{ Das Leben ein Traum }

Literatur von Martin Ganter

Inhalt

1. Vorwort zu "Buch der Träume"

2. Wege in die Welt

1. Abschnitt: Kindheit

2. Eine Fahrt mit dem Fahrrad

3. Die Reiter des Königs

4. Die Ankunft des Fremden

5. Eine Übersetzung

6. Das letzte Schaf

7. Mit dem neugewählten Dogen

8. Der Mond im Griff

9. Ramses

10. Ausflug aus dem Schlafsaal

11. Das Mädchen im Koffer

12. Im Pausenhof

13. Die Frage nach dem lieben Gott

14. Die Mutter als Wäscherin

15. Auszug aus dem elterlichen Haus

3. Prüfungen

1. Die neue Melusine

2. Winterkleider

3. Beim Messerbaum

4. Vor dem Theater

5. Eine Prüfungsfrage

6. Besuch einer Blume

7. Hochzeitsglocken

8. Das Kleid der Mütter

9. Warnung vor Schwiegersöhnen

4. Die Welt der Gesellschaft

1. Fahrt nach Denkendorf

2. Die Feldpostkarte

3. Helena

4. Müll

5. Der Dorfschullehrer

6. Eine Lehrprobe

7. Eine Wunde im Auge

8. Drei Köpfe

9. Die Fürstin

10. Vorlesung

11. Verspäteter Unterricht

12. Beim Nachtdienst

13. Das Kriminalbuch meines Falles

5. Im Bannkreis der Ahnen

1. Versteck-Spielen

2. Meine Ziege

3. Hol´s der Geier

4. Das Strafsofa

5. Mutters letzte Fahrt

6. Vaters neue Wohnung

7. Das letzte Buch

8. Die Galerie der Bilder

9. Der Vater als Pflüger

10. Gleichgewicht

6. Der Weg durch die Zeit

1. Die beiden Mädchen

2. Die beiden Kinder

3. Minos

4. Sohnschaft

5. Der Heiratsantrag

6. Der Kuss

7. Fahrt durch die Wasser des Todes

8. Wie unser gemeinsamer Lebensweg zu Ende geht

9. Schwager Herodias

 

 

 

We are such staff/

as dreams are made on, and our little life/

is rounded with a sleep.

(Shakespeare, The Tempest, IV.1)

 

"Wir sind aus Stoff, aus dem die Träume sind,

Und Schlaf umweht das Leben wie der Wind."

1. Vorwort zu "Buch der Träume"

Dieses Buch ist aus einer Sammlung von Träumen entstanden, die ich in meinem Leben, in den vergangenen 50 Jahren geträumt habe. Versteht sich, dass ich nicht alle Träume hier veröffentlicht habe. Genauer müsste ich sagen, dass ich im Nachhinein nur das für mich bedeutsamste Material herausgegriffen und ausgearbeitet habe, das zugleich auch die Kriterien zu einer Erzählung oder zu einem Prosastück erfüllte. Immer lag mir im Sinn, einen unerhörten Vorfall, eine seltene Begebenheit, einen wunderbaren oder auch schrecklichen Sachverhalt, von dem mir geträumt hatte und der selbstverständlich immer etwas mit mir und mit meinem Erleben in der Welt zu tun hat, zum Erzählen bereit zu stellen. Zuallererst mir selbst, dann aber auch meinem lieben, über viele Jahre kranken, Weibchen, endlich auch einem, der sich später einmal in meinem Leben umsehen sollte, wollte ich damit sagen: "Sieh, das sind Stücke unseres Lebens! So habe ich, so haben wir gelebt! Solche Träume haben sich uns in unseren Erdentagen geltend gemacht!"

Den Menschen zu erforschen und zu erleben, das war es, was mich bereits als Student umtrieb, vornehmlich den Menschen in mir selber. Dazu aber bedurfte es keiner Menge an Reisen und keines besonderen öffentlichen Spektakels. Weniges war mir genug, um nach und nach und mehr und mehr die Traumerlebnisse als Konzentrat meines Lebens zu begreifen. Mich selber wollte ich in den Menschen und den Menschen in mir wiederfinden. Dazu reichte mir die Stadt Freiburg, in der ich aufgewachsen, eine Stadt mit engem, kleinstädtischem und oft auch spießbürgerlichem Charakter, den zu übersteigen für den Traumgott eine Kleinigkeit war. Und wenn ich dann aus dem Dreisamtal meinen Blick erhob hinauf zu einem der Schwarzwaldberge, so hatte ich ebenso den Olymp vor mir wie auch den Zionsberg oder den Tabor. Die hiesigen Ortsbezeichnungen, die da und dort in den Texten zu finden sind, können also durchaus durch die eigenen autobiografischen Daten des Lesers ersetzt werden, mag er auch aus Emmendingen kommen oder aus England oder aus Australien. Die Geschichte der Menschheit findet überall statt, es genügt eine Nussschale als Ort und ein Augenblick der Unaufmerksamkeit bzw. des Einschlafens in der Zeit, um als Jäger im Schwarzwald zu erwachen und dann plötzlich alle Regionen der Erde zu befahren. Jawohl, Stoff für Weltliteratur kann überall erlebt und gesammelt werden.

Viele, zumal von den Adepten der Kunst, haben schon von einem Traum von großer Magie geträumt, wie er dem jungen Hofmannsthal vorschwebte! Statt sich einen mehr oder minder belanglosen, der Mode und Zeitströmung unterworfenen Stoff aus den Fingern zu saugen und ihn dann zu einem literarischen Dokument zu formen, glaubte ich hier das Stoffproblem gelöst, unabhängig von allem Beifall oder Missfallen der Zeitgenossen. Etwas, was den Menschen als Menschen anging, Grundsätzliches und Konstantes glaubte ich aufzuspüren und zu erfassen. Es faszinierte mich, auf Themen zu stoßen, die nicht ich mir ausgedacht hatte, sondern das Leben. Diese Stimme in mir, die ich nie vorhersehen konnte und die mich immer von neuem überraschte, diese Stimme war es, für die ich Schreiber sein wollte. Dabei galt es freilich von Anfang an, dem Kitzel, das Traummaterial frei weiter auszugestalten, zu widerstehen. Ich wollte mich stets auf das beschränken, was ich im Traum gesehen und erlebt hatte, auch wenn es mich hin und wieder verlockte, mit einigen Zugaben eine künstlerisch bedeutsamere und packende Erzählung zu schreiben.

Dass man den Menschen aber nicht außerhalb der jeweiligen Kultur und der Zeitumstände antrifft, dass der biologisch abstrahierte Mensch außerhalb jeder Geschichte steht und mithin noch keine Geschichten zu erzählen hat, dass er vielmehr nur eine Veranlagung zum Träumen, das heißt zum Verarbeiten von Welterfahrungen, in sich trägt, bedachte ich als junger Mann noch nicht. Auch wie man mit Träumen umgeht, wusste ich damals noch nicht. Vermutlich glaubte ich noch in naiver Neugierde, dass einem Träume als große und bedeutsame Texte vom nächtlichen Himmel in den Schoß fallen, ohne zu bedenken, dass es eine eigene Bewandtnis hat um die Botschaften und um die Bedeutungsmannigfaltigkeit derselben.

Der Weg vom Traummaterial zum Trauminhalt und vom Trauminhalt, also der Bedeutungsmannigfaltigkeit des Traums, zu einem Traumtext, wenn nicht gar zu einer Mannigfaltigkeit verschiedener Texte war mir noch unbekannt. Von daher ergibt sich fast zwangsläufig, dass es mich im Verlauf meines Lebens dazu trieb, viele gerade der frühesten Träume wie etwa "Die Reiter des Königs", den ich schon in der Brautzeit meiner Liebsten vorgelesen und mit ihr besprochen habe, neu auszulegen und zu texten. Ich staunte, wenn ich bedachte, dass mir etwas geträumt hatte, was ich selber noch nicht verstand. Beim Traum von den Reitern des Königs etwa zeigte sich mir, dass das Traummaterial keineswegs nur eine einzige Erzählweise ermöglichte, wenn auch die Lokalität für mich als Träumer feststand. Was letztere betrifft, so hat der Traum etwas mit dem Breisgau zu tun, in dem Freiburg liegt und welcher vom benachbarten, in die Römer- und Keltenzeit zurückreichenden Breisach seinen Namen hat; denn es war der Münsterberg von Breisach, der von den Römern genannte mons Brisiacus, den die Reiter hinaufgeritten waren, wo auch die Großeltern mütterlicherseits wohnten und wohin ich als Kind oft zu Besuch gekommen. Ich brauchte Zeit, Jahre Zeit, um dahinter zu kommen, was als Thema gemeint gewesen sein mochte oder, noch etwas weitergreifend, dass es Träume auch in sich haben, uns diverse, mitunter auch gegensätzliche Leseweisen anzubieten und dass sie uns mit ihren Verschiebungen und Verdichtungen, worauf Freud wohl als Erster hingewiesen hat, Ansätze zu vielfältigen Interpretationen liefern.

Statt also zu sagen, dass dieses Buch aus einer Sammlung von Träumen entstanden ist, könnte ich auch sagen, dass es eine Art Autobiografie darstellt mit dem unablässigen Versuch einer adäquaten Weltdarstellung. Und wenn ich dabei auch einen Traum meiner Mutter ("Die beiden Hühnchen") und einige Träume meines Mütterchens ("Winterkleider" etc.) wie auch einen Traum der Tochter aufgenommen habe, so kann ich getrost sagen, dass diese Träume auch noch zu meinem Leben dazugehören, wie auch, dass wir alle bedeutende Träume haben, auch wenn es uns entgeht oder wenn wir uns nicht immer die zu ihrem Verständnis notwendige Zeit lassen. Wie viel Träume mag nicht schon der Himmel oder der Traumgott an uns versandt haben, und dies oftmals zum wiederholten Male, ohne dass die für uns so wichtige Botschaft zu uns gelangt wäre!

Wie bereits gesagt darf man sich die Träume nicht so vorstellen, als wären sie des Nachts fix und fertig bebildert und getextet zur Welt gekommen und der Schreiber hätte sie nur aufzulesen gehabt. Wäre das so, dann gäbe es wohl schon viele Bücher von Träumen im Menschenleben. Hinzu kommt, dass die meisten Träume keineswegs in die Form abgeschlossener und druckreifer Geschichten gebracht zu werden vermögen. Vieles ist zu kurz, zu knapp, zu fragmentarisch, voller Widersprüche, ein Gewusel der verschiedensten Themen, durchsetzt von Tagesresten, fast als hätte ein Kind sich mittels eines Gekritzels seiner Gedanken und Phantasien entladen.

Mitunter erleben wir aber auch Träume, die scheinbar belanglos sind, die sich dann aber nach einigem Besinnen und Nachdenken als etwas Außerordentliches entpuppen. So weiß ich um manch einen Traum (vgl. "Der Heiratsantrag" und "der Kuss"), wo ich erst lange nach dem Traum merkte, dass die Frau, mit der ich im Traum zusammengekommen war, keine fremde Frau war, ich also nicht fremd gegangen war, es sei denn mit meiner eigenen, mir entrissenen und verstorbenen Frau. Dann wieder gibt es kurze und knappe Sätze, Traumbotschaften höherer und vielfältig auslegbarer Art wie etwa der beinahe an ein Schuldgeständnis grenzende Satz "Dieses Haus habe ich nicht gebaut!", aus dem Traum "Gleichgewicht", der mich noch lang nach dem Traum schaudernd durchbrauste.

Mitunter handelt es sich auch nur um ein Traumbild, wie es z.B. Euripides in der "Hekabe" erwähnt, wo die unglückliche Königin eine gesprenkelte Hindin von der blutigen Klaue des Wolfs zerfleischt und ihr vom Schoß gerissen sieht, oder wie es uns Goethe aus seinen italienischen Reisen vermacht hat, wo er in einem Boot in einen Hafen eingefahren kommt, beladen mit allerlei herrlichen Früchten (als ein solches Bild könnte man auch den Traum "Mit dem neugewählten Dogen" verstehen): Träume, in denen wohl die Italiensehnsucht der Deutschen und mithin die Sehnsucht nach einer idealen Gestalt zum Ausdruck kommt.

Endlich ist es da und dort möglich, das Traummaterial als eine geschlossene Handlung, als ein Drama oder als eine Komödie zu erfassen und zur Darstellung zu bringen. "Warnung vor den Schwiegersöhnen" sei hier genannt wie auch "Hochzeitsglocken", erstes als Komödie, letztes als Tragödie.

