem lösen können, glauben sie oftmals, nun zugleich auch die ganze Welt zu kennen. Sie verwechseln in ihrem Egozentrismus, dass wenn sie etwas Neues, für sie freilich Bedeutsames, verstanden haben, sie längst noch nicht alles verstanden haben. Ähnliches geschieht auch bei uns Erwachsenen. Und so liegt es nicht immer nur an der Unwissenheit der anderen und an der Höhe unseres Denkens, wenn wir uns mißverstanden vorkommen, sondern mitunter auch daran, dass wir unseren Verstehenshorizont unzulässig verabsolutieren.
Man muß sich nicht grämen über Unwissenheit. Wer nicht viel weiß, kann um so mehr noch dazulernen.
Sprich in der Öffentlichkeit möglichst immer nur von dem, was du gut verstanden hast. Vor Freunden kannst du mitunter auch davon sprechen, was du zu verstehen dich bemühst. Vor dir selber aber, was du noch nicht verstanden hast, wovon du aber glaubst, dass sich Verstehen lohnt.
Menschheit, ein Gewusel von vielen, wobei es einigen gelingt, sich ein wenig über die anderen zu erheben.
Uns ist oft mehr daran gelegen zu überreden als zu überzeugen. Wir wollen, dass man uns glaubt, ohne dass wir uns zu viel Mühe geben, die Sache als wahr und richtig darzulegen.
Der durchaus berechtigte Wunsch, gut leben zu wollen, ist oft die Ursache dafür, dass das Gute nicht zustande kommt.
Können wir uns auch über das Rad der Fortuna, die sich in unsere Dinge einzumischen versucht, erheben?
Wir meiden die peinsamen Träume und haben mitunter Angst, unser Leben in einem solchen Traum beschließen zu müssen. Würde es uns etwas nützen, wenn wir von Sokrates oder sonst einem der bedeutenden Menschenkenner wüßten, unter was für Peinlichkeiten sie noch in der letzten Stunde gelitten haben?
Mitunter, wenn wir uns analysieren, beschleicht uns das Gefühl, als hätten wir zu viele Holzwege beschritten und zu viel verabsäumt, als dass wir es noch aufholen und aufarbeiten könnten.
Merken wir erst, wenn die Welt krachend zusammenbricht, dass es sie gab?
Alles hat seine Zeit. Das gilt auch für die Ansichten, die wir uns und die sich in uns im Lauf der Zeit ausbilden. In der Jugendzeit mit ihren Idealismen wird man geneigt sein, die Mißstände der Gesellschaft so schnell wie möglich zu beseitigen. Später dann wird man etwas behutsamer werden mit dem Urteil, und das nicht nur, weil man nun selber von den Privilegien und Mißständen profitiert. Man kann das menschliche Leben als einen Rechtsfall ansehen, wie es Kafka getan hat, wo die menschliche Existenz mit sich immer unheilbarer ins Gedränge kommt. Man kann es aber auch als einen Prozeß ansehen, wie Rabelais ihn betreffs des Richters Reitgans schildert, der die Rechtsfälle, nachdem er sie allen Verfahren und Prozeduren ordnungsgemäß unterworfen hat, mit dem Würfel erledigt. Im ersten Fall wird man betroffen und traurig; im zweiten muß man lachen wie bei einer guten Komödie.
So weit scheint die menschliche Vernunft zu kommen, dass sie einsieht, dass ein einziges Verbrechen genügt, die Welt aus dem Gleichgewicht zu bringen und sie für immer zu verdüstern. Dabei ist im Brudermord des Kain dieses Verbrechen längst geschehen. Was immer Hamlet angesichts der Ermordung seines Vaters durch dessen Bruder unternimmt, er macht die Sache nur noch schlimmer. Man könnte wohl zeigen, wenn man den Hamlet neu schriebe, ohne die späte Handlungsunfähigkeit (die erste ist die Unwissenheit) auf das Bestreben zu gründen, Rache an dem Mörder-onkel zu nehmen, wenn man ihn statt dessen die Überlegungen auf die Überführung der Gefängniswelt in eine freie menschenwürdige Welt richten ließe, dass auch damit nichts gewonnen wäre. Shakespeares Experiment mit dem ermordeten König, den er einige Male auftreten läßt, geht nicht auf. Er sollte das nächste Mal, sofern er nicht auch noch seines Sohnes Leben vernichten will, klugerweise bei den Toten bleiben.
Psychologismus führt zum Hamletismus: jedem Argument, das zum Handeln auffordert, stehen zwei neue entgegen, die davon abraten. Z.B. wenn Homer den Odysseus die beiden Tänzer des Phäakenkönigs bewundern läßt, so heißt das, dass er etwas vom Tanz versteht. Er gehört zur Aristokratie, was er damit zum Ausdruck bringt. Aber er weiß doch auch, dass dies die Weise ist, Geschenke vom Königs zu erhalten und sich herrlichen Besitz zu erwerben. Also lobt er ja nicht nur als Kunstkenner, sondern er handelt als Besitzgieriger. Homer freilich würde diese Argumentation ablehnen. Da Odysseus zur Aristokratie gehört, tut er, wie die Aristokratie nun einmal tut und tun darf, und auch die Geschenke, die er dann erhält, entsprechen dem aristokratischen Brauch.
Was treibt einen Dostojewski dazu, einen Roman wie die Dämonen zu schreiben? (Goethe hätte gewiß nie einen solchen Stoff bearbeitet.) Wie kann man Verbrechen beschreiben? Indem sie die Seele des Schreibers tangieren, vielleicht gar beschmutzen? Oder soll man sie aufnotieren im Sinn Herodots, damit sie nicht Wirklichkeit werden, mithin in pädagogischer Hinsicht? Vermag man sie so zu verhindern oder macht man sie durch solche Chroniken nicht gar noch möglich? Wir wissen es nicht. Und wir wissen auch nicht, wie sich solche Berichterstattung auf das Glaubenssystem des Schreibers auswirkt. Vielleicht dass sie in ihm den Glauben an das Gute im Menschen schwächt? Oder stärkt wider alle Vernunft?
Wer kennt die Landkarte der innerpsychischen Welt und die Erlebnisse, die dem Wanderer dort widerfahren? Dostojewskis Versuche gehören mit zum besten, was wir haben: neben unserer äußeren Alltagswelt die Beschreibung des inneren Zustands der Armen und Kranken, der Beleidiger und der Beleidigten, der Gleichgültigkeit, der Neugierde, der Sensationslust, der Lust zu herrschen und der Lust zu gehorchen ...
Dostojewski gehört der Ehrendoktor der pädagogischen Fakultäten, weil er die Wichtigkeit ermaß, über Kinder Bescheid zu wissen.
Wir sind immer irgendwie da, wenn etwas geschieht. Wir können den Abstand in Meter und Sekunden angeben. Und doch sind wir kaum je ganz da. Wir schlummern vor uns hin und merken nicht, wenn etwas in Gang kommt, weder in uns noch um uns herum.
Diese bald imponierend, bald beängstigend knappen stereotypen Angaben im Buch der Könige der Bibel, wo neben dem Namen des Königs noch seine Lebenszeit vermerkt ist sowie die Tatsache, dass man ihn nach seinem Tod im Grab seiner Väter beigesetzt hat. Und das waren doch Könige!
Glück und Erfolg und Macht lassen uns leicht die Freiheit überschätzen. Und Zwang und Unterdrückung erniedrigen uns bis zum eingesperrten Tier. Aber die innere Welt des Unterdrückten kann reichhaltiger und differenzierter sein als die Vorstellungswelt des im Labyrinth der Gesellschaft Erfolgreichen, dem die Möglichkeiten der Einsicht beschränkt sind, weil er Acht haben muß, dass er seinen Erfolg nicht verspielt.
In der Gesellschaft seinen Platz haben und von ihr als umsichtig tätig wahrgenommen zu werden trägt besser zur Psychohygiene bei als das unbeachtete Ringen um einen großen Erfolg. Doch wo sind die Psychotherapeuten und wo die Erzieher, die mit dem Einzelnen immer auch an die Formung unserer Gesellschaft denken? Therapeuten und Erzieher müßten uns sagen, wie unsere Welt idealiter auszusehen hätte, nicht nur, wie sie sich Pestalozzi oder Rousseau oder Freud vorgestellt hat.
Wie groß ist doch der Glaube, wie unerschütterlich das Ansehen, das jedes Amt in der Gesellschaft genießt, zumal wenn es mit den rechten Titeln und Mäntelchen sich versieht. Ich denke an das Heer der Psychotherapeuten. Es genügt, dass du dich als einen solchen bezeichnen darfst, um jedermann glauben zu machen, du hättest den durchdringenden Blick für alle menschlichen Bedingtheiten. Früher konnte man als Pfarrherr oder als Doktor der Theologie solches Ansehen genießen.
Wie mach ich das, dass andere an mich (als Arzt, Pädagoge etc.) glauben, weil dem Menschen immer auch Glauben Not tut, auch wenn ich weiß, dass ich diesen Glauben nicht verdiene?
Wir leben ein Leben, das uns von Tag zu Tag und Schritt um Schritt immer mehr voneinander trennt. Am Schluß weißt du nicht mehr, wer du bist; du fühlst dich verlassen, verstehst dich selber nicht mehr und lallst nur noch etwas dahin.
Ein herrliches Gespräch ist das Leben, rufen Jungfrau und Jüngling einander zu. Sie wähnen miteinander zu sprechen, dabei ist es vielleicht nur die auf Fortpflanzung bedachte Natur, die sie so reizend füreinander erscheinen läßt.
Flucht in die Einsamkeit wird oft als Weg in die Freiheit angetreten und endet als Dasein in Gefangenschaft.
Ein Ort, wo man klein werden und die Stille für sich sprechen lassen kann ...
Krankheiten, die uns plötzlich zeigen, wie verwundbar wir sind, wie vergänglich, Staub.
Wir drängen auf Veränderung, wenn uns unerträglich zumut ist, und sei es auch, dass uns nur noch unerträglicher wird.
Wenn kein Bild mehr der Seele Sehnsucht erregt, wenn sich keine Erwartung mehr einstellt und keine Erfüllung mehr lockt, wenn kein Hoffen mehr den Atem moduliert und nur noch blinder Schmerz mit immer gleichem Zügel beugt, dann ist man dem Acheron nicht mehr fern.
Es ist wie mit dem Tagewerk, das hinter uns liegt, wenn wir uns spät abends zu Bett begeben. Ein paar wohlabzählbare Augenblicke haben wir Zeit. Dann fängt etwas anderes an, über uns zu entscheiden.
Unsterblichkeit, in soweit wir uns um den uns zukommenden, allgemeingültigen Namen Mensch bemüht haben.
Man muß keinen Menschen hassen. Es genügt vollauf, sich klar zu machen, dass er sich selber dauernd am Hals hat.
Wenn Dostojewski mitteilt (Aus einem Totenhaus), dass es in der Katorga als größte Tugend galt, über nichts sich zu wundern, und wenn Horaz eben dies als große Tugend und Weg zum Glück im augusteischen Rom anpreist (nil admirari, Epist. I. VI. 1): so liegt nahe, die augusteische Friedenszeit mit einem Totenhaus zu vergleichen.
Wenn es wahr wäre und Nietzsche hätte recht, und er hätte in sich jene Trias von Unenthaltsamkeit, Winkelneid und Rechthaberei als unausrottbar entdeckt, und sie wäre ein dem Menschen eigenes Erbe: so dürften sich Erziehung und Bildung nicht als Kunst des Darüber-hinwegtäuschens verstehen.
Machen wir das Wort so bedeutend, dass man weiß, wovon die Rede ist. Und machen wir es so unbedeutend, dass es für möglichst viele Nebentöne zur Präzisierung von Erfahrungen zur Verfügung steht.
Fast jeden Satz kann man syntaktisch korrekt zu Ende bringen oder zu Ende singen. Wir kennen die Melodie der Sätze. Doch nicht jeder Satz hat auch einen Gedanken und eine Botschaft im Gepäck, wenn er auch prinzipiell offen dafür ist.
Wir stellen Fragen wie etwa: "Wie geht es dir? Kommst du mit deiner Arbeit voran? Hast du gute Tage verbracht?" Fühlt sich der Befragte wohl, so versteht er die Frage und die Kommunikation klappt. Fühlt er sich nicht wohl, so tut er gut daran, die Fragen als Zeichen der Höflichkeit zu werten.
Liebevolles hat mitunter etwas Respektloses an sich, Respektloses aber nichts Liebevolles. Doch das läßt sich von außen oft nicht entscheiden. Man wird hier wohl die Umstände, die Zuhörer u.a. mit zu Rate ziehen. Schwierig ist es gleichwohl oft, den rechten Ton zu erhören. Nicht selten indessen unterstellen wir dem Sprecher einen gewissen Ton, noch eh wir ihn gehört haben.
Über wieviel andere Dinge sprechen wir nicht zugleich, wenn wir sagen: "Das Wetter ist heute aber doch sehr schön!" oder "Schreckliches Wetter. Da mag kein Hund vor die Türe!" Nehmen wir schönes Wetter wahr, so nehmen wir zugleich auch uns als heiter und zuversichtlich wahr. Anders, wenn wir uns über schlechtes Wetter ergehen. Sehen wir von den Leuten ab, die beruflich mit Wetter zu tun haben, so muß es in unserem Wortschatz keine Vokabel für schlechtes Wetter geben. Goethe, so weit ich sehe, hatte kein Wort für schlechtes Wetter, denn er kannte keines.
Wenn einer sagt "Wie macht doch der Frühling die Frauen schön!", so ist der Satz gewiß nicht vollständig, denn er macht auch die Kinder, die Blumen und die Wiesen schön und endlich auch den, der all das Schöne sieht.
Was sich von allein ausspricht, müssen wir kaum benennen.
Laute Rede hat immer auch etwas Marktschreierisches an sich, als habe man etwas zu verkaufen, was einem sonst verdirbt. Lautere Rede klingt leise.
Auch ein mit Worten meisterlich ausgetragener Streit bleibt ein Streit.
Wie wir sprechen, was für Worte wir wählen, auf welche Weise wir aus uns heraustreten und uns darlegen, selbst oft dann, wenn wir über etwas Nebensächliches sprechen: das verrät etwas über die Lage, in der wir uns befinden. So gibt es die Syntax der Erregung, die Sprechweisen der Heuchelei, die Wortwahl und Phonik der Amtsgewalt oder die schlichte Rhetorik der arglos schönen Seele.
Bringen wir unsere Gedanken wie die Narren früherer Zeiten als Torheiten vor, so ersparen wir jedermann, sie ernstlich und wissenschaftlich auf Fehler hin zu überprüfen. Jeder kann sich mit ihnen befassen. Sagen sie ihm zu und er stößt bei dieser Beschäftigung auf ähnliche Erfahrungen, so ist es gut. Findet er aber nichts, so ist es auch gut. Leicht ja kann er sie beiseite schieben und sagen: Was scheren mich die Torheiten eines Narren. (Als Gebrauchsanweisung zur Lektüre auch dieses Buchs).
Wir können Dinge als beseelte ansprechen und zum Antworten bringen.
Wie wir beim Schreiben eine Auslese halten, damit das Geschriebene gut lesbar ist, so auch beim Sprechen ...
Folgt daraus, dass keiner weiß, was ihm alles blüht, ehe er tot ist, dass es am besten wäre, nie geboren zu werden?
Man muß nicht gleich jemanden umbringen, um eine schreckliche Tat zu begehen. In Shakespeares Heinrich VI. (2.Teil, I. Akt, 3. Szene) rügt die Königin Gloster wegen angeblichen Ämterhandels. Dann läßt sie ihren Fächer fallen, verlangt, dass man ihn aufhebe und gibt, da dies nicht geschieht, als geschehe es aus Versehen, der Herzogin Gloster eine Ohrfeige. Man erkennt unschwer, dass die Ohrfeige als stellvertretende Tat für die ihr unmöglich zu realisierende Enthauptung Glosters zu bewerten ist.
Wer etwas Schlechtes vorhat, ist oft besorgt, man könne es ihm anmerken. Und so spricht er davon, dass nur ja nichts Schlechtes geschehen möge. "Um Himmels willen, laßt ihr gut begegnen. Sagt ihr, dass ich mich bestens ihr empfehle ..." sagt Bolingbroke (Shakespeare, Richard II. III.1) in betreff der noch amtierenden Königin, wo er doch längst den Sturz Heinrichs ins Auge gefaßt hat. Wir entdecken uns, indem wir uns zu verstecken suchen.
Unsere schlimmsten Fehler sind dort, wo wir uns am heftigsten verwahren. So sagte einer, als er endlich im Amt war, Liebedienerei und Speichelleckerei gebe es bei ihm aber nicht.
Als er den Brief in den Papierkorb geschmissen hatte, war ihm, als habe er den Schreiber des Briefs mit hineingeschmissen.
Man könnte dem Satz, dass jede Handlung mit der ihr angemessenen Genauigkeit ausgeführt werden soll, den Satz gegenüberstellen, dass man nur so viele Handlungen ausführen sollte, dass eine jede geziemend ausgeführt werden kann.
Was immer Horaz mit seinem "omnem crede diem tibi deluxisse supremum" (Glaube von jedem Tag, dass er dir als dein letzter geschienen) gemeint haben mag: Es ist zwar gewiß gut, wenn es uns gelingt, jeden Tag zu einer abschließenden Einheit zu bringen. Es ist aber gewiß auch gut, wenn wir ihn darüber hinaus so gestalten, dass wir am nächsten Tag fortfahren können.
Ridentem dicere verum (Horaz), lächelnd die Wahrheit sagen, oder noch genauer, die Dinge so sagen, dass man zugleich mit zum Ausdruck bringt, dass über den Sprecher und seine Botschaft gelacht werden darf. Gerade was einem besonders am Herzen liegt muß man einem anderen so sagen, dass man ihm seinen Freiraum und seine eigene Entscheidung beläßt. Er soll uns hören, als ob er einen hörte, gegen den man Nachsicht übt, wenn er sich ein Wörtchen herausnimmt.
Skeptisch sein gegenüber den anderen Menschen, das macht, dass man sich nicht vorwerfen muß, Opfer einer allzu großen Leichtgläubigkeit zu sein. Doch stets und überall die Angel des Mißtrauens auswerfen, das macht, dass man Unheil heraufbeschwört, das sich sonst nie einstellte (vgl. Shakespeares Leontes in "Das Wintermärchen").
Was für ein Sprechen voll Zweifel und Mißtrauen, wenn man dabei immer zugleich auf die Wirkung der Worte späht!
"Mein Herr, tun Sie das immer so oder haben Sie einen besonderen Grund?" fragte ich einen Handwerksgesellen, der sich ungeniert an der Warteschlange beim Metzger vordrängte. "Gewiß", versetzte er und zwar mit der größten Gelassenheit und fügte hinzu: "Meine Kameraden warten draußen auf mich."
Erzählungen prägen sich uns besonders ein, wo wir eine Botschaft für uns mitvernehmen. Ich las einmal von einem chinesischen Weisen, der auf seinem Weg an einer Muttersau vorbeikam, die eben gestorben war. Die Jungen hingen noch an den Zitzen, verließen dann aber die tote Mutter, als der Milchfluß stockte. Und ich hörte einmal von einem Pavianweibchen, das sein Junges, das bei einer Rangelei unglücklich ums Leben kam, noch eine Woche lang mit sich herumtrug.
Wir haben nur wenig Scheu, Dinge zu tun, von denen wir wissen, dass man uns dabei nicht sieht. Dabei könnten wir uns selber kritisch zusehen. Doch es lebt sich bequemer in Kumpanei mit sich als in sokratischer Verantwortung.
Hatte sich Sokrates in seinem Innern mit einer so starken und unerbittlichen Polizei umstellt, dass ihm die äußere Polizei nur noch wie ein Possenspiel vorkam?
Wer das Sagen hat, hat nicht auch das Wissen, und wer das Wissen hat, hat nicht auch das Sagen. Macht und Gerechtigkeit passen nicht zusammen.
Vom Standpunkt der Macht ist ein Gelehrter, wie bedeutend er auch sein mag, nie viel mehr als ein Kind auf einer Spielwiese oder als ein Arbeitspferd mit Scheuklappen oder als ein Narr im Narrenturm. Und wenn er eine große, gefährliche Entdeckung gemacht hat, so nimmt man sie ihm ab und bedient sich ihrer nach eigenem Gutdünken.
Die Verantwortung, die einer von Amts wegen zugesprochen bekommt, suggeriert ihm eine gewisse Kompetenz, auch wenn er sie nicht besitzt. Es gilt aber sicher auch eine gewisse Umkehrung: dass Macht einen Selbstfindungsprozeß in Gang bringt und kompetent macht. So darf man schon die Wirkung nicht für gering erachten, die dadurch erzielt wird, dass man des Säuglings erstes Fürzchen voll Staunen beklatscht.
Alle streben wir nach Macht oder werden krank vor Ohnmacht.
Amtsgewalt, begleitet von Polizei und Militär, als Ausdruck der gesellschaftlichen Verfassung des Menschen: man ist auf den anderen angewiesen, mißtraut ihm aber.
Warum verlangt uns (vgl. den Geniebegriff der Sturm-und-Drangzeit etc.), wenn wir hoch hinauskommen und berühmt werden, unsere Genialität der Natur zuzuschreiben? Haben wir unsere Einmaligkeit als unnachahmbar zu schützen? Wäre nicht humaner, wir würden unsere Leistungen in aller Öffentlichkeit unserem Ehrgeiz und unserem Bienenfleiß und den speziellen glücklichen Umständen und Randbedingungen in unserer Zeit und unserer Gesellschaft zuschreiben?
Wo du dir selber weiter nichts sollst sagen,
such keinen auf, dich bei ihm auszuklagen.
Nicht zu vertraulich sei mit dir allein,
sonst wirst du wunderlich, närrisch, gemein.
Es gibt ein Schweigen, das daraus resultiert, dass man alles gesagt zu haben glaubt, was einer nur sagen kann, und ein Schweigen, das anhebt, nachdem das Fragen an die Grenzen der Beantwortbarkeit gelangt ist.
Viele fuchteln mit den Armen und Händen und enden mit einem Lippenspiel, wenn sie etwas ihnen Bedeutsames sagen.
Der Todkranke darf wohl fragen, warum er sterben muß. Doch der gesunde, mitten im Leben stehende Mensch muß dem Todkranken keine guten Lehren erteilen.
Ein Stachel im Geiste ist wie eine Krankheit, die man möglichst rasch loswerden will. Wo es genügt, sich einzubilden, dass man das Problem gelöst habe, nimmt man gern zur Einbildung Zuflucht, auch wenn man dann nur den Eindruck des Stachels los ist, nicht aber das Problem.
Methodik als Kunst, auch solche Gedankengänge und Konstruktionen als leicht erscheinen zu lassen, die in der Geschichte der Forschung mit viel Schweiß und Mühe verbunden waren. Das ist nützlich für den Anfänger der Wissenschaften. Andererseits verschafft aber erst die genaue Lektüre Einblick in die Leistung der Forschung wie auch in Möglichkeiten der Korrektur bzw. Erweiterung. Die wichtigsten Dinge müssen wir immer wieder aufs neue durchgehen (curricularer Aspekt).
Zeige mir, was du immer wieder aufs neue durchdacht hast, und ich sage dir, was für dich wichtig ist.
Gibt es eine Einübung und Vorbereitung, dass wir die großen, singulären Ereignisse in unserem Leben angemessen erfassen und in Worte fassen? Da strömten die Leute vor der großen Sonnenfinsternis im August 1999 zu den Vorträgen zusammen, und dann erzählte man ihnen eine Menge Sonnen- und Astrophysik, was sie niemals in so kurzer Zeit verstanden haben können. Doch sind sie vermutlich auch nicht deshalb zu den Vorträgen gekommen. Was treibt die Leute in die Hörsäle, wenn von Sonnenfinsternis oder vom Sonnensystem oder vom Licht fernster Sterne die Rede ist. Was verbindet man damit, dass sich uns da eine weit zurückliegende Vergangenheit vergegenwärtigt? Was lockt zum Zuhören über sterbende Sonnen und schwarze Löcher, über Expansion und Zukunft des Alls und überhaupt über die Weltbilder der modernen Astronomie? Es scheint eine Art träumerisches Interesse zu sein, das unterhalten wird, wenn einem gesagt wird, dass die Sonne, auch wenn sie heute ihre Kernfusion einstellte, doch noch viele Jahre weiter leuchten würde, eine märchenhafte Lust, sich hinaus zu träumen in weit abgelegene, unbekannte Räume und Zeiten, was alles bestenfalls mit den Aussagen der Physik genährt und in Gang gehalten, keineswegs aber gestillt wird. Kann das Bild der sich verfinsternden Sonne nicht zum Abbild werden für vieles, was uns tief im Innern bewegt: für alles jäh auf uns Zukommende? Für Dunkelheit und Tod, wie auch zum Zeichen, sich auf den Weg zu machen und in Sicherheit zu bringen, irgendwo vielleicht in der Ferne der Milchstraße?
Wir machen Aufsehen mit dem, was wir gestern zu lernen begonnen.
Wünscht man sich gewisse Eigenschaften, so ist man alsbald auch schon geneigt zu glauben, man besitze sie.
Können wir etwas besitzen, was in unserer Achtung hoch steht, ohne es zu kultivieren?
Es gibt Leute, die sich darauf spezialisiert haben, das Unglück der ganzen Welt auf sich zu ziehen und sich zu eigen zu machen.
Ehrgeiz und Eigennutz als Ausdruck des aufs Ich bedachten Lebens und als Quelle von Ungerechtigkeit und Unheil. In diesem Sinn läßt sich sagen, dass es unsere Bestimmung ist, am Leben zu leiden.
Beginnt das Alter damit, dass man der Ahnung nachgibt, dass man den Jugendtraum, etwas Großes und Schönes zu leisten, nicht hat erfüllen können?
Im Alter endlich hatte er es geschafft, jeden Fehler, wenn ihm einer passiert war, aufzuspüren und zu eliminieren. Hatte er dann aber alles verbessert, so fragte er sich: Wozu? An den fehlerhaften Versuchen in der Jugend hatte er sich mehr gefreut.
Glaube dem nicht, der zu dir sagt: "Das halbe Leben sind wir zu jung, die andere Hälfte zu alt." Jetzt ist die Zeit. Jetzt hast du das rechte ideale Alter. Jetzt fang an!
So könnte Sokrates zu uns sprechen: Du mußt keine Angst haben, den rechten Weg zu verfehlen, wenn du nur dein Tagewerk recht besorgst. Was dir sodann widerfährt, ist gewiß nichts Schlechtes.
Wenn wir beherzigen, dass alles hat auch ein gute Seite hat, bekommt der Menschenhaß nie restlos Gewalt über uns.
Es wäre gut, sprechen zu lernen wie wir gehen lernen: Wie die Füße mit dem Boden, so sollten wir auch beim Sprechen mit den Dingen in Kontakt kommen. Und die Dinge würden die Feinabstimmung bei unserem Sprechen überwachen und garantieren ...
Es gibt ein Heilmittel gegen das Gift des Lebensüberdrusses: die selbstgewählte Knechtschaft auf Zeit, wie die Knechtschaft des Apollon bei Admet ...
Angesichts des Todes, dem wir nicht entrinnen, empfinden wir das Leben oft als eine Art Krankheit. Wer nach Heilung sucht, muß wohl krank sein.
Wenn wir auch nicht dem Tod entgehen, der Verzweiflung über unseren Tod können wir entgehen.
Vorstellungen sind mitunter von so überwältigender Kraft, dass sie selbst die Schrecken des Todes zunichte machen. So etwa, wenn sich Suffolk ausmalt, wie seine sterbende Seele in Magarethens Leib Aufnahme findet. "Bei dir zu sterben hieß im Scherz nur sterben!" (König Heinrich VI. 2. Teil, 3. Akt, 2. Szene)
Handelt es sich um eine Berichtigung und um eine Selbstbefreiung, wenn Frauen es sich verbitten, in der Vorstellung des Mannes als Gottesmutter zu erscheinen?
Er sagte: "Es macht mir nichts aus, wenn sie tödlich verunglückt!" Dabei hatten sie zusammen ein Kind.
Je schwächer die Rolle eines Mannes in den Wänden der Häuslichkeit ist, um so wichtiger ist es für ihn, außerhalb des Hauses als stark zu erscheinen. Je mehr er aber außerhalb es Hauses gedemütigt wird oder sich gedemütigt vorkommt, um leichter ist er geneigt, sich zuhaus als Tyrann zu entschädigen.
Ist es so, dass sich Männer schwerer mit einer zerbrochenen Ehe abfinden? Sind Frauen emotional stärker als Männer? Sind sie, über den Kinderwunsch hinaus, weniger auf sexuelle Befriedigung aus?
Häßlich, wenn einer Frau oder eines Mannes Testament den Satz enthält: "Ich will nicht, dass du dich neben mich legst!" Um wieviel schöner und nachahmenswerter sind da nicht Geschichten wie die von Abu el-Hasan, dem Schalk und Nuzhat el-Fuad aus 1001 Nacht, wie sie sich tot stellen, um durch Gunst des Kalifen und der Herrin Zubaida die eheliche Wirtschaftskasse wieder etwas aufzufüllen. Solche Geschichten sind ebenso unterhaltsam wie nützlich. Wir sind ja gerne geneigt, den Gott, der sich die Gemeinschaft von Mann und Frau ausgedacht hat, uns auch ein wenig so vorzustellen, dass er sich, ähnlich wie der Kalif, gern auch mal augenzwinkernd übertölpeln läßt, auf dass auch die Wirtschaftskasse wieder stimmt. Und gibt es Zeiten, wo es uns drängt, mit Leila und Madschnun dem ewigen Leben entgegenzuweinen, so gibt es auch Zeiten, wo wir ihm mit Abu el-Hasan und Nuzhat el-Fuad entgegenlachen.
Wieviele unserer Psychologen, die durch wissenschaftliche Neugierde und Experimentieren an sich ihr Leben und das ihrer Familien aufs Spiel gesetzt haben, sind Helden und wieviele bedauernswerte Narren und Opfer geworden?
Kein Wort erklärt sich aus sich selbst, immer nur aus dem jeweiligen Vorverständnis des Hörers oder Lesers.
Wenn wir wissen, dass einer schwerhörig ist, wird unsere Rede nicht nur sehr laut, wir beginnen meist auch, unser Vokabular auf die allereinfachsten Wörter zu beschränken, als hätten wir einen der Sprache Unkundigen vor uns.
Was ist es, das uns zum Reden und zum Austausch in der Rede drängt? Als ob unsere Aufgabe wäre: alles, was ist, auszusagen, dass es ist, als ob wir, wenn uns das gelungen wäre, alles getan hätten, was unserem Leben Sinn und Berechtigung gibt. Sokrates hatte wohl recht, wenn er sich der heiter scherzenden und humorvollen Rede befleißigte. Denn wenn wir uns um genaue Aussagen bemühen, wir aber stets argwöhnen müssen, viel daran vorbeizugehen, wenn wir voller Zweifel sind, da wir meist nur Vorgeformtes und Allgemeines vor uns haben (Sätze, die Meinungen widerspiegeln, Vorstellungen, Bilder, Prinzipien, Maximen, Glaubensartikel ...), so ziemt uns kein ernsthaftes und rechthaberisches Gesicht und keine dogmatische Rede oder Belehrung. Dann ist besser, wenn wir beim Aussprechen unserer Ansichten zum Ausdruck bringen, dass wir es eben nicht oder noch nicht besser wissen und wir mithin alles nur vorläufig meinen und dass wir durchaus denjenigen schätzen, der uns zu besserer Ansicht und Einsicht verhilft.
Gefragt zu sein! Wenn wir fertig brächten, dass dies sich als die Bestimmung eines jeden Menschen herausstellte! Gefragt zu sein, weil es auf den anderen ankommt! Öfters aber hört man "Du bist nicht(s) gefragt!" Oder man fragt mit dem gemeinem Ansinnen, ein Geständnis aus einem herauszulocken und einen Strick zu drehen.
Warum seine Meinung zum besten geben, wenn keiner darum wissen will? Warum aber sie verschweigen, wenn sie auf Widersprüche und bessere Wege aufmerksam macht?
Wenn wir einem anderen etwas Wichtiges sagen wollen, so dürfen wir nicht gleich von der Sache als von etwas Bedeutendem sprechen. Er könnte annehmen, dass wir alles längst schon ausfindig gemacht haben und dass uns nur daran liegt, vor ihm unsere Weisheit zur Schau zu stellen. Statt ihn mit dem wichtigen Gegenstand zu überfallen, versuchen wir besser, ihn als glänzenden Kenner und Beurteiler zu Rate zu ziehen und auf sein Wort gespannt zu sein.
Reden wir so, dass wir möglichst gut verstanden werden. Das heißt freilich nicht, dass wir, wenn wir über das Hier und Jetzt reden, nicht auch leise über andere Dinge mitreden können. Vom Nahen zum Fernen, vom gegenwärtig Erfaßbaren zum Vergangenen oder auch zum möglich werdenden Ereignis.
Womit mir nichts anfangen können, weil es unsere Auffassungskraft übersteigt oder was uns momentan nichts bedeutet, halten wir leicht für absolut bedeutungslos. Doch wäre besser, wenn wir nur das beurteilten, was wir als etwas für uns Bedeutsames verstanden haben.
Erfüllt von Empfindungen und Erfahrungen, die wir mit anderen teilen: Ausgangspunkt und Haltepunkt unseres Sprechens.
In keinen Menschen eine gemeine Seele hineinsehen. "Wenn ihr in mir einen Schuft seht, bitte, dann sollt ihr recht haben; dann will ich ihn euch zeigen." Diese gemeine Einschätzung, nicht die gute Handlungsweise des ansonsten königlichen Kaufherrn Antonio, der ohne Zinsen Geld auslieh, war wohl auch der Grund, weshalb Shylock, auf den man voll Verachtung herabsah, so grausam auf dem Pfund Fleisch des Antonio bestehen konnte.
Es bekümmert uns wenig, mit welchen Augen Leute, die keine Macht über uns haben, auf uns schauen, wenn wir sie unsympathisch finden.
Wenn ich mich in meinen Handlungen für demütig halte, neigt meine Selbsteinschätzung zum Hochmut. Der wahre Dienst geschieht aus Notwendigkeit und weiß kaum etwas um eine Bewertung. Ähnlich läßt sich fragen, wie gerecht einer ist, der sich für gerecht hält ...
Wie wir den Schlaf brauchen, so brauchen wir auch Erholung. Doch das Triviale, wenn es kraft der Gewohnheit fester Bestandteil unseres Lebens, ja vielleicht gar zur 2. Natur geworden ist, bleibt gleichwohl Triviales. Wir sollten nicht vergessen, dass es dazu da ist, uns zu entspannen und nicht dazu da, uns die Zeit zu stehlen.
Das Unrecht, wenn wir Menschen vorwerfen, dass sie ihre Zeit vergeuden. Erst wenn man uns gelehrt hat, etwas aus unserer Zeit zu machen und wenn uns die Sozietät Gelegenheit gibt, Gutes auszuüben und zum Vorschein zu bringen, wenn wir Aufgaben und Projekte zu verfolgen in der Lage sind: erst dann sind wir auch in der Lage, diese zu unterlassen und kostbare Zeit zu vergeuden.
Hast du die Blumen gepflegt und blühen sie noch?
Die Bewegung des Lebendigen (am Beispiel des Sich-öffnens eines Blütenkelchs): Aufgehen und sich entfalten, In Blüte stehen und Vergehen. Häßlich die gekauften Blumen, die man im Moment des Erblühens imprägniert hat, so dass sie in der Fülle der Jugend zu stehen scheinen und doch mumifiziert sind.
Das Gleichnis der Blumen. Die wundervollen Farben der Blumen sind ja nicht ausschließlich ihr Werk. Sie sind (neben noch anderen Eigenschaften wie Duft etc. ...) das Werk vielfältiger Wechselwirkungen von Blume, Insekt und äußeren Bedingungen, das Werk eines Pflanze und Tier umfassenden Organismus, der von Natur variabel und verformbar sich durch Wechselwirkung und Austausch zu einer optimalen Form hinentwickeln konnte. Nur weil wir das Individuum hoch oder gar zu hoch einzuschätzen gelernt haben, deuten wir oft falsch.
Wenn du tot bist und zum Herrscher der Welt kommst, wirst du ihm dann danken wie nach einem schönen Spiel, dem du hast beiwohnen dürfen, oder wirst du ihm den Dank vorbringen in der Hoffnung, dass er dich dafür noch ein weiteres Spiel anschauen läßt?
Sind wir erst dann ruhig, wenn uns die Erde überdeckt und der Wind wieder über eine menschenleere Erde dahinweht?
Wir, die wir der Jahrtausende alten Knechtschaft des Bauchs und vielen Unbilden der Natur entronnen sind, was fangen wir mit der plötzlich uns zur Verfügung gewordenen freien Zeit an?
Der alte Goethe scheint dafür zu plädieren, alle Kräfte in uns maßvoll mit der ihnen je eigenen Nahrung zu sättigen: das Verlangen nach Religion, nach Schönheit, nach Wissenschaft, nach Austausch mit Freunden ... Und so bildet sich die Vernunft, die sowohl nach der Logik des Verstandes verlangt als auch nach dem Glauben, ja selbst auch nach dem schönen Schein und dem Aberglauben, weil sie allen starren Grenzziehungen mißtraut.
Als Kind sind wir hellwach, sobald wir wach sind. Ältergeworden dünkt mir mitunter, als dämmerten wir auch nach dem Aufwachen noch weiter.
Im Alter taucht man in eine Wirklichkeit ein, die wieder etwas von einem Traum an sich hat. "Wir beide träumen", sagte der Großvater zum Enkel. "Du, weil Leben und Welt noch in sehr weiter Ferne vor dir liegen."
Mitunter, wenn der Großvater im Traum erscheint, weiß ich nicht, dass er schon lange tot ist. Aber der Traum weiß es. Da wohnt er in einer fremden Stadt, da stehen Fenster oder Türen offen, oder ich sehe nur, wie er im Dunkel dahingeht ...
Ein Hauch von Melancholie, wenn man im Alter auf liebgewonnene Gewohnheiten Verzicht leisten muß.
Wenn das Bedürfnis erlöscht, ein Gespräch zu suchen und etwas zu besprechen oder aufzunotieren, wenn der Tod herannaht und Denken und Gefühl in Beschlag nimmt ...
Lange, nachdem die Eltern tot sind, regt sich immer noch das Bedürfnis, zumal an einem Tag, wo wir etwas Schönes erlebt haben, zum Telefon zu eilen, um es ihnen mitzuteilen.
Ob das möglich ist, Abschied zu nehmen für immer? Zwar hat mich der Vater vor seinem Tod noch einmal an sich gedrückt, und doch ist mir mitunter, zumal wenn ich an den eigenen Sohn denke, als hätte er auf mich gewartet und ich wäre nicht gekommen.
Manchmal, wenn uns traurig zumut ist, denken wir an eine Auswanderung in ein fernes Land, wo der Himmel klar ist und die Menschen gut und die Sprache noch urtümlich frisch und formbar.
Dass uns nur nicht die flinken und einflußreichen Sprecher unseres Landes verführen, uns nach einer anderen Sprache umzusehen. Heimweh würde mich überfallen, wäre niemand mehr da, sich mit mir in der Muttersprache zu unterhalten.
Der Körper, eine Art Arbeitsgerät, dessen wir uns bedienen, um es ruhig beiseite zu legen, wenn es zu nichts mehr zu gebrauchen ist.
Wenn uns die Natur einen Trieb zur Unmenschlichkeit mitgegeben hat, wie Montaigne vermutet, Gewohnheiten aber zur zweiten Natur werden, dann wäre Aristoteles unbedingt Recht zu geben und die frühe Gewöhnung an sittliches Verhalten und die damit verbundene Einschränkung unserer Proteusnatur weit über die Einübung von Verstand und Vernunft zu stellen.
Begehren wir nicht, in der langen Zeit der Jugend etwas besonderes zu werden, und müssen uns dann damit zurechtfinden, in der Masse zu verschwinden?
Dass ihr sterben müßt, damit kann ich gut leben. Und dass ich sterben muß, damit könnt ihr gut leben.
Wenn wir heute lesen, wie Goethe bei Wielands Tod über die Unsterblichkeit der Seele spricht, so betrachten wir diese Rede als Dokument der Aneignung des Platonismus und des Neuplotinismus durch Goethe wie auch als Aneignung der Leibnizschen Monadenlehre. Doch kommen wir auf die Sache selbst zu sprechen, auf die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, so beginnen wir zögerlich zu werden. Wenn es aber zum Begriff des Humanum gehört, dass der Mensch eine Erzählung besitzt, an die er glaubt und die ihn beruhigt und die ihn leben läßt in etwa dem Sinn, wie ihn Goethe damals unterbreitet, nämlich als eine Art von Selbständigkeit, die auch das Sterben überwindet, wenn dem so ist, dass der Mensch solche Texte braucht, weil das menschliche Leben, das schon als solches schwer zu ertragen ist, ohne sie kaum bestanden werden mag: dann vergeht sich eine Pädagogik auf ihrem ureigensten Gebiet, wenn sie Kindern und Jugendlichen solche Nahrung vorenthält.
Sich ein solches Zuhause einrichten, dass man alles hat, was man braucht. Dann muß man nicht durch die Welt rennen. Dann kommt die Welt zu einem nach Hause.
Ausgefüllte Zeit lehrt den Glauben an die auszufüllende Zeit.
Hunger und Durst aufkommen lassen, um ihn zur rechten Zeit zu stillen.
Warte mit dem Trinken, bis du Durst hast.
Versuch im Schatten auszuruhen, wenn du nichts zu trinken hast.
Du mußt nur warten, bis du Durst hast. Dann verwandelt sich dir ein Schluck Wasser zum trefflichsten Wein.
Die Aussage. dass alles seine Zeit hat (Kohelet): Essen, Trinken, Schlafen, Heiraten, Kinderzeugen, Sterben ... kann als Ausdruck einer Grundauffassung gedeutet werden, die Zusammenhang stiftet und so dem Leben etwas Ruhiges, Beruhigendes, vielleicht sogar eine Melodie ermöglicht. "Alles zu seiner Zeit" kann als Ausdruck einer geglückten Koinzidenz von Mensch und Ding aufgefaßt werden. Nimm als Beispiel das Gläschen Wein, das du zu trinken dich anschickst. Dazu muß der Wein sein richtiges Alter und seine richtige Temperatur haben. Ein Glas Rotwein z.B. darf nicht zu kalt sein. Dazu kommt, dass du den rechten Appetit haben mußt, was wiederum bedeutet, dass du nicht trinkst, ohne zu bemerken, dass du trinkst. Vielleicht, dass du mit deiner Frau eine Wanderung durch die frühjährlichen Rebberge gemacht hast, wo du dich schon unterwegs auf diesen herrlichen Schluck gefreut hast ...
Fragt man Goethe, was sich in Weimar erleben läßt, so antwortet er vielleicht: "Weimar wäre nicht Weimar, wenn ich nicht in Weimar wäre."
Wofür ist unsere Zeit gut? Wozu ist eine Wegwerf- und Spaßgesellschaft da?
Was für eine Botschaft über uns sollen wir in den Weltenraum hinausschicken, damit anderswo lebende und denkende Wesen in der Lage sind, sich ein Bild von uns zu machen? Wäre es nur dies, dass es gut ist, dass sie mit uns keine Bekanntschaft haben machen und dass sie sich vor uns nicht haben in acht nehmen müssen?
Werden wir uns erst bewußt, wenn wir im babylonischen Geschrei und Stimmengewirr unsere Stimme heraushören?
Gewohnheit macht schamlos und Schamlosigkeit läßt gewisse, ansonsten selbstverständliche Regeln außer acht. Ärgerlich über eine Nachbarin verfaßte ein bereits im Pensionsalter befindlicher Mitbürger (ein ehemals verschmähter Liebhaber?) ein Schreiben und sandte es über einen Rechtsanwalt in alle Welt, in welchem er selbst über intime Dinge der Dame zu Felde ziehen zu müssen glaubte. So berichtete er u.a., dass sie abends gelangweilt in ihrer Küche sitze und in Illustrierten blättere. Offenbar hatte er nicht bemerkt, wie schamlos das alles war, und auch sein Rechtsanwalt nicht.
Wir leben in einer Zeit, die auf Trieberfüllung setzt, statt - wie Sokrates - auf behutsamer Triebreduktion und Sublimation. Doch wie: wenn es keine Sättigung und Erfüllung gibt, sondern immer nur ein noch größeres Verlangen und Begehren, das noch stärkere Erregungen und Stimulationen nach sich zieht?
"Wir leben, fühlen und denken, ohne zu wissen wie." (Voltaire)
Die Größe unserer Erregung über einen Schaden macht über die absolute Größe des Schadens keine Aussage. Kleine Verluste und Schäden erregen uns oft wie Nadelstiche über alle Maßen, als ob wir in der Tiefe unserer Seele nicht unterscheiden könnten, ob wir aus Versehen ein Glas Wein aufs neue Tischtuch ausgeschüttet oder einen Autounfall gebaut haben ... Insbesondere kann das umgeschüttete Glas Wein uns Schmerzen bereiten, wenn es außerhalb des Hauses, bei einer Einladung geschieht. Schon ein Speicheltröpfchen, das auf das Kleid eines anderen fällt, kann überaus peinsame Gefühle auslösen.
Lust will nicht nur Ewigkeit, sie will auch Steigerung, Raffinement, Verfremdung, Überraschung, Abwechslung. Die herrlichste Skiabfahrt z.B. verliert rasch an Exklusivität und wird langweilig, wenn sie andauernd geschehen kann, während ein überraschend möglich gewordener Abendspaziergang auf neugefallenem Schnee oder ein paar Schritte ins Freie bei Anbruch des Frühlings unendlichen Reiz bieten.
Wir haben Angst vor allen Ausnahmeerscheinungen. Wir haben Angst vor der Anmaßung des Ausnahmemenschen, vor seinen Amtsinsignien und überhaupt vor aller Selbstherrlichkeit und Selbstinszenierung.
Leben und Kunst ohne Form sind nicht möglich. Doch wenn ein sinnstiftender Gedanke oder doch zumindest die Hoffnung und Aussicht auf einen solchen fehlen: wozu ist dann die Form gut?
Wir dürsten danach, möglichst alles zu haben, wären wohl aber tief unglücklich, wenn wir alles hätten. Wie, oder leben wir nicht bereits in einer Zeit, wo wir soviel haben, leben wir nicht schon in einem "Paradies", wo Hoffnungen und Utopien und Illusionen verkümmern, wo Leben und Lebensgestaltung kunstlos und langeweilig geworden sind?
Warum fehlt in der Literatur, vornehmlich in den Theaterstücken unserer Zeit, neben der kunstvollen Sprachbehandlung vor allem auch die Lebenserfahrung und die Spruchweisheit, die ein Euripideisches Stück, und auch noch ein Shakespearesches Stück nachdenkenswert machen? Hat man Angst, sich als Oberlehrer aufzuspielen?
Kunst, die von vielen gemeinsam erlebt und geteilt wurde, konnte den schönen Schein durchaus in ihren Dienst nehmen. Man fand sich darin wieder. Eine Gesellschaft, wo der Einzelne fast nur noch auf sich selbst verwiesen ist wie in unserer Massen- und Konsumgesellschaft, wird der schöne Schein zum Problem. Wo niemand mehr die Not mit ihm teilt, wo sie sich nicht mehr als Unwissenheit oder als Sünde interpretieren läßt, kann der Einzelne nicht mehr dabei stehen bleiben und zur Ruhe kommen. Eine unendliche Odyssee ist programmiert, wo es keine Ankunft gibt und wo nur der Tod sagt: "Nun ist gut. Die Reise ist zu Ende."
Wir haben viele Kritiker, die alles besser wissen, aber nichts besser machen. Wenn ich in einem Schauspielführer lese, wie lässig und oberflächlich man den Euripides beurteilt, dann denke ich: Wenn ihr nach dieser eurer Kritik die Stücke neu zu schreiben hättet, käme gewiß etwas viel Schlechteres heraus.
Goethe hätte jedem Lobspruch eines Literaturpapstes die Bewunderung eines Napoleon vorgezogen.
Unbedeutende Aufgaben der Literatur von heute. Man will nicht mehr an der Seite eines Gilgamesch erkunden, zu was für einer himmelstürmenden Lebensreise der Mensch befähigt ist. Man glaubt zu wissen, dass es eine solche nicht gibt. Man will auch nicht mehr wissen, wie die Welt beschaffen ist und was sie im Innersten zusammenhält. Nur noch gesellschaftlich politische Propaganda und Kritik oder eine Art Weltgefühl, wie sie sich im Schreiber hier und jetzt bemerkbar macht, scheinen als Projekte für die Literatur übrig geblieben.
Man erwartet vom Schriftsteller eindeutige Stellungnahme, erwartet glühenden, heiligen Zorn und Verachtung alles Unrechts. Shakespeare indes hätte wohl kaum einen Verbrecher so dargestellt, und zwar nicht, weil er in ihm nicht auch einen Verbrecher gesehen hätte, sondern weil er den Verbrecher von außen, affektlos und vorurteilslos, mit dessen eigenen Augen zu sehen trachtete. So führt Shakespeare einen Richard III. nicht als verabscheuenswert vor, vielmehr scheint es Richard III. zu sein, der stolz darauf ist, sich durch das Medium des Schriftstellers als Könner seines Fachs kundzutun. Wir ärgern uns allenfalls, wenn wir mitverfolgen, wie man nur so auf einen Schurken hereinfallen kann. Und müßte uns nicht gar das Bild eines wahnsinnigen Verbrechers bis ins Mark hinein erschüttern, der gleichwohl auch noch nach Gutem aus ist?
Kaum je gab es eine Zeit, wo soviele Autobiografien geschrieben wurden wie heute. Und doch, helfen sie uns bei der Suche nach einem sinnvollen menschenwürdigen Leben? Jedenfalls ist es ein zweifelhaftes Glück, wenn eine Autobiografie nicht mehr erbringt, als dass sie Einblicke gewährt in kleine, jämmerliche Dessous.
Man setzt uns Gemeinheiten vor, konfrontiert uns mit Abscheulichkeiten. "Nein, dass es so etwas gibt! Das Messer geht mir im Sack auf!" Das ist vielfach Sinn und Zweck der heute erstellten Literatur.
Bücher heutzutage, wo uns Autoren die bescheidene und ungeschminkte Wahrheit ihres Lebens erzählen. Besser wäre, sie zeigten uns, wie sie die Versäumnisse und Fehler der Elterngeneration Stück um Stück ihren Kindern gegenüber vermeiden.
Im perikleischen Athen wurden die besten Köpfe Theaterdichter, im Mittelalter wurden die besten Köpfe Mönche oder Architekten, in der Renaissance Maler und Universalgelehrte, im 20. Jahrhundert Atomphysiker ...
Will man einen guten Rat geben, so muß man nicht mit hochrotem Gesicht und erregter Stimme zum Ausdruck bringen, was man auch heiter sagen kann.
Woher das Bedürfnis nach Großem und Herrlichem in uns? Wenn aber alles Bedürfnis auch immer den Bedürftigen verrät: müssen wir uns dann dieses Bedürfnisses schämen und es uns abgewöhnen?
Wir sprechen oft viel zu ernst über alles, als gäbe es dafür noch einen Extrapreis. Versuchen wir es doch umgekehrt: lassen wir zwischen unseren Wörtern etwas Raum für Ironie und Selbstverspöttelung und leisen Zweifel. Nehmen wir uns das Einatmen und Ausatmen zum Vorbild, ein Wechselspiel von ernster Notwendigkeit und heiterem Entspannen. Solches Sprechen ist erholsam wie die Literatur des Rabelais.
Mag auch der Dogmatiker mühevoll seine Grenzen wahren. Sie mit Humor und Ironie umspielen ist oftmals besser. Jedenfalls werden wir so weniger leicht anfällig für Ausfälligkeiten oder gar für das Austragen von Glaubenskriegen.
Sprechen wir distanziert über uns und über unsere Zeit, damit sich nicht durch uns hindurch unmittelbar die schlechte Seite unserer Zeit ausspricht.
Wir scheinen unentwegt nach etwas zu suchen und wären vielleicht unglücklich, wenn wir es hätten.
Einen Feind kann man behandeln, wie man will; man verliert ihn nicht. Einen Freund aber muß man auch schonen, man muß ihm nicht alles zumuten.
Von denen, die wir vornehmlich um besonderer Kenntnisse und Fertigkeiten achten, werden wir nicht notwendig wiedergeachtet, ebenso wie auch wir oft die nicht achten, die uns achten. Wie aber ist dann eine Freundschaft möglich?
Gewiß wird jedermann gern behaupten, dass es Freundschaften ohne Rang und Rangordnung gibt.
Gestehen wir es nur: wir lassen den Teufel gerne gewähren, solange er an unserem Glück arbeitet.
Wer keine Arbeit und keine Aufgabe hat, beneidet den, der arbeiten kann.
Man ermißt etwas vom Besitz dieses Tages, wenn man sich klar macht, dass man ihn nicht notwendig zu besitzen brauchte.
Wir vergehen uns an der uns gegebenen Zeit, indem wir sie nur zum Mittel unserer Ziele machen.
Das Unbekannte ist das Reizende, Aufregende, Motivierende. Bekanntes wird schnell vertrauter, langeweiliger Besitz.
Eine Gesellschaft setzt sich zusammen aus erstens satten und zweitens unmündig gemachten Gesetzesbefolgern, sowie drittens aus einigen, die Gesellschaft provozierenden Rand- und Hungerexistenzen. In friedlichen Zeiten gibt es darüber hinaus auch noch ein paar staatlich zugelassene, satte und überflüssige Querdenker: Leute, die sich gern als prominente unbequeme Denker verstehen, die sich meist darauf beschränken, unter dem Beifall der für sie wichtigen Leute Machbares einzufordern. Vielleicht täte mitunter auch ein Don Quijote gut, der an unwiederbringlich Vergangenes erinnert.
Der Mensch der Langeweile ist wie das Rohr im Wind. Immer hält er Ausschau, sich von etwas schaukeln zu lassen.
Innehalten und nichts tun ist oft schwerer, als sich auf die gewohnte Weise gehen zu lassen.
Ob unser Terminkalender anders aussähe, wenn darin schon unser letztes Stündchen vermerkt wäre?
Das allein macht das Glück des Lebens noch nicht aus, dass man fast alles hat und sich fast alles leisten kann. Man muß nur zu dem aufschauen, der sich noch mehr leisten kann. Selbst der Millionär kann sich insofern leicht als bedauernswert arm vorkommen. Als Mensch in unserer Gesellschaft scheint man erst dann tadellos glücklich zu sein, wenn man sieht, dass man hat, was andere nicht haben und worum sie einen beneiden. Was wären Eleganz und große Welt, wenn das neidische Auge der vielen sie nicht mit einem Goldrand umgäbe?
Wir leben in einer Welt voller Rivalität und Dissoziation. Lebten wir in einer Welt, wo das Gelingen des Einzelnen im Bewußtsein der Bemühungen aller verankert und aufgehoben wäre, so gäbe es gewiß weniger Krisen; wir könnten uns besser mit uns abfinden.
Da kämpfen und schreien und zittern sie in den Sportarenen und erdulden oftmals die Qualen von Verdammten. Und dies alles wofür?
Gruppenzwänge muß man nicht notwendig und grundsätzlich weder verdammen noch gutheißen. Man sollte nicht vergessen, dass Traditionen und Autoritäten nützlich und vorbildhaft sein können, auch wenn aller Tradition schließlich ein wenig Zwanghaftes anhaftet.
Eine Zeit, wo man, will man vorwärts kommen, Gassenschreier seiner Taten sein muß.
Man haßt die Züge am mißratenen Bruder, die er mit uns teilt, ohne zu bedenken, dass wir auch Züge mit dem wohlgerateneren Bruder gemeinsam haben.
Niemand interessiert sich für dich, wenn du von der Bühne abtrittst. Niemand bemerkt es. Alles bleibt, wie es war. Man geht weiterhin grußlos und interesselos aneinander vorbei, dass man den lieben Gott fast ein wenig bedauern muß, falls er wirklich vorhat, die Gesellschaft solcher Gesellen für einen Umgang in der Ewigkeit um sich zu scharen.
Wo ist der Ort, wo man nimmer befürchten muß, dass es ein anderer besser hat?
Wie meistern wir die Tage, dass sie unser heißen?
Zeitzeugen und Zeugnisse unserer Zeit.
Rastlos verändern wir die Natur und greifen gewalttätig in sie ein, um dann, wenn wir merken, dass wir scheitern, uns leise umzusehen, ob nicht doch wenigstens noch die Natur in Ordnung sei.
Haben wir auf der Suche nach unserer ureigentlichen und "nackten Existenz" (Sartre) uns doch vielleicht etwas zuviel ausgezogen?
Eine über alle Schulen und Institute reichende Legitimation, um Bericht zu erstatten: wie könnte die aussehen?
Hätten wir eine Vorstellung von den Möglichkeiten, Zeit zu nutzen und Welt zu gestalten, wir könnten unsere Zeit beurteilen! Doch wir kennen keine große Geschichte, die wir nachahmen oder in die wir uns einbringen könnten, und nichts ist uns so verschlossen wie der Blick in die Zukunft hinter der träge und trübe dahinfließenden Zeit.
Geschichtliche Epochen erscheinen, wenn Kontinuität und Tradition abreißen, märchenhaft unwirklich.
Um die Taten in der Geschichte, aber auch um die Werke der Kunst sehen und beurteilen zu können, brauchen wir Maßstäbe des Sehens, brauchen wir Informationen über die Gedanken und Motive und Bestrebungen ihrer Urheber, über mögliche Alternativen zu diesen Werken wie auch über die gesellschaftlichen Gegebenheiten, Ideale ...
Sie haben lange genug gesungen und Musik gemacht, weil sie nicht reden durften; jetzt aber reden sie, weil sie nicht mehr singen können.
Er brauchte seine Zeitung, damit er etwas hatte, worüber er sich schon am frühen Morgen aufregen und schimpfen konnte.
Sind wir nicht perfekte Künstler in der Selbststörung? Unfähig einen Brief zu schreiben oder einen geschriebenen Brief zu lesen, legen wir uns tausend Leitungen ins Haus, damit uns nur ja schnell zukommt, was einer irgendwo in der Welt fahren läßt.
Wir brauchten eine Zeitung, die uns von den Ereignissen des nächsten Jahres, wenn nicht von denen der nächsten Jahrtausende berichtet.
Könnten wir ruhiger leben, wenn wir wüßten, dass wir noch so und soviele Jahre vor uns hätten?
Muß denn erst alles vorbei sein, damit wir ermessen, was wir gehabt haben!
Warum ist uns der Gedanke an unsere Geschöpflichkeit unangenehm? Erweckt dieser Gedanke den Eindruck der Unfreiheit? Und fürchten wir uns vor Leuten, die dann das Recht in Anspruch nehmen, über uns zu wachen und uns zu kontrollieren? Vielleicht gar mit immer ausgefeilteren Mitteln der Computertechnik?
In unserem Glücksstreben spiegelt sich, was wir als Wunderglaube noch gelten lassen.
Haben wir denn einen Grund, die Existenz eines Schöpfergottes zu leugnen, der uns das Leben gegeben hat und der uns wiederbeleben kann, auch wenn wir einmal gestorben sind? Wenn es ihn gibt und er die Macht hat, meinem Weibchen und mir ein dauerhaftes Nestchen zu bauen, so will ich ihn dafür preisen.
Man schaut auf die Uhr: Einmal, wie spät es ist und ob man etwas verpaßt, zum andern, wie lange man noch zu warten hat bis zum nächsten Termin. Der Termin bestimmt den Menschen, nicht der Mensch den Termin. Die Hektik des Alltags, die Angst, zu spät und zu kurz zu kommen, und das Warten und die Langeweile gehören zusammen.
Was haben wir gemacht, als dass wir versucht haben, etwas zu machen, bald am einen, bald am andern uns versuchend, mehr oder weniger gut? Ja doch. Mitunter, wenn uns etwas weniger gut gelang, haben wir versucht, uns einzureden, auch dies wäre uns vollkommen gelungen, wir haben uns gezwungen, oder wir haben gar andere gezwungen, uns das zu sagen ...
Wenn der Säugling den Weg zur Mutterbrust findet, das Kind einen Bewunderer, das Mädchen einen Liebhaber, wer als Sprecher einen Zuhörer findet, als Schreiber einen Leser, als Musiker einen Musikfreund, als Lebenskünstler und Schätzer des Guten einen Gleichgesinnten, wer endlich das Alter findet und im Alter das Bewußtsein, dass das Leben sehr gut war: wer die Zeit so verbringt, der hat vieles von dem gewonnen, was im Leben zu gewinnen war.
Das Bild vom Vogel der Fabel: Um das Meer zu überwinden, verwandelt er sich in einen Fisch.
Wir können uns zuschauen bei unserem Tun und Lassen, als wären wir vollkommen frei oder aber, als wären wir fremdgesteuerte Marionetten. Bald tendieren wir mehr in diese, dann wieder in jene Richtung.
Oft vergessen wir, uns bei unserem Tun zuzuschauen und dasselbe bewußt und kontrolliert vorzunehmen. Da wird z.B. am Frühstückstisch geredet und gegessen, alles durcheinander. Und wenn dann das Frühstück zu Ende ist, da ist mitunter, als ob man einen Automaten abgefüttert hätte.
Man muß doch auch leben, sagt man uns. Doch was heißt das? Wenn wir dem Satz einen für uns brauchbaren Sinn zuordnen, so den, dass wir ein bewußtes Verhältnis zu uns haben sollten. Wir wollen keine Bündel von Instinkten und keine Automaten sein.
Phasen, in denen wir uns selbst ganz sicher in der Hand zu haben glauben, und Phasen, wo uns das Selbst entschwindet und wir uns kaum wiedererkennen. Letzteres bei unerklärbar bedrückenden Zuständen im Wachen, die sich im Schlaf in Angst- und Alpträumen entladen.
In früheren Zeiten nahm sich der Mensch wohl viel stärker von innen wahr. Als Empfänger von Träumen, vor allem aber als Hüter einer unsterblichen Seele, als Hörer und Befolger von Gottesworten. Der Gott war es, der gab und austeilte und in dessen Dienst der Mensch verrichtete, was ihm dann zugute kam. Wir in unserer Konsumwelt nehmen uns vornehmlich von außen wahr (vgl. Meads Me!). Wir sehen unseren Körper und dessen Bedürfnisse, denen es entgegenzukommen gilt, als wären wir dazu von der Natur bestimmt. Selbst was wir mit Menschenrechten bezeichnen hat vielfach weniger mit dem zu tun, was man früher mit Naturrecht umschrieb als mit unserem soziologisch bestimmbaren, exklusiv existentiellen Befinden.
Wenn es uns gelänge, ganz bei uns zu sein, so müßten wir vor keinem Zufall und vor keinem auf uns zukommenden Ereignis bangen. Doch wir sind zumeist nicht allein. So steht z.B. neben Agamemnon seine Tochter Iphigenie, die er zum Wohl der Gesellschaft opfern soll, oder vielleicht auch nur, um dem Bruder Menelaos die entlaufene Braut zurückzuerstatten.
Die Angst, allein zu sein, die Angst, sich selber zu begegnen. Und heiraten zwei solche Menschen, so überträgt sich diese Angst leicht auf ihre Zweisamkeit. Wo Selbständigkeit und Selbstbeherrschung fehlen, braucht man Kindertanten und Kinderonkel bis ins höchste Alter.
Leidenschaftliche Gefühle egozentrieren unser Ich auf uns selbst und verzerren so das Bild der Wirklichkeit, dass wir uns mitunter kaum selbst mehr erkennen.
Wir haben eine ungefähre Vorstellung von uns, so dass wir in etwa absehen, wie das ist, wenn wir uns begegnen. Kommt nichts weiter Aufregendes dazwischen, so täuschen wir uns auch nicht: Wir nehmen uns wahr, wie wir gewohnt sind, uns wahrzunehmen. Plötzlich aber begegnen wir einem ganz anderen, einem Fremdem, der wir gleichwohl selber sind oder von dem wir merken, dass er zu uns gehört, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen. Wir begegnen uns im Übermaß des Affekts, im Zorn in Leidenschaft, im Unmut, in Zuständen der Angst ... Wir stoßen da auf einen und ertappen einen, von dem wir nie geglaubt hätten, dass er sich in uns aufhält und zu uns gehört. Und nun macht uns dieser Fremde gar untertan.
Indem wir uns aussprechen und uns bemühen, unser Selbst zu erfassen, kommt es uns keineswegs auch schon in den Blick. Wenn niemand an uns glaubt, wenn wir selber nicht an uns glauben, könnten wir uns wohl eine Ewigkeit lang suchen und aussprechen und analysieren: wir fänden doch keinen Ausgang, wir würden uns nur immer noch mehr verlieren in der Hölle unseres Unglaubens.
Wir haben den Glauben an den Glauben (die Theologie des Geistes) verloren und ihn durch den Glauben an uns (die Attributionspsychologie) ersetzt. Der Glaube an den Glauben beginnt mit: Wenn alle ...". Der Glaube an mich selbst beginnt mit: "Wenn ich ... ".
Man spricht in unserer egozentrischen Gesellschaft vom Körper eines jeden einzelnen, der diesem ganz selbstverständlich gehört und über den er nach Lust und Laune verfügen kann. Doch ist es ein Vorurteil, dass ich mitsamt meinem Körper mir gehöre. Er könnte viel mehr denen gehören, die ein Anrecht darauf haben, durch ihn Gutes zu erfahren.
Der Irrtum der Identität, als ob wir uns selbst erschaffen hätten und aus nichts als aus von uns erschaffener Materie bestünden. Doch wir sind nicht die, die wir zu sein glauben oder zu sein vorgeben. Wir leben unter Bedingungen, die uns von außen auferlegt wurden (Gesellschaft, Kultur, Familie), aber auch unter Bedingungen, die wir uns selbst geschaffen haben und die durch unser Zutun auf uns zugekommen sind. Wir haben die Möglichkeit, als Vertreter der Art "Mensch" zu zeigen, was wir daraus zu machen vermögen. Wenn wir tun, was in unserer Macht liegt und was recht und schicklich genannt werden darf, so haben wir uns weiter nichts vorzuwerfen. Sobald wir aber mit dem Gedanken zu spielen beginnen, als hätten wir unser Leben verpaßt und die Zeit, etwas Gutes und Schönes daraus zu machen sei dahin, sollten wir nicht vergessen, uns daran zu erinnern, dass andere an unserer Stelle und bei unseren hervorragenden Möglichkeiten wohl etwas besseres zustande brächten.
Das Selbstbild des einzelnen ist immer auch abhängig vom Selbstbild der jeweiligen Zeit. So scheint es in unserer Zeit, wenn man sich zu den Erfolgreichen zählt, chic zu sein, seine eigenwillige und einmalige Identität auch durch ein gewisses Etwas anzudeuten. Oder man legt sich um erfolgreich zu werden, erst mal ein solches Outfit zu: "Ei, seht doch, was hier für ein Teufelskerl einherkommt!"
Bleib vor dem Schaufenster stehen und besieh dir alle die herrliche Mode! Was für ein Mann, der in diesem Anzug daherkommt! Und wie reizend muß erst die Frau sein, wenn sie solche Kleider trägt!
Im Umgang mit uns selbst, wann immer wir Erfahrungen machen, entwickeln wir unser Selbst. Wir lernen, wie man uns sieht, wie wir Eindruck machen, Einfluß ausüben, ankommen ... All das lernen wir schon als Kind.