Der Stellenwert, den unsere Zeit den Träumen entgegenbringt, ist gering, beinahe nur noch beschränkt auf den praktizierenden Psychoanalytiker, der dem Patienten eine Biografie zurecht schneidert oder sonst einen Mangelzustand zu beheben sucht. Im Altertum jedoch finden wir Träume in der Nähe von Prophetien und Gottesbotschaften, die oftmals Wohl und Wehe eines Gemeinwesens betrafen. Im Alten Orient insbesondere waren es vornehmlich Frauen, die als Kulturbringer auch in der Kunst der Traumauslegung bewandert waren. Nisaba bringt das Getreide und die Kunst des Schreibens zu den Menschen, Inana die Fruchtbarkeit und das Göttergeschenk der Vereinigung. Die Mutter Ninsun bringt Licht ins Dunkel der Träume, die dann auch als Prototypen Eingang finden ins Leben. Keine moderne Sprache in Kombination mit den Schriftzeichen weist diesen Reichtum auf an Polysemie und mithin an Verdichtungsmöglichkeiten wie die Sprachen des Alten Orient, als ob sich damals die Sprachen selber auf den Empfang von zu verdichtenden Botschaften vorbereitet hätten. Man könnte auch sagen, dass bei der Erfindung der Schrift nicht die Erfindung eines Satzes beliebiger Schriftzeichen das Problem war, sondern die Erfindung von Zeichen, in denen die Welt bereits in umfassender Deutung zum Ausdruck käme.

Wie aber damals die zur Hochkultur aufstrebenden Gemeinwesen u.a. im Traum sich selber begegneten, so ist auch heute der Traum noch immer ein Mittel der Selbstbegegnung, mag diese auch den Zeitgenossen verborgen bleiben oder als unwichtig erscheinen. Und da Selbstbegegnung stets nur möglich ist im Durchgang durch Fremdbegegnung, in der Begegnung von Eltern und Kind, Mann und Frau und dann eben auch immer wieder in der Begegnung mit meinem mir noch fremden Ich, so können wir den Traum durchaus noch immer als einen Spiegel ansehen, der uns die besonderen und entscheidenden Vorgänge des Lebens zeigt und uns damit auch zur Selbsterkenntnis verhilft. Trug früher einmal der in der Gesellschaft exponierte Einzelne als König, Priester, Prophet etc. zur Bereicherung der Gesellschaft bei, so ist es heute eher umgekehrt, dass die Träger der Gesellschaft durch ihre Toleranz, Liberalität und Gleichgültigkeit zur Verarmung und Entwertung des Einzelnen beitragen.

Sind wir dabei, zu vergessen, was ein Mann oder was eine Frau ist oder sein kann oder gar sein soll? Keiner, so heißt es, hat mir zu sagen, wer ich sein kann oder gar, wer ich sein soll. Träume sind hier nicht mehr als Korrektiv und Spiegel zugelassen. Mangels eines wohletablierten Überichs mag es vielleicht sogar geschehen, dass Träume mit ihren Botschaften verkümmern und unverständlich werden und dass der Traumgott zu einem billigen Wunscherfüller degradiert. Was z.B. Mutter und Mutterschaft bedeuten und wen wir als Mutter oder als Mütterchen erfahren, würde dann nicht mehr in Träumen seinen Niederschlag finden. Zeigt sich in der Frau dem modernen Mann ein biologisches, sexuell benutzbares Wesen, so findet er am Arbeitsplatz eine vom Staat geschützte Konkurrentin mit Sonderprivilegien; und was er sonst noch mit ihr oder sie mit ihm anfangen kann, das müsste er sich dann selber einfallen lassen.

Was in meiner Lebenserfahrung Mutter und Mutterschaft bedeuten, davon erzählen einige Träume ("Die Mutter als Wäscherin", "Die beiden Kinder", "Drei Köpfe", "Die letzte Fahrt"). Komm her und suche nach der Muttererde, suche nach dem Bestand! Oder weißt du nicht, dass die Frau seit alters mit dem zu tun hat, was nie da war und plötzlich da ist, wie auch mit dem, was da war und plötzlich nicht mehr da ist? Mag auch die Metaphysik früherer Tage gefragt haben, warum das Seiende ist und nicht das Nichts, für den über die Träume Nachsinnenden gibt es kein größeres Wunder, als dass alles so ist, wie es gekommen ist. Dazu passt dann auch der "Vater Pflüger", der samenstreuende Planer und Denker. - Oder da ist das Mädchen, die junge Frau, die für den jungen Mann eine wundervolle Lebenshilfe sein kann. "Ihr führt ins Leben ihn hinein!" könnte man da ausrufen, wie "Vor dem Theater" illustriert. Kultur hat m.E. immer etwas mit der Frau zu tun, mit ihrer Bildung und ihrem Selbstverständnis, aber auch mit dem Freiraum, den ihr der Mann einräumt. Der "Besuch einer Blume" erinnert dann allerdings auch an den Sündenfall im Paradies, bzw. an Probleme bei der Einbettung eines Paares in die Gesellschaft. Jede Hochzeit, so könnte man sagen, kann heute noch als ein kolossales, gigantisches Unternehmen erscheinen und bedarf des wohlwollenden Einverständnisses der Götter. Als Peleus und Thetis Hochzeit feierten, kamen alle die Himmlischen herzu. Zeus selber war es, der die Brautleute zusammenführte (wenn auch aus einem eigennützigen Grund). Doch freilich kennen wir da auch die Geschichte von der Hochzeit des Peirithoos und der Hippodameia, wo es dann zu Mord und Totschlag kam unter den Lapithen und Kentauren. "Die Geschichte vom Messerbaum" und "Hochzeitsglocken" gehören hierher. Die Frau als sexuell befremdendes, gefährliches Wesen ist Thema in "Das Mädchen im Koffer". Die Gefahr eines Kampfes der Geschlechter erscheint in "Helena", im Traum vom Besuch des Friedhofs. Auch zum Vater als Herrscher und zur Abnabelung vom väterlichen Haus gibt es gewiss viele Träume. Hier ist es der "Auszug", der eine solche Abnabelung bedeutet.

Oder da ist das große Thema der Zeit: wie Gegenwart und Vergangenheit zusammenpassen bzw. auseinander fallen, vollends das Problem des Unterscheidens von Leben und Tod, zusammen mit dem Unvermögen, den Tod als etwas sui generis zu begreifen und der Rätselhaftigkeit des Schicksals ("Das letzte Schaf"). Gegenwart und Vergangenheit sind Thema der "beiden Mädchen", einem typischen Epochaltraum, in dem wir uns als gegenwärtiges Wesen mit der vergangenen Epoche unseres Lebens auseinandersetzen. Wie ist es möglich, dass wir niemals die bleiben, die wir doch sind und sein mögen, sondern dass wir uns als die offenbaren, die sich unentwegt verändern? Die Frage nach der Zukunft spielt da auch eine große Rolle ("Kriminalbuch meines Falles" und " Die Ankunft des Fremden"). Aber auch "Die Feldpostkarte" und "Die beiden Kinder" und "Die Fürstin" gehören dazu. Desgleichen wären hier die Träume zu nennen, die für mich mit dem Verkauf des Hauses meiner Kindheit verbunden sind, der zu Lebzeiten meiner Eltern erfolgte ("Meine Ziege", "Hol´s der Geier"): das Haus war noch da und war doch zugleich schon verkauft, gehörte uns also nicht mehr. In anderen, hier nicht notierten Träumen habe ich das Elternhaus auch oft mit regendurchlässigem und einsturzgefährdetem Dach gesehen.

Das Berufsleben, vornehmlich als Pädagoge und Lehrer, zu welchem Beruf ich mich Zeit Lebens hingezogen fühlte, führt immer wieder den Einzelnen vor Augen, der sich in der Gesellschaft zu arrangieren hat. Auch der Kampf spielt da eine Rolle ("Eine Lehrprobe"). Zumal nicht gänzlich behördenangepasste Wesen, die mehr auf den Einzelnen und sein Wohl bedacht sind als auf Vergleichbarkeit von Leistungen und auf vorauseilenden Gehorsam, tun sich schwer auf ihrem Weg. Wer in Verantwortlichkeit einen eigenen Weg sucht, er muss dabei noch nicht einmal öffentlich dem allgemeinen Konsens widersprechen, wird gnadenlos an den Rand gedrängt und niedergemäht. Da ist es schon immer gut, wenn man das rechte Gebetbuch und Parteibuch besitzt und auch sonst noch über einige Ausweise und Mitgliedschaften verfügt, hinter denen man sich verstecken kann. Wo das Leben ohnehin ein brandgefährliches Unternehmen ist, kann man sich nicht genug gegen Feuer versichern.

Endlich wären da die Träume, die die Selbstwerdung zum Thema haben; auch sie erscheinen oftmals im Rückblick. Zu diesem Thema gehört z.B. "Eine Übersetzung", der Traum vom guten Lehrer, wo zugleich leise auch auf das Über-Setzen in die Gesellschaft vorbereitet wird, wie auch die Träume "Ausflug aus dem Schlafsaal" und "Im Pausenhof".

Dass diese Sammlung nicht nur weit entfernt ist von jeder Vollständigkeit, dass auch Themen fehlen wie das Thema der untereinander feindlichen Brüder oder der gegen den Vater opponierenden Söhne, sei nur nebenbei bemerkt. Aber ein einzelner Träumer erlebt ja nicht alles. Zum Glück oder zum Unglück. Und was hier nicht zu finden ist, kann ja von anderen nachgeholt und ergänzt werden. Träume aber werden die Menschheit bis an ihr Ende begleiten, darüber bin ich mir ganz sicher, alte und noch nie erlebte neue (vgl. "Gleichgewicht", "Vorlesung"). Insofern überichartige, dominante Prototypen oder Gottheiten zum Menschen gehören und ihn begleiten, kehren sie, wenn auch in neue Körper verwandelt, ganz gewiss auch wieder zurück.

Der Traum lehrt, er führt in Experimentiersäle und eröffnet neue Blicke, mitunter indem wir immer wieder mit ein und demselben Traum konfrontiert werden, zumal wenn es um so fundamentale Fragen geht, wie das, was ist und was nicht ist. Goethe würde mir gewiss zustimmen, wenn ich sage, dass die Wahrheit des Traumes, ganz wie beim Mythos, in der Fruchtbarkeit liegt. Brauchen wir die formale Logik zur Überprüfung des Wahrheitsgehaltes von Aussagesätzen, so brauchen wir den Traum wie auch den Mythos, den wir einen kollektiven Traum nennen könnten, zur Ausfüllung von Schemata, zur Gewinnung neuer Konstellationen, wie überhaupt zur Ermöglichung von Aussagen und Aussagbarem, zur Ermöglichung von Erfahrung. Die Kultur macht uns mit einer Mannigfaltigkeit solcher Erzähleinheiten und Motivkreise bekannt. Unsere eigenen Träume indessen, die immer auch Rekonstruktionen dieser kulturell vorgegebenen Mannigfaltigkeit darstellen, setzen uns zugleich in Stand, daran weiterzuarbeiten. Wie die Arbeit am Mythos, so ist auch die Arbeit an unseren Träumen lebensnotwendig in dem Sinn, dass wir nicht nur eine Ansicht auf das von uns Erlebte bekommen, sondern dass wir durch diese Arbeiten zu einem neuen und fundamentalen Erleben unseres Lebens erwachen.

 

 

Mögen wir im Buch Gottes einmal lesen,

dass auch wir ihm ein spannender Traum gewesen.

 

am 30. August 2018

 

2. Wege in die Welt

1. Abschnitt: Kindheit

Wie eine Welt im Kleinen lag alles um uns herum: das Dorf mit seinen Häusern, enggedrängt zwischen einem Fluss und einem Berghang, wo von einem steilen Bergvorsprung aus eine Burgruine herniederschaute, sodann der Fluss, der von Osten kommend eine Bergklamm durchrauschte, um dann majestätisch am Dorf vorbeizuziehen, drüben ferner, auf der anderen Seite des Flusses Wiesen und Äcker, die sanft ansteigend vor Wäldern endeten. Diese Seite des Flusses war das ganze Jahr über mit einer Fähre erreichbar, bis auf den Winter, wo die Fähre im Fährhaus untergebracht war. Über das Tal aber wölbte sich ein Himmel, an dem die Sonne zusammen mit dem Fluss einträchtig gegen Westen dahinzog, während die Wolken meist den Weg gegen Morgen nahmen, dass alles wie ein großer Kreislauf anzusehen war. Nur im Winterhalbjahr, wenn die Sonne sich kaum mehr aus dem Süden heraus traute, geschah es mitunter, dass auch die Wolken eigene Wege zogen oder dass sie sich hinter Dunst und Nebel den Blicken entwanden.