Ursache unseres Mißverstehens, sowohl von uns selbst wie auch von anderen, ist oft der außer Acht bleibende Umstand, dass es ein absolutes und dauerhaftes Verstehen überhaupt nicht gibt. So sehnen wir uns z.B. in Stunden halben und gebrochenen Wollens und Könnens, wo wir in Wahrheit uns selbst durchzustehen haben, danach, dass uns andere erkennen und ausdeuten und uns unsere geheimen Wünsche von der Seele lesen. Wir sehnen uns nach einem Wort, nach einer Frage, nach einem Hilfsangebot, das, wenn es ausbleibt, uns enttäuscht, und wenn es nicht ausbliebe, uns auch nur schwerlich zufrieden stellte.
Manchmal ist es unsere Eitelkeit, der man nicht genug flattiert hat, dass wir uns mißverstanden wähnen, manchmal auch unsere Unzufriedenheit mit uns selbst, weil wir ahnen, dass wir das in Frage Stehende selber noch nicht ganz verstehen.
Wer etwas tut, und sei es noch so gut, dass sich die Engel des Himmels darüber freuten, ohne dass man ihn dabei versteht, darf nicht damit rechnen, dass man ihn ob des Mißverständnisses entschädigt. Mißverstehen hätte den Inbegriff des Verstehens nötig, um sich selbst zu begreifen, oder, wenn das schon nicht möglich ist, so sollte neben allem unserem Mißverstehen, einschließlich unserem scheinbaren Verstehen, als welches Mißverstehen oft einherkommt, die Ahnung einhergehen, dass für uns da noch Verstehensmöglichkeiten zu erschließen sein könnten.
Wenn wir etwas Großartiges produziert zu haben glauben, überschätzen wir uns meist maßlos im Vergleich zu unseren Zeitgenossen, wie wir uns auch bei weitem zu wichtig nehmen, wenn etwas gegen uns spricht, selbst wenn die Medien gegen uns Front macht. Wir betrachten uns m.a.W. stets mit dem Vergrößerungsglas des Egozentrismus. Im allgemeinen Fall aber, das heißt, wenn einer nicht persönlich berührt und betroffen ist, läßt ihn das alles ziemlich gleichgültig.
Wer sich mißverstanden wähnt, und seien es auch noch so große Männer, erscheint doch ziemlich klein.
Von der Fähigkeit zur Wahrnehmung der für die Art (Mensch) wichtigen Ereignisse und Vorgänge, führt der Weg zur Fähigkeit der Wahrnehmung solcher Wahrnehmungen, zur Erfahrung in uns ablaufender kognitiver und emotionaler Prozesse und Bewertungen, zur Selbstreflexivität des bewußt erfahrenen Erlebens, sowie zur Bildung eines Selbstkonzepts, dem Ausgangspunkt für weitere Prozesse der Selbstbildung, und dies von frühester Jugend an.
Kindliches Selbstbewußtsein resultiert aus der erfolgreich durchgeführten Handlung. Beginnend bereits mit der affektiven Genugtuung über die ersten erfolgreichen Assimilationen und Akkommodationen artikuliert sich das Selbstbewußtsein im zweiten Lebensjahr dann auch verbal. Ich bin ein Knopfzumacher, sagt ein Kind, das den Knopf ins Knopfloch des Mantels schieben kann. Oder beim Essen möchte das Kind allein essen. "Selber!" Manche Kinder teilen die Speisen verbal ein in solche, die sie selber zum Mund führen und solche, die man ihnen füttert.
Ein Kind möchte groß sein, wobei die Größe selbstverständlich nicht mit dem Metermaß zu messen ist. Die Beurteilung von Größe liegt für das Kind im Können von Handlungen. So sagt ein Kind mit 2.9 Jahren, sein um zwei Jahre älterer Freund sei so groß wie sein Vater, "weil er (wie der Vater) radfahren kann."
Als ein Beispiel aus der frühen Kindheit, die zu einer entscheidenden Korrektur im Selbstbild des Kindes, ja zu einem neuen Selbstverständnis und Selbstkonzept führten, skizziere ich eine Episode: Es war eines Morgens, als die Wäschefrau den 3,5 jährigen P. fragte, ob er nicht mit ihr wie üblich in die Waschküche kommen wolle, die Wäsche aufzuhängen. Sie hatte schon die Türe geöffnet, ohne den Kleinen mit an die Hand zu nehmen. Der nun stand da, vermutlich erstaunt, dass er noch so alleine dastand und nicht an der Hand gefaßt und mitgenommen wurde. Und freilich konnte er auch nicht wissen, was für Konsequenzen das haben würde, wenn er nun sagen würde, dass er nicht mitkommen wolle. Als es dann der Frau zu lange wurde und sie sagte, dann gehe sie eben alleine und sie dann auch wirklich allein in den Keller hinabstieg: da erst begann ihm ein Licht aufzugehen, was vorgefallen war. Und etwas wie ein Triumphlied auf die Macht seines Willens begann sich von seinen Lippen zu lösen. Und dann, mit wachsendem Stolz, schmetterte er durchs ganze Haus: "Da hab ich gesagt, nein, das will ich nicht, das will ich nicht, das will ich nicht ..."
Unregelmäßigkeiten, Unaufmerksamkeiten, Nachlässigkeiten im Umgang mit dem Kind haben zum Ergebnis, dass sich frühzeitig Reaktionen herausbilden (Lernen im Sinn von Skinner), die eine spätere Findung des eigenen Willens und Selbsterfahrung durch das Kind verhindern. Ehe es in der Lage ist, einen eigenen Willen kognitiv zu entdecken und so einem neuen Selbst zu begegnen, lernt es Redeweisen wie etwa "das kann ich nicht", womit es zauberhaft leicht bewirkt und sich daran gewöhnt, dass es etwas nicht zu tun braucht.
Als Kleinstkind bereits können wir unser Verhalten und Handeln beobachten und analysieren und können so etwas über uns und die uns umgebende Welt erfahren: Das ist die Welt, die sich (neben dem Riechen und Schmecken und Sehen und Hören) vor allem aktiv anfassen, bewegen, zum Tönen bringen, verändern, aufbauen und zerstören läßt: Das bin ich, der alles dieses kann. Und wir erfahren, wenn wir morgen wieder alles dieses vermögen, dass wir auch morgen noch die sind, die wir heute sind, und dass wir uns auf uns und unsere Fähigkeiten verlassen können.
Ein nachdenkliches Kleinkind wird die Frage, ob es ein Mensch ist, nicht unbedingt bejahen. Was das Kind ist und wie es seinen Namen verwendet, kommt für es sehr präzise darin zum Ausdruck, was es schon kann. "Ich bin ein Knopfzumacher" sagt ein zweijähriges Mädchen, das stolz darauf ist, nunmehr endlich alleine seinen Mantel zuknöpfen zu können. Ähnlich verhält es sich mit der Kunst, allein sein Brot zu essen, sich Schuhe anzuziehen, überhaupt sensomotorisches Können jeglicher Art. Ein anderes, dreijähriges Kind äußert im Gespräch mit seinem Vater über einen Vierjährigen, dass dieser ebenso groß ist wie der Vater und gibt dann als Begründung an, dass der Vierjährige (wie der Vater) auch schon Radfahren könne, was das Dreijährige noch nicht kann. Extrapoliert man das kindliche Selbst- und Weltverstehen zurück in die Zeit des frühen ersten Lebensjahres, so wären Tätigsein und Können hier vornehmlich als Wiedererkennen zu nennen: der Mutterbrust, der Mutter, des Vaters, der Geschwister, der Milchflasche, des Bettchens ... Wir sind die, so könnte man das implizite Philosophem der Zwei- bis Dreijährigen paraphrasieren, als die wir durch unser Können vor uns in Erscheinung treten, und die Welt, das ist der dazugehörige Dingraum. - In der Tat läßt sich alles frühkindliche Lernen als ein simultanes Besitzergreifen erfassen: der Organe wie auch der Objekte der äußeren Welt. Und wie die in Besitz genommenen Organe zu den ihm eigenen Organen und die Objekte zu den für ihn bedeutsamen Objekte werden, werden sie zugleich zum Garant des kindlichen Bewußtseins und seiner Übereinstimmung mit sich selbst.
Das Kind schafft sich ein Selbst, es wird ihm aber auch ein Selbst eingebildet (vgl. Cooleys Begriff des looking-glass-self). Es schafft sich m.a.W. ein Selbst in den von der Gesellschaft vorgesehenen und kontrollierten Räumen. Das Kind lernt sich durch die Reaktionen anderer so zu sehen und so zu verstehen und zu bewerten, wie diese es tun (vgl. Mummendey, H.D., 1995, S.67, Psychologie der Selbstdarstellung, Verlag für Psychologie, Göttingen, Bern, Toronto).
Eines der ersten Ziele, die es den Kindern beizubringen gilt, ist, wie es in kritischen Situationen, wenn ein von ihm gewünschtes Vorhaben sich nicht realisieren läßt, mit sich auszukommen vermag. Neben jedem Demonstrieren und Anleiten, wie man es schaffen kann, müssen wir es aufmuntern, dass es in der Lage ist, es zu schaffen. Wir müssen es von sich selbst überzeugen. So sagt ein guter Lehrer zum Kind: "Das kannst du doch!" oder "Ich weiß, dass du das schaffst!" Oder wir ermuntern die Kinder ganz allgemein, indem wir sie daran erinnern, was wir vereinbart haben: dass wir nämlich vor jeder scheinbar schwierigen Sache sagen: "Das wäre doch noch schöner, wenn wir das nicht herauskriegten! Nichts ist leichter als das!" Und bleibt uns etwas einstweilen noch verborgen oder versagt, wer hindert uns, gelassen zu bleiben und dies als interessante Aufgabe für morgen oder übermorgen beiseite zu stellen?
Wenn wir uns unter dem Eindruck von Befürchtungen und Ängsten umschauen, erscheinen wir uns als solche, die sich vergeblich zu erkennen versuchen. Wenn aber Hoffnungen und Wünsche lebendig sind, stellen sie uns ein Bild vor Augen, das wir gerne als Bild von uns anerkennen. Dieses Bild kann mit der Zeit (kraft Übungen und Gewohnheit, Bestärkungen durch Erzieher, Eltern ...) zum Porträt unseres Selbst werden.
Im Meistern unserer Tage prüft und festigt und bewährt sich der Glaube, der uns sein läßt, was wir sind.
Moderne Selbsttheorien widmen sich der Erforschung des Selbst als einer jedem einzelnen zukommenden konstruktiven Aufgabe, dergemäß der einzelne sich zu allgemeiner Anerkennung erziehen soll (Selbsterziehung und Selbstkonzept und selbstwertdienliche Strategien zumal bei soziopsychischen Streß, self-serving bias ...).
Halte dich nicht für einen Sterbenden, dem aller Lebenssinn sich in Nebel auflöst. Du bist nicht wertlos oder gar überflüssig. Du bist für das Leben, für eine große Aufgabe im Leben und für eine bedeutende Botschaft bestimmt.
Der Mensch unserer Zeit: Dem Urteil vieler unterworfen, unselbständig, unmündig, unruhig, unbekannt mit sich selbst, unberechenbar, ein Anpasser und Mitläufer, wie ein Traumwandler immer unterwegs und doch nie bei sich zuhaus; seiner Zeit Gewinn ist, dass er durch tausenderlei ablenkbar und stets auf Ablenkung aus ist, eines großen Interesses ermangelnd und unkundig eines Gesprächs.
Können wir die Kunst bei uns zu sein, nicht auch dadurch erreichen, dass wir Stücke von uns vor uns verbergen? Etwa, indem wir uns etwas einreden, uns etwas schön reden, uns betrügen und einen Sachverhalt vergessen? Doch geben wir gut acht, wenn einer kommt und behauptet, uns das von uns und vor uns selbst verborgne Selbst vor Augen zu bringen. Wie wehrlos sind wir, wie leicht hat es ein Rattenfänger!
Moderne Selbsttheorien fragen nicht nach der Vermittlung von endlichem und ewigem Sein bzw. wie der Mensch das Schicksal seiner unsterblichen Seele in seinem irdisch begrenzten Leben bestimmen könne. Es ist nicht mehr die Rede vom Menschen, wie noch bei Comenius, der geschaffen sei ad imaginem Dei. Statt dessen untersucht man z.B. in den Attributionstheorien, wie der Mensch sich zu sich und in der Sozietät verhalten muß, um in der modernen Leistungsgesellschaft sich zu behaupten und erfolgreich zu werden. Die schlechtere Sache zur besseren zu machen, jener von Platon überlieferte, die Sophisten verpönende Satz, bedeutet nun nicht mehr Verfälschung und Lüge, sondern ein Programm, mit dem der einzelne sich stark machen soll. Es meint ein Programm, das den Menschen befähigen soll, sich in der Gesellschaft zur Anerkennung zu bringen. Die Wahrheit liegt hier im Erfolg! In Umkehrung der bislang geübten Selbsterforschung geht es also zuerst darum, den Menschen in sich und vor sich stark zu machen, damit er vor sich selber und in der Gesellschaft zu bestehen vermag. Dann und nur dann, wenn man erfolgreich ist und Geltung erlangt hat - so die implizite These dieser Theorien -, kann man sich zu finden und bei sich zu sein
Wir entscheiden uns immer für den guten Ausgang. Auch unsere Tapferkeit erstrebt tapfer den Sieg, nicht die wenngleich erwägenswerte Niederlage. Schon die aristotelische Arete ist eine Weise des auf Erfolg ausgerichteten Tuns (Energeia). Nur steht sie im Verband der Natur, der der einzelne angehört und der Gesellschaft, die die ethische Arete umfaßt. In der modernen Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft aber wird deutlich, dass der einzelne an sich selber glauben muß. Glaubst du nicht an dich und zwingst vielleicht sogar die anderen, an dich zu glauben, so glaubt niemand an dich. So etwa das Credo der modernen Attributionspraxis.
Bei sich selbst sein. Wenn wir befürchten, etwas zu verpassen, verpassen wir auch etwas. Nur meist nicht das, was wir mutmaßen und befürchten. Es liegt nicht außer uns, es liegt in uns selbst.
Das Geheimnis der tausendjährigen Seelenführer, wie etwa der Starzen, wie sie in der Ostkirche üblich waren, scheint verschwunden. An die Stelle des Glaubens, durch unbedingten Gehorsam einem absolut vertrauenswürdigen Gottesmann gegenüber ein schwaches und sündiges Ich zu verlieren und zu sich zu kommen und frei zu werden, ist die Forderung des Patienten getreten, der Psychotherapeut müsse das schwache Ich des Patienten mit allen Mitteln stützen und ihm, da er ja dafür bezahlt wird, auf jegliche Weise recht geben. (Natürlich blieb der Gläubige dem Starez gegenüber gebunden. Doch war er deshalb unfrei? Immerhin war sich der Gottesmann seiner Vorbildfunktion und Verantwortung bewußt. Womit aber zeichnet sich der Psychotherapeut aus, dass er es sich herausnimmt, sich zum Leitich und Überich für den Patienten zu machen?)
Vom Überich-gewissen zum selbstverantwortlichen Gewissen ist der Weg noch weit. Wir befinden und da wohl noch im Stadium einer evolutionären Frühentwicklung.
Das Überich-gewissen sagt: "Weh dem, der denkt!", das selbstverantwortliche Individual-gewissen sagt: "Weh dem, der nicht denkt!"
Wenn ich nicht weiß, ob ein anderer von mir etwas weiß, und er weiß nichts: so kann ich es nie herausbekommen. So urteilt jedenfalls der Verstand. Anders das Unterbewußtsein: Weil sich mein "Mich" mit den anderen verbindet und identisch mit ihnen wird. Ich bin dann in Kumpanei mit den anderen, die sich gegen mein "Ich" verbrüdern und dem ich mein "Ich" verrate.
Man glaubte nicht, die Selbständigkeit und Freiheit aufzugeben, wenn man sich einem Starez unterordnete, vielmehr sie zu gewinnen, indem man sich bemühte, zusammen mit ihm dem Anbruch von etwas Großem zu dienen.
Freiheit nach dem Maß selbstgeleisteter Gewissensbildung. Doch wer kontrolliert diese Bildung?
Man sagt, wie kann ich einem fremden Menschen anvertrauen und mit ihm eine Ehe eingehen, wenn ich mir selber nur sehr begrenzt vertrauenswürdig vorkomme? Man übersieht dabei aber, dass man durchaus an Selbstvertrauen gewinnen kann, wenn einem ein anderer (unbedingt) vertraut.
Bin ich frei, wenn es niemanden gibt, dessen Gegenwart mich nicht beengt?
Indem ich die Aufmerksamkeit auf mich richte, merke ich, dass ich nicht ausschließlich bin, sondern dass ich auch habe (einen Körper zur Ernährung und Versorgung, ein Herz, das schlägt, Affekte ...), ja dass ich, was ich habe, nur eingeschränkt und bedingt habe (vergebens beeinflusse ich mein Herz, im Takt zu schlagen, wenn ich krank bin.) Wenn ich denn bin, so bin ich als einer, der etwas hat, woran er merkt, dass er verletzlich ist.
Bewunderung, Anerkennung seiner selbst und zugleich Einstufung, Beförderung und Zurücksetzung, Lob und Verurteilung anderer: das trägt auf den Wogen des Lebens. Alles Fragen und Hinterfragen des eigenen Handelns aber verunsichert.
Wir fangen nicht mehr viel damit an, wenn Elisabeth dem Richard vorwirft, er habe sein Selbst geschändet (Shakespeare, Richard II., IV.4). In unserem umfangreichen Wortschatz zum Selbst findet sich eine solche Vokabel nicht mehr.
Beim Lebensvollzug ist das Selbst oft unerläßlich als Quelle der Selbstüberredung, aber auch der Selbsttäuschung, einmal vermutlich von Natur aus, sodann in der bewußten Einübung, und endlich als habituell gewordne Art des Umgangs mit sich selbst. Denn welches Kind könnte sich entwickeln, wenn es den Zustand der Unwissenheit und des Unvermögens allzu ernst nähme? Und sind wir nicht bereits mehr, als wir sind, wenn wir mehr sein wollen, und insbesondere, wenn wir es an Kraft und Mut nicht fehlen lassen?
Die Stelle aus Shakespeares Sturm (I.2), wo Prospero mitteilt, "wie einer, bis zur Wahrheit, durchs Erzählen/ Zu solchem Sünder sein Gedächtnis macht,/ Dass er der eignen Lüge traut", scheint zwar unmißverständlich zu sein: doch läßt sich die Sachlage auch anders bewerten. Vollends in einer Zeit wie der heutigen, wo Wahrheit nur noch im Rahmen formalisierter Theorien unbestreitbar und definierbar zu sein scheint, scheint beim Handeln nicht mehr Wahrheit wichtig zu sein, sondern die Erwägung, was nützlich ist und was für Folgen die Handlung nach sich zieht.
Oder man nehme die Not, sich mit etwas abzufinden (Partnerlosigkeit, kein Kind, berufliche Schwierigkeiten, Krankheiten ...)! Oft scheint am besten, wenn man sich zu überreden versteht, dass der Ist-zustand der beste ist. Gestände man sich die Wahrheit ein, dass man entbehrt, so lieferte man dem Schmerz Vorschub, und die Wahrheit machte uns doppelt krank. Die kritische Anklage, die Shakespeare im Sturm erhebt, trifft wohl nicht durch und durch zu. Die Weise, sein Gedächtnis zu manipulieren, hat auch etwas Existenzsicherndes.
Wahrheiten lassen sich kategorisieren und hierarchisieren gemäß der Durchsetzungkraft und dem Willen zur Bewahrheitung. Die ältesten, mit uralten Instinkten in uns hausenden Wahrheiten, sind wie die Kinder, die darum kämpfen, wer die Recht und die Oberhand behält, während die jüngsten Wahrheiten, die logischen, überhaupt nicht mehr kampfgewohnt sind. Diese Wahrheiten bzw. Gottheiten wurden zwar von den jüngeren Gottheiten verbannt, auf Uranos folgt Kronos, auf Kronos Zeus: doch haben sie keineswegs alle Macht verloren, sie sind nur bedächtiger, stiller, abwartend. Im entscheidenden Augenblick aber schütteln sie auch einen Ätna über sich ab oder steigen aus dem Tartaros. Dann müssen die jüngeren Gottheiten den älteren dienen.
Was für eine Welt des Scheins, der Scheinwahrheit und des Als-ob-noch-immer, wenn wir uns Erinnerungen vergegenwärtigen, denen in der äußeren Gegenwart längst nichts mehr entspricht. Wer lehrt uns die Kunst des rechten Umgangs mit unseren Erinnerungen? Wie offen sind wir vor uns selbst?
Verlangen wir nicht mitunter, um uns der Gegenwart einer großen Freude zu vergewissern, leise nach einer Dosis Schmerz?
Selbstbeherrschung, Selbstbeschränkung, Selbstdisziplin, die sich Tränen verbieten und überhaupt allen Ausbrüchen des Gefühls wehren, stiften als tragende Pfeiler einer Existenz Sicherheit; sie weisen aber auch den Weg zu einer ahnungsvollen Trauer, sich ewig fremd zu bleiben. (Der Preis der Mesotes).
Das Maß der uns gelingenden Selbstbeschränkung ist ein Maß für die von uns erworbene Freiheit.
Das Problem der Sicherheit und des Selbstschutzes (wie nahe wir einen an uns herankommen lassen) ist zugleich das Problem der Selbstfremdheit (wie weit wir uns selbst unenträtselt bleiben). Suchen wir eine Freundschaft, ohne prinzipiell auch leidvolle Erfahrung zulassen zu wollen, so bleibt der Freund blaß und unbestimmt, ja bis zu einem gewissen Grad überflüssig und austauschbar. Eine solche Freundschaft bleibt im Rahmen der Konvention. Solcherlei Beziehungen sind innerhalb einer Familie nicht möglich.
Wenn der Tatmensch aus der gelungenen Tat Selbstsicherheit bezieht, woraus bezieht sie dann der sokratische Mensch? (War Sokrates unsicher?)
Wer mächtig sein und mächtig bleiben will, respektiert sich als unabänderliches Gesetz und geht sich aus dem Weg.
Die griechische Tragödie enträtselt die Fürsten in der Auseinandersetzung und Überschneidung familiärer Konstellationen mit staatspolitschen Fragen.
"Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide." Spricht so die literarische Eitelkeit, die keine Tabus kennt? Und sagt dagegen die Selbstbeherrschung: "Gab mir ein Gott zu verschweigen, was ich leide?" Oder haben wir hier, im Gegensatz zu den Verdrängern, die vor anderen oder aber auch noch vor sich selbst verstummen, einen "Sensitivierer" vor uns, einen der Alarm schlägt, wenn er Gefahr auf sich zukommen sieht, einen, der Coping als aktive Krisenbewältigung zu betreiben versteht? Jedenfalls kann man einem äußerlich feststellbaren Verhalten nicht notwendig gleich ansehen, ob es richtig ist oder falsch (vgl. Psychobiologie, S.317).
Wenn wir der Tendenz nach vielleicht auch etwas mehr darauf achten sollten, dass ein Kind auch mal etwas einstecken kann und dass man nicht alles unendlich zerreden muß, bis es versteht und sich unserem Vorschlag anbequemt, so kommt es darüber hinaus entscheidend darauf an, dass es lernt, die Dinge selber subjektiv einzuschätzen und mit ihnen umzugehen. Es ist eine königliche Weise, mit den Dingen umzugehen. Was immer mir von außen widerfährt, so könnte das praktische Philosophem lauten, betrifft und trifft mich, weil es mir etwas zu sagen hat. Und es trifft mich nur, wenn es mir etwas zu sagen hat. Keiner ermahnt mich, wenn nicht ich mich selbst; nichts trifft mich ...
Vielfältig sind die Weisen, im Ringen um einen sicheren und angesehenen Platz in der Gesellschaft, sich vor sich abzuschotten und einer Selbstbegegnung aus dem Weg zu gehen. Als Mann der Öffentlichkeit glaubt man sich zu Handlungen gezwungen, die man als Privatmann nie und nimmer tun würde.
Kapitalorientierte Leistungsgesellschaften interessieren sich nicht für die Entwicklung der Selbstbilder von Individuen, die sich, auf Autonomie pochend, der gesellschaftlichen Produktion entziehen. Immerhin aber haben wir, im Unterschied zum 19. Jahrhundert einige Freizeit, die wir uns nicht rauben lassen sollten, das beste, was uns am Herzen liegt, zu entfalten und zu pflegen. Wir brauchen keine Angst zu haben vor einer zunehmenden Selbstentfremdung, wenn wir uns nur nicht untreu werden.
Insofern der Weg zur Persönlichkeit die Anerkennung durch andere voraussetzt, ist er auf vielfache Weise zum Scheitern verurteilt, z.B. wenn die anderen aus mangelnder Selbstlosigkeit oder mangelnder Einsicht die Anerkennung nicht zu leisten vermögen. Doch läßt sich Anerkennung auch erzwingen. Und endlich kommt es nicht immer auf eine wirkliche und ehrliche Anerkennung an. Billiges Lob und selbst plumpe Schmeichelei wirken oft schon förderlich auf die Bildung des Selbstbewußtseins und des Selbstvertrauens. Das Lob, wenn es vorgebracht wird, muß nicht zutreffen, es muß nur so vorgebracht werden, dass der Gelobte nicht an der ehrlichen Meinung des Lobenden zweifelt.
Die Angst, sich etwas zu vergeben; die Angst, den hart erworbenen, wohlklingenden Namen zu besudeln. Deshalb lobt man, immer auch sich selbst, indem man nur das lobt, was sich bereits allgemeiner Berühmtheit erfreut.
Wann können wir mit uns zufrieden sein? Wann haben wir das von uns gesteckte Ziel unserer Selbstbildung, die Vermittlung zwischen unserem Identitätskonzept und seiner Realisierung, zwischen Wollen und Können erreicht? Jetzt oder nie? In dem Maß, in dem die Gesellschaft von uns überzeugt ist, können wir es uns jedenfalls leisten, an uns zu zweifeln. In dem Maß, in dem die Gesellschaft einen Michelangelo bestätigt und bestärkt, kann er es sich leisten, sein Ziel ins schier Unerreichbare zu verlegen und mit einem Pygmalion zu wetteifern. Wo aber die Bestätigung und Bestärkung durch die Gesellschaft ausbleibt (der gewöhnliche Fall), darf und muß sich der Einzelne immer wieder einmal auch selber auf die Schulter klopfen und sich selbst anerkennend sagen, was für ein toller Kerl er ist.
Im Reich der Vorstellung kann es schon zu komischen Situationen kommen: wenn ich sehe, wie ich mich anschaue: auf welcher Seite stehe ich dann? Auf der Beobachter- oder auf der Schauspielerseite? Und wenn ich mich als Langläufer schinde: bin ich der Schinder oder der Geschundene? Bin ich der Schmetterling, für den ich mich im Traum halte, oder bin ich der Tagmensch, der das Schmetterlingsdasein im Traum als bloßes Hirngespinst abqualifiziert (vgl. Tschuang-Tse)? Und wenn bei Lukian Herakles im Hades sich als bloßes Schattenbild vorstellt und er auf sein im Olymp bei der Göttin Hebe weilendes besseres Ich verweist: kann dann nicht sein, dass er sich täuscht: und jenes Wesen im Olymp bloß schattenhaft da ist?
Die einen rennen zum Therapeuten und erzählen ihm schamlos alle ihre Träume und alles Private und Intime, damit er sie bedeutend mache, indem er ihnen sagt, wer sie sind. Die anderen verbieten sich's als Einmischung in ihre Persönlichkeit. Endlich gibt es solche, die souverän sind und frei, und die weder wissen wollen, wer sie sind, noch sich's ängstlich verbieten.
Wir glauben, das Selbst wie einen objektiven Gegenstand erforschen zu können und täuschen uns. Da stehen wir am Fenster und schauen hinaus. Und während wir Ausschau halten, was geschehen mag, sind wir auch schon der prächtigsten Lüge des Voyeurismus verfallen. Das bin ja nicht ich. Das ist der Erforscher, der Wissenschaftler, der Beobachter. Durch mich als Apparat und Hilfsmittel erforsche ich ja nur, wozu der Mensch in der Lage ist und was er insgeheim begehrt. - Die Totenrichter wären nicht zu beneiden, wenn sie sich daran machen müßten, einem jeden Menschen sein Selbst klar zu machen. Lukian hat diese Sorte von Gesprächen wohlweislich übergangen.
Die Gefährten des Odysseus verlieren bei der Begegnung mit Kirke ihr Selbst und werden zu Tieren. Wie, oder hätte sie Kirke gar nicht verwandelt, sondern enthüllt? Und dies wäre ihr wahres Selbst?
Wissen wir, was wir brauchen und was uns gut tut? Oder müssen wir alles, was andere tun und woraus sie, wie sie sagen oder wie es heißt, Vergnügen ziehen, auch tun? Was brauchen wir und wie sicher sind wir, dass wir nicht mehr und nicht weniger brauchen für ein erfülltes Leben?
Brauchen wir den Gott des Sports und des Fußballs und die Fiktionen des Krimis, damit wir unsere blutlüsternen Begierden nicht mit Hexenverfolgungen und Galgenspielen sättigen müssen?
Wer ist es, der zu mir "Ich" sagt? Wer alles in mir sagt "Ich"? Aussagen läßt sich, was ich oder auch andere über mich denken, worauf ich Wert lege, wie ich mich einschätze, was ich an mir schätze, was mich in meinen eigenen Augen erhebt oder erniedrigt ... Wenn das Kleinkind, das eben gelernt hat, die Knöpfe seines Mantels zuzumachen, stolz über sich die Aussage macht: "Ich bin ein Knopfzumacher!" so hat es nicht nur etwas über sein Können ausgesagt, es hat auch eine Aussage gemacht über seine Fähigkeit, sich selbst als aktiv Handelnden zu beurteilen. Voll Stolz weiß es, dass es sich von nun an auf diese seine Fähigkeit verlassen kann, und dass sich auch die anderen darauf verlassen können und ihm nicht länger mehr zu helfen brauchen. Es hat m.a.W. eine bedeutsame Bestimmung seines Selbst gegeben. Es verhält sich zu sich selbst, als jemand, der eine Tätigkeit auszuführen vermag. Für das Kind wie überhaupt für jeden Menschen gehört die momentane Selbsterfahrung in der Selbstverwirklichung wesentlich mit zur Selbstdefinition.
Die Suche nach dem Selbst muß aktiv gestaltet werden. Wir machen keine Selbsterfahrung, wenn wir uns hemmungslos den Dingen überlassen, nur wenn wir uns konstruktiv mit ihnen auseinandersetzen.
Wieviel Verantwortung können Eltern oder Erzieher für Kinder übernehmen? Manche kehren ihre Verantwortung nur deswegen hervor, um sich zu Ansehen und in den Besitz von Vollmachten zu bringen. Dagegen wäre Sokrates zu nennen, der sich lieber etwas unterschätzte und der bekanntlich zögerlich im aktiven Handeln war. So hielt er das Bildungsziel, schön zu werden im Innern, für eine Aufgabe, die seine eigene pädagogische Kompetenz bei weitem überstieg (vgl. Platon, Phaidros, 279c).
Wie ein Liebhaber von Vögeln Nistkästen aufstellt und dann lächelt, wenn er sieht, wie die Vögel so tun, als müßten sie diese Kästen vor ihm geheimhalten: ähnlich mag ein Erzieher lächeln, der sich um Kinder sorgt und ihnen still und unbemerkt Hilfestellungen gibt.
Was interessiert den Gott, wenn man lauttönend bekundet, dass man an ihn glaubt und man ihn haargenau benennt? Gibt man ihm Raum, das menschliche Selbst zu bereichern und unser Dasein zu steigern, so hat er Namen genug.
Erkenne, wie du dich deiner vergewisserst, damit du erkennst, was für ein Selbst du dir erzeugen kannst.
Den Bedingungen der Erfahrung nachgehen. Hier ließe sich feststellen, dass der Mensch (auch schon als Kind) einen besonderen Teil seines Selbst erkennt gemäß dem je und je unterschiedlichen Verhalten der anderen. So erkennt unter den je und je verschieden gegebenen kulturellen und epochalen Umständen ein Philosoph, so ein Geistlicher, so ein Erzieher sein besonderes Selbst. Wir können freilich auch anders herum fragen: was für ein Selbst kann heute noch ein Geistlicher erfahren? Was für ein Selbst ein Rechtspfleger, ein Philosoph oder ein Erzieher?
Selbstlosigkeit kann Ausdruck von Halt- und Heimatlosigkeit sein, wenn nämlich ein Selbst fehlt, oder aber Ausdruck der Selbstverwirklichung, wenn einer ohne Ansehen der eigenen Person in Freiheit und Autonomie über sich verfügt. Wenn Shakespeares Macbeth in der Szene (V.5) als Gescheiterter die ungeheuerliche Bilanz zieht ("Morgen und Morgen und dann wieder Morgen/ Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag/ Zur letzten Silb' auf unserm Lebensblatt;/ Und alle unsre Gestern führten Narren/ Den Pfad des stäubigen Todes.- Aus kleines Licht!/ Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild; / Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht/ Sein Stündchen auf der Bühne und dann nicht mehr/ Vernommen wird; ein Märchen ist's, erzählt/ Von einem Blöden, voller Klang und Wut,/ Das nichts bedeutet."), weiß er, dass er endgültig die letzte Hoffnung auf Halt und Heimat verspielt hat.
Das Recht auf Freiheit des Individuums und das Recht auf Selbstverwirklichung sind Rechte eines titanischen Genies. Die Masse braucht Anleitung, Güte, braucht Schonung, Geduld und Menschenfreundlichkeit.
Die Masse versteht unter Selbstverwirklichung kaum mehr als anstrengungsfreies Vergnügen. Deshalb ist vielen auch ein Kind als Mittel der Selbstverwirklichung undenkbar. Ein Kind scheint sie daran zu hindern.
Wie können gute Geister dein Haus bewohnen, wenn du in Gedanken immer auswärts weilst?
Erfolglosigkeit und vor allem das Bewußtwerden von erfolglosem Handeln wirken destruktiv, wenn man nichts dagegen unternimmt. Man muß da keinen Todestrieb postulieren.