An heiteren Sommertagen, wenn der Tag der Ordnung gemäß angebrochen war und wir nach draußen durften, legten wir uns der Länge nach auf den Boden, die Erde auszumessen; da war uns, als ob Erde und Himmel genau mit dem Maß unserer Körper übereinstimmten. Alles schien uns ausmessbar und erreichbar zu sein. Wenn dann die Sonne mit dem Taghimmel glühend zur Erde und unter die Erde sank, lauschten wir, ob nun die Erde Feuer finge und wir es prasseln hörten; und nur der Ruf der Mutter riss uns nach Hause. Schauten wir dann aber vor dem Zubettgehen noch einmal aus dem Fenster und sahen von der anderen Seite den Mond aufgehen, so war uns, als hätte er nun das restliche Licht übernommen und alles schien wieder in Ordnung. Im Bett dann, wenn der Wind ums Haus ging, dachten wir darüber nach, was die Großmutter gesagt und dass sie durchaus Recht hatte, dass nämlich die Sonne und der Mond einmal zwei unzertrennbare Geschwister gewesen, dass sie aber, weil sie sich zu sehr lieb gehabt hätten, hätten auseinander müssen und sich von da an nicht mehr hätten begegnen dürfen. Wann immer der Mond einen Versuch mache, der Sonne näher zu kommen, schmelze er dahin, und es dauere dann immer eine Weile, bis er sich wieder erholt habe. Manchmal wenn der Halbmond durchs Fenster schaute, war uns auch, als schwappe etwas aus dem Fluss und schnappe gegen die Fenster. Da geschah es dann, dass die Mutter die Vorhänge zuzog und die Rollläden herabließ.

An einem der Herbsttage, Schiff- und Fährverkehr waren bereits eingestellt: da war es dann, dass wir mit der Großmutter hinunter zum Fährmann durften. Ganz in der Frühe war es, als wir aufbrachen. Nebel bedeckte noch das Tal, aber die Sonne war bereits darüber zu sehen. Immerhin waren wir jetzt ja schon so groß, wie die Mutter sagte, dass einer Erkundigung des Flusses nichts mehr im Weg stand. Doch unterließ sie es nicht, ums eindringlich zu ermahnen, in allem auf die Großmutter zu hören und nicht von ihrer Seite zu gehen. Natürlich versprachen wir, ihr in allem gehorsam zu sein. Noch hatten wir das Ufer nicht erreicht und noch vom Fluss nichts gesichtet, als wir in den dichtesten Nebel hinabstiegen. Plötzlich hörten wir ein Rauschen, nicht anders als hause dort ein bösartiges Tier, eine Skylla, die uns schon erspäht hatte und die nur darauf wartete, aus ihrem Versteck zu schnellen und nach uns zu schnappen. Zum Glück war der Fährmann zur Stelle, der auf die Großmutter gewartet hatte und auf uns zukam. Durch ein kleines Fenster von außen, wohin er uns emporhob, durften wir ins Fährhaus hineinschauen, wo die Fähre, wie der Fährmann sagte, jetzt den Winter über ausruhte. Nachdem er uns die Fähre gezeigt und mit der Großmutter das verabredete Gespräch aufgenommen hatte, sie standen nicht allzu weit von uns entfernt und der Fährmann hatte der Großmutter versichert, da passiere schon nichts, dafür wolle er sich verbürgen, näherten wir uns der Treppe, die zum Fluss hinab führte. Sie war aus Steinen gefügt, dass wir Stufe um Stufe den Weg hinab nahmen, bis wir die letzte Stufe vor dem Wasser erreichten. Der Wellengang war nicht allzu groß; doch genügte er, dass uns nicht entging, wie die unter der Wasseroberfläche gelegenen Stufen zu wanken und zu schwanken begannen. Ohne dass einer von uns etwas dazu sagte, waren wir doch alsbald schon davon überzeugt, dass sich da drunten in der Tiefe ein Ungeheuer aufhielt. Ganz dem Willen der Erwachsenen gemäß begnügten wir uns dann an jenem Tag, aus sicherem Abstand Steine ins Wasser zu werfen, doch war damit erst die Neugierde geweckt und die Forschung noch kaum erst begonnen.

Zu Beginn der Frühlingszeit war es dann endlich wieder so weit. Die strengen Tage des Winters waren vorbei und der Fährmann hatte inzwischen den Fährbetrieb wieder aufgenommen. Er hatte eben die Haltetaue gelöst und war dabei, ein paar Bauern mit ihrem landwirtschaftlichen Gerät überzusetzen, als wir wieder mit der Großmutter am Fluss ankamen. Still standen wir da und warteten, bis der Fährmann zurückkam. Dann, nach einem neuerlichen Verladen von Wagen und Tieren, nachdem ein Frachtschiff, durch eine jähe Sirene angekündigt, vorbeigefahren, durften auch wir einsteigen. Die Hände fest ans Geländer geklammert, wie uns die Großmutter geraten, warteten wir gespannt darauf, bis die Fahrt begänne. Und da die nächste und die übernächste Fuhre auch schon zur Überfahrt bereit standen, hatte der Fährmann nur wenig Zeit für uns. Alles drängte zur Eile. Er hatte sich noch eben, nachdem er das Halte- und Zugseil überprüft, vom ordnungsgemäßen Beladen der Fähre überzeugt und nichts zur Beanstandung gefunden: als er den Motor einschaltete und vom Ufer abstieß. Da nun traf uns sein Blick, wobei er uns fragte, ob wir denn keine Angst hätten vor dem vielen Wasser. Da schauten wir bald auf die Großmutter, bald auf den Fährmann, der schon wieder mit anderem beschäftigt war, um uns dann vorsichtig mit dem aus der Tiefe herauf rauschenden Wasser zu befassen. Wir befanden uns jetzt schon fast in der Mitte des Stroms, und der Blick ging dicht über das Wasser: da streckte manch einer von uns die Hand aus, um auszuprobieren, wie einem ist, wenn man von diesen stromabwärts eilenden Wasserschlangen berührt würde.

Kurze Zeit danach - Großmutter war, wie es hieß, auf Reisen gegangen - fehlte, als wir abends nach Haus kamen, einer von uns. Man fragte uns, wo wir gewesen und was wir gemacht hätten. Wie viel man uns aber auch befragte, nirgends zeigte sich eine Spur, die zu dem vermissten Kind führte. Man wartete und bangte; die Nachbarn aber, die man bald schon hinzugezogen hatte, versuchten zu beschwichtigen, indem sie sagten, das Kind werde sich bald schon wieder einfinden, oder sie unterbreiteten Vorschläge, um nur ja nicht das Dorf in Unruhe zu versetzen. Hilfe aber kam dadurch nicht. Es geschah weiter nichts, als dass nichts geschah, während es dunkler wurde und dunkler. Als nun auch schon die letzten Termine verstrichen waren, die man sich gesetzt hatte, und schon die ersten Sterne verrieten, dass die Nacht am Einbrechen war, hielt man sich nicht länger an das vereinbarte Schweigen und rief nach den Männern des Dorfs, die für solch einen Fall in Betracht kamen. Und sie kamen herbei und sammelten sich unter unserem Haus, bildeten Trupps und machten sich mit Fackeln auf die Suche.

Ich bat die Mutter, mich mit den Männern auf die Suche begeben zu dürfen; doch kam das für sie nicht in Frage. Es sei zu dunkel draußen; auch könnte ich den Männern zur Last fallen oder schlapp machen und zurück bleiben; dann könnten sie auch noch nach mir suchen. Um aber ganz sicher zu sein, führte sie mich in das Zimmer, in dem mein Bett stand, und sperrte mich darin ein. Kaum hatte die Mutter das Zimmer verlassen und es mit dem Türschlüssel eigens noch verschlossen, da eilte ich auch schon aus dem Bett und lugte durch die Fensterläden, wo von draußen immer noch viel Lärm hereindrang. Der letzte Trupp hatte sich noch etwas gedulden müssen, da einer von ihnen noch gefehlt hatte. Eben waren sie dabei, sich auf den Weg zu machen, da besann ich mich nicht länger, öffnete Fenster und Fensterladen, letzteren eben so weit, dass ich genug Platz hatte, herauszusteigen, stieg am Spalier in den Garten hinab und eilte ihnen nach. Meine Vorsicht wie auch die Eile, die alle ergriffen hatte, bewirkten, dass keiner mein Kommen wahrnahm oder sich um mich gekümmert hätte. Eben hatten wir die Talsohle erreicht und die Straße überquert, um vom oberen Flusslauf aus flussabwärts das Gelände zu durchkämmen, als weitere Kinder auf uns zukamen. Wie schon ich zuvor, so suchten nun auch sie sich dem Suchtrupp anzuschließen. Weil dies aber nicht unauffällig geschehen konnte, ihrer vielmehr immer nur noch mehr wurden und man sie im Dunkel nur schwer zusammenhalten konnte, so versah man mich mit einer Fackel und bestellte mich dazu, ihnen nach Hause zu leuchten. Wenn ich aber auch die Anweisung vernahm und die Ausführung zusagte, so lag das doch nicht in meiner Absicht. Schließlich war das Kind, das sie wieder finden wollten, eines von uns und wenn einer etwas darüber wissen konnte, so waren es wir. Vor Ort und Stelle würde uns alles wieder klar werden; darüber war ich mir ziemlich sicher. Also führte ich die Kinder nur so weit gegen das Dorf zurück, bis wir auf der Straße die Höhe vom Fährhaus erreicht hatten. Dort fragte ich, wen es von ihnen nach Haus verlange. Nachdem keines der Kinder dazu bereit war, änderte ich die Richtung und marschierte mit ihnen weiter hinab, bis wir das Fährhaus erreichten. Niemand war weit und breit zu sehen. Nur die Fähre lag da, an Land gezogen, als ob sie auf uns gewartet hätte. "Setzen wir über!" sagte ich, indem ich mich daran machte, die Haltevorrichtung auszuklinken, wie ich es beim Fährmann gesehen. Den anderen Kindern indessen schien mein Vorhaben nicht eben geheuer. Sie fragten mich, ob ich denn den Motor anbrächte und die Fähre zu lenken verstünde. Daraufhin stieg ich zum Fluss hinab, tunkte die Fackel, die man mir für den Heimweg überreicht hatte, ins Wasser, worauf mich die Kinder verließen.

Nun endlich war der Weg frei, meine Forschungen ungestört aufzunehmen. Freilich zeigte sich sogleich, dass ich nicht in der Lage war, mit der Fähre über den nächtlichen Strom zu setzen. Da aber auf dem alten Weg der Treidler stromabwärts nirgends etwas zu hören war, so überlegte ich nicht lange und schlug diesen Weg ein. Ich war kaum losgegangen, da erglänzte etwas vor mir in nicht allzu großer Entfernung. Unbeweglich, quer über dem Fluss, schien das Ding wie eine weiße Leiter ins Dunkel hinein zu ragen, dass ich nicht daran zweifelte, dass es eine Brücke sei, deren gegenüberliegendes Ende ich nur der großen Dunkelheit wegen nicht zu überblicken vermochte. Ich hoffte freilich, dass mich die Brücke ans andere Ufer hinüber brächte. Und so beeilte ich mich, auf die Brücke zu gelangen, fand aber, als ich dort ankam, dass es nur ein Brückenarm war, den man mittels zweier Kurbeln auf den Strom hinausschwenken und wie ein Perspektiv verlängern konnte. Da er nur erst ein Stück weit auf den Fluss hinausgeschwenkt war, machte ich mich an die Arbeit. Ich hatte eben begonnen, als ich vom Fährhaus her Geräusche hörte. Als ich mich umsah, erblickte ich Leute, die auf mich zueilten. Im Widerschein ihrer Fackeln erkannte ich, dass sie zu den Leuten gehörten, mit denen ich mich auf den Weg gemacht hatte. Sie schienen mich erkannt zu haben und waren entschlossen, mich am Betreten der Brücke zu hindern. Da ich aber dem Augenmaß zufolge kaum erst die Hälfte der Brücke hinausgeschoben hatte, zu wenig, um durch einen noch so gewagten Sprung das andere Ufer zu erreichen, so gab ich das Vorhaben auf, ließ mich los und glitt die Uferböschung hinab, mich vor ihnen zu verstecken. Freilich, was für ein Unterfangen! Ich hatte meine Augen noch nicht an das Dunkel unterhalb der Böschung gewöhnt, als ich auf einen Pflock stieß, an dem ein Boot festgemacht war. Mit einem einfachen Seil war es vertäut, sodass es mir ein Leichtes war, es startklar zu machen. Es bereit machen und einsteigen war die Sache eines Augenblicks. Im Boot sodann bedurfte es kaum eines Abstoßes, da erfasste mich auch schon die Strömung und trieb mich dahin. Und während meine Verfolger jetzt gleichfalls das Ufer erreichten, lag bereits ein Streifen widerspiegelnden Wassers zwischen mir und ihnen. Sie schrien mir zu, sogleich ans Ufer zurück zu kommen und gaben mir Anweisung, was ich zu tun hätte. Doch ich, damit sie mich nicht sähen oder als könnte ich mich unsichtbar machen, versteckte mich hinter der Bootswand und drückte mich zu Boden. So blieb ich und wartete, bis ihre Stimmen aus der Ferne nicht mehr zu hören waren. Endlich richtete ich mich auf und fuhr dahin, allein und unbehelligt in den unendlichen Fluten.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dahinfuhr, inmitten des strömenden Wassers. Angst hatte mich bislang noch nicht überkommen. Schließlich war ich ja unterwegs nach dem vermissten Kind. Nur hin und wieder, wie zur Kontrolle, hatte ich den Blick über den Bootsrand gleiten lassen, sei es wegen der Verfolger, ob ich sie noch sehen konnte und wie weit sie von mir entfernt waren, sei es, um einen Blick flussabwärts zu richten, ob mir alles um mich herum noch so vertraut war wie früher. Schaute ich nämlich nur aufs Wasser dicht neben dem Boot, so war ich wie ein fester und unverrückbarer Bestandteil der Strömung; schaute ich aber zum Uferrand hinüber, den ich verlassen hatte, so war mir, als entfernte ich mich von ihm mit immer größerer Geschwindigkeit. Immerhin war mir klar, dass ich nicht ins offene Meer hinaustreiben dürfte, zumal ohne Ruder, wie ich jetzt feststellte. Und als ich nun überlegte, wie ich aus den Fluten wieder heraus käme, zumal ohne Hilfsmittel außer meinen Händen, und ich mich in den Massen Wasser wie fest eingepflanzt vorkam, da überkam mich nun plötzlich die Angst. Jetzt nämlich musste ich feststellen, dass der Fluss gewaltig an Breite und an Strömung zugenommen hatte, sodass ich froh war, beim Ausschauhalten nach einem Rettungsplatz am anderen Ufer in der Ferne eine Stadt zu entdecken.

Zuerst erschien sie nur wie ein kleiner, weißlicher Fleck, alsbald aber wurde der Fleck größer und größer; und schon waren die Stadtmauern und das Stadttor erkennbar und dahinter eine Stadt, die auf einen Berg hinauf gebaut war. Dort musste ich zum Halten kommen, dort die Fahrt ihr Ziel erreichen, sonst, das wusste ich ganz genau, war ich für immer verloren. Immerhin hatte mein Wunsch eine magische Macht. Trotz der rasanten Fahrt und der Gefahr, am Ziel vorbeizufahren, genügte bereits, mich mit Blicken auf das Stadttor festzumachen, dass es mich auf die Stadt hin zog. Zuerst hatte ich noch geglaubt, ihren weißen Schimmer habe die Stadt von den Strahlen des Mondes, der eben über ihr aufgetaucht war. Beim Näherkommen erkannte ich aber, da nirgends ein Schattenwurf zu erkennen war, dass das Licht den feinverbauten weißen Marmorquadern entströmte, als produzierten sie das Licht aus sich selbst, wie phosphoreszierende Organismen des Dunkels. Alles war in ein so feines, schimmerndes Licht getaucht, dass ich glauben mochte, hier werde es niemals dunkel.

Unterdessen hatte ich das Ufer erreicht. Ein paar Schwäne, leicht schwankend über den Uferwellen, die im Riedgras verebbten, nächtigten dort in der Nähe. Sie ließen sich aber nicht aus dem Schlaf stören. Nur für ein paar Augenblicke streckten sie ihre Hälse empor, um sie dann wieder im flaumig weichen Gefieder zu verbergen. Der Weg durch die Tore und auch der weitere Fortgang durch die Stadt erfolgte dann wie im Flug. Die Stadt schien leer, sich selber überlassen, ohne dass mir jemand von irgendwoher begegnet wäre. Nirgends war ein Stadtwächter, nirgends ein Fußgänger, der sich auf dem Heimweg befand, nirgends ein Einwohner zu sehen, der an irgendeinem Fenster gestanden und mein Kommen bemerkt hätte. Und wie sich mir nirgends eine Person zeigte, so war auch von nirgendwoher ein Lärmen oder auch nur ein leises Geräusch zu hören. Zeit indessen, das Stadtbild näher auf mich wirken zu lassen oder Einzelheiten wie besondere Häuser und städtische Bauten zu erfassen, blieb mir nicht. Denn ohne einen Fuß vor den anderen zu setzen, trieb es mich dahin, nicht minder schnell als die Fahrt zuvor durch die Fluten. Und eine Auffahrtsrampe kam auf mich zu, die es mich empor trug. Wieder war ich vollauf damit beschäftigt, mich dem mir unsichtbaren Beweger anzupassen, als ich oben zu einem Plateau gelangte, wo die Bewegung zum Stehen kam. Im Unterschied zu der Stadt drunten, war es hier ziemlich dunkel. Mochte früher einmal eine Burg hier droben gestanden haben; jetzt war davon nichts mehr zu sehen. Stattdessen traf ich auf ein zweistöckiges, schmucklos gebautes, in die Länge gezogenes Haus, das bis auf ein einziges erleuchtetes Fenster im Erdgeschoss völlig im Dunkel lag. Auf dem Platz vor dem Haus aber befand sich ein Baum, der in unmittelbare Nähe zu dem erleuchteten Fenster hinauf führte. Diesen bestieg ich, bis ich mich oberhalb des Fensters befand, von wo aus ich bequem in das Zimmer hineinschauen konnte. Inmitten des Zimmers aber sah ich einen mit einem weißen Tuch überspannten Tisch. Auf demselben lag ein Kind, über dessen Körper man ein weißes Leintuch gezogen hatte. Wenn ich das Kind auch nicht gleich erkennen und benennen konnte, so war mir klar, dass dies das Kind war, nach dem wir uns alle auf die Suche gemacht hatten. Regungslos lag es da, die Arme an die Seiten des Körpers gefügt, den Blick starr zur Decke. Um den Tisch herum aber standen eine Menge Leute, die meisten von ihnen schweigend, mit erstarrten Mienen, auf das Kommende wartend, nur einige, die weiter entfernt standen, unterhielten sich leise über den Jungen. Einige von ihnen erkannte ich als die, die mich an der Wegfahrt mit dem Boot hatten hindern wollen.

Eben hatte ich alle Aufmerksamkeit auf eine Frau gelenkt, die mir bekannt zu sein schien, als ein kurzes Raunen durch den Raum ging. Dann wurde es mit einem Mal sehr still. Ein Mann hatte den Raum betreten, der sich durch seine Kleidung wie auch durch sein Verhalten als Arzt zu erkennen gab. Ohne auch nur einen der Anwesenden zu begrüßen, die ihm, wo immer er vorbeikam, ehrfürchtig Platz machten, eilte er um den Tisch, bis er den Kopf des Kindes erreicht hatte. Dort blieb er stehen und besah sich den Jungen. Als er ihn eine Weile betrachtet hatte, beugte er sich über ihn und fasste ihn an der Hand. Sodann, mehrere Male ihm fest ins Gesicht blickend, rief er ihn beim Namen. Der Junge aber gab keine Antwort. Darauf, leise den Kopf schüttelnd, schlug er das Leintuch beiseite und begann ihn zu betasten. Als wolle er prüfen, ob ihm irgendwo etwas wehtäte, schaute er ihm abermals fest ins Gesicht. Aber auch darauf gab der Junge keine Antwort. Jetzt ergriff er die Lider und besah sich die Pupillen. Endlich wandte sich der Mann zu den Leuten, zuerst zu der Frau, die sich jetzt als meine Mutter herausstellte, dann zu den anderen, und verlangte nach einem Messer. Darauf begann er, dem Jungen die Seite aufzuschneiden. Als er mit dem Schneiden fertig war, verlangte er nach einer Reihe weiterer Bestecke, mit denen er die inneren Organe entfernte. Währenddessen hatte mich die Angst immer fester in den Griff genommen. Jetzt aber, als er das Herz aus dem Brustkorb des Jungen heraushob, versuchte ich ihnen mitzuteilen, dass doch alles bloß ein Irrtum war. Schließlich war ich ja noch da und saß auf dem Baum und schaute ihnen zu. Wie sehr ich mich ihnen aber auch verständlich zu machen versuchte, so gelang es mir doch nicht. Stumm und steif saß ich im Baum und musste mitansehen, wie der Mann sein Geschäft dem Ende entgegenführte. Und während er von den Rippen, die den Körper noch eben zusammengehalten hatte, eine um die andere abbrach, versuchte ich, mir wenigstens dies noch zu vergegenwärtigen, dass doch alles bloß ein Irrtum war, ein schrecklicher Irrtum, dem man zuvorkommen könnte, wenn man nur nicht seinen Namen vergäße.

2. Eine Fahrt mit dem Fahrrad

Ich erinnere mich, dass ich als Kind, als ich noch nicht Fahrrad fahren konnte und ich auch noch kein eigenes Fahrrad besaß, lange darüber nachgedacht habe, was man zu tun hat, wenn man erst einmal auf einem Rad sitzt, das in Bewegung ist, um wieder vom Rad zu steigen. Beim Fahren kann man ja doch nicht absteigen, so dachte ich, bringt man das Rad aber zum Halten, dann fällt man zusammen mit dem Rad zu Boden.

Und noch eine Besonderheit und Eigentümlichkeit ist für das Verständnis des Traums, zumal da er in einen tiefdunklen Wald führt, wichtig: dass nämlich der Träumer, ein Student mit über 20 Jahren, täglich des Abends, nach Einbruch der Nacht, wenn er seine Studien beendet und beiseitegelegt hat, noch einen Spaziergang unternimmt in den benachbarten Wald, wo ihn dann, wann immer ihm das Gemüt voller Unruhe ist, eine Beklemmung beschleicht, dass er froh ist, wenn er den Wald wieder hinter sich gebracht hat.

Im Unterschied zum "Traum von der Kindheit", wo das Ziel sich erst am Ende jäh und überraschend als Ort einer Leichenschau zeigt, ist in dieser Geschichte das Ziel schon von vornherein festgelegt. Es ist der Wohnort der Großmutter mütterlicherseits, wohin der Träumer sich mit seinem Rad auf den Weg macht. Dass sie zur Zeit des Traums schon tot war, mag zur Auslösung eine Rolle gespielt haben. Für das Kind, den Träumer im Traum, lebt die Großmutter aber noch. Sie wohnt hinter einem großen Wald, was in etwa den Lokalitäten entspricht, die das Kind kennt. Genauer gesagt wohnte diese Großmutter in Breisach am Rhein, einem Städtchen 30 km westwärts von Freiburg, auf dessen Weg man einen Wald, den Mooswald, zu durchqueren hatte, den die Freiburger kennen, wenn man ihn in der Zwischenzeit nicht abgeholzt und verbaut hat.

Es gibt noch einen Unterschied zum Traum der "Kindheit". Dieser Traum hat nämlich eine biografische Vorlage. In der Tat hat sich der Träumer im Alter von etwa 6 bis 7 Jahren zusammen mit seinem um ein Jahr älteren Bruder mit dem Fahrrad auf den Weg gemacht zu der besagten Großmutter, die dort in Breisach lebte. Zusammen hatten sie sich diese Fahrt ausgedacht, ohne den Eltern etwas davon zu sagen. Vom Weg, den sie ganz genau und im Einzelnen einzuschlagen hätten, hatten sie freilich keine Ahnung. Die einzige Kenntnis, auf die sie zurückgreifen konnten, war die Reise mit der Eisenbahn, mit der sie schon mehrere Male den Weg gefahren waren. Dieser Weg führte durch den besagten Mooswald, für den der Zug einige wenige Minuten brauchte, der aber für die Kinder durchaus eine Herausforderung mit unüberschaubaren Folgen darstellte, wie uns dann auch der Traum zeigt. Bei jenem wirklichen und tatsächlichen Unternehmen ging aber die Fahrt noch vor dem besagten Mooswald zu Ende. Den Weg von der Wiehre aus, wo die Familie damals wohnte, quer durch die Stadt und bis hinunter zum Hauptfriedhof, ein Weg, den bei dem heutigen Verkehr, 70 Jahre danach, kein Kind mehr ohne Gefahr für Leib und Leben einschlagen dürfte, haben unsere Abenteurer ganz unbehelligt und unbeschadet auf ihren Fahrrädern zurückgelegt. Erst am Friedhof muss es gewesen sein, wo sie Halt gemacht haben, um den weiteren Kurs abzustecken. Diese Stelle spielt dann auch knapp 20 Jahre später im Traum eine Rolle. Sie stellt den Startpunkt dar. In der Erinnerung handelt es sich jedenfalls um einen breiten Sandweg, der auf der Südseite des Friedhofs mit seiner hohen Sandsteinmauer Richtung Westen leicht abwärts führt. Dort also beim Friedhof muss es gewesen sein, wo wir Ausreißer von einem der Familie bekannten Manne entdeckt und wieder nach Hause zurückgebracht wurden. Auch an diese Zusammenkunft mit dem Bekannten kann ich mich nicht mehr erinnern. Es gibt aber keinen Zweifel, dass dem so war, zumal da die Eltern öfters auf dieses kleine Wunder der Rettung zu sprechen kamen. Wenn ich mich recht an die Erzählung der Eltern erinnere, waren wir in jenem Augenblick vom Fahrrad gestiegen (auch ein Faktum, das dann im Traum eine eigentümliche Eigendynamik gewinnt), um uns über die weitere Fahrt zu besprechen. Denn nun stand uns ja der Mooswald bevor, den wir zu durchqueren hatten. Zwei Möglichkeiten scheint es für uns damals gegeben zu haben: Entweder wir schafften den Weg durch den Wald oder wir mussten die Nacht im Wald verbringen.