Mit Erfolg und Macht wird nicht nur unser Selbstgefühl gestärkt, es schwindet zugleich auch von uns weg und verteilt sich auf andere und anderes. Erfolgreiche Handlungen verwandeln uns nicht minder als von Erfolg gekrönte. Der Erfolgreiche wird sich unfaßbar, märchenhaft, Mythos. Er begreift sich nur noch nebelhaft aus der Ferne, aus den Augen der Bewunderer seines Erfolgs, als Arm des Schicksals, als absolute Macht.
Selbstwert gedeiht, wo er geteilt wird: z.B. wenn Eltern und Lehrer ihn mit ihren Kindern oder wenn Vorgesetzte ihn mit ihren Mitarbeitern teilen. Es ist eine Form des Selbstwertgefühls, die verträglich macht, und wo die Verträglichkeit umgekehrt auch bei anderen Selbstwertgefühl aufkommen läßt.
Affekte nur so an uns heran oder aus uns heraus lassen, als ob wir Theater spielten. Dann kann man auch einmal eine kleine Wut sich leisten. Die Kinder wissen dann z.B., dass ihr Lehrer, wollte er wütend werden, jetzt wütend würde.
Wir meinen in besonderem Maß Ich zu sein, wenn wir ernsthaft spielen und mit einer Rolle identisch werden.
Geben wir niemandem die Chance, weder uns selber noch anderen, uns aus der Fassung zu bringen.
Dinge und Personen, die Lachen erregen (Clown, Kasper ...), erlauben dem Kind eine zeitlich begrenzte Identifikation mit einem anderen und damit eine versuchsweise distanzierte Begegnung und Erfahrung seiner selbst.
Etwas Rolle und etwas Maske sind oft hilfreich. Man kommt sich auf diese Weise nicht zu nahe.
Es gibt einigen Grund, vor Leuten Angst zu haben, die es allzu ernst meinen.
Sich vor den eigenen Gefühlen in acht nehmen.
Um sich entfalten zu können, ist gut, wenn man einen Größeren hat, der zu einem hält, wie etwa Cervantes den Grafen von Lemos, bei dem man sich unterstellen kann.
Man muß nicht fragen, ob Selbstmord erlaubt ist, sondern wie es zum Selbstmord kommt. Da ist z.B. die Gefahr einer Selbstbestrafung, wenn das zur Entfaltung drängende Selbst stets von anderen ignoriert oder abgeurteilt wird.
Mag töricht sein, wer stets nach Geltung trachtet, noch schlechter ist, wer töricht sich verachtet.
"Selbstliebe, Herr, ist nicht so schnöde Sünde wie Selbstversäumnis." (Shakespeare, König Heinrich V, II.4). Aber Selbstliebe vergißt leicht die Tugend der Tapferkeit und neigt zu Feigheit und Flucht und so birgt auch sie die Gefahr der Selbstversäumnis.
Selbstliebe und Selbsterhaltung (Egoismus) könnte man als Residuen des naturhaften Ursprung aller Menschen bezeichnen.
Die aus dem Lustprinzip stammenden Derivate der Libido behalten die Selbstliebe in der Selbsterfüllung als Charakteristikum der Bewußtwerdung von Lust bei.
Dem augenblicklichen Erleben zum Trotz oder vielleicht gar wegen des mißlichen Umstands, dass alle Lust flüchtig vorübergleitet, wird der Ruf nach Bestand und Ewigkeit laut: "Alle Lust will Ewigkeit." (Nietzsche)
Wenn ich Pförtner bin, so ruft nicht "Laß uns ein!", sondern tretet vor, damit ich sehe, wen ich einlassen soll.
Unser Selbst beginnt zu zerfallen, wenn das zerfällt, was für uns bedeutsam ist. - Shakespeares Troilus (Troilus und Cressida V.2) kann seine Cressida nicht mehr erkennen, wie er sie im Zelt des Diomedes sieht. Das ist eine Person, die nicht mehr zu dem Bild paßt, das er von ihr hat; es ist eine andere, als die er in Erinnerung hat: "Nein, dies ist Diomedes Cressida./ Hat Schönheit Seele, dann war sie es nicht./ Wenn Seele Eide zeugt, wenn Eide heilig,/ Wenn Heiligkeit den Göttern Wonne ist,/ Wenn Maß und Ordnung in der Einheit walten,/ Dann war sie's nicht. O Wahnsinn der Gedanken,/ Der Gründe aufstellt für und gegen sich."
Werden wir unseren Wünschen gemäß gesehen, so sind wir gern auch bereit, uns für solche zu halten.
Mächte, die uns definieren, wenn wir es verabsäumen, uns selbst zu definieren.
Es gibt keine tote Materie. Alles, womit wir uns befassen und was wir berühren, nimmt unser Bild auf.
Kinder stellen den Haß der Liebe entgegen, ordnen aber meist "schön" als Gegensatz zu "häßlich". Die Sprache scheint dem Stand des Kindes zu entsprechen: dass nämlich Liebes schön ist und schön dargestellt werden muß, während häßlich ist, was sich an Liebem vergreift. Demgemäß suchen Kinder dem Häßlichen in ihren frühesten Vorschulzeichnungen durch (unästhetisches) Gesudel zu begegnen.
Wie bestimme ich mich und was bestimmt mich? - In der Ilias sind es Gottheiten, die den Kämpfern erscheinen, sie aufzumuntern und ihnen Mut zu machen oder auch sie auszuschelten, sie in ihrem Selbstbewußtsein wachzurütteln und ihnen Selbstachtung abzuverlangen. Wenn nun einer dieser Kämpfer sich zu einem bestimmten Tun entscheidet, so tut er es ebenso auf Anordnung seines Gottes wie aufgrund seines eigenen Entscheids. Alles in allem erscheint der Mensch abhängig, der Preis dafür, dass er sein Tun als Folge einer Gottesweisung rechtfertigen kann. Im übrigen aber können diese Textzeugnisse dem späteren Blick eines Sokrates nicht mehr standhalten; und zwar nicht, weil er Gottheiten als solche ablehnt, sondern weil er ihre oft allzu menschliche Darstellung bei Homer anzweifelt. Ein Gott kann für Sokrates nicht für eine Seite Partei ergreifen, er kann nicht gemein und hinterhältig und jähzornig und unbeherrscht sein. Während Sokrates am Göttlichen als Quelle aller Selbstbestimmung, als Garant des Bleibenden und Guten festhält, sucht er den Gott jenseits aller Affekte und jenseits aller Staatsinteressen.
Selbstachtung kümmert hin und schwindet, wenn sie zu innerer Stärkung nicht äußere Ehre findet.
Man muß zu sich halten und muß doch auch immer wieder sich selber skeptisch, mitunter auch feindlich begegnen.
Außer dem Tod muß man keinen Todfeind haben, und selbst den sollte man wohl, da er nun eben sein muß, links liegen lassen.
Untersuche die auslösenden Momente, die eine Neubestimmung des Selbst nötig machen. Da sind z.B. Erwartungen, die sich überraschend erfüllt oder auch nicht erfüllt haben; da sind Verhaltensänderungen von Freunden in Zeiten der Bewährung und Not ... Die Welt der Tatsachen wird so mit dem Verhältnis des einzelnen zu sich verknüpft.
Es ist komisch, wenn einer, der doch da ist, nach sich zu suchen scheint (Vgl. Ajax in Shakespeares Troilus und Cressida). Je weniger wir über uns im Klaren sind, um so weniger sind wir da.
Kinder und Alte führen Selbstgespräche. Erstere, weil sie sich so darauf vorbereiten, Dialogpartner zu werden, die anderen, weil sie vergeßlich geworden sind oder ihre Gesprächspartner verloren haben. In der Mitte des Lebens scheinen Selbstgespräche seltener zu sein, da das Leben dort etwas Gewohntes, Vertrautes, in einer gewissen Weise praktisch verfügbar Gewordenes ist. Wenn Neues, Ungewöhnliches, Außerordentliches sich ereignet, suchen wir nach einem Partner, um darüber zu sprechen.
Von nichts und niemandem sich das Vorrecht abnehmen lassen, mit sich im Gespräch zu bleiben. Wir sind, solange wir leben, die Erzähler unserer Biografie und es liegt nur an uns, was für eine Biografie wir für uns zulassen. Auch wenn unser Hang oft danach geht, uns nur die schlechten Erfahrungen zu vergegenwärtigen, wir können uns durchaus auch daran erinnern, wieviel günstige Augenblicke gewesen sind, wo etwas geschehen ist, was uns gefördert hat, wo uns Menschen begegnet sind, die uns auf unserem Lebensweg geholfen und vorwärts gebracht haben. Ich muß weder auf andere schielen, denen es noch schlechter ergangen ist als mir, noch auch auf andere, neben denen ich mir armselig vorkäme. Und schon gar nicht muß ich andere, die schäbig und gemein zu mir waren, in Erinnerung behalten. Denn auch wenn sie vielleicht Verachtung verdient hätten, so wär's doch den Preis nicht wert, beschmutzt man damit doch nur die eigene Seele. Besser tun wir, wenn wir es gut mit uns meinen. Es gut mit sich meinen ist nicht nur Gegenstand der Kunst der Selbstüberredung, es ist auch ein Gebot der Selbstgerechtigkeit.
Man muß nicht verlangen, wenn man rücksichtsvoll und zuvorkommend und freundlich ist gegen jedermann, dass es auch die anderen sind. Man muß es als Ehre nehmen, so in Erscheinung treten zu dürfen.
Kritik (ob Selbstkritik oder Fremdkritik) sollte stets maßvoll sein und konstruktiv. Dazu gehört die Kunst, den rechten Augenblick und die rechte Wahl der Worte zu treffen.
Wir suchen nach unserer Identität, sind aber meist schon zufrieden, wenn wir dem Diktat des Alltags und dem Trend der Mode genügen. Andere versuchen darüber hinaus, sich ein unverwechselbares und extravagantes Äußeres zuzulegen. Der eine, indem er beim Sich-verabschieden immer hinzufügt "Machen Sie's gut!", der andere, indem er einen besonderen Hut trägt oder sich einen aparten Haarschopf zulegt.
Es gibt viele Situationen, wo sich und die Frage aufdrängt, wer wir sind. Als Abweisung eines unbequemen Aufdringlings, als Schutz vor Konkurrenz, aus Verachtung eines gesellschaftlich niedrig Stehenden, in staunendem Bewundern Mächtiger, aus Angst vor einem Übermächtigen ...
Es gibt da eine Gesellschaft dunkler Gestalten, eine Kumpanei uralter Theaterdirektoren und Spielleute, die immer wieder einmal aus der Dunkelheit auftauchen und die Regie übernehmen. Und waren wir eben noch besonnen, so sind wir es jetzt nicht mehr. Und was wir eben noch als Spaß meinten, modeln sie um und verzerren es zu bitterbösem Ernst.
Leidenschaft entledigt sich der Vernunft, indem sie deren Quell so sehr trübt, bis nichts Vernünftiges mehr zu sehen ist.
Aufräumen mit der Wichtigkeit, die man diesen Lärmern und Klatschbasen und all dem grimassenschneidenden Volk beilegt, das uns tief in uns zu stören unternimmt.
Wir können uns einreden, alle unsere betrüblichen Eigenschaften überwunden zu haben, wir schleppen sie gleichwohl mit uns herum.
Gewiß, es ist schon ein wenig peinsam, wenn wir noch im hohen Alter die Schulbank drücken, um Elementares zu erlernen. Denn eigentlich sind es Dinge, für die man längst genug Zeit gehabt haben sollte. Doch wir müssen uns nicht damit aufhalten, nachzusehen, ob uns diese Zeit noch zusteht, solange wir noch Zeit haben nachzuholen.
Über welche Souveränität und Autorität wir verfügen, ergibt sich vor allem, wenn wir darauf achten, wie sehr wir über uns lachen und auch andere über uns zum Lachen bringen können, ohne ein Hans Wurst zu sein.
Erstaunlich, mit welcher Souveränität Moliere im Misanthrop gegen sich zu Felde zieht, wie er sich verspottet, geißelt, kompromittiert. Stammt der Menschenhasser Timon aus Shakespeares Geist, so der Misanthrop aus Molieres Blut.
Hätte Moliere den Tartuffe stärker aus der Optik des Misanthrop, das heißt als ein Stück seiner selbst gesehen, statt als ein Krebsgeschwür seiner Zeit, so hätte er ihn am Schluß wohl anders entlarvt.
Wenn uns nach vielem Probieren etwas glückt, sind wir gerne stolz, und nur selten kommt uns in den Sinn kommt, ein anderer könne das mit links tun.
Wenn wir uns entschuldigen, dass uns kein besseres Werk gelungen ist, meinen wir es oft nicht ganz ernst damit, sondern hoffen, man werde uns gleich mit einem Vortrag über unsere herrliche Meisterschaft beehren.
Sollten wir nicht wissen, in welchen Wirklichkeiten wir zuhause sind, wie die modernen Konstruktivisten verkünden? Doch in welchen Wirklichkeiten kann einer zuhause sein und was für ein Weltbild kann einer haben, wenn seiner Zeit Gewinn nur aus Essen und Trinken und Schlafen und dem Zuschauen von Fußball besteht?
Nichts macht uns so sehr für Verwandlung empfänglich und führt uns so sehr in Versuchung, wie wenn wir uns fragen, wer wir sind.
Wenn man alles über sich gesagt zu haben glaubt, ist doch längst noch nicht alles gesagt.
Nicht passiv am Fenster stehen bleiben und leiden! Besser ins Haus zurückkehren und es ausmalen!
Das Böse fest ins Bild bannen, damit man sich von ihm abstoßen kann. Goyas, mit den pinturas negras ausgemalte, Haus war nicht bewohnbar.
Man muß sich nicht der Kälte ausliefern, wenn man den Hang hat zum Frieren.
Die Neugier, wann und unter welchen Umständen die Neugier in uns erlischt.
Schaut uns nicht manchmal ein Wörtchen an, als mache es sich einen Spaß daraus, uns zu fragen, ob wir es auch wirklich gemeint haben?
Bequeme Wege zur Verzweiflung sind, / wenn man sich aufgibt, eh der Kampf beginnt./ Und falsch wird wahr, und wahr wird furchtbar sein,/ und was du fürchtest engt und zwängt dich ein.
Man muß sich nicht als Toten auf der Bahre erschauen. Denn entweder leben wir, dann liegen wir nicht auf der Bahre, oder wir sind tot, dann sind wir davon befreit, uns zu erschauen.
Macht es einen Unterschied, ob nichts kommt oder ob das Nichts kommt?
Ausgeburten unserer Vorstellung erzeugen Ängste. Ich hörte einmal von einer Religionslehrerin, die den Kindern erzählte, dass sie Angst habe, als Leiche im Wasser zu liegen und keine Luft mehr zu bekommen. Warum gewöhnt man sich nicht an, sich als etwas zu betrachten, was im Tode überflüssig wird, wie der äußere Rand eines Fingernagels, den man sich sich wegschneidet? Wiewohl er ein Stück von uns ist, trauert ihm niemand nach.
Zumal im Hinblick auf die Alpträume, die uns plagen, wäre ein wenig Training gewiß nicht schlecht, sofern es bewirkt, dass wir uns von keinem Popanz und keinem fratzenhaften Gespenst einschüchtern lassen.
Phasen, in denen wir uns selbst ganz sicher in der Hand zu haben glauben, und Phasen, wo uns das Selbst entschwindet und wir uns kaum mehr wiedererkennen. Immer wieder einmal untergründig bedrückende Zuständen im Wachen, die sich im Schlaf vielleicht in schweren Angst- und Alpträumen entladen würden.
Ist die Bereitschaft zur Unterordnung proportional zum Maß der Angst und baut Angst sich ab mit der Bereitschaft sich unterzuordnen? Und läßt sich eine gewisse Sünde als Verweigerung der Unterordnung fassen (non serviam)?
Angst als Folge des Ausbleibens des Sündenbewußtseins, wie Kierkegaard analysiert (vgl. S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, Kap.3). Hat die religiös zu begründende Angstlosigkeit mit dem Bekenntnis des Sokrates zum Nichtwissen zu tun?
Ich wünschte mir einen modernen Lukian, der uns das Schauspiel der Philosophen vor den Totenrichtern beschriebe, die der Reihe nach auf ihre eigenen Ängste hin befragt würden.
Mag sein, dass wir uns etwas zu spät für unsere Aufgabe entschieden haben.
Die Angst, die wir vor dem anderen haben, spiegelt oft die Angst wider, die der andere vor uns haben könnte. So hatte Hitler Angst, die Russen könnten die Deutschen zu Sklaven machen, wo er die Russen zu Sklaven zu machen gedachte.
Es wäre gut, wenn wir es fertig brächten, so Mensch zu sein, dass wir vor dem Menschen keine Angst mehr zu haben brauchten.
Mit dem Wort Selbsterkenntnis verbindet man gerne einen Blick in etwas Absolutes. Doch dem ist nicht so. Die Frage, wer wir wirklich sind, ist nicht absolut beantwortbar. Denn der Mensch ist das Wesen, das nicht ohne ein jeweils vorläufiges Selbstbild von sich zu existieren vermag. Selbsterkenntnis ist insofern allenfalls ein fortwährender Prozess mit Stufen der Selbstfindung und der Steigerung.
Selbsterkenntnis gibt keinen unmittelbaren Einblick in unser Ich. Nur über den Umweg, im Spiegel der Gesellschaft, erfahren wir, wie wir uns sehen können oder sehen sollen und dies von allerfrühester Kindheit an. Hier werden wir angeleitet und lernen wir, das Buch zu schreiben und es wieder zu lesen, das wir selber sind. Von hier aus wird auch die soziale Abhängigkeit des Gewissens deutlich: Gewissen als von uns und von den anderen anerkannte Sinnvergegenwärtigung unseres Handelns, die Praxis ermöglicht und beurteilt (vgl. G. Buck, Rückwege der Entfremdung, 1984, Paderborn, S.129).
Je schärfer wir uns aus der Nähe sehen, um so ungenauer sehen wir das Ganze, das wir darstellen.
Geben wir acht, dass wir im Drang uns selber zu erkennen, uns nicht überhöhen (doch da paßt schon die Gesellschaft um uns auf) aber auch, dass wir uns nicht ungerecht verurteilen (das wäre jedem anderen egal).
Wenn ich mich analysiere, finde ich nicht mein Selbst. Was ich finde, sind Schatten meines Verhaltens und meiner Handlungsweisen. Wenn ich mein Selbst finden will, muß ich mich erkennen, indem ich mich zu erkennen gebe und erkennen lasse.
Mitunter ist es gut, ein Stück weit darauf einzugehen, wie die anderen uns gerne hätten.
Steckt in der sokratisch-apollinischen Forderung nach Selbsterkenntnis die Gefahr zu großer Selbstkritik, dass wir uns zuviel vornehmen und zumuten und Heiterkeit und Gelassenheit verlieren oder gar unsere Natur vergewaltigen bis zur Selbstzerfleischung, so lauert auf der anderen Seite, wenn wir uns von außen und situativ bestimmen lassen, die Gefahr, dass wir unfähig werden, selbständig Entscheidungen zu treffen und dass wir uns selber verlieren.
Manchmal insistieren wir darauf, uns nicht zu kennen und von niemandem als bekannt ansehen zu lassen, als ob es sich um ein Privileg handelte, an einem Maskenball teilzunehmen oder eine aufregend herrliche Fahrt mitzumachen.
Selbständigkeit ist kein absoluter Begriff. Man kann Formen der Selbständigkeit unterscheiden innerhalb einer Familie, einer Sprachgruppe, einer politischen Partei, einer Religions- oder Kulturgemeinschaft. Der Motor der intraspezifischen Aggression läßt uns nur sehr bedingt selbständig sein. Spätestens wenn fundamentale Belange berührt werden, besinnen wir uns nicht auf unsere Selbständigkeit, sondern auf unsere Gruppenzugehörigkeit, auf deren Leitbilder, ja selbst auf deren Päpste. (So äußerte ein bedeutender Mann des vorletzten Jahrhunderts, dass er sich beim Anblick eines Schauspiels des katholischen Calderon nach dem "protestantischen" Shakespeare sehnte!!)
Selbst das Selbst ist ja leider nicht so selbständig, wie es das Wort weismacht. Die Ausformung und Behandlung des Selbst ist durchaus auch ein Produkt der gesellschaftlichen Umstände. Man denke nur an Österreich, das Land mit der längsten Tradition und der längsten Liste perfekter Selbstzerfleischungskünstler. Selbst ein Strindberg konnte sich hier noch vervollkommnen.
Staatsanwälte, Richter, Henker, Ärzte und Seelsorger, Kindertanten und Lehrer, Kaine und Abels, kleinliche und habsüchtige Krämer und freigebige Cäsaren: alle diese Berufe und Charaktere stecken in uns, werden immer wieder einmal rege und tauchen in uns empor: zu unserer Schwächung oder zu unserem Wachstum, je nach dem, ob weises Maß und kraftvolle Einsicht gebieten.
Selbstzweifel ist nützlich, wenn wir uns nicht an die Zweifel anketten, sondern wenn der Zweifel uns dient.
Das gesprochene Wort hat vor dem aufgeschriebenen einiges voraus. Man merkt's, wenn man auf ein Blatt stößt, das man vor Jahren geschrieben hat. Man ahnt noch, dass einem etwas sehr wichtig war, doch der Text versetzt einen nicht mehr dahin zurück. Nun stößt man sich an einer Menge einem gewöhnlich gewordener Wörter. Von daher ist gut, wenn wir mit Musik unsere Sprache umspinnen und mit Bildern, damit wenigstens ein Klang bleibt und ein optischer Eindruck, wenn uns einmal die Worte nicht mehr viel bedeuten.
Beim Versuch sich selber zu erkennen: Heraustreten aus der Position des geschützten Betrachters ins dargestellte Bild, das wir von uns machen, um dann wieder zurückzukehren, Korrekturen vorzunehmen und nun abermals ins Bild zu treten ...
Man kann keine Autobiografie schreiben, jedenfalls nicht zu Ende schreiben; man kann sie nur bis ans Ende erleben. Ähnliches gilt für die Selbstbildnisse der Maler. Selbstbildnissen haftet immer etwas Peinsam-Theatralisches an. Man kann sich nicht zugleich sehen, wenn man wahrhaft gesehen werden soll.
Rousseau hat den Besitz an materiellen Gütern in der Nachfolge abendländischer und christlicher Sichtweisen beurteilt bzw. verurteilt (vgl. Sallust, der avaritia und luxuria im alten Rom anprangert). Im Islam scheint die Bewertung viel weniger streng zu sein (vgl. 1001 Nacht).
Die Wirklichkeit des Selbst, das Gestalt annimmt im Spannungsfeld der Gesellschaft, wie es den einzelnen trifft ...
Zur inneren Wirklichkeit. Paß auf, auf jede deiner Reaktionen. Reagiere im Zweifelsfall lieber nicht. Und wenn du reagierst, laß möglichst jeden Affekt aus dem Spiel. Jede heftige emotionale Erregung nämlich schafft neue bedeutende und oft belastende Wirklichkeiten. Ein Sachverhalt, auf den wir nicht emotional affektiv antworten, wird allenfalls Ursache einer kleinen Veränderung in uns. Worauf wir aber antworten, laut und heftig, gefühlvoll, traurig, heiter, ärgerlich, aggressiv ... das haftet in uns und läßt uns nicht los, das zeichnet unsere Seele und unser Gesicht und nimmt alles Denken und Tun in Beschlag.
Man verharmlost und verbagatellisiert in der Gesellschaft Dinge, zumal im Zusammenleben der Geschlechter, redet von Kavaliersdelikten, von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung; und doch handelt es sich oft nur um den Anfang einer billigen Entschuldigung oder eines Selbstbetrugs.
Die Liebe auf den ersten Blick gehört zur Biologie unseres Verhaltens. Darüber hinaus kommt es darauf an, dass Partner zueinander stehen und sich Rückhalt geben. Das kräftigt und erneuert das Band der Liebe.
Das kleine, liebevoll umsorgte Töchterchen sieht sich so, wie es die Eltern sehen. Und der junge Orlando (Shakespeare, Wie es euch gefällt) wünscht sich so zu sehen, wie ihn seine Rosalinde zu sehen wünscht ... Doch da ist dann noch die Gesellschaft, die uns nötigt, dass wir noch die vielen anderen so sehen, wie sie von uns gesehen zu werden wünschen.
Die Masse wirkt auf uns wie ein Gott. Sie hat kaum Mühe, uns nach ihr auszurichten und jede eigene Regung zu unterbinden. Als Teil der Masse hat man keine Identität, kein Gewissen, keine Verantwortung, kein Gesicht.
Zumal im Blick auf die anderen scheut man sich oft, Verantwortung zu übernehmen (vgl. Abtreibung, Erziehung ...). Man erkundigt sich bei sogenannten Sachverständigen in Praxen und Beratungsstellen nach dem, was Brauch ist, indem man reklamiert, dass es sich um eine für einen nicht lösbare Gewissensfrage handelt. In Wahrheit verfügt man oft nur über ein schwaches unmündiges Selbst (ein Selbst, bei dem der Öffentlichkeit übermäßig viel Gewicht zugesprochen wird gegenüber dem individuellen Recht und der persönlichen Freiheit), das nicht gelernt hat, eine eigene freie Entscheidung zu treffen und dann dazu zu stehen.
Unsere Freiheit besteht im Zusammenhang eines (natürlichen und gesellschaftlichen) Anpassungsvermögens, das zur Gewohnheit (2. Natur) wird oder welches, verspielt und ungenutzt gelassen, zum Unvermögen verkommt.
Wenn unser Selbst eine Quelle von Kraft und Glück ist, die von gutem Gelingen ausgeht, so ist die vornehmliche Aufgabe der Selbsterkenntnis, sie als eine solche Quelle zu erfahren.
Was kann das alles bedeuten: sich selber nicht zu nahe zu treten?
Sich selbst beschaun, um endlich nur zu wissen,
dass besser wär, sich nicht beschaun zu müssen?
Selbsterkenntnis, die in Selbstzerstörung endet?
Glück und Unglück der Selbstverleugnung und Selbstzerstörung. In einem Fall zerstören wir uns und opfern uns auf, um etwas anderes, Größeres an die Stelle zu setzen, im andern Fall haben wir uns aufgegeben wie ein Kapitän, der nun auch noch den leck gewordenen Ozeanriesen verlassen hat.
Geschüttelt von Nein zu Ja und von Ja zu Nein, von euphorischem Hoffen zu düsterer Verzweiflung, unfähig zu etwas Beständigem, Bleibendem, Ganzem: sollte dies das Ergebnis der Selbsterkenntnis sein? Wir sollten uns, ehe wir uns auf sie einlassen, eines Ariadnefadens versichern.
Muß man es sich gefallen lassen, bei der Selbsterforschung als Kafkascher Käfer zu erwachen? Napoleon hätte sich wohl kaum in solch ein Selbstbild hinein verirrt. Im übrigen mag gut sein, Kenntnis davon zu haben, inwieweit unser Selbst zu solcher Metamorphose Neigung zeigt, um rechtzeitig gegenzusteuern. "Dass dich Neptun wegtrüge von der Kenntnis deiner selbst." (Shakespeare, König Johann V.2)
Nicht nur der Gesetzesübertreter scheut davor zurück, in einem Photo festgehalten zu werden! Auch der Ankläger, und sei es selbst in gerechter Sache, wird unsicher, wenn ihn der Angeklagte bei der Anklage fotografiert.
Schrecklich, wenn wir immer sein müßten, die wir sind, ohne uns je ändern zu können. Und ebenso schrecklich, wenn wir den Eindruck hätten, dass uns absolut verwehrt wäre, fernab aller Rolle unverwechselbar auf die beste Weise mit uns identisch zu sein. Einen solchen sich und die anderen zufriedenstellenden Bestzustand nannten die Griechen Arete. Er setzt eine prinzipielle Übereinstimmbarkeit zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft voraus. Wir sind Ich und Nicht-ich, eine Mischung aus Wollen und Zurückschrecken vor unserem Wollen.
Die Nichtidentität in unsere Identität miteinbeziehen.
Selbsterkenntnis in dem Maß, in dem wir uns sicher sind, dass wir gelassen abwarten können, als welche wir erscheinen werden und was weiter mit uns geschieht.
Selbsterkenntnis ist weniger ein Suchen nach dem, was vorhanden ist, als eine Aufgabe, das anzubauen und zu pflegen, was sich anzubauen und zu pflegen lohnt. Das von uns gewählte und praktizierte Lebensprogramm eröffnet Wege der Selbsterkenntnis. Ein Beispiel dafür bietet uns die sophokleische Antigone mit dem Bekenntnis zur Mitliebe (ouk echthrain alla symphilein ephü), die ihr dann zum Lebensschicksal wird und ein trauriges Ende beschert.
Wer bin ich und wer werde ich sein, wenn ich tu, was mein besseres Ich verschmäht?
Vornehmlich in Krisenzeiten, wenn wir mutmaßen, dass wir uns zu gut eingeschätzt haben und wir den Drang verspüren uns zu demütigen, kommt uns in den Sinn nachzuforschen, wer wir sind.
Wenn wir uns beobachten, sind wir nie ganz bei uns selbst. Immer nehmen wir dann auch die Seite von Beobachtern wahr, die von außen auf uns schauen.
Wie wenig gehören wir uns, wenn wir uns müde, mutlos, unwohl fühlen oder wenn wir krank sind und Sorgen uns umschleichen.
Ein Beispiel, wie sehr das ansonsten so selbstverständliche Hier und Jetzt problematisch wird, gibt Euripides in seiner Iphigenie in Aulis. Wie Iphigenie auf ihren Vater Agamemnon zugeht und ihn herzlich begrüßt, bemerkt sie sein Anderssein. Anwesend scheint er doch abwesend zu sein. Und so fragt sie ihn: "Du blickst so traurig und verstört, und siehst mich gern?", um ihn dann seiner Sorgen wegen zu beruhigen: "Sei jetzt bei mir nur, denke nicht an Sorgen mehr" (V.644 und 646). Doch wie kann sie ihn beruhigen, wo gerade sie es ist, die ihm Sorge macht? Agamemnon hat sie zusammen mit Klytemnestra, ihrer Mutter, trügerisch nach Aulis bestellt; sie glaubt, er wolle sie mit Achill verheiraten, während er nach Wegen sucht, sie, wie von Kalchas verlangt, der Artemis zu opfern.
Körperliche Gebrechen spannen den Geist an und geistige Kümmernisse krümmen den Körper.
Mut gibt Halt.
Wir wissen nicht, wieviele Vamps und Gamps und Typhone in uns stecken und müssen es auch nicht wissen, auch nicht wenn wir Psychologen werden wollen und uns daran liegt, zu wissen, worüber wir reden. Selbsterforschung ist gefährlich, wenn wir dadurch in uns schlummernden Kobolde zum Leben erwecken, ebenso wie es verrückt wäre, das Wesen der Verrücktheit zu ergründen, wenn es einen verrückt macht.
Wie wir uns sehen und wie wir uns beurteilen, was wir uns als Wagestück zutrauen und wovor wir ängstlich zurückschrecken: das steht oft in keinem Verhältnis zu dem, was wir wirklich zu leisten vermögen.
Die Schwierigkeit, Dank zu sagen: weil Dank immer auch ein zur Gabe angemessenes Versprechen beinhalten sollte. Was aber sind wir zu versprechen in der Lage? Was z.B. kann und darf sich der Liebende zutrauen? Und so sehen wir den Orlando (Shakespeare, Wie es euch gefällt, I.2), wie er vergebens nach Dank sucht, als ihm Rosalinde ihre Kette schenkt.
Ich möchte, dass mein Kind mir für sein Leben Dank sagt, wenn dies bedeutet, dass es vom Leben als etwas Gutem erfüllt ist. Doch möchte ich nicht, dass es daran leidet, mir nicht genug Dank gesagt zu haben, weil ein solcher Dank niemals mir gebührte.
Nicht die Dinge verlocken uns, sondern unsere Begehrlichkeit macht, dass uns die Dinge verlockend erscheinen.
Wir werden ausdeutbar durch die Verhaltensweisen, mit denen wir uns oft unbewußt kommentieren. Vgl. Amalie im 14. Kapitel von Kafkas Schloß, der das Verlangen nach Einsamkeit zu Bewußtsein kommt, indem sie an den Dingen, die sie zu beobachten scheint, ein wenig vorbeischaut.
Goethe'sch: Vor Göttlichem muß dir nicht scheuen./ Erfasse dich und du wirst dich erneuen!
Kafka'sch: Nur Wesenloses ist erkennbar./ Das Göttliche bleibt unbenennbar./ Ein Spiegel bist du, der nichts hält.
Menschliches Leben zwischen Können und Müssen, zwischen Einatmen und Ausatmen, zwischen Wachsein und Schlaf könnte zu einem Bewußtsein beitragen zwischen Heiterkeit und Ernst.
Immer wieder einmal die an Glück streifende Lust, 1000 Frechheiten zu sagen.
Sicherheit (Einwurzelung, Heimat, Glauben ...) und Freiheit bilden zusammen eine die jeweilige Gesellschaft charakterisierende Invariante. Was man an Sicherheit verliert, gewinnt man an Freiheit. Und sofern man stille hält und auf Freiheit verzichtet, kann man sich dafür Sicherheit einhandeln. Man kann aber auch, je nach Macht und Einfluß und Rückhalt in der Gesellschaft, ungestraft etwas an Sicherheit aufs Spiel setzen, um größere Freiheit und Handlungsfähigkeit zu erlangen. Verlust kann Gewinn, aber Gewinn auch Verlust bedeuten.
Hamlet findet bei der Erforschung seines Innern, dass er gemein ist und klein und neidisch und ehrgeizig und aufbrausend und rachsüchtig, fähig zu jedem schurkischen Werk. Wenn wir uns nun eingestehen, dass auch wir so zu handeln Veranlagung haben, so sind wir gleichwohl nicht nur die, die wir von Natur aus im Schlechten sein können. Der Christ früherer Tage wußte ebenso um seine Sündhaftigkeit wie um seine Berufung zur Gemeinschaft der Heiligen.
Sündhaftigkeit und Minderwertigkeit sollten nicht verwechselt werden, wiewohl gewiß viele christlichen Erzieher sich hier einiges vorwerfen lassen müssen. Minderwertigkkeit ist ein soziales Problem. Es ist das trübe traurige Bild, unter dem einer leidet, weil die anderen ihn für wertlos erachten oder weil er annimmt, dass sie ihn für wertlos oder für nicht wert genug erachten. Gäbe es nur Menschen, insbesondere nur Lehrer, die weder das Problem der Minderwertigleit in sich kennten noch die Probleme der Selbstdarstellung in der Gesellschaft, Leute also, die weder von Lob, noch von Noten und Zensuren und Preisen abhängig wären: es könnte sich auch keine Minderwertigkeit in ihrer Umgebung entwickeln, und wenn ein Mensch mit solchen Schwierigkeiten um sie herum wäre, so würden die Probleme alsbald von selbst verschwinden. (Lehrer, die an Komplexen und Minderwertigkeiten leiden, schaffen auch bei ihren Kinder dergestalt Leiden.) Sündhaftigkeit ist demgegenüber ein Problem, das ich vor mir und in mir trage: ein Problem, das mich mit dem Unendlichen, Göttlichen und Transzendenten verbindet. Indem aber Erzieher zu einem Kind sagen: "O wie bist du doch böse!" etc., stempeln sie es zum Sünder oder sogar zum Verbrecher und isolieren es. Dann bleibt dem Kind nur noch der Ausweg, zu einem großen erfolgreichen Kapitalverbrecher zu werden wie etwa ein Hitler ...
Verlangt mein Ehrgeiz zuviel von mir, dem ich nicht nachkommen kann, so beginnt meine Selbstliebe leicht in Selbsthaß umzuschlagen. Kindliche Scham über schlechte Schulzensuren sind bei ehrgeizigen Eltern schon die erste Stufe auf diesem Weg.
Ein hamletartiger moderner Faust, der darüber nachdächte, ob Mephisto, wenn er ihm gegenübertritt, nicht ein Stück seines Selbst sein muß; und der dann beginnt, Experimente anzustellen ...
Sagen die Hüter des Verstandes zu uns "Ich bin ich" oder "ich bin, weil ich denke" oder "ich bin, der ich bin", so tönt aus jenen unteren Räumen des triebhaft bestimmten Seelischen etwas wie das Gemurmel einer erregten Volksmenge, die nichts von droben zu wissen scheint. Manchmal erreicht das Gemurmel auch den oberen Bereich des Verstandes. Dann hört der Verstand zu seinem Verwundern, als ob einer ihm zuraunte: "Du bist nicht, was du vorgibst zu sein."
Du mußt nicht daran zweifeln, dass du das, was dir am Herzen liegt, auch kannst. Wozu sonst wärst du da?
Etwas Unkraut (Eigennutz, Geltungsbedürfnis, Eitelkeit ...), wenn man es auch nicht gerade intensiv pflegen muß, darf man wohl schon mitaufwachsen lassen und muß es nicht scheuen. Man muß nur zusehen, dass daneben auch schöne Blüten aufblühen und gute Früchte gedeihen.
Eine Reihe von Torheiten gehört zu den Vorrechten des Identität suchenden Individuums, die Vernunft gehört allen.
Gibt es einen Weg zu einem uns eigenen, wahren Selbst? Selbst wenn einer ihn schon gegangen sein und das Ziel erreicht haben sollte, so können wir uns an ihm doch kaum ein Beispiel nehmen, da wir nicht wissen, inwieweit unser Weg mit jenem Weg übereinstimmt. Der Gläubige hat es da leichter. Er muß nicht seine Gedanken anspannen und sein Gehirn abmartern: Er lebt, als ob er hätte, weil er die Kunst beherrscht, sich einzureden, dass er hat; und er hat ja, insofern er glaubt. Doch es ist dies das Leben eines Don Quijotes, der einerseits unerschütterlich an seine Berufung glaubt, der aber andererseits nicht umhin kommt, Ausgeburten kindhafter Vorstellungen wie Riesen und Gespenster mit ins Kalkül zu ziehen und damit die Welt zu bevölkern. Und wenn ihn einmal der Gedanke überkommt, statt im Licht des Glaubens etwas zu erschauen, so weist er dies als Versuchung zurück.
Auf dem Gebiet des Glaubens und der religiösen Überzeugung lassen sich einzelner und Gemeinschaft begrifflich kaum trennen. Das Bekenntnis zu glauben schließt immer eine Gemeinschaft von Glaubenden mit ein. Deshalb ist Religion für die auf das Individuum bedachte Aufklärung eine skandalöse Einengung, die beseitigt werden muß. Und doch fängt jedes Menschenleben mit der untrennbaren Gemeinschaft von Mutter und Kind an und alles Einheimischwerden in einer Gesellschaft ist nicht möglich ohne Teilnahme am öffentlichen Leben und damit ohne Übernahme der jeweiligen Wertevorstellungen.
Der Individuationsprozeß kommt, wenn überhaupt, erst mit dem Tod, mit dem Aufstieg zu den Müttern, ans Ziel. Zuerst ist es (für den Jungen) die Mutter, dann die Braut, von der er abhängig ist und deren Fehlen ihm schwere Leiden verursachen ... Das Problem wird nicht gelöst, wenn dann der Mann die Frau in Besitz nimmt (und erniedrigt) ... Ödipus zeigt etwas vom Drama dieses Prozesses.
Träume als Vorbereitung auf Handlungsmöglichkeiten, als eine Art von Spiel, das oft sogar noch schrecklicher und ernsthafter zu sein scheint als die Verwicklungen im Tagleben, das einen dann aber doch meist wieder entläßt, ohne dass man für Verfehlungen zahlen muß.
Träume als elementare Formen der Kognition auf der Basis affektiver Assimilationsschemata.
Im Traum ist der einzelne Träumer der Täter bzw. das Opfer, einerlei, ob es sich um etwas Spezielles handelt, einen Tagrest, der ihm als einzelnem zur Verarbeitung ansteht, oder um eine gattungsspezifische Lektion, die uns stets bedeutet, dass wir für alles, was immer, auch neben uns, geschieht, verantwortlich sind, und dass uns alles angeht. Peinsam ist nur, dass man im Traum nicht merkt, wenn man für die Menschheit einzustehen hat. Wüßten wir im Traum, dass wir mitunter stellvertretend zu leiden haben, wir ließen es uns wohl eher gefallen.
Ein Polarisierungseffekt: Wenn der Vorwurf der Schuld auf dich fällt, wirst du schuldig, auch wenn du noch so unschuldig sein magst.
Im Traum in Wut - das ist etwas anderes als die Wut, die sich im Wachsein austobt: Der Wut im Traum kommt immerhin noch ein emotional gebundener kognitiver Aspekt zu; die Wut im Traum geschieht also als eine Art Probehandlung, mit Blick auf ein Ziel, während die Wut im Wachsein sich oft in einem blinden und ziellosen Umsichschlagen verliert. Im Traum sind wir hier geistig wacher.
Wie mächtig gerade auch die negativ besetzten Affekte sind, zeigt sich uns im Traum, wo man auf eine kleine unangenehme Szene hin einer Kaskade von Unangenehmem ausgeliefert wird. Schier alles Unangenehme wird da repetiert. Man kann nicht aufwachen und sich's verbieten.
Wenn wir uns auch noch im Traum verstellen könnten, bedürfte es eines Traums im Traum.
Wenn Träume zur menschlichen Selbstoffenbarung gehören, so erstaunt, dass wir nicht in der Lage sind, diese Offenbarungen klar und deutlich zu vernehmen, sondern dass wir der Traumdeuter und Ausleger bedürfen. Doch zum Selbst gehört eben immer auch die Sozietät, die das Selbst wesentlich mitbestimmt bzw. mitzubestimmen sucht. Um uns auch nur ansatzweise zu sehen und zu verstehen, bedürfen wir einer Werteskala und eines Beurteilungsmaßstabes, der niemals ohne Mitwirken der Sozietät möglich ist. Ich bin nicht unabhängig davon, wie mich die Eltern und Erwachsenen und die Lehrer zu sehen gelehrt haben. Indem sie mich lobten und tadelten, belohnten und bestraften, haben sie Werte gesetzt, deren Bedeutung ich nicht leicht ignoriere oder gar vergesse. Ich kann mich nur affektiv verschieden dazu einstellen, ich kann sie, statt sie zu lieben, hassen; ich kann sie umwerten, ich kann sie aber nicht neutralisieren und entwerten.
Die Selbstwirksamkeit gelingt dem Kind im kindlichen Spiel. Das Spiel als Probehandlung hat es mit speziell ausgewählten Problemen und variierbaren und aufhebbaren Kontrollen zu tun. Ähnlich lassen sich die Träume einschätzen, wiewohl gerade die Aufhebbarkeit und das Verdrängen unlösbarer Probleme nicht immer gelingt. Dominiert im Spiel der Kinder und Künstler die Kognition über den Affekt, so im Traum oft der Affekt über die Kognition.
Träume als Offenbarungen des Selbst, das ebenso privat und intim ist wie es auch öffentlich und sozial ist, verraten ebenso die Anliegen und Wünsche des einzelnen wie sie mit den Gegebenheiten der Sozietät konfrontieren. In diesem Spannunsgfeld sind Träume ein Exerzier- und Experimentierfeld zur Gewinnung existenzsichernden Handelns.
Die für den Menschen wichtigsten Situationen werden im Traum nicht nur biografisch verarbeitet, sondern auch generalisiert und explorativ antizipiert. Alle nur erdenkbaren und vorstellbaren ähnlichen Situationen, insbesondere kritisch bedrohliche werden durchgespielt und so entstehen Bilder der mahnenden Erinnerung und der schrecklichen Warnung. Mit der Möglichkeit der Vorstellung (als reproduzierendes Gedächtnis und als generalisierende Assimilation) beginnt die Möglichkeit abstrakten, orts- und zeitunabhängigen Lernens.
Hast du auch bei Tag keine Zeit für dich, der Traum in der Nacht nimmt sich deiner an und beschäftigt sich mit dir.
Seit Plutarchs Moralien achtet man gern auf die Träume als Indikator seelisch sittlicher Entwicklung. Wenn aber im Alter keine bösen Träume mehr über uns kommen und uns über uns erschauern lassen, heißt das längst nicht, dass wir sittlich höherstehend wären; es kann durchaus bedeuten, dass die Epoche der großen Aufgaben des Lebens hinter uns liegt.
Wer Anerkennung sucht, macht sich von denen abhängig, die ihn anerkennen sollen.
Die Kunst, sich die Anerkennung zu verdienen oder zu erschleichen durch die Kunst der Selbstdarstellung (impression management).
Selbstkontrolle und Selbstüberwachung, die einmal vom einzelnen ausgeht, der - wie Sokrates - an seinem Selbst interessiert ist und der Selbstbefreiung dient; andererseits aber auch ausgehend von der Gesellschaft, der sich der einzelne anzupassen hat und die den einzelnen gefangen setzen können. Dabei bedarf es oft noch nicht einmal einer Anweisungen von oben, von Vorgesetzten und Amtsinhabern. Man muß nicht in einem totalitären Staat leben, um mit Hamlet Dänemark als ein Gefängnis zu erleben. In jedem gesellschaftlichen Körper gibt es Tendenzen, die auf Überwachung drängen. Und wieviel Möglichkeiten gibt es heutzutage nicht (z.B. Internet), wo man in Amerika und Europa über jedermann bis ins Feinste Auskunft erhalten oder erzwingen kann? Kannst du dich nicht gut verkaufen, so bist du ganz bestimmt schon verloren.
Wer meint es gut mit sich und in welcher Weise kann es einer mit sich gut meinen?
Wie relativ Lob und Tadel sind, und wie sie oft mehr über den Urteilenden als über den Beurteilten aussagen, zeigt die Liebe, die selbst ansonsten Tadelnswertes leicht zum Gegenstand des Lobes macht. Alles ist an der Geliebten oder am Geliebten entzückend. Schrecklich der Augenblick, wo wir an einem geliebten Kind nicht mehr alles entzückend fänden ...
Womit hat eine Erziehung zu tun, die tadelt, prügelt, straft?
Eleve = Schüler, aus dem Lateinischen esclavus = Sklave = geschlechtsloses, zur Abprügelung fähiges Etwas. Die Einübungsphase zum rechten Verhalten (ethike arete) geschieht bei Aristoteles immerhin sklavisch. Das Nachfragen als Kennzeichen der praktischen Vernunft (dianoetike arete) geschieht erst viel später. Man sollte sich wirklich nicht darauf kaprizieren, Kleinstkindern Gebote und Verbote zu erklären, wie ich es schon erlebt habe. Die Liebe zum Kind ist Erklärung genug. Und die Anwendung dieser Regel ist wohl auch noch oft beim älter gewordenen Jugendlichen nützlich.
Lob kann eine Weise sein, sich über den zu setzen, den man lobt. Doch richtet man dadurch meist kaum Schaden an. Denn die meisten Leute sind unempfindlich gegenüber der Demütigung durch das Lob. Empfindlich gegenüber Lob werden wir erst dann, wenn wir so viel Selbstbewußtsein erworben haben, dass wir glauben, unter den uns Lobenden auswählen zu müssen.
Warum sollte Lob nicht auch etwas von Schmeichelei an sich haben dürfen? Ist's denn verboten, sich bei einem Kind einzuschmeicheln, wenn man ihm gut will? Manche Damen führen Hündchen mit sich spazieren, um denjenigen Gelegenheit zu geben, sich bei dem Hündchen einschmeicheln, die an der Herrin Interesse haben.
Die Physiognomie des Selbstbewußtseins gespickt mit den Ingredienzien der Macht, die auch nicht vor etwas Gewalt zurückschreckt, immer aber gemischt mit Reserve und, wo es sein muß, auch mit etwas Verachtung gegenüber dem anderen zeigt die folgende, von Cervantes überlieferte Anekdote (Don Quijote, II. Teil, 31. Kapitel): Eines schönen Tages lädt ein spanischer Landjunker einen ihm benachbarten Bauern zu sich ein zum Essen. Der Bauer kommt, man geht zu Tisch, der Junker bietet dem Bauern den Ehrenplatz an der Tafel an, doch der Bauer lehnt demütig ab. Nachdem der Junker dem Bauern mehrere Male den Ehrenplatz an der Tafel zuweist, der aber unter allen Umständen und inzwischen fast gar etwas hartnäckig dem Hausherrn denselben überlassen zu sollen glaubt, weil er nicht würdig sei, den Platz oben einzunehmen, macht der Junker der Szene ein Ende, indem er sagt: "Setz dich du Lümmel. Denn wo ich sitze, ist immer oben!" und drückt den Bauern auf den Ehrenplatz nieder.
Ein Student mit gutentwickeltem Selbstbewußtsein meinte nach einer Vorlesung, in welcher er etwas nicht verstanden hatte: "Wenn ich das nicht verstehe, dann versteht das keiner!"
Der Mann, im Bewußtsein, dass er von der Natur (oder vom Himmel) aus bestens zur Bewunderung erschaffen ist. So läßt schon Euripides den Achill (den Sohn der Thetis) voll Stolz zu der arg bedrängten Klytemnestra sagen: "Und bin ich auch kein Gott, für dich werd ich es sein!" Leider aber wird es dann nichts, wie die Tragödie (Iphigenie auf Aulis) lehrt, mit dieser Epiphanie.
Selbstlob kann wie der Stolz Erleichterung verschaffen und Hilfe sein, wo sonst keine andere da ist: als Schutz vor Selbstverachtung.
Selbsterweckung: eine echte Kunst (als Motor einer existenziellen Bewegung) oder ein absurdes, münchhausensches Unterfangen?
Wir Übermütigen! Sind wir doch froh, wenn man uns nur nicht zuviel lobt. So behalten wir uns die Möglichkeit vor, uns im stillen zu verbessern, ohne uns an ein Selbst zu gewöhnen, dem schon mit billigem Lob Genüge getan wird.
Darin sind sich die meisten einig: dass Lob und Tadel problematisch sind bei der Erziehung der Kinder. Versperren sie für Rousseau den Weg zu den Quellen der Natur, so trüben sie für Nietzsche die Natur des Herrenmenschen (vgl. Jenseits von Gut und Böse.Nr.170 "Im Lobe ist mehr Zudringlichkeit als im Tadel"). In der Tat: warum wartet man mit dem Lob nicht ab, bis das Kind groß genug ist, sich für das ihm Gemäße zu entscheiden, sondern prägt es gleichsam und impft ihm durchs Lob gewisse Verhaltensweisen ein? Doch vergessen wir nicht, dass sich im kindlichen Bewußtsein, wenn wir auf Lob verzichteten, leicht Ressentiments und Skepsis und Kälte einschleichen würden: Wirkungen also, die wir nicht bezwecken, da sie sich verheerend bemerkbar machen könnten.
Ich kannte einen, der lobte vornehmlich die, die höher gestellt waren als er, um sich so auf einen Fuß mit ihnen zu stellen. Und lobte er die, die unter ihm standen, so wollte er es als besondere Ehrung der betreffenden verstanden wissen. - Ein anderer, der mit Jugendlichen zu tun hatte, mischte, wenn er tadelte, den Tadel so leise in Lob ein, dass ein Außenstehender kaum etwas anderes als Lob hörte.
Wenn man jedes Lob und jede Wertschätzung in Bezug setzte zu der Selbstwertschätzung des Wertschätzers, so ergäbe sich, dass viel Lob und Wertschätzung entweder mit blinder Verehrung oder mit Herablassung zu tun hat. Am wenigsten aber wird meist demjenigen Lob und Wertschätzung zuteil, der an Rang oder Können mit dem Schätzer konkurriert.
Wenn wir etwas Großartiges produziert zu haben glauben, überschätzen wir uns meist maßlos im Vergleich zu unseren Zeitgenossen, wie wir uns auch bei weitem zu wichtig nehmen, wenn etwas gegen uns spricht, selbst wenn die Medien gegen uns Front macht. Wir betrachten uns m.a.W. stets mit dem Vergrößerungsglas des Egozentrismus. Im allgemeinen Fall aber, das heißt, wenn einer nicht persönlich berührt und betroffen ist, läßt ihn das alles ziemlich gleichgültig.
Die rechte Selbsteinschätzung, sowohl die heillose Krankheit der Selbstüberschätzung als auch die Krankheit der Selbstunterschätzung vermeidend: wie gelingt einem das?
Shakespeare hebt am Lob (im Hamlet, Laertes über Ophelia) die soziale Bedeutung und Funktion hervor. Lob fordert auf und animiert zur Nachahmung des belobigten Tuns. Doch nicht das Lob und der Preis sollten das begehrte Ziel sein, sondern das zu lobende Tun, das auch ohne Lob als befriedigend erfahren werden sollte. In Aussicht gestelltes Lob kann leicht auch zu unlöblichem Handeln verführen! "Um Lob und Preis, um nichtige Erscheinung/ Entsagen wir des Herzens besserer Meinung." (Shakespeare, Liebes Lust und Leid (IV.1)).
Wenn wir zu wählen hätten zwischen einem Lehrer, der sich sicher ist, in seinem Leben nie etwas geschenkt bekommen zu haben, und einem Lehrer, der vom Gegenteil überzeugt ist, so würden wir alle wohl den zweiten Lehrer wählen. Wenn wir nun aber Lehrer ausbilden, so müßten wir uns konsequenterweise darum bekümmern, dass jeder Lehreranwärter auch Gelegenheit bekäme, für sich zu dieser Grundüberzeugung zu gelangen. Das muß nicht notwendig so sein, dass man den Studenten nichts abverlangt. Es könnte so geschehen, dass man fest zusammen arbeitet, man aber immer letztlich den guten Willen auszeichnet.
Man kann die Menschen nach ihrem Verdienst beurteilen oder nach ihrem eigenen Wert und der ihnen eigenen Würdigkeit oder aber nach dem Wert und der Würdigkeit, die einem selber am Herzen liegt. Ist man daran interessiert, Menschen ein- und unterzuordnen, so wird man vornehmlich auf die Verdienste achten, wie gut gewisse Gebote und Vorschriften erfüllt worden sind. Das Verdienst wird belohnt, die Übertretung der Gesetze und Verordnungen aber bestraft.
Wenn wir den Eindruck haben, dass wir nichts nach außen, in die Gesellschaft ausrichten, sind wir schnell zu müde zum Lernen. Sind wir uns selber denn so wenig wert?
Gib nicht auf! Oder gewinnt dein Wert nur in der Gesellschaft, in der Masse, im Rudel Gültigkeit und kommt nur so zur Geltung?
Menschen nach ihrem Verdienst beurteilen, ist problematisch zumal im Blick auf die Erziehung und den Unterricht von Kindern, weil man meist und unwillkürlich den Maßstab anlegt, der in den eigenen Augen bedeutsam ist oder den das Amt vorzuschreiben scheint. Indem man sich strikt nach den Verordnungen und Bedürfnissen der Gesellschaft ausrichtet, sucht und spürt man nicht mehr nach den jeweils vorhandenen Talenten, sondern man fällt Urteile der Tauglichkeit und Untauglichkeit, ohne zu bemerken, dass diese oft nur dem on dit und on fait der speziellen Gesellschaft genügen.
Wer nach Verdienst beurteilt, verabsolutiert leicht das geforderte Wissen und Können, wobei nicht selten auch noch Gewalt, Tyrannei, Hochmut und Eigennutz mit im Spiel sind.
Das Kind wartet darauf, dass ihn der Lehrer lobt. Doch der junge Mann lernt auch, dass er Anspruch auf gewisse Dinge hat. Shakespeare legt die entsprechende Erkennntis Richard II. (III. 3) in den Mund, wann es freilich bereits zu spät für ihn ist: "Nur der verdient zu haben, der stark und sicher zu erlangen weiß."
Schwache Lehrpersonen, die es mit Kindern zu tun haben, demütigen leicht die Starken unter den Kleinen mit der Behauptung, dass sie die Gleichheit aller Menschen zu erlernen und zu respektieren hätten. Und sie zeichnen gerne Schwäche als Verdienst aus, als wollten sie sich dadurch selber auszeichnen, während sie doch darunter leiden.
Schule als Handlanger einer Gesellschaft, die ihr die Aufgabe des Aussiebens und Bereitstellens von Fachkräften besorgt?
Die Schule, ein gesellschaftliches Organ, das gesetzt ist zum Aufstieg und zum Fall vieler? In der Schule wird bereits darüber entschieden, ob ein Kind später der Führungsschicht angehören wird oder der Masse. Ein Kind, das in der Schule Erfolg hat, ist ja nicht in dem Maß genötigt, das anzuerkennen, was die anderen für gut finden, und sich dem Urteil der anderen anzupassen. Es muß sich nicht kleiden wie die anderen, nicht essen, was die anderen essen, nicht alles das haben, was die anderen für nötig erachten. Der Erfolg sichert ihm ein Stück Freiheit. Die andern aber können sich dem Diktat der Masse kaum widersetzen. Sie können es sich nicht leisten, dass man sie auslacht oder gar aus dem Kinderkreis ausstößt. Es sei denn, einer koppelt sich ab, ignoriert die Schule mitsamt ihren Zensuren, und sucht sich eine Tätigkeit, wo er Erfolg hat: wie etwa beim Sport, oder aber in radikalpolitischen Vereinigungen oder auf kriminellem Gebiet ...
Der Unerfüllbarkeit hochgestochener Erwartungen von Seiten des Vaters antwortet die Verzweiflung des gehorsamen Sohnes. Und so entpuppt und entlarvt sich im Kafkaschen Käfer ein wertloses Sein.
Bewertungen anderer sind mit davon abhängig, wie wir uns selber sehen. So gefiel sich Nietzsche darin, die anderen in Narren und Halbnarren einzustufen, während er von sich ernstlich behauptete, der Menschheit das bestgeschriebene Buch geschenkt zu haben. Nimm dagegen den Sokrates, der sich etwas Närrisch-Ironisches zulegte und der von sich behauptete, nichts Grandioses zu wissen und der vermutlich nie einen anderen für einen Narren gehalten hat.
Wenn die Beurteilung von außen nicht mit der inneren Beurteilung übereinstimmt und mangelhafte Leistung bescheinigt wird, bleibt doch die Möglichkeit, an sein eigenes Können unbeirrt weiter zu glauben (positive Selbstattribuierung). Oder man beginnt, wenn sich langfristig nichts ändert, sich in Verzweiflung zu üben, welcher Zustand dann dadurch überwunden wird, dass man sich an die Verzweiflung gewöhnt. Was anderes aber hat dann einer gelernt, als dass er Meister geworden ist in Sachen gelernter Hilflosigkeit?
Mangel an Fleiß, Faulheit, Trägheit und Bequemlichkeit sind der schnellste Weg zur Untauglichkeit.
Du kannst können, wenn du willst. Wenn du aber vergißt, dass auch du berufen bist und wenn du nicht darauf achtest, etwas darzustellen und jemand zu sein, so zählst du nichts.
Von Alkaios lernen wir, dass wir vor der A-mechania (der inneren Hilflosigkeit) bewahrt bleiben, wenn wir uns bewußt bleiben, dass wir alle in einen großen Lebenszusammenhang gestellt sind.
Man trifft immer wieder auf Kinder vornehmlich im Mathematikunterricht: Wenn man sie aufruft und ihnen eine Frage vorlegt, reagieren sie verwirrt. Es ist, als ließen sie erst einmal alle Rollos herunter, um ja nichts mehr von dem, was außerhalb geschieht, zu vernehmen. Man kann sie dann fragen, was immer man will, selbst eine Erstkläßleraufgabe wird dann nicht mehr gekonnt.
Keinen seiner Studenten wollte der Professor durch ein kindisches Lob beleidigen, und so brachte er stets trocken aber höflich seine Anmerkungen und Beurteilungen vor. Doch er täuschte sich. Seine Studenten wären immer wieder einmal gern durch ein kleines Lob gedemütigt und beleidigt worden.
Gesetzt, unsere Botschaft wäre so wichtig, dass wir nur vor denen uns zu sprechen anschicken würden, von denen wir wüßten, dass sie uns verstehen, vielleicht gäbe es dann Leute, die niemals vor jemandem sprächen. Dozenten und Professoren und Bücherschreiber indes scheinen diesbezüglich jedenfalls nur wenig sensibel zu sein. Aber wir sind ja selber wie das Gras und wie die Vögel, die um jeden Fleck Erde sich streiten. Und so kämpfen auch wir: einmal, um uns selber in der Öffentlichkeit und mithin auch vor uns selber als wichtig und bedeutsam herauszustellen, sodann auch, um eine Botschaft von uns zu hinterlassen, die Bestand hat.
Achte darauf, was du dir vornimmst. Was du nicht schaffst steht da als Beweis deiner Untauglichkeit.
Die Anleitung zum rechten Gebrauch des Willens gehört wohl mit zum schwersten in der Erziehung des Kindes. Und manche kindliche Regung, die man gemeinhin mit Trotzphase oder Trotzreaktion abtut, wäre wohl genauer zu untersuchen. Man darf das Kind nicht im Unklaren darüber lassen, dass es wollen kann und wollen soll. Will man es aber zur Selbstbestimmung erziehen, so darf man ihm nicht den Willen als Helfer zur Erfüllung jeglicher Triebregung zugestehen, geschweige denn, ihm mit solchem Beispiel vorangehen. Nicht Trieb und Affekt sollten den Willen bestimmen, sondern der Wille als Teil des herrscherlichen Selbst sollte auf Affekt und Trieb einwirken.
Sollen wir nun mit Schulkindern Selbstbestimmung einüben? Die Idee, sie an den Gebrauch demokratischer Spielregeln zu gewöhnen, mag an und für sich gut sein. Doch müßte man wissen, ob wir den kindlichen Geist dadurch nicht dünkelhaft und selbstherrlich machen. Wie mächtig soll sich ein Kind fühlen? Für Aristoteles jedenfalls kommt in der Erziehung die Selbstbestimmung zeitlich erst lange nach der Einübung in die bewährten, vorgegebenen Handlungsmuster.
Wenn wir um den Bodensatz unserer Natur wüßten, um Triebe, Triebentwicklungsmöglichkeiten, Affekte, Instinktresiduen, wie auch andererseits um die Verstandes- und Bildungskräfte in uns und um deren Entwickelbarkeit: vielleicht wäre uns auf dem Weg unserer Selbstbildung entscheidend geholfen. Doch wir sind nicht frei in dem Sinne, dass wir mit uns einen ganz neuen unabhängigen kulturellen Anfang machen können. Wir sind die, die bereits als Kinder von außen bestimmt und geformt wurden. Selbstbestimmung hat immer an dieser Fremdbestimmung anzuknüpfen. Der Weg zum Selbst und zur Selbstbestimmung bleibt schicksalhaft mit den Spuren dieser Fremdbestimmung verbunden. Vieles von dem, was mit Verdrängung und ähnlichen Verarbeitungsprozeduren zu hat, hat hiermit zu tun. Insofern könnte einer durchaus auf die Kindheit als Hemmnis zur freien Selbstverwirklichung ärgerlich zu sein. Bildung als Selbsterziehung setzt jedenfalls die Fremderziehung durch Eltern voraus oder man wird ein Kaspar Hauser. Zur Beantwortung der Frage, ob man als Erzieher auf ein Stück materieller Erziehung verzichten kann (auf das Erlernen von Fremdsprachen, auf die Entwicklung räumlicher Vorstellungen, auf religiöse Erziehung ...), wäre zweierlei zu erwägen: ob das, was unterbleibt, wesentlich zum Mensch-sein mithinzugehört (es beträfe etwas, was mit der oben erwähnten Basis unserer Natur zu tun hat) oder ob es sich um ein Stück zwar tradierter, nun aber überflüssig gewordener Erziehung handelt. Im ersten Fall handelte es sich um eine sträfliche Unterlassungssünde, im zweiten um eine vertretbare Entscheidung.
Sein und Haben. Sein als Haben. Es macht einen Unterschied, ob ich Herr bin über die Triebe oder ob die Triebe Herr sind über mich. Im ersten Fall habe bzw. verfüge ich über Triebe, im zweiten Fall unterstehe ich den Trieben oder bin nichts als Trieb. Freilich, wer kann behaupten, alle in ihm hausenden Triebe in der Gewalt zu haben? Immerhin sind wir, wenn wir gelernt haben, unsere Bedürfnisse und Triebe mit eben dem für sie Notwendigen zu sättigen, ohne ihnen weiter nachzugeben und uns von ihnen versklaven zu lassen, maximal in der Lage, auch die äußere objektive und raumzeitliche Wirklichkeit um uns herum zu vernehmen. In dem Maß aber, in dem sich innere Wirkkräfte zu Wort melden, sei es, dass etwas Außerordentliches über uns hereinbricht oder dass Triebregungen in uns allzu groß geworden sind, verblaßt und erlischt die Sicht auf die äußere Wirklichkeit, verblassen und erlöschen auch die Möglichkeit freier Entscheidung, die Wahl der Handlung, Moral, Gewissen und ähnliches.
Menschliche Befindlichkeit und gerade auch pathologische Zustände unter dem Gesichtspunkt der kognitiven Prozeduren der Selbstbestimmung aufarbeiten. Vermutlich fallen solche Erscheinungen wie der Freudsche Todestrieb oder Züge des Masochismus etc. in sich zusammen, sobald man den Menschen im Schopenhauerschen (kognitive, geschichtlich und gesellschaftsbedingte Prozeduren bei der Willensbildung wie auch bei der Genese von Vorstellungen, nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der spezifischen Sexualität des Menschen) Sinn analysiert.
Das Schönste und beste gereicht zur Qual, wenn man nichts sonst hat. Oder es wird zu einem bedenklichen bzw. bedenkenswerten Opfer, vielleicht gar zu einem Genuß der Qual, zu einem Geschäft mit Aussicht auf Unsterblichkeit und ewigen Ruhm, wenn man das Selbst unterdrückt und Verzicht leistet und sonst nichts haben will.
Um sich kennen zu lernen, muß man gewisse Voraussetzungen erfüllen und Kenntnisse und Fertigkeiten mitbringen. Somit aber kann man sich nur als einer mit gewissen Voraussetzungen und Kenntnissen und Fertigkeiten kennen lernen.
In der Stunde der Not kennen wir uns nicht mehr. Dann erscheint uns leicht alles falsch, woran wir je geglaubt und worauf wir gebaut haben.
Die Gefahr der Enttäuschung, sobald man von anderen über einem wichtige Dinge Auskunft einholt. Man muß damit rechnen, dass man etwas anderes zu hören bekommt, als das, worauf man gehofft hat.
Auch auf leise Geräusche acht haben zu können, ist gewiß gut. Gewöhnt man sich aber an, stets auch das kaum Hörbare zu vernehmen, so hört man alsbald auch Halluzinationen.
Die Kunst der Bewertung, die Kunst, sich so zu sehen, dass man weder Mut noch Schwung verliert, weiterhin etwas Gutes aus sich zu machen, die Kunst, zu einer Biografie beizutragen, zu der man stehen kann oder deren man sich zumindest nicht zu schämen braucht.
Gleichgültigkeit als Ausdruck des Unwissens und der Bequemlichkeit, aber auch als Ausdruck der Überheblichkeit und der Verachtung.
Wie sicher können wir sein angesichts unserer widersprüchlichen typhonischen Verfassung? Wenn uns z.B. mißlingt, uns möglichst groß zu machen, erwacht dann in uns die Lust, uns zu quälen und zu erniedrigen? Und wenn wir vergebens Wahrheit und Lüge zu trennen versucht haben, gehen wir dann dazu über, an keine Erkenntnis mehr zu glauben? Betrachte den Unglauben, der allen Glauben umschleicht, aber auch den Glauben, der noch im heftigsten Unglauben wach ist! Betrachte den Verrat, der noch in der stärksten Liebe schlummert ...