Wir haben hier einen Epochaltraum vor uns, der einen Blick zurückwirf auf eine vergangene Lebensepoche und besondere Probleme aus dieser thematisiert: Erstens, wie man sich der Gewalt eines technischen Gerätes wie eines Fahrrads entledigt, und zweitens, wie man eine Nacht im Wald übersteht. Zwei kleine Veränderungen sind hierbei noch bemerkenswert: Erstens dass der Träumer in seinem Traum allein ist, also ohne seinen älteren Bruder. Zweitens aber, dass im Traum nirgends mehr von einer Problemlösungsstrategie die Rede ist, etwa dass man, im Fall eines unvorhergesehenen Einbruchs der Nacht, einen Baum erklettern und sich im Gezweig in Sicherheit bringen könnte, wie man sie aus den Märchen kennt.

Der Traum beginnt am Friedhof, also dort, wo einst die Radtour der Kinder zu Ende gekommen war, und zwar damit, dass ein Absteigen vom Rad alsbald schon überhaupt nicht mehr möglich ist. Dass neben dem Tod der Großmutter, der nicht allzu lang vor der Zeit des Traums stattgefunden, auch die Lokalität des Friedhofs noch eigens zur Verschärfung im Traum beigetragen haben könnte, lässt sich vermuten. Unser Traum belässt es indessen beim Bild der hohen Friedhofsmauer, ohne sie sonst noch mit einem Ereignis zu verbinden. Fest steht aber auch, dass der Tod der beiden Großmütter, den einzigen Überlebenden der Großelterngeneration, für ihn nicht ohne Anstoß zu geheimem Nachdenken über das Geheimnis des Todes geworden.

Doch nun zu dem Traum!

 

Beim städtischen Hauptfriedhof, südlich der hohen Friedhofsmauer, wo wir als Kinder auf unserer Radtour ins ferne B., dem Wohnort der Großmutter, von einem Bekannten aufgegriffen und wieder nach Haus gebracht wurden, war es, dass ich mit dem Rad vorbeifuhr. Im Unterschied zu damals war ich jetzt aber allein; und statt vom Fahrrad zu steigen, wie wir es damals getan hatten, mein Bruder und ich, um uns ein letztes Mal zu beraten, ehe wir den weiteren, uns nun gänzlich unbekannten Weg anzutreten gedachten, trug mich das Fahrrad dahin. Noch immer war ich ein Kind von 6 oder 7 Jahren oder ich sah mich doch als ein Kind, das den Sandweg neben der Friedhofsmauer hinabfuhr, betörend mühelos und beinahe ohne zu treten. Im Geist eröffnete sich mir der Weg und wie er sich eröffnete, so war ich auch schon da. Und so sah ich auch schon den Wald, wie er auf mich zukam. Größer und größer wurde er im Auf-mich-Zukommen; mächtiger und undurchdringlicher ragte er vor mir empor, während vom Untergrund und Saum desselben Dunkel und Finsternisse auf mich einströmten und mich in ihren Bann nahmen. Ohne sich weiter anzukündigen war unterdessen auch Abend geworden; der Tag war erloschen, die Nacht im Anzug. Unbehaglich war mir zu Mute. Zur Nacht in den Wald einfahren, schien mir nicht eben das Rechte. Wohin konnte ich gehen, wohin würde ich gelangen, wenn sich mir kein Weg mehr zeigte und mir allenthalben nur noch undurchdringliches Dunkel entgegenstarrte!

Mir war klar, dass jetzt höchste Zeit war, die Fahrt zu beenden. Doch wie das bewerkstelligen? Wie vom Fahrrad steigen, das inzwischen so unwiderstehlich und zügig auf den Wald zufuhr? An Versuchen ließ ich es wahrlich nicht fehlen. Doch es gelang mir nicht, die Geschwindigkeit aus dem Rad zu nehmen. Im Gegenteil. Statt die Fahrt allmählich zu verlangsamen und endlich zu beenden, wurde sie nur immer noch schneller und schneller. Längst war der Wald nicht mehr nur der Wald und das Dunkel des Waldes nicht mehr nur ein Ort des nächtlichen Schweigens. Längst war auch ich bereits ein Teil dieses Waldes, der mich erfasst hatte und an sich zog; und der Weg war der Strom, der mich in ihn hineinriss.

Um Hilfe zu schreien, danach stand mir der Sinn; doch sah ich keinen, der mir hätte Hilfe bringen können. Die paar, die sich mir noch zeigten, ein paar Bauern auf ihren Feldern, waren zu fern, als dass ich sie noch erreicht hätte. Am Saum des Waldes standen sie um ein Feuer herum, dürrgewordenes Kartoffelkraut hatten sie aufgeschichtet, und machten sich an ihm zu schaffen. Natürlich rief ich ihnen zu, doch ohne sie zu erreichen. Nur einer, der etwas gehört zu haben glaubte, sah sich um und sah in die Nacht hinaus, um gleich wieder das Gesicht dem Feuer zuzukehren. Im dicht umhertreibenden weißen Rauch, der bald dem Feuer entquoll, bald wieder von ihm zurückgedrängt wurde, war er alsbald wieder verschwunden. Ein Weilchen sah ich sie noch, wie sie sich um das Feuer herum drängten, dann lag auch dieses Bild hinter mir.

Jetzt aber, da nichts mehr zwischen mir und dem Wald stand, tat sich der Wald auf. An ein Bremsen war jetzt wahrlich nicht mehr zu denken. Alles kam jetzt nur noch drauf an, zumal bei der Dunkelheit, sich dem Eingang anzupassen und die Einfahrt so gut wie möglich zu überstehen. Und so fuhr ich oder, besser gesagt, sog und zog und riss es mich in den Wald hinein, wo ich mich, zu meinem Erstaunen, plötzlich unbeschädigt wiederfand. Immer noch fuhr ich auf meinem Rad, mit beträchtlicher, inzwischen aber gleichbleibender Geschwindigkeit, wenn ich den an mir vorbeigleitenden Ästen und Zweigen Glauben schenken durfte. Doch freilich waren damit längst nicht die Gefahren gebannt, geschweige, dass ich ein Land der Rettung in Sicht gehabt hätte. Jetzt galt es zuerst einmal, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Eine geteerte Straße hatte ich immerhin unter mir, die mich weitertrug, von der ich aber keineswegs wusste, wann sie aufhörte und einem engeren Pfad Platz machte oder ob sie sich gar als eine Sackgasse entpuppte. Zum Glück war da vorerst noch alles überschaubar; denn die Schneise, die der Weg durch das Dickicht des Waldes zog, war breit genug, um so viel Nachtlicht von oben hereinzulassen, dass es zur Bestimmung der Wegrichtung ausreichte. Andererseits aber war die Breite des Wegs durchaus auch nicht so üppig, dass man sich einem Entgegenkommenden leicht hätte entziehen können. Diese Gefahr bestand, sie war real, sie war eine dauernde Bedrohung.

Kaum war sie aus dem Horizont der Gedanken aufgetaucht, da sah ich auch schon aus der Ferne zwei hellglühende Augen auf mich gerichtet. Dort, wo der Waldweg aus dem dunklen Dickicht herauszukommen schien, traten sie hervor, um sogleich beim Näherkommen an Größe und Helligkeit zu gewinnen. Zuerst dachte ich an ein wildes Tier. Die Tatsache aber, dass es sich um einen Holztransporter handelte, der, wie ich jetzt erkannte, zu später Stunde noch aus dem Wald heraus kam, war kaum beruhigender. Wegfüllend kam er aus dem Dunkel des Waldes, dass sogleich klar war, dass wir beide nicht aneinander vorbeikämen. Zumal da ich ohne Licht unterwegs war, von dem Holztransporter mithin erst sehr spät gesehen werden konnte, lag es ausschließlich an mir, vorbeugende Maßnahmen zu treffen. Indessen traten die Lichter näher und näher, mit ihrem Schein die Breite der Straße ausmessend, dass sich nun bestätigte, was ohnehin schon klar war: Viel zu groß war das Gefährt, viel zu breit sein Ausmaß, dass mir nur noch eines helfen konnte: die Fahrbahn aufs Schnellste zu verlassen.

Zum Äußersten entschlossen machte ich mich an die Arbeit, das Rad jetzt doch noch zu verlassen. Wollte es auch nicht, so würde ich es jetzt zwingen. Ah, wie traktierte ich jetzt den Rücktritt! Wie verlagerte ich das Körpergewicht bald auf das eine, bald auf das andere Pedal, dass mir eines von ihnen die Rettung brächte! Wie setzte ich, da dies alles nichts nützte, auch noch die Arme ein, die Lenkstange nach oben reißend, um dem Druck des Körpers noch den Gegendruck der Arme hinzuzufügen. Wenn ich die Kraft auf das Pedal nur entsprechend vergrößerte, wer oder was konnte mir dann noch das Absteigen verhindern! Indes, an welchem Pedal ich mich auch versuchte, auch der Mut der Verzweiflung half mir nichts. Stattdessen, als wäre das Rad selber zu einem wilden Tier geworden, bäumte es sich nun unter mir auf. Und während ich an der Lenkstange riss, wuchs es mit mir empor, dass ich nun plötzlich hoch oben über dem Weg schwebte. Jetzt war guter Rat teuer. Denn wenn das Rad nun wohl auch etwas langsamer dahinfuhr, so nützte mir das jetzt überhaupt nichts mehr. Vielmehr verschärfte sich dadurch nur noch das Problem. Bei dem nun erhöhten Schwerpunkt und bei den Schwankungen, denen ich mich nun ausgesetzt sah, war keineswegs mehr eine rasche Korrektur durch einen leichten Körpereinsatz zu erreichen. Zumal auch bei der nun einsetzenden Präzession, die das Rad bald auf die eine, bald auf die andere Seite der Fahrbahn ins Dickicht zu treiben suchte, hatte ich alle Hände voll zu tun, dem drohenden Unheil zu wehren. Ja, aus einem Dompteur war ich nun plötzlich zu einem Jongleur geworden, der alle Hände voll zu tun hatte, hoch droben, inmitten der nächtlich schwankenden Bäume das Gleichgewicht zu halten. Den Bäumen freilich machte ihr Schwanken nichts aus. Vielmehr, wie selig dahinträumende Wesen rauschten sie an mir vorbei, während ich genau wusste, dass ich verloren war, wenn es mir nicht gelang, die immer wieder wie von selbst entstehenden Schwankungen zum Stillstand zu bringen. Zwar gelang es mir noch, das Rad auf die rechte Seite der Bahn zu lenken. Doch dann kam es, wie es kommen musste: Von Mal zu Mal wurden die Ausschläge größer und größer, wobei ich mit dem Fahrrad in immer gefährlichere Seitenlagen geriet, dass der Sturz bereits abzusehen war. Und da sich der Transporter bereits dicht in meiner Nähe befand, ich sah ja die gefällten Stämme, die er geladen hatte, bereits vor mir, dicke, dunkelfeuchte, mächtige Baumstämme, so richtete ich meinen Sinn nur noch darauf, dass der Absturz über ihnen geschähe. Da aber fiel ich auch schon, dass mir nichts übrig blieb, als es dem Schicksal anheimzustellen, ob zu meiner Rettung oder zu meinem Untergang.

 

3. Die Reiter des Königs

Ob der König wirklich in unsere Stadt hat kommen wollen und ob ihn dann, in letzter Sekunde, ein Unwohlsein überfallen hat, wird wohl nie geklärt werden. Fest steht nur, dass die Leute in unserer Stadt lange Zeit noch nach jenem schrecklichen Vorfall, der sich damals bei uns zugetragen, des Glaubens waren, der König habe unbedingt vorgehabt, sie in eigener Person zu besuchen, habe sich dann aber in letzter Minute dafür entschieden, seine Reiter zu schicken. Zumal da man zuvor schon viele Bittgänge an den königlichen Hof gemacht hatte, so hätte er ja nicht nötig gehabt, uns hinzuhalten oder zu täuschen. Ein Wort von ihm hätte genügt, und nie mehr hätte eine Gesandtschaft am königlichen Hof wegen eines Besuchs vorgesprochen. Eine Meinung machte sich später dann aber immer mehr geltend, dass all das Unheil mit den Umständen zu tun haben müsse, unter denen unsere Stadt ins königliche Reich eingegliedert worden, wenn man auch nichts Genaueres dazu zu sagen oder geschichtliche Quellen vorzulegen vermochte. Immerhin hatte sich unsere Stadt aufs schärfste und erbittertste gegen jede Art von Eingliederung gewehrt und wenn man sie mit den übrigen Städten des Reichs verglich, so gab es nirgends einen Platz, der als ein besonders königlicher gegolten hätte. Doch wäre das nicht alles mit der Zusage des königlichen Kommens leicht zu beheben und zu vergessen gewesen, wenn nur der König gekommen wäre? So jedenfalls glaubte man damals.