Wir können und müssen die Frau nicht identifizieren, die wir lieben, wohl aber sollen wir sie achten. Im übrigen ist es durchaus eine Kunst, in der geliebten Frau Helena, Aphrodite, Eva und das ganze weibliche Geschlecht zu verehren.
Man verlangt von uns ein Porträt. Aber da wär eigentlich gleich ein Dutzend Photos abzuliefern. Denn wir verfügen über viele Gesichter.
Man kann versuchen, die Kräfte zu mobilisieren, die einen in die Lage versetzen, es gut mit sich zu meinen! Unguten Gefühlen müssen wir keine übermäßige Bedeutung einräumen. Es ist nicht alles gleich plumpes Verdrängen und Flucht und Lüge und Selbsttäuschung und Zeichen der Lebensuntauglichkeit. Man darf ausblenden, was einen nur quälen würde, wenn man es sich in Erinnerung riefe. Man muß kein Misanthrop und Selbstquäler werden. Wer es gut mit sich meint, tut alles, dass er sich nicht der Verzweiflung am Dasein überlassen muß. Er weiß sich das vergangene Leben so zu vergegenwärtigen, dass es ihm das Weiterleben nicht vergiftet. Wer es gut mit sich meint, kann es sich auch erlauben, gelassen einige Interessen und Bedürfnisse zurückzustellen.
Notwendigerweise müssen wir uns auch immer wieder ein wenig belügen. Das verlangt schon die Erhaltung und der Schutz unseres Selbst. Denn wie sonst könnte sich einer frischen Mutes an eine Aufgabe wagen, wenn er sich nicht sagte, dass er dies nicht nur kann, sondern dass er es besser kann als die anderen? "Paßt auf, jetzt komme ich!" sagt gerade auch der Jugendliche", wobei er sich einredet, dass es keiner so gut kann wie er.
Was nehmen wir nicht alles in Kauf, um etwas zu erreichen? Auf wieviele Weise schädigen wir uns nicht, zerfleischen uns, ängstigen unser Herz und beschmutzen unsere Seele? Und selbst wenn wir etwas wirklich Gutes im Sinn haben, überkommt uns oft Unruhe, was wir tun müssen und ob wir es schaffen, dass wir Mühe haben, unsere steigende Unruhe loszuwerden. War es nicht Franz von Assisi, der sich noch vor seinem Tod bei seinem Körper entschuldigte, dass er ihn vieler arger Mühen ausgesetzt hat?
Selbstverwirklichung, wenn man davon sprechen kann, liegt beim Tier in der Nachkommenschaft (Fitnessmaximierung). In vielen Rudeln steht es überhaupt nur dem Hauptweibchen zu, Junge zu bekommen. Wir werden wohl davon ausgehen dürfen, dass dieses Privileg, das Pflegen und Säugen und Umsorgen der Jungen, auch wenn es mühevolle Arbeit umschließt, im Tierreich stets als Auszeichnung wahrgenommen wird. Was den Kinderwunsch angeht, so wurde er allerdings nicht erst in unseren Tagen, sondern auch schon in der Antike als problematisch empfunden. Kinder bringen nicht nur Glück, sie bringen auch Verantwortung, Sorgen, Leid. Eine Welt der Selbstverwirklichung, wo das Kind eine generelle Störung darstellt, war der Antike freilich fremd. Das Kind, das in einer vergnügungsarmen Gesellschaft Glück und Heimat darstellen kann, wird in einer egozentrierten und satten Gesellschaft zu einer lästigen Arbeit, die vom gesellschaftlichen Vergnügen ausschließt und alt macht.
Wenn einer aus dem All zu uns käme und sähe unsere Gesellschaft: er müßte den Eindruck gewinnen, als ob es nichts Schrecklicheres gäbe, als zu sich selbst zu gelangen und mit sich bekannt zu werden. Bekanntes, aller Schätzung entraten, scheint langeweilig zu stimmen und die Vorstellung eines umfriedeten Paradieses wird erachtet als ein Widerspruch in sich. Überall schaut man aus nach der Ferne und in die Fremde. Ob es sich um Berggipfel oder um Frauen handelt: Nur Fernes und Fremdes scheint von Geheimnissen umwittert.
Wie will einer für andere interessant sein, wenn er für sich selbst nur ein erbärmlich langeweiliger Geselle ist, ohne jede Frage und jedes Geheimnis?
Etwas in sich wissen, was uns fremd anrührt und doch sich auch wieder nicht allzu fremd sein! Es soll keiner kommen, der uns als sein Eigentum reklamiert.
Wenn sich nichts mehr zur Ausführung zu lohnen scheint, wenn die Kräfte zu gering geworden zu sein scheinen, um etwas Befriedigendes zu schaffen, wenn niemand mehr auf einen wartet und niemand da ist, einen aufzumuntern und zu bestärken: dann ist Unlust nicht ein Syndrom von Trägheit und Langeweile, sondern eine Form von Resignation: das Ende eines schwach gewordenen und gebrochenen Willens, das Ende der Fähigkeit, an sich zu glauben. Wir brauchen den Glauben an uns, dass wir etwas Erstaunliches finden und dass sich uns etwas uns Überwältigendes zeigt. Sonst fehlt uns schon der Mut, uns morgens aus dem Bett zu heben.
Schweigen, wo Rede nur zerredet und zerstört. Es ist wie mit der verbotenen Türe des Märchens. So müssen wir auch unser Selbst nicht restlos erkennen wollen. Ein Stück dürfen wir dorthin zurückgeben, von wo wir es her haben mögen.
Was für Lichter erleuchten unsere Welt?
Wie alles Lebendige so ist auch der Mensch zur Bewegung bestimmt, zum Handeln, zum sinnvollen Tun. Ist aber bei den Tieren das Sinnvolle im Instinkt verwahrt, so ergibt sich für den Menschen die Frage, was er tun soll. Was sollen und was können wir tun, dass es sich als sinnvolles Tun herausstellt? Was als sinnvolles Tun gelten mag, entscheidet nun aber nicht allein das Denken und Planen des einzelnen, das entscheidet zugleich die jeweilige Sozietät und das geschichtliche Bewußtsein, aber freilich auch der Erfolg, den der einzelne hat. Einer erfolgreichen Handlung brauchst du dich nicht zu schämen. So die Maxime seit alters. Drum handle und werde erfolgreich! Nicht nur der Zweck, vor allem auch der Erfolg heiligt die Mittel. Doch nicht nur die Zeiten sollten vorbei sein, wo ein Alexander oder ein Napoleon oder ein Hitler von Weltherrschaft träumten und wo sie sich zum Sieg stürmen sahen über Haufen von Leichen, auch die Gesellschaft der gnadenlosen Konkurrenz und des hemmungslosen Besitzstrebens und des Konsums sollten der Vergangenheit angehören.
Die auf den modernen Naturwissenschaften aufbauenden Erkenntnisse und Technologien und die damit gegebenen wirtschaftlichen Grundlagen gestatten vielen von uns heute ein fürstliches Leben. Nur dass wir, wie die Fürsten früherer Tage, mit diesem Leben und mit dieser Freiheit nicht viel anzufangen wissen.
Vielleicht wäre es besser um die Welt bestellt, wenn wir sie zuerst hätten verstanden haben müssen, ehe wir sie verändern und aus den Angeln heben konnten. Doch es genügte, einige Erfahrungen zu sammeln, um Handlungssequenzen ausfindig zu machen, die gründlich zerstörten (Steinschleuder, Messer, atomare Bedrohung) oder reproduzierten (Gentechnik, Autotechnik, überhaupt computergesteuerte Techniken).
Das tierische Kostüm des Menschen (Neid, Haß, Gemeinheiten aller Art) ist leider überall vorhanden und es bleibt ihm treu, auch wenn er es schafft, dass für jeden seiner Artgenossen das Glück en masse zu greifen ist.
Als der Mensch aus der Natur heraustrat, als sein Tun plötzlich nicht mehr selbstverständlich war, als über Gelingen und Mißlingen, über Dürfen und Sollen, über Recht und Unrecht das Vordenken und das Nachdenken einsetzte, als der Mensch Handlungen bewußt vorzubereiten begann und die Not verspürte, über seine Taten Rechenschaft abzugeben, als er sich auf der Tafel seines Gedächtnisses selber erschien: damals begann das Tun nicht mehr abgetan zu sein (vgl. Macbeth), nachdem es getan war.
Eine noch so gut durchdachte entscheidende Handlung erscheint nach ihrer Durchführung oft wie ein Schuß, von dem man noch nicht weiß, wen er trifft.
Wer einem Tier ein Messer in die Seite stoßen kann, kann es auch einem Menschen. Kann man sicher sein, dass man ein Tier, nur ein Tier trifft, und nicht einen Menschen? (Oder muß man wie Pythagoras mit Metempsychosen rechnen?. Vgl. auch Dionysos, den Gott der Verwandlung)
Nach einigen Erfahrungen haben wir Handlungssequenzen ausfindig gemacht, die uns gestatten, alles gründlich zu zerstören (Steinschleuder, Messer, Feuer, atomare Bedrohung) oder alles beliebig oft vervielfältigen (Gentechnik, Maschinen, computergesteuerte Techniken) zu lassen.
Wir glaubten, das goldene Zeitalter zu gewinnen, indem wir uns der Technik verschrieben und uns mit Komfort und Luxus umgaben. Doch Anfechtungen, Irritationen, Sinnfragen erschweren seitdem auf neue und nie geahnte Weise unser Leben. Es fehlen die Widerstände, an denen wir uns abarbeiten und hinter denen wir unser Ziel suchen könnten. Es fehlt uns der Dienst an einer großen Sache. Es fehlt uns eine große Vision, es fehlen uns Träume. Menschen früherer Tage fehlte vieles und doch waren sie beseligt in der Hoffnung. Wir aber haben fast alles, dass wir uns sogar erkühnt haben, aller Hoffnung den Abschied zu geben, und ahnen gleichwohl, dass uns etwas fehlt. Da ist einer, der davon träumt, wie er baldmöglichst die Last des Berufs von sich abschütteln und in Pension gehen kann. Oder ein anderer möchte auch einmal 200 Gäste zu seinem 60. Geburtstag einladen. Oder da ist einer, der darüber nachsinniert, wen er einmal bei seiner Beerdigung gern an seinem Grab sähe. Wieder ein anderer träumt davon, dass nach seinem Tod seine noch lebenden Eltern ihn auf dem Friedhof besuchen kommen. Geistliche, die früher ihren Beruf als Berufung verstanden haben, beginnen an sich zu zweifeln und ihre Berufung als Mangel oder gar als Makel zu erahnen. Was auch soll einer sich erbitten und worauf hoffen, wenn er sich das ewige Leben erbittet? Kann es mehr sein, als dass ihm bleibt, was er jetzt an Vergnügungen hat, oder dass Wunschträume, wie sie z.B. der Gott des Fußballs eingibt, in Erfüllung gehen? - Wenn wir uns und unsere Träume verstünden, würden wir vermutlich erkennen, wie sehr wir uns vom goldenen Zeitalter entfernt haben. Und wir würden erkennen, dass das goldene Zeitalter darin bestehen könnte, dass jeder sich mit der Gesundheit frischen Wassers und gebackenen Brotes begnügte, dass er seine Mitmenschen anlächelte und dass er den alten Johannes beherzigte, der da sagte: "Kindlein liebet einander!"
Haben uns Wohlstand und technischen Mittel vergessen lassen, was leben heißt?
Wir müßten zu den Maschinen ein Verhältnis finden, das uns ein Leben in Muße ermöglicht. Doch das steht im Widerspruch zum Automatismus der Automaten und zum Kampf um die Märkte für deren Produkte.
Wir holen aus den Computern heraus, was wir hereingesteckt haben, ebenso wie wir aus einem Test das als Antwort bekommen, was wir als Frage formuliert haben. Wie wir aber einen Hund anstellen können, ein Gefängnis zu bewachen, so können wir heute auch schon einen Computer anstellen, uns zu bewachen. Das Szenario einer Menschheit, die von Computern und Robotern in Schach gehalten wird, ist durchaus zu erwägen.
Jede Handlung ist wie ein Einschnitt, von dem man nur selten ganz genau weiß, was daraus wird und ob oder wann er zur Ruhe kommt.
Es ist beim Erwachsenen noch immer wie beim Kleinkind: das Subjekt wächst im Umgang mit dem Objekt und das Objekt differenziert die Erfahrung und das Bewußtsein des Subjekts.
Innerpsychische Zustände spezifizieren unsere Handlungen, und unsere Handlungen führen zu einer Erhellung unseres seelischen Zustandes.
Sprache führt aus der Innenwelt heraus, ohne aber schon konkret anschaubare Tat zu sein.
Was unseren Handlungen sich widersetzt, trägt leicht das Gepräge von etwas Lebendigem, Eigenwilligem. "Der böse Stein" ruft das Kleinkind, nachdem es an ihn gestoßen ist, als ob der Stein es gestoßen hätte. Oder der Fünfjährige, der behauptet hat, sein Holz schwimme nicht, ruft unwillig: "Willst du gleich, wie er sieht, dass es wieder auftaucht, und tritt auf das Holzstück, ihm doch noch den Willen aufzuzwingen. Oder man ist als Erwachsener unwillig, wenn sich eine Schraube nicht bewegen, ein Glas nicht öffnen läßt. Oder man ist ärgerlich, wenn das Toilettenpapier nicht hinab will. Wann immer wir eine Handlung begonnen haben und etwas damit auszurichten beabsichtigen, sind wir erregt, wenn sie uns mißlingt. Dostojewski läßt im Raskolnikoff zu böser letzt Leute gar ein Pferd totprügeln, weil sie sich in den Kopf gesetzt haben, dass es einen Wagen ziehen soll, der aber doch viel zu schwer für es ist.
Im Bereich der sogenannten Bagatellen, im Zwischenbereich mithin von für uns bedeutsamen Entscheidungen und uns wirklich völlig gleichgültigen Dingen, ist es besonders wichtig, sich über die zu treffenden Entscheidungen im Klaren zu sein und zu ihnen zu stehen. Da denkst du vielleicht, das kann ich ja noch zugeben oder erlauben oder tun, weil es unwichtig ist. Doch dann ärgerst du dich plötzlich über die Entscheidung, als handelte es sich um eine Haupt- und Staatsaktion und man hätte dir etwas Schreckliches aufgenötigt. In der Tat, wie leicht bringen wir es nicht fertig, selbst aus einem "Hafenkäs" eine Haupt- und Staatsaktion zu machen, als stünde gar noch unser Gesicht auf dem Spiel.
Der Wille, der in der Handlung nicht ans Ziel kommt, paart sich leicht mit ohnmächtiger Wut. Geduld mit sich zu haben und Selbstdisziplin zu erwerben gehört mit zu den wichtigsten, meist unbeachteten Lernzielen.
Die Tat verwandelt uns. Zuvor wissen wir noch keineswegs, was es heißt, Täter zu sein.
Wäre eine Tat das, was aus ihr wird, so müßten wir viel mehr die Konsequenzen bedenken als die vorbereitenden Schritte zu ihrer Ausführung. Wer aber versichert uns, dass uns die noch so gut gemeinte Tat nicht als gefährlichen oder lächerlichen Täter herausstellen wird?
Kaum irgendwo sind Lüge und Wahrheit so dicht beieinander, wie dann, wenn wir über unsere Handlungen nachdenken, sowohl wenn wir sie vorbereiten als auch, wenn wir unser Tun zu rechtfertigen suchen. Zum einen gibt es meist mehrere Motive zum Handeln, sodann gibt es aber auch für ein unser Handeln entscheidendes Motiv Ersatzmotive und Ersatzerklärungen, die für einen Unbeteiligten plausibel genug zu sein scheinen. Ich gebe vor, die Handlung A im Sinn zu haben, die ehrenwert ist. Wie aber, wenn mir auf dem Weg die Handlung B abgenötigt wird? Wie, wenn ich mit dazu beitrage, weil mir dies zuvor schon am Herzen liegt, dass ich mich genötigt sehe, B zu besorgen und es dann zur Handlung A zu spät wird? Überaus freizügig und kühn stellt Homer im 14. Gesang der Ilias dies an den olympischen Göttern zur Schau, wenn er Hera zeigt, wie sie den Zeus in Liebe verstrickt und in Schlaf versenkt, um dann Poseidon zum Krieg gegen die Trojaner an der Seite der Achäer zu ermuntern. Als wolle sie zu Thetys und Okeanos, um diese in Liebe wieder zu versöhnen, so sagt Hera schon zu Aphrodite, wie sie sich deren Liebesgürtel ausbittet, die ihn ihr sonst gewiß nicht gegeben hätte; und so sagt sie dann auch zu Zeus. (Zeus bleibt nur der Trost, dass ihm die List der Hera nicht verborgen bleibt.)
Die Alten hätten es kaum gewagt, die Welt zu erforschen, hätten sie diese Tätigkeit nicht als Dienst am Gott (als Theorie) verstanden. Dem Menschen als gottähnliches Wesen war in einem gewissen Rahmen erlaubt, das Wesen der Gottheit zu ergründen. In diesem Sinn lernte der Mensch Geometrie und Mathematik. Ohne eine göttliche Legitimation hätte es der Mensch kaum gewagt, die ersten Schritte in die Wissenschaften zu machen. Heute, wo uns nichts ferner zu liegen scheint als eine solche Legitimation, heute sagt man: "Sieh zu, was sich machen läßt! Vielleicht, dass etwas dabei herauskommt!" Doch das ist gefährlich. Längst wissen wir, dass nicht alles, was machbar ist, auch getan werden sollte. Indes, wer wäre in der Lage, Einhalt zu gebieten?
Wissenschaftliches Erkennen ist für die Alten Erkennen der menschlichen Praxis. Erkennen die Götter indes Gutes und Böses im Ausgang jeder Handlung, so erkennt der Mensch von der wahren und leider schlechten Qualität seines Handelns oft gerade erst nach seinem Tun (vgl. die Verheißung der Schlange im Paradies).
Nach Platon soll wissenschaftliches Erkennen zur Bestimmung des Guten führen. Sie kann aber, zumal in unserer Zeit, leichter noch zur Erkenntnis führen, dass objektives Erkennen eine gefährliche Sache ist, dass wir schließlich bestenfalls nur erkennen, dass sich Erkennen nicht lohnt, dass durch alle Erkenntnis eine Sackgasse eröffnet wird, die zum Nichts führt.
Der Mensch, ein Stück objektiver, organisch herausgeformter, durch Evolution perfektionierter Materie, mit genug Gehirnzellen, um zu erkennen, dass an ihm und durch ihn hindurch etwas zur Darstellung kommt, wovon er nicht weiß, was er davon halten soll.
Wo im Bewußtsein unserer Wissenschaften gibt es noch den Mensch als Mensch?
Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnis haben unser Leben bereichert und zugleich eng geführt. Wir wissen, dass es keinen Weg zurück gibt.
"Macht euch die Erde untertan!" Doch was gehört alles dazu? Natürlich wäre es z.B. schön und nützlich, im Rahmen der Chaosforschung über Knochenumbauprozesse Bescheid zu wissen, um den jeweils richtigen Prothesentyp zu kennen etc. etc. Doch wieviele gesunde Tiere dürfen dafür Spannungen und Drücken ausgesetzt und erprobt werden und endlich zu Grunde gehen?
Je mehr wir uns an der Exaktheit der Mathematik erbauen und uns um sie bemühen, um so mehr sind wir versucht, eben jenem Geist zu mißtrauen, der sich in einer Kette mehr oder minder ungenauer Worte einschließen läßt. Doch ist die Mathematik niemals in der Lage, uns etwas über den Gebrauch der mathematischen Resultate zu sagen. Die Ergebnisse der Mathematik sind als Mittel zu jedem Zweck verwendbar.
Je mächtiger der Mensch wird, um so unersättlicher wird er in den Triebforderungen und in den Vorstellungen von der Triebbefriedigung wie das Beispiel der Cäsaren zeigt. Er steigt zum "Gott" auf, während die anderen durch ihn zur Masse und zum Schlachtvieh entarten.
Unverkennbar ist das Bestreben, dass jedermann weiß, mit wem er es zu tun hat, wenn man als Mann der Macht erscheint, was u.a. schon in der Herrlichkeit der Titel zum Ausdruck kommt.
Wenn man sie sieht in ihren Roben und purpurnen Amtsgewändern und mit den prächtigen Amtsinsignien, erscheinen sie einem leicht als groß.
Das gefährliche Unternehmen, sich einem Höheren hinzugeben. Wie können wir sicher sein, dass wir nicht, statt uns zu erheben, uns niedrig und gemein machen?
Der Mann wächst in der Öffentlichkeit über sich hinaus; das ist die Seite, die die Notwendigkeit und den Zwang der Arbeit (Ananke) komplementiert. Hier erringt der Mann ein Stück Freiheit und ein Stück Einfluß und Macht. (Ist es bei der Frau ähnlich oder ebenso?)
Vertraue nicht dem Wert der Arbeit an und für sich. Wenn du es nicht fertig bringst, dass jemand auf deine Arbeit wartet, noch auch dir einzureden, dass sich deine Arbeit spätestens nach Fertigstellung für die Öffentlichkeit als wichtig und nützlich herausstellen wird, ist alles, was du tust, wertlos.
Die Arbeitsteilung macht blind für vieles, was um uns geschieht. So essen wir mit Appetit ein Stück Fleisch, das wir nicht ohne weiteres essen würden, wenn wir das Tier töten und das Fleisch zubereiten müßten. Aber auch die Umkehrung könnte gelten: dass wir uns in unserer Unwissenheit leicht vergreifen könnten, wenn wir plötzlich nichts mehr zu essen hätten.
Da lehren wir die Kinder, was es mit der Tierhaltung auf sich hat und welchen Nutzen sie uns Menschen erbringt. Und die Kinder zählen auf, dass die Kuh Milch gibt und Fleisch und dass Leder man aus Stieren Lederbekleidung machen kann. Unbeschadet von solchen Nützlichkeitserwägungen haben wir freilich die Tiere auch lieb. Es scheint auch uns Lehrern nicht schwer zu fallen, einer Kuh ins Auge zu schauen, ohne zu bedenken, dass sie wohl erschrocken von uns wegliefe, wenn sie wüßte, dass wir bislang noch alle ihre Artgenossen getötet und geschlachtet haben. - Wenn wir uns von der Kuh nur etwas Milch zum Trinken und für die Herstellung von Käse erbäten, wäre ein Abkommen möglich. Wir hätten dann freilich für die alten Tiere zu sorgen.
Der Anschein, den ein Pädagoge in einer auf Konkurrenz gegründeten Gesellschaft leicht von sich vermittelt, ist derjenige eines Mannes, der Kinder um sich schart, die keine Konkurrenz zu ihm darstellen und die er sich zwanglos unterordnet. Da hier weiter keine ehrgeizigen Pläne verfolgt werden können, glaubt man, als fehle es ihm an Männlichkeit und als habe er die Kinder nötig, um sie zu kommandieren und an ihnen seine schwachen Resttriebe abzureagieren.
Weder Individual- und Sozialpsychologie noch Verhaltensforschungen können uns letztendlich sagen, was der Mensch alles werden kann. Sie können nur Randbedingungen aufweisen und Material angeben, aus dem sich der Mensch Welt, Kultur, Freiheit und Glück zu erschaffen und wie er sich in dieser Welt einzurichten vermag.
Versagen aushalten im Kampf um den Platz, den wir in der Gesellschaft einnehmen können (vgl. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Fischer, 1972, III. S.82).
Der Widerspruch zwischen der Einsicht, etwas Sinnvolles tun zu sollen und dem Mangel an sinnvoller Tätigkeit, trübt das Verhältnis des Jugendlichen zum Staat und deren führenden Repräsentanten.
Man muß der Gesellschaft das Urteil abtrotzen, dass sie einen braucht, ohne Zweifel bei sich aufkommen zu lassen. Dies aber ist nur möglich, wenn man unter den von der Gesellschaft geschätzten Tätigkeiten eine findet, wo man dann alles tut, um sie aufs beste auszuführen.
Wer nichts zu tun hat, sieht sich leicht schon tot.
Wir sind in der Jugend für gewöhnlich so sozial, dass von der Gesellschaft immer ein Anreiz zum Tätigwerden auf uns ausgeht. Erst Sekundäreffekte wie schlechte Zensuren und mangelnde Erfolgserlebnisse lassen am Sinn von Tätigkeiten in der Gesellschaft zweifeln.
Dabeibleiben, wenn es etwas Gutes ist, und die innere Zustimmung aufrecht erhalten, nicht innehalten und zurückschauen, auch wenn Beifall und Erfolg ausbleiben.
In der abendländischen Gesellschaft ist es alter Brauch, alles auf Nützlichkeit hin zu bewerten. Wenn wir aber gelernt haben, uns aufgrund unserer Nützlichkeit und unseres Könnens für wert zu halten und wir den Kindern entsprechend begegnet sind, wenn wir mithin Lehrer für erfolgreiche Kinder geworden sind: dann können wir wenigstens im fortschreitenden Alter noch versuchen, uns auch aufgrund unserer eigenen Nutzlosigkeit zu ertragen und Lehrer auch für die anderen Kinder zu werden.
Seit Alters zählt in der Schule neben Fleiß und Erfolg das gute Verhalten. Indem die Gesellschaft dem Unauffälligen und Angepaßten Belohnung für sein Wohlverhalten verspricht, unterstützt sie das Verhalten des Herdentiers.
Wenn wir jung sind und Erfolg haben, werden wir stolz und selbstbewußt. In dem Maß aber, in dem der von uns erstrebte Erfolg ausbleibt, besinnen wir uns auf uns selbst und grübeln über das Menschsein nach. Folgt daraus, dass alles Philosophieren ein Symptom der Schwäche ist und dass das Leben in seiner instinktiven und vitalen Betätigung taub ist gegenüber pädagogischen Ratschlägen?
Wenn wir etwas ganz Aussichtsloses und mithin Närrisches tun, und haben dann Erfolg: so glauben wir leicht, dass wir recht gehandelt haben. Der Erfolg gibt uns recht, zumal wenn wir mit dem Erfolg schon einige Bekanntschaft gemacht haben, und weitab liegt uns der Gedanke, dass wir dennoch närrisch gehandelt haben. Annette hatte vor der Uni in Leipzig ihr Fahrrad angekettet. Ein anderer hatte dann daneben sein Fahrrad angekettet, ein blaues Rad, wohl aber aus Versehen zusammen mit A.s Rad. Wie A. nun am Abend heimfahren will und sieht, dass dies unmöglich ist, fragt sie die nächstbesten Leute, ob ihnen nicht das Fahrrad gehört. Leider muß sie rasch erkennen, dass alles Nachfragen in der Menge vergeblich ist. Ist nun etwa das Nachfragen in der Nichtmenge weniger vergeblich? Jedenfalls begibt sie sich ins nächste Geschäft, einen kleinen Friseursalon, und fragt dort den Inhaber, einen jungen Mann, ob ihm das blaue Rad gehört. "Na und?" fragt der, indem er ihr zunickt. Was aber hätte sie getan, wenn auch hier nur ein Kopfschütteln auf sie gewartet hätte? Hätte sie wirklich die Kraft gehabt, das nun doch begonnene Fragen zu beenden? Wie sie nachträglich meinte, hatte sie nur noch eine letzte Probe machen wollen, wo sie dann nicht nur den Übeltäter sondern auch ihren Glauben bestätigt gefunden, dass es sich lohnt, ein Optimist zu sein. Vielleicht wäre an dieser Stelle auch am Platz gewesen, den Göttern zu danken, die sie vor der Verzweiflung retteten, und sich vorzunehmen, das nächste Mal bei ähnlicher Gelegenheit lieber geduldig abzuwarten und nicht mehr nach dem Urheber zu fahnden.
Eine von uns als gelungen und gut eingeschätzte Tat läßt uns aufjubeln. Doch dann kann es sein, dass ein Mißbilligen unserer Umgebung Mißtrauen in uns weckt, und unsere Handlung beginnt uns als problematisch und wir uns als gemeine Täter zu erscheinen. Erst im Schutz vieler, die wir hinter uns gebracht haben und hinter uns wissen, löst sich alles Bedenken als überflüssig auf.
Bis zu einem gewissen Grad ist vielleicht sogar ganz heilsam, wenn wir einen gemeinen Charakter in uns erkennen; nur sollten wir ihn nicht anerkennen, auch nicht bis zu einem gewissen Grad.
Wenn wir unsere Entscheidungen im Blick auf den erfolgreichen Ausgang fällen und nur der Erfolg uns recht gäbe, so wären wir auch wider besseres Wissen und Gewissen zum Erfolg verurteilt; und dies so sehr, dass wir, wenn wir den Erfolg nicht erreichten, wir ihn auch noch in der Erfolglosigkeit als Erfolglosigkeit zu begreifen suchen müßten.
Mach, dass du Erfolg hast und es dir gut geht! Das verleiht dir dann auch moralisches Ansehen und persönliche Würde. Oder hat nicht schon der Psalmist einst erklärt, er habe noch nie einen Gerechten gesehen, dem es schlecht ergangen wäre? Man muß ja die Dinge nicht mit den Augen des Logikers beurteilen, wenn sie schon für sich allein sprechen.
Zu was für einer Kultur des Handelns kommt man, wenn immer nur der Erfolg im Ausgang recht gibt?
Das Problem der Mittel, deren wir uns bedienen dürfen zur Tat. Denn der Zweck heiligt durchaus nicht alle Mittel. D.h. mit dem Erreichen des Zwecks verschwindet keineswegs die Erinnerung an den Einsatz, der zum Erreichen nötig war, jedenfalls nicht für den einzelnen, allein auf sich gestellten Täter. Lady Macbeth weiß, dass es ihren Mann zwar nach der Krone gelüstet; doch weiß sie auch, dass er nur unentschlossen und halben Herzens danach verlangt, da ihm Herzenskälte und Brutalität fehlen. Sie erwägt (I.5): "Was recht du möchtest,/ Das möcht'st du rechtlich; möchtest falsch nicht spielen/ Und Unrecht doch gewinnen; möchtest gern/ Das haben, großer Glamis, was dir zuruft:/ "Dies mußt du tun, wenn du es haben willst!"/ Und was du mehr dich scheust zu tun, als daß/ Du ungetan es wünschest." Entsprechend äußert sich dann auch Macbeth (I.7) und verschärft das Problem noch, indem er es als ein ausschließlich diesseitiges begreift: "Wenn der Meuchelmord/ Auffangen könnt in seinem Netz die Folgen/ Und nur Gelingen aus der Tiefe zöge:/ Dass mit dem Stoß, einmal für immer, alles/ Sich abgeschlossen hätte - hier, nur hier - / Auf dieser losen Sandbank unserer Zeit -, / So setzt ich weg mich übers künftige Leben."
Kaum etwas macht so verdrießlich wie Handlungen, die man fröhlich und zu einem guten Zweck beginnt, und die man dann abbrechen muß, weil einem eine Kleinigkeit fehlt oder etwas Mißliches dazwischenkommt.
Wer, wie etwa Napoleon, sicher ist, dass ihm nur durch den Gott des Erfolgs Existenz zukommt, anerkennt kein Gericht. Der versteht sein Handeln als eine ihm zukommende geschichtliche Aufgabe. Und alle Rede und alles Urteil zerschellt an seinem erfolgreichen Tun.
Es ist wie in einer Gebirgslandschaft, die wir aus halber Höhe am besten überblicken: droben erkennen wir die Gipfel unseres Erfolgs und drunten im Tal die nutzlosen Anstrengungen und verzweifelten Versuche. Im Überblicken von Gipfel und Tal werden wir uns unseres Menschseins bewußt.
Der Tatmensch weiß nicht viel um den Augenblick, da er sich kaum irgendwo anders aufhält. Der Mensch der Betrachtung aber sehnt sich nach dem Augenblick und ist doch kaum je dort zuhaus.
Goethe formuliert in seinen Maximen und Reflexionen (Hamburger Ausgabe, Bd. 12, S.399) "Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende." Das ist noch sokratisch religiös gedacht.
Meines Erachtens ist der Mechanismus des Gewissens sehr einfach erklären: als Verstoß gegen die Gewohnheiten. Ich habe eine Tante, die sich angewöhnt hat, uns jeden Monat einen Kuchen zuzuschicken, aus welchen Gründen auch immer. Macht sie das noch eine Weile so, dann ist ganz klar, dass sie diesen guten Brauch nicht mehr wird beenden können, ohne Gewissensbisse, wenn nicht gar Schuldgefühle zu bekommen. Dabei kann doch niemand sagen, sie ließe sich da etwas zuschulden kommen lassen. - Immerhin basiert unser Lebenserhalt wie schon bei den Tieren auf dem Funktionieren von Assimilationsschemata, mithin auf Gewohnheiten.
Das Paradoxon des Handelns, das auch das Geschäft des Erziehers mitumfaßt: dass es weder eine ausreichende Vorbereitung gibt, die ein Handeln rechtfertigt, da wir nie um alle Folgen wissen, dass wir aber auch eine sicher beherrschte und durchgeführte Handlung nicht als aposteriorische Rechtfertigung gelten lassen können. Handeln müßte getragen sein in wechselseitigem Einvernehmen, wobei auch der Kreatur und aller Natur eine Stimme zukäme. Es müßte die Dinge so umsorgen, dass es keine Reifung verhinderte.
Wer oder was lenkt uns, wenn wir in jenen ekstatischen Augenblicken, wo wir uns durchaus im Wissen, Handeln nie vollständig planen zu können, dennoch zum Handeln anschicken?
Wenn du anfängst, dich zu rechtfertigen, bist du verloren. Wenn du gut und richtig gehandelt zu haben glaubst, so magst du gelassen zusehen, was daraus wird. Das beste Werk wird verdächtig und verliert schlagartig an Wert, sobald man es rechtfertigt.
Wenn einer die Macht hätte, mit einem geheimen Stock alles Unrecht der Welt aufzuwirbeln, hätte er auch das Recht dazu?
"Laß ruhn den Stein - er trifft dein eignes Haupt!" (Droste, Die Judenbuche) Vgl. den Dädalus! Er bringt den 12-jährigen Talos aus Eifersucht um und verliert dann später seinen eigenen Sohn. Oder Macbeth vor dem Königsmord (I.7) ...
Wenn wir uns als Handelnde begegnen, sowohl bei der Vorbereitung wie auch bei der Wiedererinnerung einer Tat, begegnen wir uns von außen als einem objektiv Handelnden. Unser Ich erscheint als ein Nicht-ich, das dem Ich bedrohlich zu werden vermag.
Wenn wir unsere zum Handeln ausgerichteten Gedanken zerlegen: wieviel Weisheit steckt in ihnen und wieviel Affekt und Leidenschaft, wieviel Erfahrung und Lebensmaximen und wieviel ängstlicher Selbsterhaltungstrieb? Wieviel, wozu wir in heiter entspannter Stunde unbedingt ja sagen und wieviel Sorge, Angst, Feigheit, Schwäche? Und andererseits, wenn wir die Werdegänge unserer aufs Handeln ausgerichteten Gedanken, wenn wir die von uns gefaßten Vorsätze und Entschlüsse zergliedern: wieviele sind uns nicht mit der Zeit gleichgültig geworden? "Wo Leidenschaft den Vorsatz hingewendet,/ Entgeht das Ziel uns, wann sie selber endet. Was wir ersinnen ist des Zufalls Spiel,/ Nur der Gedank' ist unser, nicht sein Ziel" (Hamlet).
Wenn du dich fragst, ob sich dein Handeln auch wirklich rentiert, bist du fast schon verloren. Man müßte schon recht gehandelt haben, ehe man sich die Frage nach dem rechten Handeln vorlegt (doch wie geht das?) oder man muß wie Sokrates aufs Handeln verzichten.
Der Täter-mensch. Die Vorbereitung zu Handlungen, auch wenn wir sie dann verwerfen und sie nicht zur Ausführung kommen, sind innerpsychisch bereits Taten: Taten, für die wir uns zu verantworten haben und um derentwillen wir von den Dämonen des Alptraums und den Erinnyen verfolgt werden.
Handlungsfreiheit erweist sich in dem Maß als Illusion, als wir einsehen, dass wir die Folgen des Handelns nicht absehen.
Der Mensch ist von Natur aus zum Handeln bestimmt. Weil er aber nicht in der Lage ist, das Ausmaß und die Folgen seiner Handlungen abzuschätzen, muß er gewärtig sein, als verantwortungsloser Täter entlarvt zu werden. Tausend Handlungen scheinen klar und deutlich und problemlos, doch dann geschieht etwas, was ihn in Häßlichkeit zeigt. Da zeigt sich dann, dass alle Prohairesis umsonst war und alle Phronesis, und dass die Theorie vom Logon-didonai, also vom verantwortlichen Handeln, daneben geht. Das ist sein Schicksal, vom Tag der Geburt an, wenn er seiner Handlungen ansichtig zu werden sucht, bis zu seinem Tod.
Handlungsfreiheit erweist sich in dem Maß als Unfreiheit, als man nicht unter konkurrierenden Möglichkeiten zu entscheiden die Kraft hat.
Geht man von Charakteren aus, so bekommt das Szenische leicht etwas Symbolisch-Unergründliches. Und geht man von den Vorfällen des Lebens aus, dann erscheinen die Handlungsträger oft als traumhaft-unwirklich.
Nicht so sehr der Typ der Liederlichkeit wird in der Rolle der Cressida in Shakespeares "Troilus und Cressida" geschildert, als vielmehr die Gesellschaft der Liederlichkeit und des Kriegs, in welcher der ihr entsprechende Typ gedeiht. Dies beginnt schon damit, dass der im übrigen kräftige und selbständig handelnde Troilus, um sich der Cressida zu nähern, sich des Kupplers Pandar bedient. Es verwundert nicht, dass man dieses im übrigen ausgezeichnete Stück noch nie recht mochte.
Wonach fragen wir das Kind, wenn wir fragen: "Warum hast du das getan?" Wonach fragte Gott Adam und Eva, als sie gegessen hatten, wonach fragte er Kain, als der seinen Bruder erschlagen hatte?
Je mehr Zeit und Umstände und Menschen einen zum Handeln drängen, wiewohl die Handlung, gemessen an ihrer Tragweite noch nicht genügend vorausbedacht ist, um so mehr schwindet die Unterscheidbarkeit zwischen Tat und Täter.
Welchen Trost und welche Hilfe spenden uns Verstand und Vernunft? Eine kleine Ungerechtigkeit zieht rasch eine Lawine von Ungerechtigkeiten nach sich. Doch leider gilt nicht auch ebenso, dass eine große Gerechtigkeit viele kleinere gerechte Handlungen nach sich zöge.
Wir versuchen Handlungen genau vorzubereiten und im nachhinein möglichst genau zu analysieren. Dabei setzen wir auf die Kräfte des Verstands. Nur dass die Handlung auslösenden und betreibenden Kräfte meist überhaupt nichts mit dem Verstand zu tun haben und ihm verborgen bleiben. Vermutlich sind uns die meisten der psycho-sozialen Mechanismen, die sich in der Evolution herausgebildet haben, noch völlig unbekannt. Als Verhalten steuerndes Erbe sind sie in uns lebendig. Wir glauben frei zu entscheiden und bewußt zu handeln und stehen doch oft nur im Dienst dieser geheim in uns agierenden, fast alles bestimmenden Spieler.
Gott oder ein Dämon ist in jeder Handlung. Aber nicht jede Handlung fällt gut aus, auch nicht wenn sie als solche geplant war. Bei Euripides muß oft ein ordnender Gott (Ein Gott des Logos als deus ex machina) den guten Ausgang verordnen. Sokrates plädiert dafür, den ordnenden Gott aufzusuchen und nur seinem Geheiß gemäß zu handeln. (Einen Apollon, der dem Orest den Muttermord befiehl, erkennt er nicht an. Ist er dafür - wenn überhaupt - zum weisesten Mann Griechenlands gewählt worden?) Das Christentum hat den Gott des sokratischen Logos zusammen mit dem Schöpfung aussprechenden und Gesetz stiftenden Bundesgott Israels gesehen. Das Dämonische erscheint im Christentum als Verführung des Satans. Doch mit dieser Aufteilung läßt sich ein Phänomen wie das eines Hitlers nicht zufriedenstellend beurteilen. Wir wollen nicht den Teufel verurteilen, wenn wir an Hitlers Massenmord denken. Wir wollen an die Macht und die Gerechtigkeit Gottes glauben oder ihr gegebenenfalls zuvorkommen.
Immer wieder einmal entpuppt sich uns das Ergebnis unserer Bemühungen, welches wir zuerst für gut gehalten haben, als so wertlos, dass wir uns seiner gar schämen.
Wir sollten nichts tun, dessen wir uns schämen müßten. Doch hängt dies nicht nur von uns ab. Was eine Gesellschaft in früheren Zeiten für gut befand, das konnte man tun, ohne Scham. Und was von ihr verurteilt wurde, auch wenn es an und für sich gut gewesen sein mochte, das mußte in geheimem Widerstand gegen sie getan werden.
Es kommt weniger darauf an, dass wir uns in den anderen und die anderen in uns erkennen, als dass wir erkennen, dass es darauf ankommt, dass wir durch gemeinsames Handeln eine Spur durch die Geschichte des Menschenlebens graben, deren wir uns auch in Jahrhunderten nicht zu schämen brauchen.
Wer nur auf die Geschichtlichkeit des Handelns setzt, kann nicht umhin, dass man ihn später einmal verflucht.
Wenn einem das Leben nichts mehr wert ist, ist ihm auch die Erde und das Weiterleben auf Erden nichts mehr wert. Hat er die Macht, so hat er wohl auch keine Schwierigkeit, zusammen mit sich die Erde zu zerstören. Denn dann löscht er mit sich auch die Erinnerung an das ihm verhaßt gewordenen eigene Leben aus.
Das behaglich gute Gewissen stammt aus der Übereinstimmung mit der überwiegenden Mehrzahl, der Herde, die stets das Recht auf ihrer Seite hat.
Die Fürsten früherer Tage, die zu den Volksfesten immer auch ein grausames Schauspiel beisteuerten, erzielten auf diese Weise (affektive) Übereinstimmung bei der Mehrzahl und machten sie zu Mitwissern und Mittätern.
Ist einer groß, wenn es ihm gelingt, die ganze Welt in ein Leichenhaus zu verwandeln? Für das Kleinkind gehören Eigenschaften wie groß - stark - mächtig - siegreich - gut - ehrenwert - noch unmittelbar zusammen.
Die Geschichte der Menschheit muß man nicht mehr unter dem Gesichtspunkt des Helden (arma virumque cano) schreiben, der als Alexander oder als Cäsar, als Cortez oder als Napoleon seine Truppen bis an die Grenzen der Erde führte. Die Waffen stehen zur Verfügung, ohne dass man auch nur einen Schritt tun muß. Der Zeitgenosse des Euripides konnte noch halbwegs ruhig zuhören, wenn seine Medea (V.402f.) ausschrie: "Berate dich, Medea, sinne Listen aus! Zum ärgsten schreite!" Da solche Gelüste heutzutage gut realisierbar sind und ein Hitler sich gewiß nicht lange überlegt hätte, die Welt für immer zu zerstören, ist nicht unwichtig, detailliert zu wissen, wann und wie sich solche Gelüste ausbilden.
Der Menschheit scheint dies eigen zu sein, dass sie alles totschlägt, was waffen- und wehrlos über sie hinauswächst. Tut man es aber in Waffen, so hat man alsbald Bewunderer auf seiner Seite. Arma virumque cano ...
Zum Essen Brot, zum Trinken Wein,
solch eine Hand kann grausam sein?
Die Großen, Mächtigen gefallen
noch in den schlimmsten Fehlern den Vasallen.
Der Herrschaft Stab nicht lang in Händen hält,
wer sich auch nur einmal in Frage stellt.
Der Glaube an die Macht der Macht war stets stärker als der Glaube an die Macht des Guten. Was lag also näher, als die Macht des Guten in die Macht der Macht zu kleiden? Und war doch stets ein großer Irrtum.
Wer nach dem Recht handelt, handelt noch lange nicht richtig. Wohl aber gilt, dass der, der nach dem geltenden Recht handelt, sich keines Unrechts schuldig macht, d.h. als ehrenwerter Mann auf sich halten darf.
Wir handeln oft nur, um auf eine bestimmte Weise gesehen zu werden.
Wir lieben und schätzen unsere Tauglichkeit und die Objekte unserer Tauglichkeit und nehmen sie gern als ein Stück von uns (Betrachte z.B. Faust, wie er den Prolog des Johannesevangeliums "in mein geliebtes Deutsch" zu übertragen versucht.).
Die Großen und Mächtigen haben sich nie darin geübt, sich zu Wort zu melden, wo Unrecht am Kleinen und Schwachen geschah. Und auch ein solch spannendes Experiment, dass man Landstreicher und Hungerleider mit wohnlichen Häusern und gutem Essen und Trinken "bestrafte", ist leider nie vorgekommen - außer im Theater bei Nestroy (Lumpazivagabundus).
Um verstanden zu werden bedarf es keines lauten Sprechens, wohl aber, wenn man möchte, dass die Worte befolgt werden. Oder kann man auch das Folgeleisten über einen leisen Verstehensprozeß erreichen? Bei einem einzelnen vielleicht, kaum aber bei mehreren oder gar bei vielen. In einer Klasse mit vielen Kindern gibt es immer einen, auf den die anderen schauen und nach dem sie ihr Verhalten ausrichten. Da dieser durchaus um seine Macht weiß, so genügt nicht, dass ihn der Lehrer durch einen Verstehensprozeß gewinnt, er muß ihn zugleich auch von seiner eigenen, ihn übertreffenden Macht überzeugen.
Verstehen heißt im wissenschaftlichen Sinn: auf jegliche Weise in Frage stellen und bezweifeln; im mitmenschlichen Umgang aber: auf jegliche Weise festhalten und vertrauen.
Ein Lehrer mit vielen Kindern (insbesondere mit Problemkindern, die nicht genug Zuwendung erfahren haben) kann sich mit der Lehre nur im Rahmen seiner Selbsterhaltung befassen. Er muß der Enttäuschung zuvorkommen, damit es ihm nicht ergeht wie dem Baccalaur Carrasco, der auszog, seinem Freund Don Quijote zu helfen und, als er scheitere, als sein erklärter Feind davonging (Cervantes, Don Quijote, II.Teil, Kap.12 ff.). Andererseits dürfen wir im Umgang mit Menschen auch nicht zu viel auf mögliche Enttäuschungen starren. Sie könnten sonst herbeigelockt werden.
Dem Handeln entkommen, das immer nur um eines anderen Zieles willen geschieht (Leistung, Befehl, Beförderung, Einkommen, Anerkennung, Ruhm), hin zu einem Handeln, das in sich ruht und das uns (ähnlich wie dem Speerwerfer, der dem abgeworfenen Speer nachschaut) auch noch nach der Durchführung etwas Zeit läßt zur Verarbeitung: das heißt dem Handeln etwas zurückgeben von seiner ihm eigenen Ausgewogenheit und Zielhaftigkeit.
Der einzelne weiß nicht, was er tut, wenn er in der Masse (etwa in einer Schulklasse) dem Lehrer zu Leide lebt. Er wäre gewiß höchlichst erstaunt, wenn er erführe, dass er seinem Lehrer die Freude am Leben raubt. Er wollte ja nur einen Jux machen.
Kinder hatten den Erstkläßler gehänselt und in Rage gebracht. Nun suchte er sich zu rächen. Weil aber der Lehrer dazwischenkam und ihn abzuhalten suchte, so gab er diesem den Tritt, den er seinen Feinden zugedacht hatte.
Als sie die Schwerverwundeten und die Toten vom Autobahnunfall abholten, säumten Schaulustige die Straße und ein Eiswagen kam und bot den Leuten Erfrischungen an.
Wenn Erfolglosigkeit zur Gewissenlosigkeit verdammt, Erfolg aber zu Ausgeglichenheit, Heiterkeit, Verträglichkeit, Persönlichkeit führen kann: wie kann dann ein Lehrer mit gutem Gewissen einem Schüler Erfolglosigkeit bescheinigen? Sind dann nicht die Fehlerchen im Diktat oder in der Rechenarbeit lächerlich gegenüber dem himmelschreienden Fehler, den eine sachlich korrekte, aber vernichtende Korrektur erzeugt?
Unterdrückte Aggressionen und Aktivitäten schaffen ein Gefühl der Ohnmacht und der Trauer, wobei bei fremdverursachter Unterdrückung sich der Ohnmacht leicht eine Wut untermischt, die sich dann irgendwann und irgendwie eruptiv Bahn bricht.
In allem ruhig und geduldig vorgehen. Wenn wir es mit einem Ganzen zu tun haben, ist der Weg immer wieder vergleichend hin und zurückzulegen: vom Konzept eines zuerst rudimentären Ganzen zu einer organisierten Vielfalt von Einzelheiten und von der auszuarbeitenden Vielfalt wieder zurück zum Begriff und zur Anschauung des Ganzen. Man muß die Einzelheiten ernst nehmen, darf sich aber nicht in ihnen verlieren. Dies gilt vor allem für das Kind und den Jugendlichen.
Der Held übt unablässig und unbeirrt. Er ist der Mann des unbeirrbaren Willens, bis er Erfolg hat. Denn nur der Erfolg gibt recht. Deshalb kennt man nur Helden, die Erfolg gehabt haben. Doch die großen Helden in der Antike (Gilgamesch, Orpheus, Ödipus, Herakles, Theseus ... ) suchten nicht den Erfolg im Beifall und im Preis der Menge. Deshalb haben sie sich nach ihren Erfolgen auch nicht zur Ruhe gesetzt, um dann unruhig auf einen Preis zu warten. Sie haben sich rastlos an immer Größeres gewagt und Mühsale aller Art ertragen und so durch ihr letztendliches Scheitern die Grenzen des dem Menschen Möglichen und Erlaubten ausgelotet.
Wenn wir etwas getan hätten, was uns ewigen Ruhm brächte, wagten wir wohl zu behaupten, dass sich unser Streben gelohnt hätte. Daraus läßt sich ableiten, wonach unser ganzes Verlangen geht, und das Hochgefühl und das Elend ermessen, die unser Leben begleiten.
Eine häufig vorkommende Handlungsdevise: Was nichts einbringt, damit gib dich nicht ab. Denn was nichts kostet, das ist auch nichts wert.
Wer sich anmaßt, Menschen nach ihrem Verdienst zu beurteilen oder zu bezahlen, vermißt sich sehr leicht. Etwa, wenn er übersieht, dass eigentlich nur die knechtische Arbeit mühevoll ist, während ein hohes Amt oder eine anspruchsvolle geistige Arbeit stets in sich selbst einen Wert haben.
Mein Gott, was sollen wir denn machen? Da rennen wir und halten Ausschau nach einer Arbeit, die uns ausfüllt und in der wir Ruhe finden, und wissen meist nicht, dass das gar nicht ausschließlich nur von uns abhängt. Nur manchmal halten wir inne und sehen uns um, und dann sehen wir das große ernste, finster gefurchte Auge der Gesellschaft auf uns gerichtet, das uns auf allen unseren Wegen verfolgt. Keine Aufklärung schafft uns dieses Auge so schnell ab. Mit ihm haben wir uns wohl noch lange auseinanderzusetzen. Wenn wir etwas noch nicht können, ruft es uns zu: "Du Tor!" Wenn wir aber die Arbeit beherrschen, zumal wenn diese sich in der Gesellschaft nicht wie die etwa die Heilkunst unbedingter Wertschätzung erfreut, so ruft es: "Was willst du denn damit?"
Die Arbeiten, die wir verrichten, müßten so beschaffen sein, dass wir sie ruhig und mit unserem ganzen Atem verrichten können.
Gewiß ist es gut, wenn wir uns schon im Vorfeld fragen, wozu ein Projekt, das wir zu unternehmen gedenken, gut ist. Doch ist mitunter besser, sich in dem Sinn auf die Arbeit einzulassen und sich auf sie zu beschränken, dass man gelassen abwartet, was daraus wird.
Gewohnheiten lassen sich als ökonomische Vereinfachungen und Sitten als gesellschaftlich stabilisierende Kräfte deuten. Letztere ermöglichen ein Zusammenleben über die Generationen hinaus. Betrachte z.B. die Mutter und die Tochter und die Tochter der Tochter und deren Tochter: sie alle tragen die Brautkette der Mutter, während man sie als Mütter in ihrem Brautkleid zu Grabe trägt: ein Brauch, der ein Stück Identität, ein Stück Heimat vermittelt.
Eine erlernte motorische Handlung muß nicht mehr im Geist vorgestellt und als Handlungsequenz Schritt für Schritt vollzogen werden. Sie wird gleichsam automatisch. Dies gilt ebenso für das Kleinkind, das eben Laufen gelernt hat, wie für den Erwachsenen, dessen Hände wissen, was sie beim Autofahren zu tun haben. Oder ich staune, wie meine Finger am Computer unabhängig von mir arbeiten. Nur mitunter geschieht es, da weiß ich plötzlich nicht mehr Bescheid. Und ich frage mich, was für einen Befehl ich zu erteilen habe. - Man kann aber auch lernen, auf automatisch werdende Weise mit Menschen umzugehen, ohne mehr zu bemerken, dass man der Täter ist.
Fehlhandlungen, die z.B. dadurch resultieren, dass man eben über etwas Spezielles nachdenkt, während man sich eine Handlung auszuführen vorgenommen hat. In der Zerstreuung weiß man nicht mehr um die Hand, die nun die gewohnte, an dieser Stelle aber nicht dem rechten Objekt zugewandte, Handlung beginnt.
Pädagogik als Mittel zur Gewinnung einer geschichtlichen Identität. Wir suchen mit dem Kind Wege zur Verwirklichung des Menschseins von heute, das es für das Menschsein von morgen instand setzen soll.
Wenn irgendwo, so ist der vor- oder außergesellschaftliche Naturzustand, von dem Rousseau träumt, in der Familie erreichbar.
Oft war in der Weltgeschichte Handeln nichts anderes als ein Aufbruch aus allzu großer Ruhe, ein Hunger nach großen Taten, ein Sich-einlassen auf Abenteuer. Alexander, Cäsar, Cortez, Napoleon zogen, freilich mit wohltrainierten Heeren, in die Welt hinaus. Sokrates war gegen solche Abenteuer, doch hat das die Geschichtsschreibung kaum davon abgehalten, ausschließlich auf diese Weise ruhmvoll Historisches anzuerkennen.
Auch wenn in der Welt der Menschen ein jeder nur an sich denkt und nur für sich kämpft, so entstehen dennoch immer wieder gemeinsame Werke. Zwar kaum aus dem philosophisch gleichgültigen Erkennen der grundsätzlichen Gleichheit und des gleichen Schicksals aller Menschen, wohl aber aus Quellen von Macht, die sich plötzlich unwidersprechlich in einem Gemeinwesen geltend machen, vielleicht unter der Herrschaft eines einzelnen oder einiger weniger oder auch durch Erfahrungen, die plötzlich zum Handeln treiben, ohne den geringsten Widerspruch zu dulden.
Man bemüht gerne die Aufklärung, wenn man von notwendigen Veränderungen redet. Wissen wir stets, was dabei wirklich herauskommt, wenn wir die Welt in noch so guter Absicht zu verändern uns anschicken? Wenn wir uns auch noch so genau alles überlegt haben, so ist doch nie auszuschließen, dass sich mit der Zeit noch anderes hinzugesellt.
Ein in der Gesellschaft Erfolgreicher muß sich nicht darum bekümmern, ein Egoist genannt zu werden. Der Erfolg gibt ihm recht. Egoisten werden meist nur die Leute genannt, die sich um sich bekümmern, ohne es in der Gesellschaft zu etwas zu bringen.
Wie frei sind wir, eine selbstgewählte Rolle zu spielen? Einem jeden treten wir anders gegenüber, dem Hochgestellten mit Hochachtung, dem Untergebenen mit herablassendem Wohlwollen oder kritischem Blick, dieser eleganten Frau so und jenem vielversprechenden jungen Mann so, meist ohne es zu bemerken oder gar darüber nachzudenken.
Von Augustus überliefert Sueton, dass er am Ende des Lebens die bei ihm versammelten Freunde fragte, ob er seine Rolle in der Komödie des Lebens nicht artig gespielt habe.
Shakespeare läßt Rosalinde (Wie es euch gefällt, IV.1) sagen, dass sie sich lieber einen Narren halten möchte, der sie lustig, als eine Erfahrung, die sie traurig macht.
Wo wäre der Weise, dem nie einer zugehört hätte, oder wo der Wissenschaftler, dem nicht das Betreten eines Stücks Neuland gelungen wäre? Wenn also der Weise uns auffordert, dem Erfolg und der Macht und dem Besitz der Welt zu entsagen, ja selbst dem Selbstvertrauen zu entsagen, so hätten wir als Pädagogen hinzuzufügen, dass wir dem Menschen im Kind erst Erfolg verschaffen müssen, und dass Macht und Besitz und Selbstvertrauen nötig sind, um mit Machtlosigkeit fertig zu werden oder Besitzlosigkeit zu meistern oder sich gar Kritik und Unrecht gefallen zu lassen. Wer nie Macht besaß, kann sich keine Machtlosigkeit erwerben, und wer nie Erfolg hatte, wird nie in der Erfolglosigkeit zuhause sein können, und wer nie Selbstvertrauen besaß, kann kaum in der Leere des Geistes einen Heimatort gewinnen.
Wir müssen das Kind zum Erfolg führen. Denn wenn dies zugleich auch der Weg ist zu Macht und zu Selbstherrlichkeit: Es ist auch der Weg zum Verzicht auf Macht und der Weg zum Ertragen eines Ausbleibens von Erfolg.
Glück in einer Konsumgesellschaft erscheint vor allem in Form materiellen Besitzes. Doch der erworbene Besitz soll nicht nur befriedigen, er soll auch weiteres Besitzverlangen wecken. Der neu zu erwerbende Besitz entpuppt sich so als Mittel und Motor, die Besitzgier aufrechtzuerhalten. Glück erscheint damit vor allem als Haben- und Sich-leisten-können. Das Unglück aber besteht schon in der Vorstellung, dass sich dieses Glück plötzlich wieder entziehen könnte und man dann entbehren müßte, was einem einmal zu eigen war.
Wenn man glaubt, es müsse etwas passieren, und nichts passiert, dann ist das einem oft schlimmer, als wenn es schon passiert wäre. - Aber so darf man nicht denken. So beschleunigt man nur das Unglück. Denn es steht ja vor jeder Tür und wartet nur darauf, bis man versehentlich die Türe öffnet.
Keiner muß sich die Einsicht erlauben, dass er nur ein Tier wäre.
Forsche nur, wenn du sicher bist, dass du etwas findest, was du zum Leben gut gebrauchen kannst.
Gute Tage vermerken: das stärkt das Wissen, dass das Leben gut ist.
Lieber nichts tun und keine Einsicht fördern, die die Lebenspraxis lähmt.
Von wem würde uns schmeicheln, gut genannt zu werden? Und wann würden wir uns dagegen verwehren? Haftet dem Guten etwas Schwächliches an? Jedenfalls fürchten wir uns davor, ob eines besonderen mitmenschlichen Betragens gelobt zu werden. Dass wir aber die besten Wissenschaftler sind oder Politiker oder Ärzte oder sonst großartige Fachleute: das nehmen wir anstandslos hin.
Warum erscheint uns, was wir noch nicht wissen, als so wertvoll, wo wir doch wissen, dass alles, was wir wissen, nicht viel wert ist?
Der fortgeschrittene Schmeichler wird uns nicht nur blankweg loben, sondern er wird, der eigenen Glaubwürdigkeit wegen und um nicht als Schmeichler ins Gerede zu kommen, das Lob auch mit feinabgestufter Kritik würzen.
Das Leben, das ist ein Weg, wo wir uns immer stärker festzulegen haben. Soll man sich so verhalten, dass man immer noch möglichst viele Optionen frei hat?
Wenn die Gesellschaft vornehmlich durch unsere Bequemlichkeit und unser Mitläufertum Macht und Bestand und als Gleichgültigkeit gegen den Einzelnen eine gewisse Neigung zur Unmenschlichkeit zeigt, so wird sie durch die herausfordernde Kritik eines Sokrates erweckt zu humaner Erneuerung und Verwandlung. Noch so geistreiche Sozial- und Bildungstheorien nützen einer Gesellschaft nicht viel, wenn ihr der unbequeme und unerschrockene Geist eines Sokrates fehlt.
Die Einforderbarkeit von Dank ist nur möglich in Richtung auf den Gleichgestellten oder Untergeordneten. Der Vorgesetzte oder Übergeordnete interpretiert leicht jede gute Tat als ihm selbstverständlich zukommend.
Wer nur wenig Macht besitzt, tut gut daran, sich so zu verhalten, den ihm zugemessenen Spielraum nicht zu überschreiten. Warum aber soll sich ein Tiberius oder ein Caligula beherrschen, wenn er alles tun kann? "Es ist nämlich unmöglich, wo man niemandem Rechenschaft schuldet, im Affekt so an sich zu halten, dass man keinen Fehler begeht." (Plutarch, Moralia)
Können wir uns etwas auf unseren Fleiß und unsere Intelligenz, unsere Klugheit und Ausdauer, unseren Riecher und unser "hartes" Arbeiten einbilden, wenn es uns gelingt, das Leben gut zu verbringen? "Gut" bedeutet dabei oft kaum mehr, als dass wir zufrieden sind, dass es uns besser geht als anderen, die weniger Glück haben.
Alle Einbildung wird gerechtfertigt und unanfechtbar, wenn man uns nur genügend applaudiert.
Wir sind gerne geneigt, uns in unserem Amt so zu verstehen, als ob uns die anderen danken müßten, dass wir uns für dieses so schwere Amt zur Verfügung gestellt haben, und lassen uns dann doch für diese so schwere Arbeit überaus fürstlich bezahlen.
Ein Ursprung der Leistungsgesellschaft liegt schon in unserem zur Sozietät hin tendierenden Wesen.
Die Leistung an sich ist nichts zu Verwerfendes wie uns jedes Kleinkind zeigt. Problematisch wird die Leistung erst, wenn wir uns damit über andere hinwegsetzen.
Unser Hang und Verlangen nach Beurteilung, möglichst nach guter Beurteilung, eröffnet die Möglichkeit, über uns zu verfügen. Dabei dürfte die Geschichte der Menschen über eine Unzahl von Fällen verfügen, die zeigen, wie wenig dieses (infantile) Verlangen befriedigt worden ist. Wie weit können wir lernen, uns damit zu begnügen, uns selbst zu beurteilen, und wo und wie beginnen wir damit beim Jugendlichen?
Ohne Sprache verliert man die Heiterkeit, die menschliche Würde begleitet. Gerade in einer anonymen Massengesellschaft besteht die Gefahr, dass man mit zunehmendem Alter stumm wird.
Gerechtigkeit wird seit Alters nur mangelhaft, d.h. nur zur Zufriedenheit von wenigen, meist als Sicherung von deren Privilegien ausgeübt. Wenn aber Ankläger und Angeklagter in gleicher Weise an Schaden und Ausgleich teilhätten oder gar, wenn der Richter stets einen Teil der Schuld mit zu übernehmen und zu tragen hätte, wenn m.a.W. gemeinschaft-bildende Kräfte die Rechtsprechung überragten, wie es in einer Familie der Fall sein kann, so käme Gerechtigkeit als Liebe und als Mitleiden in Sicht.
Je subtiler wir darauf achten, dass jeder Mensch einen Anspruch darauf hat, als Mensch in Autonomie und Würde zu leben, um so komplizierter und differenzierter und teuerer werden Erziehung, Strafvollzug, Recht und Gerechtigkeit, um so sensibler auch das gesellschaftliche Gewissen. Zu Hieronymus Boschs Zeiten und auch später noch machte man es sich einfach. Da hing man mehr oder minder unbekümmert Bettler, Gaukler und Quacksalber an den Galgen und verbrannte alte Frauen als Hexen, vermutlich ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben oder unter Selbstgerechtigkeit zu leiden.
Auf welche Weise können wir den Nächsten achten? Weil er mehr hat, weil er uns an Besitztümern und Kenntnissen, an Gesundheit und Einfluß überragt? Vielleicht auch, weil er mit uns unser endliches, begrenztes Schicksal teilt?
Wer einen anderen knechtet, teilt nicht so sehr dessen Schicksal, als dass er es erschwert.
Je höher wir stehen, um so mehr haben wir Auswahlverfahren und Kämpfe zu unseren Gunsten entschieden. Vergessen wir nicht: Unsere Stellung haben wir nicht zuletzt auch mit den Niederlagen anderer bezahlt.
Eine jede Zeit hat ihre Fürsten und ihren Kohlhaas.
Um den eigenen Kopf zu retten, opfert der mächtigste Mann den von ihm abhängigen zweitmächtigsten Mann. Er trägt sozusagen dessen Reservekopf.
Ohne Gewalt scheint Recht nichts wert, und ohne Recht Gewalt verkehrt.
Das Bewußtsein, auch ein Stück Taugenichts zu sein, wirkt sich nur dann belebend auf die Umgebung eines Menschen aus, wenn jeder sieht, dass dieser auch Erfolg aufzuweisen hat.
Demut und Bescheidenheit sind nur in besonderen Fällen ansprechend: Wenn nämlich ein jeder weiß, dass der in solch anspruchsloser Haltung und Gebärde Einherkommende jederzeit die höchsten Ansprüche geltend machen darf.
Unsere Eitelkeit erlaubt uns, uns als Tyrann geachtet und gehaßt zu wissen. Sie untersagt uns aber, als liebenswerter Esel auf die Gunst einer guten Behandlung Anspruch zu erheben. Man will m.a.W. nichts geschenkt haben und man will niemandem etwas verdanken.
Gibt es etwas Häßlicheres, als wenn Menschen abhängig sind von Menschengunst, die sie sich womöglich noch auf speichelleckerische Weise zu verdienen haben?
Shakespeares Richard III. wird dadurch fast etwas menschlich, dass er sich selber gegenübertritt und uns seine gemeinen Absichten offenbart. Es ist ein Schritt auf eine Welt zu, aus der man das Tragische eliminieren könnte. Nur leider sind die Gegenspieler Richards teils so auf sich beschränkt (Hastings), teils so von ihrer Vergangenheit betroffen (König, Clarence), teils von Richards Macht und Verschlagenheit so gelähmt, dass sie weit ab davon sind, von Richards Gesicht die Maske abzuziehen, wie es dieser vor den Zuschauern tut.
Leute, die nicht ihre eigenen Herren sind, benötigen zu ihrem Schutz ein besonderes Personal und besondere Garantien. Indem sie die Mächtigen und die Gerichte aufsuchen und bitten, sie in ihren Interessen zu vertreten, machen sie sich mitschuldig, dass sich Unrecht und Gewalt in der Welt festsetzen.
In einer gerechten Welt rängen die Gerichte um Gerechtigkeit, nicht um Geld.
Wir kennen keine Gerechtigkeit, wir kennen das Geld.
Was haben die Großen und Reichen gegen Landstreicher, Gauner und Schelme? Wir alle sind doch Landstreicher, Gauner und Schelme!
Zumal in einer Gesellschaft, die alles will und alles tun zu dürfen glaubt, was nicht vom Gesetz ausdrücklich untersagt ist, muß der Gesetzgeber gut darauf achten, gerade auch sich selber mitsamt den Herrschenden und Reichen enge Zügel anzulegen.
Ein Kind, das nie geschlagen wurde, wird kaum zum Schlagen befähigt, und ein Kind, dem man nie sagt: "Geh! Dort gehörst du hin! Dort ist dein Platz!" wird auch nie später anderen ihren Platz anweisen können. Was folgt daraus? Sollen wir uns also schon als Kind schlagen und treten lassen? Sollen wir uns als Kinder solche Szenen im Fernseher anschauen, damit wir wissen, was für ein Verhalten wir uns zuzulegen haben? Sollen wir die Kleinen beizeiten in alle nur möglichen gemeinen Handlungen einüben, damit sie keinen Ekel mehr davor empfinden und sie routinemäßig ausüben können? Sollen wir ihren Trieben hemmungslosen Lauf lassen und ihren Verstand zur Mithilfe und Komplizenschaft unterweisen, damit sie sich die nötige Robustheit und Hygiene verschaffen?