Nun also, nach den vielen Petitionsschriften und Bittgängen unserer Obrigkeit, hatte die Gnade gesiegt: der König hatte sich dafür entschieden, unsere Stadt zu besuchen. Und so begann man nun auch, sich mit allem Eifer auf die königliche Ankunft vorzubereiten. So schnell bringt kein Baum im Frühling Blätter und Blüten hervor, wie unsere Stadt nach jenem rauen und verzweiflungsvollen Winter der königlichen Ungnade Zeichen überschwänglicher Zuneigung hervorbrachte. Wo die repräsentativen Gebäude unserer Stadt, aber auch die Wohn- und Privathäuser nicht aufs Beste instand waren, wo die Straßen nicht breit und glatt und eben waren, wurden sie ausgebessert; und nicht nur in der Stadt, weit auch davor schon wurde die Landschaft ins Kommen des Königs miteinbezogen. Berge wurden abgetragen und Täler aufgefüllt. Und ein Schmücken und Verschönern begann, dass sich der Fleiß kaum mehr eine Ruhepause gönnte. Vor allem aber galt die Vorbereitung dem Einstudieren des königlichen Empfanges, damit auch die kleinste Handlung aufs Genaueste und Schönste zum Ausdruck käme. Dies war denn auch die einhellige Absicht aller Bewohner der Stadt, dass mit dem Augenblick, wo die Ältesten und Würdenträger dem König das Osttor öffneten und ihm entgegenträten, dass mit dem Augenblick eine Zeit des Friedens begänne, die ihresgleichen suchte und nie mehr endete.

So kam denn der Tag, auf den man so sehr gewartet hatte. Ohne dass der Magistrat es eigens angeordnet hätte, war es für die Einwohner beschlossene Sache, dem König entgegenzuziehen, um ihm bereits auf dem Weg zur Stadt das Geleit zu geben. Wer immer sich auf eigenen Beinen bewegen konnte, hatte sich auf den Weg gemacht, und jeder von ihnen wollte der erste sein, der den König aus der Ferne entdeckte. Wie früh sie sich aber auch auf den Weg machten mit grünen Zweigen in den Händen und wie herrlich sich auch der neue Tag ankündigte, es war doch alles umsonst. Denn niemals, weder zurzeit der Vorboten des milchfarbigen Morgens, wenn die Vöglein noch im Schlaf liegen, noch auch zurzeit der Morgenröte, wenn längst alle Vögel den Anbruch des Tages verkünden, noch auch zurzeit, als die ersten Strahlen der Sonne hinter den Bergen hervordrangen und man das Osttor vor dem König zu öffnen gedachte, wurde ihr Hoffen erfüllt. Weit und breit war nirgends etwas vom König und von seinem Hofstaat zu sehen.

Müde und erschöpft, aufs Tiefste davon überzeugt, dass man einer Fehlmeldung aufgesessen, waren eben die letzten Rückkehrer beim Stadttor angelangt, die Geschütze waren wieder weggeräumt, mitsamt den vielen Fahnen und Ehrenzeichen, um nur ja nicht noch länger an die herbe Enttäuschung erinnert zu werden, ja alle waren dabei, sich in die Alltagsgeschäfte einzupassen und ihnen nachzukommen: da geschah es, dass sich den beiden Stadtwächtern auf dem Stadtturm eine blendende Staubwolke in der Ferne zeigte. Wenige Augenblicke danach war klar, dass es der königliche Zug war, den sie entdeckt hatten. Nun also! Da war er doch: der König mit seinen Getreuen, umwogt von den königlichen Fahnen! Mochte auch etwas dazwischengekommen sein, was die Ankunft etwas verzögert hatte, der König hatte sein Wort gegeben und er hatte es gehalten!

Kaum zu ermessen ist nun aber die Verwirrung, die die Stadtwächter ringsum in der Stadt auslösten, als sie das nicht mehr erhoffte Kommen des Königs bekannt machten. Hatte man nicht genug gebadet im Wechselbad der widersprüchlichsten Gefühle, dass man es leid hatte, noch weitere Bekanntmachungen zu vernehmen? Mochte sich in seinen Geschäften stören lassen, wer immer wollte! Wer Charakter hatte und etwas auf sich hielt, den trafen sie nicht mehr. - Und so dauerte es eine Weile, bis man den Unglauben der Bürger besänftigt und sie zum Glauben an die nahende Ankunft bewegt hatte. Feindseligkeit und Ablehnung, die von ihnen Besitz ergriffen und die es nicht mehr zulassen wollten, dass die Freude wiederkehre, regten sich noch, als die ersten Glocken zum Königsbesuch erschallten. Erst, als sämtliche Glocken der Stadt im Geläute standen und als man dann vom Stadtberg aus zu Ehren des hohen Gastes Böllerschüsse von den Kanonen abgefeuert hatte und eine Menge von Musketen, und als nun auch noch der Salut aus sämtlichen Gewehröffnungen mehrere Male erklang, konnte man nicht mehr anders, als an den Ernst und an die Wahrheit der Stunde zu glauben. Und so begann nun jedermann damit, sämtliche Wimpel und Fähnlein und Girlanden und all den Schmuck, den man achtlos zuvor weggeworfen hatte, vom Boden aufzulesen, um damit noch einmal die Balkone und die Gesimse, die Giebel und die Dächer der Häuser zu schmücken und alles so wiederherzustellen, dass nichts mehr an den Zustand gemahnte, der wie ein erstickter Brand noch immer die Gemüter erhitzte. Und die Fahnen flatterten wieder bunt im Wind und die verordnete Festtagsfreude sonnte sich unter einem königsblauen Himmel, als der königliche Zug auf die Stadt zukam.

Nun rückte also auch der Mann näher, auf den sie alle gewartet hatten. Auf einem prächtigen Ross, leicht und frei und ohne Sattel und Steigbügel, bloß aus den Schenkeln heraus ritt er sein Reittier, dass ihn ein jeder, der ihn kommen sah, als der Anführer des Zuges erkannte. Ob des königlichen Goldes wegen, das ihn mit Helm und Rüstung umgab und das nun im Sonnenlicht glänzte und wohl auch aus Scheu, ihm wie aus einem Hinterhalt heraus ins Gesicht zu schauen, hatte man den jungen Mann zwar noch nicht als den König erkannt, hielt ihn aber ganz selbstverständlich für denselben.

Und so fragte man, dem Protokoll gemäß, wer vor dem Tor stehe.

"Der König!" war die Antwort.

Und was er begehre!

"Einlass für sich und für seine Reiter!"

Darauf, unter dem Tusch von Posaunen und Trompeten, wurde das Tor geöffnet. Und ihren Einzug hielt die königliche Schar.

Versteht sich, dass längst alles wieder für den feierlichen Zug gerichtet ist. Zusammen mit der Ehrengarde und den höchsten Vertretern der Stadt stehen die Sänftenträger mit der Sänfte bereit, in die der König nun einsteigen soll, um sich zu den Festlichkeiten hinauf in die obere Stadt tragen zu lassen. Und freilich sind längst auch die Musikanten mit ihren Instrumenten zur Stelle, beginnend mit den Kleinsten, die auf ihren Blockflöten bereits allerliebst dem König aufspielen, gefolgt von vielen weiteren Flötisten, Bläsern und Streichern, alle schön geordnet nach Alter und Geschlecht. Da aber, knapp neben der Sänfte, zeigt es sich, dass der junge Mann die Sänfte ausschlägt. Auf seinem Pferd möchte er weiter reiten. Das erstaunt und erschreckt, da es so gänzlich dem königlichen Zeremoniell widerspricht. Doch der junge Mann ist ja gar nicht der König wie sich jetzt beim Öffnen des Visiers zeigt! Der Anführer der königlichen Reiter, der als erster den Stadtboden betreten hat, ist überhaupt nicht der König. Der König ist nur in Stellvertretung gekommen.

Indes, genug der Aufregungen, die man heute bereits durchgemacht hat! Oder weiß man sich etwa nicht den Umständen gemäß zu richten! Dass man im Reiterobersten statt des Königs den jungen königlichen Feldmarschall erkannt hat, ist weiter nicht von Belang, jedenfalls nicht für die Abgeordneten des Senats. In einem jeden der königlichen Beamten ist ja, wie sie alle wissen, der König gegenwärtig. Und dass der Feldmarschall den königlichen Ehrenplatz in der Sänfte zurückgewiesen hat, halten sie jetzt eher für eine taktvolle Geste der Demut vor der Majestät des Königs, als dass sie noch länger an eine Unregelmäßigkeit oder gar an Hochmut denken. Nur dass eine gewisse Verwunderung tut sich bei ihnen jetzt auf, während sie in die Stadt hinein ziehen, dass sie sich nichts dabei gedacht haben, als sie keine königliche Karosse auf die Stadt zu hatten kommen sehen.

Und so sehen wir nun die Ältesten und die Würdenträger der Stadt zusammen mit den Reitern des Königs und den zahlreichen Vertretern des Volks die Stadt durchziehen. Und während sich von überall her die Stadtbewohner dem Zug anschließen, durchquert man die Vorstadt, dann die Hauptstadt, dann geht es den Stadtberg hinauf, zur Altstadt, zum städtischen Palais, wo alles bereit ist für die beginnenden Feierlichkeiten mitsamt den für das beidseitige Wohlergehen so wichtigen Verträgen. Unterdessen haben die Bürger den betrüblichen Tagesbeginn vergessen; und auch die königlichen Reiter, die anfangs noch ein steifes zeremonielles Wesen zur Schau stellten, haben dieses längst abgelegt. Bald werfen sie Kusshände in die Menge, bald knallen sie mit den Peitschen in die Luft, während die Menge dichtgedrängt um sie herum ihnen zujauchzt und in die Hände klatscht. Als sie sich nun auf halber Höhe des Stadtbergs befinden, dort, wo die glatt geteerte Fahrbahn in eine schmale, seit Alters mit Rundsteinen gepflasterte Gasse abzweigt, die auf den Rathausplatz emporführt, die Bläser mit ihren Posaunen und Trompeten beginnen eben vom Rathausturm die königliche Hymne in die Stadt hinab zu blasen, und ein Wogen und Treiben erfasst alle, dass die Stimmung kaum besser sein kann, da geschieht es, dass das Ross des Feldmarschalls ins Straucheln gerät und zu Boden stürzt. Und zwar reißt es ihn so plötzlich und so unglücklich in die Tiefe, dass er mit einem Bein unter sein Ross zu liegen kommt, unfähig sich aus eigener Kraft zu befreien. Völlig überrascht und nicht im mindesten auf ein solches Unglück vorbereitet machen zwar einige der in der Nähe befindlichen Ratsherren Anstalt, dem Gestürzten zu Hilfe zu eilen, und sie hätten es wohl auch zu Wege gebracht, wären sie nur dazu in der Lage gewesen. Denn das Volk, das dichtgedrängt um die vielen Pferden herum ist, macht jegliches Herbeieilen unmöglich.

In dieser Situation lassen die den Feldmarschall umgebenden Reiter nicht auf sich warten. Ohne Rücksicht auf die umstehende Menge schaffen sie sich Platz; und so dauert es auch nicht lange, da sieht man den Feldmarschall wieder zu Ross, hoch aufgerichtet wie nie zuvor, worauf er den Reitern das Zeichen gibt, den Lauf zu wenden.

Erst jetzt beginnt man in der Stadt zu begreifen, dass etwas sehr Schreckliches geschehen sein muss. Die Bläser hoch oben auf dem Turm verstummen; und die Knaben und Mädchen, die eben noch Blumen auf den Weg gestreut haben, halten inne; und wo zuvor noch das Glück vollkommen gewesen zu sein scheint, schlägt jetzt das Volk den Blick wie ein Senkblei zu Boden, sich in den Abgrund aller Abgründe versenkend.

Die Reiter aber haben sich für den Rückweg fertig gemacht. Für einen Augenblick stehen sie mit ihren wiehernden Rossen wie eherne Kolosse aufgebäumt in der Luft, Ausschau haltend, wo es für sie noch ein Durchkommen gibt. Dann aber haben sie auch schon ihre Pferde gewendet. Und weil das nachgerückte Volk ob der Enge und des Gedränges unfähig ist, auch nur einen Schritt zur Seite zu weichen, beginnen sie sich jetzt mit Gewalt Platz zu verschaffen. Mit ihren Peitschen auf das Volk einhauend, erzwingen sie, da es nirgends hin auszuweichen vermag, dass es zu Boden muss. Nach wenigen Augenblicken schon steht niemand mehr auf eigenen Füßen. Vielmehr, wie Lawinen von den Gebirgshängen des Winters herab alles zu Boden strecken, was sich ihnen in den Weg stellt, reiten die Reiter über die Mengen hinweg, eine Stätte der Verwüstung hinter sich lassend. Erst als der Feldmarschall mit seinen Reitern aus der Stadt heraus und keiner mehr zu sehen ist, erhebt sich, wer sich noch zu erheben vermag. Und man verwünscht die Abgesandten, ebenso wie man die Ungeduld verwünscht, mit der man dem Besuch des Königs entgegengefiebert hat. Endlich aber gelten ihre Flüche auch noch der Sonne, weil sie nicht aus Überdruss vor dem Elend dieses Tages zu scheinen ausgesetzt hat. Was aber den königlichen Feldmarschall angeht, so ward er nie mehr gesehen.

 

4. Die Ankunft des Fremden

Es ist die Zeit der Sommersonnwende. Im Dorf sind die letzten Lichter erloschen. Den Himmel halten Wolkenschollen bedeckt, hinter denen ein Vollmond einherwandelt. Bis auf das kranke Mädchen liegt alles im Schlaf. Es wohnt am Westrand des Dorfs, von wo aus es nicht mehr weit ist zum Schloss. Nur noch eine Allee ist von dort aus zu durchmessen, schnurgerade, mit alten Platanen bestückt, wo der alte Fürst wohnt. Schon über viele Jahre ist das Mädchen krank, unheilbar krank. Der Mutter, die sie aufopferungsvoll pflegt, hat sie es zu verdanken, dass sie noch am Leben ist. Aus dem Haus wird das kranke Mädchen ihren Fuß nie mehr setzen. Dafür aber hat sie einen siebten Sinn, der sie unablässig beschäftigt. Über vieles bekommt sie Nachricht, über vieles weiß sie Bescheid, was keiner sonst weiß, lange noch, ehe es als etwas Bekanntes in der Welt die Runde macht.

Nach dem Tod der Fürstin, die der Fürst sehr liebte, auch wenn sie ihm keinen Erben hinterlassen, ist dem kranken Mädchen eine ganz besondere Aufgabe zugefallen. Unterrichtet von deren hellseherischem Blick hat es sich der Kammerherr zur Aufgabe gemacht, regelmäßig bei ihr vorbeizuschauen und sie in Angelegenheiten des Schlosses zu befragen. Vornehmlich das Wohl des Fürsten ist es, das ihm am Herzen liegt, seit dieser seinen Leibarzt wegen dessen allzu strenger Reglementierung entlassen. Hin und her gerissen zwischen Lebensmüdigkeit und Todesangst hätte sich der Fürst wohl schon längst von der Welt verabschiedet, wäre da nicht der Kammerherr, der ihm mit feinem Sinn zur Seite steht und seinen Tagen einen immer neuen und erfrischenden Sinn zu geben versteht. Was das Mädchen angeht, so ist es nicht Bewunderung, die der Kammerherr für sie hegt. Zwar will er aufs Gründlichste wissen, was die Zukunft bringt, doch ist er nur zufrieden, wenn es sich um etwas Gutes handelt. Bei Enthüllungen schlechten Inhalts ist er sogleich verstimmt und steht nicht an, das Mädchen böser Absichten, wenn nicht gar der Zauberei und der Hexerei zu verklagen.

Versteht sich, dass das Mädchen nichts anderes zu sagen wünscht als nur Gutes, zumal jetzt, wo es immer schlechter um den Fürsten bestellt ist. Und da sie nur Gutes sagen soll, so unterdrückt sie die Wahrheit, wann immer sie etwas Böses birgt. Das aber lässt der Kammerherr nicht gelten. Alles muss heraus! Nur dass er niemals damit zufrieden ist, sobald er von einem Übel erfährt. Wie er meint, sollte das Mädchen, sobald sie ein Unheil heraufkommen sieht, bereits die geeigneten Schritte mit in die Wege leiten, damit sie ihm, dem Kammerherrn, mit der Vorhersage des Übels stets auch dessen Überwindung und das gute Ende vorherzusagen vermag. Doch was kann das Mädchen dafür, dass Mühe und Mühsal, Krankheit und Tod unaufhebbar über die Welt verhängt sind und dass der Fürst mit jedem Tag einen weiteren Schritt auf sein Ende zu macht? Seit kurzem nun ist das Verhältnis zwischen dem Kammerherrn und dem Mädchen ganz besonders angespannt. Nichts Geringeres nämlich als das Ende des Fürsten hat sie geweissagt. Versteht sich, dass das Mädchen nicht davon hat sprechen wollen, und dass es für den Kammerherrn eine unendliche Arbeit war, ihr dieses so unerträgliche Geheimnis zu entreißen. Nun ist es heraus. Bei der Wiederkehr des Vollmonds zur Zeit der Sommersonnwende wird das Leben des Fürsten zu Ende gehen.

Zuerst macht sich der Kammerherr lustig über die Nachricht. Doch sehr schnell schon weicht die Lustigkeit einer Verdrießlichkeit, dann die Verdrießlichkeit einer Wut, die sich zur Tobsucht steigert. Da kein weiteres Wort über die Lippen des Mädchens kommt, schreit er und packt sie an und würde sie am liebsten erwürgen. Informationen und Beweise will er, damit er glauben kann, was sie sagt. Doch das ist unmöglich. Weder hat das kranke Mädchen zusätzliche Informationen, noch auch vermag sie, ihm schlüssige Beweise vorzulegen. Zwar weiß sie noch von einem Fremden, der in der Nacht des Vollmonds kommen und dem Fürsten zum Verhängnis werden wird, doch mehr vermag sie über den Fremden nicht zu sagen. In seinem Ingrimm schilt die der Kammerherr eine Lügnerin. In der Tat würde sich das Mädchen jetzt am liebsten als eine Lügnerin offenbaren. Wie aber soll sie das tun? Im Übrigen nimmt sie die Drohungen des Kammerherrn nicht schwer. Was das Sterben angeht, so fürchtet sie sich schon lange nicht mehr vor dem Tod, und wenn es auch ein gewaltsamer wäre!

Schaute der Kammerherr früher noch beinahe regelmäßig bei dem Mädchen vorbei, so kommt er jetzt nur noch, um die aufgestaute Unruhe los zu werden. Wie sehr er die Ankündigung des Fremden aber auch für die Ausgeburt eines kranken Gehirnes hält und auf einen Widerruf hofft, so würde er ihr doch nicht glauben. Stattdessen hat er selber schon Mühe, den Fremden aus den Augen zu wischen. So nun ringt der Kammerherr mit sich, indem er Maßnahmen zum Schutz des Schlosses und des Schlossherrn zu ergreifen gedenkt, diese dann aber wieder verwirft. Auf keinen Fall darf der Fürst etwas davon vernehmen. Mit dem, was ein krankes Gehirn sich ausgedacht hat, darf er ja wohl nicht den kranken Herrn in Erregung versetzen. Nur kein Aufsehen erregen. Und so tut er am Ende nichts.

Nun aber ist die Nacht des Vollmonds angebrochen. Das kranke Mädchen liegt zu Hause auf ihren Kissen und weint. Sie weiß, dass die Ankunft des Fremden bevorsteht. Nicht dass sie die Tage und Nächte abgezählt hätte. Sie muss nicht zählen, wenn sie etwas auf die Menschen zukommen sieht. Sie braucht auch keine Erinnerung an den Vollmond, der eben aufgegangen ins Zimmer hinein scheint. Selbst wenn kein Termin des Vollmonds bevorstünde, wüsste sie Bescheid. Der immer geringer werdende Abstand des Fremden, den sie leibhaft spürt, ist ihr Hinweis genug. Die Mutter indessen, die neben ihr liegt und der sie die Angelegenheit als eine Ausgeburt ihres kranken Gehirns weißgemacht hat, will sie nicht stören. Was auch nützte es, sie jetzt noch zu wecken, ihr alles zu gestehen oder sie gar aufs Schloss zu schicken! Der Schlosspförtner würde sie nicht einlassen. Und selbst wenn er sie einließe, käme jede Hilfe zu spät.

Auf der anderen Seite, im Schloss, weiß freilich auch der Kammerherr, dass heute der besagte Tag ist. Wenn er daran denkt, schüttelt er nur den Kopf. Nirgends ist etwas zu bemerken, was auf ein Unheil hinwiese. Die wenigen übrig gebliebenen Bediensteten haben sich in die alte Gesindestube zurückgezogen, wo sie die Nacht verbringen. Auch der Enkel des Kammerherrn, ein kleiner Junge, der sich in den Sommermonaten beim Großvater aufhält, hat sich, wie gewohnt, ins Freie hinaus begeben. In den Stunden des Tages, wo er allein ist, verbringt er die Zeit mit der Lektüre von Ritterbüchern. Versteht sich, dass auch er einmal ein großer Ritter werden will und dass er schon jetzt Ausschau hält nach entsprechenden Abenteuern. Zu seinen Gepflogenheiten gehört es, dass er die Nächte wie die früheren Ritter im Freien verbringt. Von daher verlässt er das Schloss allabendlich vor Einbruch der Nacht, um sich dann irgendwo, im weitläufigen Anwesen, zu verschanzen. Bald hält er sich im Marstall auf, wo einst die Zuchtpferde gestanden, bald befindet er sich im Zwinger, wo ein alter Knecht dem letzten noch übrig gebliebenen Jagdhund das Gnadenbrot reicht. Oder er durchstreift den Park, wo man ihn am frühen Morgen dann in einer Laubhütte findet. In letzter Zeit hält er sich vermehrt beim Treppenaufgang auf, der zum Schloss führt. Dort, in der Nähe des Grabes der Fürstin, hat er sich ein Nachtlager bereitet.

Seinetwegen freilich macht sich der Kammerherr keine Sorgen, auch nicht an diesem Abend. Zusammen mit dem Fürsten befindet er sich in dessen Privatgemach. Während der Fürst in seinem Armstuhl sitzt und ein wenig schlummert, begibt sich der Kammerherr leise zum Fenster, um nachzusehen, was draußen geschieht. Wie viel hat sich nicht geändert seit dem Tod der Fürstin, denkt er, während sein Blick auf die Treppen fällt, die zum Schloss führen. Segensvoll waren damals noch die Tage. Ja, damals war der Fürst noch lebensfroh und unternehmungslustig gewesen. Da gab es des Nachts noch rauschende Feste. Mit dem Tod seiner Frau aber war es dann rasch mit allen Arten von Vergnügungen vorbei. Noch hingegeben an die Erinnerung an jene Tage hört der Kammerherr, wie jetzt die Wache zum Nachtdienst aufzieht. Im großen Rondell des Parks versammeln sie sich immer noch wie früher, zusammengeschrumpft auf ein paar Leute, die vergessen haben, dass es hier nicht mehr viel zu bewachen gibt. Der Kammerherr glaubt noch zu hören, wie der Kommandant die Aufstellung vornimmt und die Befehle erteilt. Dann verlieren sich sämtliche Stimmen und Schritte. Freilich hätte er Bescheid geben können wegen der Ankunft des Fremden. Wo er aber schon dem Fürsten nichts gesagt hat, hielt er es für besser, auch die Wache nichts wissen zu lassen. Nur keine schlafenden Hunde wecken, wo alles doch nichts ist als die Ausgeburt eines kranken Kindes, und er am Ende dastünde als ein von Märchen betörter Alter! Was auch sollte ausgerechnet in dieser Nacht geschehen? Was ihn selber betrifft, so weiß er, was er heute zu tun hat. Seinen Dienst wird er versehen wie sonst auch: und doch wird er ihn zugleich auch so scharf und genau verrichten, wie es nur geht. Keinen Augenblick will er außer Acht lassen, bis erst die Nacht vorbei ist. Dann, so hofft er, ist auch der Spuk überstanden.

Jetzt wendet er sich ins Zimmer zurück. Er weiß, dass er auf alles gefasst sein muss, sobald der Fürst aus seinem kurzen vornächtlichen Schlummer erwacht. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Fürst ihn aus unerfindlichen Gründen aus dem Zimmer schickte. Das aber will der Kammerherr auf jeden Fall vermeiden. Entgegen allen Befürchtungen sind die Beschwerden, die sich heute beim Erwachen einstellen, verhältnismäßig gering. Und was die Launen des Fürsten betrifft, so ist er in gar keiner so schlechten Verfassung. Beim Abendmahl fordert ihn der Fürst sogar auf, ihm wieder einmal von seinen Reisen durch die Welt zu berichten, die er als junger Mann und angehender fürstlicher Geheimsekretär unternommen. "Ja die Fahrt in die Welt ist das Beste, was das Leben für uns bereit hält", sagt er, gleichsam um seinen Wunsch zu untermauern. Dann, nachdem der Fürst abgespeist hat und ins Bett gebracht ist, beginnt der Kammerherr mit der nächtlichen Lektüre. Schläft der Fürst dabei ein, so ist gut; schläft er nicht ein, dann ist auch gut, wenn nur alles den Umständen entsprechend wohlbestellt ist. In beiden Fällen liest der Kammerherr vor bis Mitternacht. Nur wenn der Fürst sich vorher ein Ende wünscht, ist der Nachtdienst schon vor Mitternacht beendet. Für diese Nacht aber hat sich der Kammerherr vorgenommen, den Fürsten auch über Mitternacht hinaus auf keinen Fall zu verlassen.