Ein Verbrecher an der Menschheit ist nicht impulsiv allen Leidenschaften verfallen. Er hat es durchaus gelernt, achtzugeben auf den rechten Zeitpunkt und den geeigneten Ort. Er ist geübt im Urteilen und stellt den Affekt nur als Drohgebärde zur Schau. Ja er kann durchaus Herr über sich sein, um seine menschenverachtenden Ziele zu erreichen.
Selbstbeherrschung ist nur eine notwendige Bedingung für die Tugend. Sie folgt aus der Tugend. Doch können auch Gewalt und Unmenschlichkeit aus der Selbstbeherrschung fließen.
"Gleichheit ist der Menschheit Urgesetz", läßt der in der attischen Demokratie lebende Euripides die Mutter Jokaste (V.538) in den Phönikerinnen zu ihren Söhnen sagen. Dieses Gesetz ist nicht deshalb richtig und notwendig, weil alle Menschen von Natur aus gleich wären, sondern weil die mit jeder Sozietät entstehende Ungleichheit zu unerträglichen sozialen Spannungen führt. Gleichheit ist ein Regulativ und Korrektiv gegen Machtgelüste, gegen Ehrsucht und Habgier.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im Zeichen der französischen Revolution bedeuten: Keine Fürstenwillkür und kein Polizeistaat, keine Diskriminierung und keine Klassengesellschaft, keine Bevormundung und keine Ämterarroganz, auch nicht im Kleinen. Im übrigen sind die drei Begriffe nur wenig scharf. Wenn wir uns besser kennten, könnten wir sagen, wie frei wir sind. Wir könnten sagen, wie wir uns aufgrund unseres Wissens um das Gute (notwendigerweise!) entscheiden.
Gleichheit vor dem Gesetz kann nur eine formelle Gleichheit bedeuten: jeder hat sich vor dem Gesetz zu verantworten. Im übrigen werden sich der Bauer, der Handwerker und der hohe Staatsbeamte kaum stets um derselben Dinge willen vor Gericht zu verantworten haben. Wie aber will man die verschiedenen Tatbestände vergleichen? Sollte in einem Staat nicht ein jeder gemäß dem ihm aufgetragenen Amt zur Verantwortung gezogen werden? Es würde gewiß die Verantwortung wesentlich steigern, wenn wegen des Vergehens eines einzelnen Beamten der übergeordnete Präsident mitverurteilt oder mitentlassen werden könnte. Nur ist es eben nicht praktikabel; denn der Kleine könnte nur allzu leicht und eigenmächtig, das Schicksal der Großen mit seinem Schicksal verknüpfen. Und freilich würden es dann auch die Amtsinhaber nicht unterlassen, die ihnen Unterstehenden aufs strengste zu überwachen.
Rechtssicherheit ist gewiß gut, indem sie der Willkür vorbeugt; sie wirkt sich aber auch negativ aus, indem sie alle Verantwortung auf das Nötigste reduziert. Man ist nicht mehr für das Ganze verantwortlich, nur noch für den kleinen Bereich, für den man und in dem man da ist.
Man sagte zu ihnen: tut alles aus Liebe zu Gott, denn er ist euer Vater; und man sagte zu ihnen, nur die Gnade Gottes zählt. Doch gab es gewiß Leute, die über sich hinaus wuchsen und Heilige wurden aus Angst, weil sie nicht wußten, ob sie ansonsten im Gericht bestehen würden. Dem von den Pharisäern geführten Gläubigen blieb dagegen eine gewisse Rechtssicherheit, wenn er die Vorschriften beachtet und eingehalten hatte.
Wir unterrichten und bilden die Kinder im Zeichen der Gleichheit. Doch kaum sind aus den Kindern Erwachsene geworden, so gilt das Prinzip des Erfolgs und der gesellschaftlichen Abstufung. Da war einer, ehemals Primus in der Schule, erster Berichterstatter an der städtischen Zeitung geworden, als er in diesem Amt würdevoll das städtische Theater betrat. Da mußte ihm ausgerechnet ein Nichtsnutz aus seiner alten Klasse über den Weg laufen, der ihn ganz ungeniert und selbstverständlich wie seinesgleichen begrüßte! Oder da waren zwei andere, die auch gemeinsam zur Schule gegangen waren und die sich als Schüler selbstverständlich geduzt hatten. Nun arbeiteten sie gemeinsam in der Klinik, der eine als Professor, der andere, der ehemals der Klassenerste gewesen, als Oberarzt - und achteten peinlichst auf die Titel.
Bei der immensen Spezialisierung gerade auf dem Gebiet der Medizin und deren lukrativen Einnahmequellen geht leicht der Blick auf den Menschen verloren.
Dem Höhergestellten ist es wichtig, das Prinzip der abgestuften Unterordnung zur allgemeinen Anerkennung zu bringen, während der Untergeordnete vom übergeordneten Prinzip der Gleichheit und der Mitmenschlichkeit träumt. Fürchtet der Höhergestellte die Anarchie der Masse, so der Untergeordnete die hemmungslose Gewalt des Tyrannen.
Demokratie ist gut, um die Launen der Herrschenden nicht ins Kraut schießen zu lassen. Demokratie vermag auch Wissenschaft und Technik zu befördern, allerdings nur, soweit sie Geld und Gewinn bringend sind. Doch fehlt ihr der Sinn, über der Jagd nach panem et circenses sich selbst zu begreifen und darzustellen, wie es z.B. die großen Herrscher und reichen Bürger der Renaissance konnten.
Die öffentliche Stellung, die Besoldungsgruppe und vor allem auch das Heer derer, die vor uns herlaufen, machen unseren Rang nach außen hin deutlich und verführen uns, entsprechend von uns zu denken.
Mag auch Macht sein müssen unter den Menschen; es wäre doch vieles anders, wenn sich ein jeder von uns disziplinieren würde im Blick auf die ihm anvertraute Macht. Als Träger von Macht muß ich mich täglich von neuem betreffen treffen, dass ich kaum je ohne (kleineres) Unrecht auskomme.
Kleider verwandeln und stellen Majestät und Macht zur Schau: den hohen Würdenträger, vor dem einen als Ausgezeichnetem Ehrfurcht anwandelt wie auch den uniformierten Soldaten und Polizisten, vor dem man zurückschreckt und Angst hat.
Roms Senatoren redeten gern von sich hochachtungsvoll als von Vätern.
Mit dem Herrscherstab in der Hand hat es manch einer schneller geschafft, eigenes Unrecht als Recht erscheinen zu lassen und ein schlechtes Gewissen reinzuwaschen, als dass er das Unrecht und die Leiden seiner Zeit beendet und eine Zeit der Tüchtigkeit und des Friedens herbeischafft hätte.
Der Arme liebt den Reichtum, aber nicht die Reichen, der Ruhmlose den Ruhm aber nicht den Berühmten, der Untergebene liebt die Macht aber nicht den Vorgesetzten.
Wenn man uns viel Macht anvertraut, glauben wir auch schon entsprechend tauglich zu sein. Doch werden wir dadurch nicht tauglicher. Nur die Konsequenzen unseres Handelns werden erheblich.
Wie leicht täuscht man sich nicht, wenn man die Möglichkeit hat, etwas zu tun, als habe man auch schon das Recht dazu.
Wenn auch äußere Zensur und Kriegsrecht jede Berichterstattung wertlos machen, so sind doch freie Meinung und freie Berichterstattung längst noch nicht in sich wertvoll und wahr. Man müßte neben dem Überblick und der Kompetenz des Schreibers seine inneren Antriebe und Affekte kennen. (Wem zu Gefallen schreiben Journalisten?)
Journalismus: hoffärtiges Gerede über X-beliebiges.
Das scheint allen Revolutionen gemeinsam: dass viel Blutgeld dafür gezahlt wird, bis sich die Revolutionäre an die Stelle der alten Machthaber gesetzt haben.
Knauserig sind wir oft, wenn es gilt, einem uns Bekannten, im übrigen aber öffentlich noch Unbekannten unsere Wertschätzung zu zeigen. Statt ihn dort aufzusuchen, wo er etwas kann, begnügen wir uns entweder mit pauschaler Lobhudelei oder wir schweigen uns aus oder wir reden von anderen anerkannten und berühmten Leuten. Ist aber einer schon allgemein anerkannt, dann rühmen wir uns, mit ihm bekannt oder verwandt zu sein, und sei es auch um hundert Ecken.
Wenn der Lehrer sich leicht dem Schüler angleicht, so noch leichter der Politiker der Menge, von der er gewählt werden will. Er läuft dann nicht nur Gefahr, ihre Sprache zu sprechen, sondern auch auf ihre Weise zu denken und sich ihren Meinungen und Vorurteilen anzupassen.
Die Sprache wurde gewiß nicht für den Einzelnen und seine Belange erfunden, auch wenn wir uns dies gern einbilden.
Der Politiker, von der Unberechenbarkeit und der Unfähigkeit der Massen zutiefst überzeugt, ist gleichwohl zufrieden, wenn sie ihn nur wählen. Es würde ihm dabei auch genügen, Versprechungen zu machen, ohne sie zu halten. Vollends bei der Frage, wo man das Volk direkt mitbestimmen lassen soll, also bei der Frage plebiszitärer Elemente in der Verfassung, zeigt man sich meist restriktiv.
Die Dummheiten der Politiker, beginnend auf der kommunalen Ebene, sind nicht dazu da, verstanden und korrigiert und überhaupt beachtet zu werden. Vielmehr sind sie dazu da, unsere Glaubensbereitschaft zu stärken, dass die Politiker für uns alles am besten machen.
In Rom hieß es nicht "senatus populi romani" sondern "senatus populusque romanus". Der Senat behielt sich seine Eigenständigkeit und Macht dem Volk gegenüber vor und bereitete so auch den Weg vor hin zur Herrschaft der Cäsaren.
Die Unbeirrbarkeit des Gewissens des einzelnen hängt vor allem mit der unbeirrbaren Gültigkeit und Ausübung von Recht und Sitten zusammen. Man muß also das Gewissen des einzelnen in Zusammenhang sehen mit der allgemeinen Praxis. Wo letztere schwach ist, geht das Gewissen eines einzelnen leicht eigene Wege.
Seit Alters gibt man der Jugend von der Gesellschaft bestimmte Ziele und nennt die Kunstfertigkeit, sie zu erreichen, Didaktik. Es wäre gut, wenn auch die Jugend die Gesellschaft auf Ziele verpflichten und Versäumnisse einklagen könnte.
Von Kind an kommt dem Menschen das Bedürfnis zu, sich von anderen enträtseln zu lassen: Zuerst, indem es als wohlbehütetes und wohlerzogenes Kind blindlings vertraut, später dann als Jugendlicher, indem er zuhört, wenn andere ihm erzählen, wer er ist.
Gutes wollen und tun, ohne Aufhebens davon zu machen, ist eine Zierde für den Privatmann; doch vom Politiker erwarten wir, dass er das Gute auch als solches deutlich macht.
Vom zufälligen und spielerischen Handeln zum exemplarischen Handeln, das der Verallgemeinerung fähig ist. So wird im kindlichen Handeln ein sensomotorisches Grundschema zum Ausgangspunkt einer Generalisierung durch Akkomodation (z.B. die verfeinerten Formen des Gehens).
Dreierlei Wissen und Können ließe sich anvisieren, wenn es darum geht, eine Schule (scholä = Bildung) aufzubauen oder Freizeit sinnvoll zu gestalten. Zuerst, was uns mit uns konfrontiert und beschäftigt; dies wäre die eigentlich sokratische Disziplin. Sodann, was uns von uns befreit wie Mathematik und Naturwissenschaften (ein Aspekt, den viele, vornehmlich ästhetisch ausgerichtete Bildungstheoretiker übersehen). Endlich, was Körper und Geist betrifft, die Vielfalt der Körperbewegungen. Nur bei sich sein, übersteigt vermutlich unsere Kraft; und nur Mathematik oder Naturwissenschaften treiben, hieße, sich im Spezialistentum verlieren. Man muß nicht vergessen, dass man auch Mensch ist.
Der Spezialist zerfällt in Wissen, das er weiß oder baldigst wissen muß, und in Nichtwissen, um das er sich nicht kümmert.
Wir würden gern wissen, was man alles wissen kann. Doch was ist das? Früher, als man noch glaubte, absolute Wahrheiten ausfindig machen zu können, versuchte man, mittels Logik, Analytik und Metaphysik einen Leitfaden zu entwickeln, um dorthin zu gelangen. Inzwischen haben wir uns damit abgefunden, dass wir über absolute Wahrheiten nicht reden können und dass wir uns stets im Vorläufigen zu bewegen haben. Naturwissenschaftlicher Glaube setzt auf eine immer bessere Approximation.
Wir sind bald wieder soweit, dass Wissen als käufliche Ware angeboten wird wie zur Zeit der Sophisten. Der Staat schaut aus, was er braucht, und schließt dann mit den Vertretern der entsprechenden Disziplinen einen Vertrag ab.
Von den Grenzen des Wissens. Vom naturwissenschaftlich biologischen Standpunkt aus mag es interessant sein, in den Tiefen der Evolution oder der Psyche den Werdegang unseres Seins zu erblicken. Das Neidische, Hinterhältige, Gemeine, das Grausam-bestialische, Blutrünstige, Mordlustige: all die Eigenschaften, die wir als Untugenden und Verbrechen kennen und die wir vielleicht doch heimlich brauchen, um uns in Gang zu bringen und am Leben zu erhalten ... Vom Standpunkt des auf Verläßlichkeit und Liebe und Treue gegründeten Lebens aus brauchen wir indes solcherlei Wissen nicht. Ja es schadet uns allenfalls, wenn es uns das Streben nach Liebe und Frömmigkeit als oberflächlichen Schein und Utopie vor Augen führt. Besser ist da allemal das äugelnde Spiel, das soviel bedeutet, als dass wir wissen bzw. dass wir nicht zu wissen brauchen, weil wir glauben und großzügig sein wollen, wenn einmal auch etwas nicht ganz so klappt, wie wir es gerne hätten.
Der Glaube an etwas Beständiges ist dem menschlichen Denken eigen. Er war der Antrieb auf der Suche nach den Gesetzen der Naturwissenschaften. Die Gesetze aber, die wir heute kennen, erachten wir als vorläufig und verbesserungswürdig. Ob wir ein ewiges Gesetz vermuten oder nicht hat auf die Forschung direkt keinen Einfluß mehr. Das geht die Forschung nichts an, allenfalls den Forscher als Mensch.
Versuche bei allen Bewegungen, die du verursachst, dich selber gut und richtig mitzubewegen: beim Lockern der Muskeln eines Kranken ebenso wie beim Einwirken auf ein Kind oder beim Gespräch mit einem Zeitgenossen. Auch die Gesetzgebung und das Befehlen könnten in einer entsprechenden Mitbewegung erfolgen.
Gesetze, Institute, staatliche Einrichtungen insgesamt arbeiten wie zufällig eingestellte Automaten, sobald sich der Mensch zurückzieht und denselben die Präzisionsarbeit überläßt. Wir sollten nicht gelten lassen, wenn ein Beamter sagt: Was kann ich tun? Die Gesetze sind nun einmal so?" auch wenn wir nicht jedesmal einen Musterprozeß anstreben müssen.
Was kein Wachsen und Werden, keine Wandlung, keine Veredelung ermöglicht, ist als Ziel (Wegweiser, Lernziel) wertlos. Was aber kann den Menschen veredelnd verwandeln, wenn er damit nicht übereinstimmt? Wer aber in Übereinstimmung lebt mit dem Ziel, braucht kein "Du sollst!" oder "Du sollst nicht!", der braucht auch keine schlechte Zensuren, wenn er etwas noch nicht kann.
Was macht uns zu Erziehern: was für Wissen, was für Kenntnisse, was für Handlungsfähigkeiten? Man sagt uns, wir sollen die vorhandenen Fähigkeiten eines Kindes wie auch die in ihm noch schlummernden Begabungen aufspüren. Gut, so holen wir es von dort ab und richten wir es so ein, dass der Augenblick ganz selbstverständliche Wirklichkeit wird: wo Handeln ein Spiel ist und Spiel ein Handeln, das nicht den Charakter eines "als ob" hat, wo das Kind, wenn nur der Erzieher selbstlos seinem Geschäft nachkommt, weiter fast nichts benötigt, als sich den Dingen zu überlassen.
Bei Aristoteles beginnt die Philosophie für Kinder mit der praktischen Einübung in die bestehenden Sitten, Gebräuche und in die täglichen Verrichtungen, dass daraus stabile Lebenshilfen und Gewohnheiten werden. Doch das Werk des Erziehers kann sich darin nicht erschöpfen. Er muß auch - wovon Aristoteles nicht spricht -
Kenntnisse haben von Zusammenhängen, in denen diese Verrichtungen verankert werden, von den zeitlichen Gegebenheiten und von den geschichtlichen Veränderungen, die immer wieder auch neue Wege nötig machen.
Über ein Nichtmachen (eine Weise des Gut-tuns, das geschieht, ohne Konkret-Bestimmtes damit zu bezwecken) verfügen, das nichts ungemacht läßt. Sokrates oder Laotse lehrten ein Tun, dem eine bestimmte Disposition zugrunde liegt. Wer so um das Handeln wüßte, brauchte sich um das Handeln im einzelnen kaum mehr zu bekümmern.
Das bei uns weitverbreitete Vorurteil, dass Nichts-tun nicht erlaubt ist. Denn man hat sich nützlich zu machen. Und so gibt es durchaus Seniorinnen, die neben dem abendlichen Fernsehen, was für sie Nichts-tun ist, Strickarbeiten verrichten.
Warum lassen wir den anderen oft nicht ausreden, fallen ihm in die Rede oder hindern ihn am selbständigen Handeln? Geschieht es nicht, weil wir uns über uns unsicher sind und uns zu behaupten suchen?
Von tausenderlei Dingen träumen und überall schnell sein wollen, das vermindert die Aufmerksamkeit (z.B. wenn man ein Auto durch den Verkehr steuert).
Das Flugzeug zumal hat uns um die Erfahrung großer Fahrten ärmer gemacht. Man braucht nun keine Zeit mehr für Vorbereitungen; und man hat bemerkenswerter Weise heutzutage auch keine Zeit mehr, weder für eine Vorbereitung, noch für eine Nachbereitung, noch für eine Mitteilung. Alles rauscht rasch an einem vorbei.
Man kann nicht wandern, wenn an einem dauernd Autos vorbeibrausen.
Auto und Flugzeug und Bahn haben die große Idee der Wanderschaft an den Rand gedrängt und zu einem Stück musealer Nostalgie gemacht.
Zeitgenossen zumal, die unentwegt die Welt überfliegen, glauben ihre Zeit gut zu nutzen und trampeln sie doch nur tot.
Keiner wird wohl mehr mit Eichendorff ausrufen: "Ach wer da mitreisen könnte!", wenn er die Autokolonnen auf unseren Straßen sieht. Eher kommt einem der Gedanke, dass die Leute zur Gefangenschaft in rollenden Käfigen verurteilt sind. Dabei könnte das Reisen noch herrlicher sein als in der Romantik. Wenn man nur bedenkt, mit welchem Scharfsinn der menschliche Geist dieses Fahrzeug entwickelt und perfektioniert hat. Da könnte man sich nun gemächlich durch die Welt spazieren führen lassen, hinauf bis zu den schneebedeckten Häuptern der Berge und mit den Bächen wieder hinab ... Wie herrlich ließe sich da gerade auch zu zweit in die Ferien reisen! Wo immer die Welt schön ist, bei jeder Frühlingswiese könnte man aussteigen und frische Luft schöpfen und das Herz aufatmen lassen. Doch freilich, wie soll das geschehen, wo ein Auto ein Gegenstand ist, mit dem man morgens möglichst schnell zum Geschäft kommen muß, ein Gegenstand, der helfen soll, Zeit zu sparen und bestenfalls noch ein Gegenstand, mit dem man Lebensqualität und Luxus zur Schau stellt? Selbst wenn ich in einer 30 km-Zone die Geschwindigkeit einhalte, werde ich oft genötigt, doch bitte etwas schneller zu fahren. Vielleicht ließe sich ein solcher Sinneswandel erreichen, wenn das Auto nur noch für Ferienfahrten Verwendung fände.
Man muß auch ein Auto nicht schinden, und zwar nicht, weil ein Auto ein Lebewesen wäre, sondern weil wir selber bei solch einem Umgang verrohen.
Das Auto, eine Sänfte, die einen dahinträgt, ohne dass man eines Trägers bedarf, der schwitzt und stöhnt und insgeheim vielleicht aufbegehrt. Wenn wir so dächten, ehe wir uns ans Steuer setzen ...
Das Werk der Maschine ließe sich prinzipiell ebenso schätzen, wie die Zeitgenossen Homers oder das Mittelalter Gewänder und Waffen und sonstige handgefertigten Gegenstände geschätzt haben. Doch wie kann man es schätzen, wenn der Gesellschaft vornehmlich daran liegt, möglichst viele der maschinell verfertigten Waren zu kaufen und den Umsatz zu steigern? Dabei drücken die Gegenstände, mit denen wir unser Leben umgeben, immer auch ein Stück von uns aus. Als ich nach dem Tod des Schwiegervaters dessen Auto zum Schätzen davonfuhr - Mütterchen stand oben am Fenster und schaute mir zu -, kamen ihr die Tränen. "Wenn er den Wagen nur vorher schon verkauft hätte, wär mirs nur halb so schlimm gewesen", sagte sie später. "Da aber war mir, als trügen sie ihn ein zweites Mal aus dem Haus."
Sind wir geschichtlich betrachtet dabei, immer mehr Stücke vertrauten Lebensvollzugs an Maschinen abzudelegieren?
Arbeitsteilung verschafft der Gesellschaft Vorteile; sie sichert dem einzelnen als Spezialisten Einkommen und Existenz; sie ist aber auch ein Nachteil für das Individuum, das auf große Teile seiner Entwicklung Verzicht zu leisten hat. Sie raubt Freiheit, indem sie das Individuum abhängig macht vom Gesamtprozeß der Arbeit.
Wie wenn sich Anpassung und Mobilität, die man von den jungen Leuten im Arbeitsprozeß verlangt, als Kriecherei und Halt- und Standortlosigkeit erweisen?
Besser ist aber noch immer schlechte und knechtische Arbeit als überhaupt keine Arbeit. Beklemmend die Vorstellung, dass in früheren, kriegtreibenden Zeiten ein Jugendlicher doch immerhin noch beim Militär ein Unterkommen fand, das ihn beim Totschlagen an das Leben glauben ließ, während manch einer der heutigen Jugendlichen illusionslos auf der Straße sitzt.
Was Marx noch "zur Frage von Leben und Tod" erklärt hat, nämlich "den Wechsel der Arbeiten und daher möglichste Vielseitigkeit der Arbeiter als allgemeines gesellschaftliches Produktionsgesetz anzuerkennen" (Buck, S.197), wird heute ganz selbstverständlich von jedem Unternehmen bejaht. Marx hatte noch den auf stereotype Handlungen eingeschränkten Arbeiter im Auge. Durch maschinellen Ersatz hat sich dieses historische Problem weitgehend gelöst. Doch ist ein anderes, kaum minder schwieriges an die Stelle getreten: Es ist kaum zu erwarten, dass der moderne Arbeiter, der sich im Konkurrenzkampf mit rascher Auffassungskraft und mit innovativer und kreativer Begabung als vielseitig verwendbar zu erweisen hat, in den reflexiven, d.h. Bildung ermöglichenden Genuß seiner Arbeit gelangt. Er gelangt bestenfalls in den zweifelhaften Genuß von Geld.
Kants Forderung, das gute Handeln aus dem Antrieb des Sittengesetzes zu gestalten, ähnelt dem Wissen, das Sokrates dem Gelingen der Praxis beimaß. Doch wie der sokratische Wissensbegriff erahnt und eingeübt werden muß, so kann auch Kants Reflexionsmoralität nur gelingen, wenn das Problem der Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft befriedigend gelöst ist. Auf Sokrates folgten Platon und Aristoteles, auf Kant vornehmlich Schiller und Hegel, die sich mit dieser pädagogisch bedeutsamen Frage beschäftigt haben. Beschränken wir uns auf den Begriff der bildenden Arbeit, der für Hegel das Wesen der Bildung ausmacht, indem der Lernende bei der Arbeit sich selber begegnet und Fleiß und Ausdauer erlernt: so bleibt doch fraglich, ob der Arbeitsvollzug in einer total auf Leistung bezogenen Gesellschaft, selbst in der Besonderheit akademisch ausgewählter und privilegierter Arbeit, dieses Ziel ermöglicht. Im Bereich der Schulen indessen wäre der Begriff der bildenden Arbeit nur einholbar, wenn es zu keinen störenden Interferenzen kommt, vornehmlich durch die sogenannte objektive und komparable Leistungsbeurteilung.
Hegels Logik paßt auf alles, wo Sein notwendig mit Wesentlichem, mit Bedeutung und Bewertung verknüpft ist. Sie paßt auf die Bereiche von Recht, Staat und Geschichte ebenso wie sie auf die Entwicklung der frühkindlichen Weltbilder, insbesondere die Entwicklung der Moral paßt. Sie paßt aber nicht auf physikalische Theorien oder naturwiss. Begriffe. Der Begriff des Tensors z.B. hat keine Bedeutung für uns, wohl aber eine im Blick auf die Symmetrieeigenschaften einer Theorie.
Beginnend mit den ersten selbst zu bewertenden Handlungen als Jugendliche neigen wir dazu, unsere Leistungen und Werke bald zu überschätzen, bald für wertlos zu erachten. Dieser Grundzug macht sich auch in der Physiognomie der autonomen Subjektivität geltend: Ohne gesellschaftliche Verankerung ist sie in all ihrem freiheitlichen Bestreben als maßlos erkennbar.
Für das Leben Sorge tragen kann man auf vielfache Weise. Die Weisen Chinas suchten den Weg zur Gemeinschaft, indem sie Denken und Kunst in den Dienst der Natur stellten. In ihrer Geschichte gedachten sie der Männer des Altertums, die die Kunst des Mitatmens mit der Natur vorzüglich verwirklicht hatten. Wir Abendländer hingegen favorisierten den Einzelnen, das Genie und seine Kunst und entwickelten so die Kunst der Technik. In unserer Geschichte regt sich der Koloß der Technik, der kaum mehr an etwas anderes denken läßt als an neue Erfindungskraft und neue Technik.
Verrückt muß der gewesen sein, der die Messung der Zeit erfand. Plötzlich sah er die Sonne als Zeiger und dann sah er den Mond und auch die Sterne als Zeiger. Endlich war ihm jede Bewegung wie eine Art Zeiger. Überall sah er Abläufe, die längst begonnen hatten und einem Ende entgegenliefen.
Wo eine Gesellschaft ausschließlich auf Wissenschaften und technische Machbarkeit insistiert, werden subjektiv bedeutsame Ereignisse leicht übersehen oder umgewertet.
Gut zu handeln ist prinzipiell allen und immer möglich. Man muß es sich nur stets beweisen. Große wissenschaftliche Ergebnisse zu erbringen, ist aber nicht jedermanns Sache. Und Macht auszuüben, wiewohl die meisten dazu in der Lage wären, ist immer auch nur einigen wenigen vorbehalten. Deshalb ist der Umgang mit den Wissenschaften und mit der Macht eine gefährliche Sache: eine Versuchung und Verführung zu Selbstüberhebung und Inhumanität.
Betrachte den revolutionären Sprung vom Weltverständnis des Sophokleischen Chorlieds (Antigone, V.332 ff.) zum christlich abendländischen Weltverständnis, wo auch die Erfindung technischer Dinge als gottgewollt und als Fortsetzung und Vollendung des göttlichen Schöpfungswerks durch den Menschen verstanden wird. Es ist der Weg hin zum modernen Weltverständnis, wo der Mensch darüber entscheidet, wie er sich zu der von ihm geschichtlich gestalteten und gestaltbaren Welt verhält.
Mit jeder Trieberfüllung geht ein Ziel zu Ende. Dann werden wir, wenn auch nur für einen Augenblick, bedürfnislos und ziellos.
Der Mensch nimmt nicht nur wahr und besorgt nicht nur, was ihm aufgrund seiner Verhaltensmustern zur Besorgung ansteht: er überlegt und wählt auch aus, um durch solche Besorgungen zu Zufriedenheit und Glück zu gelangen. Die Richtlinien seines Verhaltens sind indessen keineswegs in ihm fest beschlossen, unabhängig von den anderen. Er flieht von dort, wo er eben noch glücklich war, weil er dem Glück mißtraut, und eilt dahin, wohin die anderen um ihn herum eilen, weil ihm dort ein besseres Glück möglich zu sein scheint. Weil er nicht alle Möglichkeiten der Daseinsgestaltung zugleich zu verwirklichen vermag, verachtet er, was er hat, um andere zu beneiden und ihre Habe zu begehren. Oder er benutzt Leute, dass sie ihm sein Glück mitbesorgen. Doch was ihm gestern noch ersehntes Glück war, ist es vielleicht morgen schon nicht mehr ...
Vater und Mutter sind in der Lage, auf naturnahe Weise selbstlos zu handeln, ohne dass sie sich diese Selbstlosigkeit als eine besondere Tugend anrechnen. Sie sättigen ihre Kinder, ehe sie an sich denken. Und sie üben Verzicht, kaum dass sie bemerken, dass sie verzichten. Und sie kommen der Unart eines Kindes zuvor oder, wenn sie denn einmal zum Vorschein kommt, so lasten sie diese ihrer eigenen mangelhaften Erziehungskunst an.
Unser Schicksal ist die Entfremdung vom Zuhausesein des natürlichen, Handlung auslösenden und steuernden Triebes, wie es Tiere in ausreichendem Maße besitzen. Je weiter wir uns in das Labyrinth der naturfernen, arbeitsteiligen, Güter- und Konsum-orientierten Gesellschaft verlieren, um so deutlicher wird diese Entfremdung. Aber es gilt auch die Umkehrung: je stärker die Gesellschaft in die Familie hineinreicht, um so mehr werden Familienbande brüchig, und Refugien einer naturnahen Ordnung gehen verloren.
Wir verprassen die Ressourcen und schließen dabei die Augen, jagen mit den Flugzeugen rund um die Erde und heizen den Konsum an. Schon der Grundschüler lernt mit Geld zu rechnen, damit er in der Konsum- und Leistungsgesellschaft gut mithalten kann. Und gibt man sein Geld aus, so darf man es, denn man hat es sich ja, wie sich der U.S-bürger auszudrücken beliebt, "hart" erarbeitet. Es ist wie ein Tanz vor dem kurz bevorstehenden jüngsten Tag.
Die Maschinen als Hilfsmittel bei der Arbeit haben uns zwar Mühe und Schweiß genommen, sie haben aber auch neuen Schweiß gebracht. Ein Landwirt, der sich auf riesigen Anbauflächen mit seinen Maschinen abplackt, hat es mit anderen Mühen zu tun als der Landmann früherer Tage, der der Erde näher ein relativ kleines Stück bewirtschaftete. Andererseits aber wäre ohne den modernen Farmer die Welternährung überhaupt nicht mehr möglich ...
In einem Zeitalter, wo es immer mehr auf die Präzisionsarbeit der von uns erfundenen und in Betrieb genommenen Maschinen ankommt, haben Verstehen und Wissen immer weniger mit uns als Mensch, als vornehmlich mit dem Bau und der Wartung naturwissenschaftlich technischer Geräte zu tun. Gewiß ist grandios, wenn man erlebt, was Lasertechnik oder Computerdiagnostik in der Medizin vermögen. Doch daneben und dahinter bedeutet "Verstehen" heute oft nichts weiter mehr, als den Tatsachen Gewalt antun (vgl. Dostojewski, Karamasoff, Goldmann, Band 478-481, I. S.302).
Haben nicht wir Wissenschaftler und Techniker das Erbe des Dostojewskischen Großinquisitors angetreten?
Das Problem der Alkestis als gesellschaftliches Problem. Wir haben durchaus Apparate und verfügen über Methoden, das Leben der Alten und Kranken zu verbessern und erträglich zu machen. Doch was ist uns deren Leben wert?
Profitgier, Geldgier, nationales Prestige, Zusammenbruch bestehender wirtschaftlicher Systeme u.ä. verhindern die Lösung dringend anstehender Probleme: Abschaffung von Hunger und Durst und Krankheiten, Ermöglichung eines menschlichen Lebens in Würde für alle Menschen, Abschaffung aller nuklearen Bedrohung, alles ungehemmten Experimentierens und Manipulierens, maßvoller Umgang mit den Ressourcen ...
Naturnahe Arbeit (Aufzucht von Kindern, Sammeln und direkte Nahrungsbeschaffung, Arbeiten im Feld oder Wald ...) ist wohl mehr geeignet, uns in uns zu befestigen und zufrieden zu machen, als Arbeiten im Umkreis der Kultur, zumal, wenn sie mit Streß, Konkurrenzneid und dem Beifall der wankelmütigen Menge zu tun hat.
Unser Verantwortungsvermögen scheint sich kaum weiter zu erstrecken, als auf das, was ganz konkret hier und jetzt mit uns zusammenhängt. Und ist es nicht grandios, sich als Entdecker oder als Ingenieur feiern zu lassen? Unterdessen aber ist neben der Entwicklung eines sinnvollen Werkzeugs auch schon ein Mordinstrument entstanden. Und was einmal glänzend und verheißungsvoll begonnen hat, kommt wie eine unheilvolle Lawine über uns.
Gibt es keine Wahrheit, weil wir nur zu vorläufigem und oberflächlichem Begreifen fähig sind? Und läge etwa in der Vielzahl möglicher Weltkonstruktionen unsere Heimat? Gewiß können wir auf vielfache Weise die Vorgänge in der Welt be