Unterdessen hat der Fremde das Dorf erreicht. Mag ihn zuvor auch noch nie jemand gesehen haben, ja mag es ihn zuvor auch noch nicht gegeben haben, jetzt gibt es ihn, jetzt ist er da! Im Mondlicht, das die Straße erfüllt, gleitet sein Schatten an den Wänden der Häuser dahin, scharf und von unheimlicher Größe. Als hätten sie Angst, dass er seine Faust auf sie herabsausen lässt, und sie suchten Schutz, ducken sich die klein gebauten Häuschen. Wo immer er vorbeikommt oder gar in ein Fenster hinein schaut, murmeln die Schläfer oder schreien auf, als flehten sie um Schonung. Es dauert nicht lange, da hat er auch schon das Haus mit dem kranken Mädchen erreicht. Für ein paar Augenblicke bleibt er stehen und prüft mit dem Finger den Eingang. Das kranke Mädchen, wenn sie ihn auch nicht mit den Augen sieht, denn sie liegt mit dem Gesicht zur Wand, sieht und hört ihn gleichwohl. Doch sie schreit nicht auf und sucht auch nach keiner Hilfe. Nicht den kleinsten Laut gibt sie von sich, auch nicht, wie sie merkt, dass er jetzt das Fenster aufgedrückt hat. Sie hätte keine Angst, wenn er kommen sollte, ihr ein Leid anzutun. Nur die Mutter, so denkt sie, soll er nicht stören.

Jetzt aber, wie er weiter schreitet, greift sie nach dem Telefon, im Schloss Bescheid zu sagen. Nichts soll unversucht bleiben. Der alte Pförtner aber ist nicht mehr wach und er lässt sich auch durch das Läuten nicht aus dem Schlaf schrecken. Auch wenn es zu seinen Aufgaben gehört, die Auffahrt zum Schloss bis Mitternacht zu bewachen und die telephonische Verbindung mit der Außenwelt aufrecht zu halten, so hat er den Verlockungen nicht widerstehen können. Zu seiner Entschuldigung könnte er vorbringen, dass er und sein Dienst ja ohnehin schon längst überflüssig geworden sind. Leute, die bei der Pforte vorbeikommen, gibt es schon lange keine mehr, selbst der Kammerherr geht meist durch ein von der Pforte nicht einsehbares Nebenpförtchen ein und aus, und was die Verbindung nach außen angeht, so hat der alte Fürst selber dafür Sorge getragen, dass man das Schloss mit keinerlei Nachrichten mehr stört. Das einzige, was den Pförtner noch bedrückt und bekümmert, das ist, dass er es sich nicht zu verbieten vermag, auf die Uhr zu schauen, die groß über der Eingangstür zu seiner Loge tickt, um festzustellen, wie lange es noch dauert, bis er sich wieder schlafen legen darf, geht ihm doch nichts mehr über einen ruhigen und ungestörten Schlaf. Immer will er zwar wach bleiben und den Dienst versehen, doch die Zeit und er gehen getrennte Wege. Kaum nämlich hat er sich vorgenommen, dem Fürsten ein verlässlicher Diener zu sein, steht auch schon die Verlockung vor ihm, sich dem Schlaf hinzugeben, dass er auch schon nicht anders mehr kann. Und immer nur noch größer wird das Begehren nach Schlaf, dass der Blick auf die Uhr nur immer noch früher statthat. Zumal jetzt in der Sommerzeit, wäre ihm unmöglich, die Zeit auch nur bis zum Sonnenuntergang abzuwarten. Und so liegt er nun auf seinem Sofa im Hintergrund der Pförtnerloge, den Kopf auf die Armlehne gelegt, und weiß nicht, dass er schläft.

Der Fremde aber, ohne bei der Portiersloge vorbeizukommen, beinahe als wollte er auf den alten Mann Rücksicht nehmen, hat den Weg eingeschlagen, der hinter der Schlossmauer entlangführt. Nach einer Weile hält er inne, als hätte er sich verlaufen und müsste sich besinnen. Da aber kommt eben der Mond hinter einer Wolkenwand hervor, und nun öffnet sich auch schon die Mauer des einst so unüberwindbaren Schlosses. Hinter der Mauer befinden sich die Jäger, ein bedeutungslos gewordener Rest der einstigen Jägerschaft. Vielleicht aufgrund der früheren Verdienste, vielleicht aber auch nur, weil sie der Schlossherr übersehen hat, sind sie noch immer da und frönen ihrem eigenen Leben. Diesen Platz, den sie für den sichersten und ungestörtesten halten, haben sie sich ausgesucht für die nächtlichen Stunden. Umgeben von leeren Flaschen und Gläsern und den übrigen Hinterlassenschaften ihrer abendlichen Mahlzeit hat sie der Schlaf, wie gewöhnlich in der warmen Jahreszeit, bereits eingeholt. Und nun liegen sie da, an die Schlossmauer gelehnt, tiefzufrieden in ihrer Trunkenheit. Manch einer von ihnen hält noch eine Trinkflasche in der Hand, die er mit halboffenem Auge anstaunt, als träume ihm von einem Siegesfest mit Militärmusik und Siegesbräuten und Siegparaden, oder er ist mit einer Tierkeule beschäftigt, die noch nicht zu Ende genagt ist, als der Fremde quer durch die Mauern zu ihnen hereintritt.

Kurz darauf, ohne das leiseste Geräusch zu verursachen, steht der Fremde vor der Treppe, die zum Schloss führt, wo auch der Junge im Schlaf liegt. Über drei Stufen hinweg ausgestreckt ist er am Schlafen. Er hat sich hier niedergelassen, als ihn der Schlaf überkam. "Wo bin ich?" fragt er, nachdem der Fremde über ihn hinweggestiegen ist und er erwacht. Er hat vergessen, wie er hierher kam. Dann, als hätte ihn der Fremde gefragt, ob es hier zum Schloss geht, murmelt er vor sich hin, dass der Weg hier herauf zum Schloss führt. Erst als der Fremde vorbei ist, merkt er, dass er einen Fehler gemacht hat und versucht, sich zu korrigieren, ohne dass ihm eine Lüge gelingt. Was er zum Mund herausbringt, sind wiederum nur leise, unverständliche Geräusche. Endlich, nachdem er bereits zwei, drei Schritte die Treppe aufwärts getan hat, hält er inne und setzt sich nieder. Den schweren Kinderkopf auf die Hand gestützt sagt ihm sein Verstand, dass es besser ist, hier abzuwarten als weiterzugehen.

Unterdessen hat der Fremde das obere Ende der Treppe erreicht. Ein paar Meter trennen ihn noch von der Wache. Die Männer dort haben zwar etwas vernommen, wollen sich aber bei ihren Spielen nicht stören lassen. Ohne sonst einer Lichtquelle zu bedürfen, spielen sie im Schein des Mondes. "Es ist nichts. Was sollte auch sein!" sagt einer von ihnen. "Hier ist nichts mehr zu holen", sagt ein anderer, der eben ein Spiel mit einem fetten Stich beendet, als wäre das ein ausreichender Grund, mit keiner Störung rechnen zu müssen. "Es wird der Junge sein, der keinen Schlaf findet", sagt ein Dritter, während er die Spielkarten neu mischt, und erinnert seine Kameraden mit spaßhaften Mundwinkeln an die Ordre, den eingenommenen Platz nur im Notfall zu verlassen.

Kaum aber haben sie das Spiel wieder aufgenommen, da steht auch schon der Fremde vor ihnen. Er scheint unschlüssig zu sein oder vielleicht auch nur Unschlüssigkeit vorzutäuschen, wie er vor ihnen anhält.

"Parole!" meldet sich jetzt meldet sich der Kommandant zu Wort, ohne es aber mit der nötigen Befehlsgewalt zu sagen. Er trägt noch immer die gräflichen Silberstreifen auf seiner Hose und die Orden und Ehrenzeichen, die ihn als Kommandanten ausweisen; überrascht wie er ist, wäre er aber froh, wenn es jetzt nur gälte, ein Gespenst zu verscheuchen. Im Übrigen, denkt er, ist es das Klügste, abzuwarten, was weiter geschieht. Ein Feind, den man nicht auf Abstand bringen kann, ist nur schwer zu bekämpfen.

Ohne eine Antwort zu geben oder sonst sich aufhalten zu lassen, ist der Fremde auch hier weitergegangen. Den Kiesweg hat er jetzt überquert und setzt mit einem Sprung über die Blumenrabatte hinüber zur Schlosswand. Und während er am Spaliergeländer emporklettert, das mit seinem Weinlaub um das erhellte Fenster herum ein paar leuchtend rote Farben preisgibt, beinahe als flöge er wie ein Vöglein empor, hält der Kommandant die Zeit zum Einsatz für gekommen. "Feuer!" ruft er. "Feuer" Feuer!" Die Männer um ihn ergreifen ihre Gewehre und beginnen auf den Fremden zu schießen; doch es ist umsonst. Wie viel Kugeln sie auch abfeuern, den Fremden trifft keine. Stattdessen erscheint er jetzt oben vor dem Fenster, das er mit einem leichten Druck aufstößt. Nur der Vollmond scheint noch immer tief aus dem Süden, während der Fremde ins Zimmer eindringt.

Was weiter geschehen ist, ist nur schwer zu sagen. Zuerst muss ein Schlag den Kammerherrn getroffen haben, der den Fremden vermutlich hat aufhalten wollen. Denn man fand ihn am Morgen in der Nähe des Fensters in seinem Blut. Auch aus dem Mund des Fürsten ist keine Aussage mehr zu erhalten. Manche der Wachtposten, die sich nahe beim Schloss befanden, glauben, noch den Schatten des Fremden gesehen zu haben, wie er sich auf den Schlossherrn geworfen und ihn erdrückt hat. Auch von einem Schluchzen und von einem Aufschrei ist die Rede, was aber mit dem Gesicht des Fürsten, auf dem sich die Spuren eines spöttischen Gelächters erhalten zu haben scheinen, nicht recht übereinstimmt. Es sieht eher so aus, als hätte ihm der Kammerherr noch eine heitere Geschichte mit bösem Ausgang erzählt und der Fürst hätte noch sagen wollen: "Müssen wir uns deshalb grämen? Jeder Tag hat die ihm zugehörige Nacht. Deshalb muss alles so kommen, wie es kommt."

Aus dem Protokoll des Kommandanten weiß jedermann, dass er, der Kommandant, es war, der das Feuer auf den Fremden eröffnet hat und dass dann auch sämtliche Wachthabenden ihre Schüsse abgegeben haben, allerdings nur mit dem Erfolg, dass sie die Schlosswand durchlöchert haben. Das war zu dem Zeitpunkt, als der Fremde am Spalier der Schlosswand emporgestiegen. Ob das Licht der Stehlampe, unter der der Kammerherr beim Lesen gesessen hat, in diesem Zusammenhang erloschen ist, wie auch auf die Frage, ob der Fürst zuvor schon beim Vorlesen eingeschlafen ist und er im Schlaf den Tod gefunden hat, weiß keiner zu sagen. Erst wie die Munition aufgebraucht und der letzte Schuss verhallt ist, eilt der Kommandant in Begleitung seiner Männer ins Schloss. Nachdem er dort den Fürsten und den Kammerherrn tot aufgefunden hat, sagt er "Er war es!" und nickt nachdenklich mit dem Kopf. Dann macht er sich daran, sämtliche Türen und Fenster zu verschließen, um wenigstens für den Rest der Nacht noch etwas Ruhe zu haben.

 

5. Eine Übersetzung

"Cha-jil ra-ul, ra-ul, ra-ul" so hieß der Satz, den mir die Kommission zur Übersetzung vorgelegt hatte. Wie viel auch von einer guten Übersetzung für mich abhing und ich meinem Lehrer zu Liebe gerne geglänzt hätte, so vermocht ich´s doch nicht. Wie von einem Rollsiegel gedruckt starrten mich die Wörter an, ohne dass ich ihnen hätte einen Sinn abgewinnen können. Meinem Lehrer indes, er stand dicht bei mir, schien nichts klarer, als dass ich den Satz mit Leichtigkeit in ein gutes Deutsch übertrüge.

Ja, als hätt ich den Sinn des Satzes längst verstanden, stand er neben mir, ihn wie die Hebamme ein neugeborenes Kindlein von mir entgegenzunehmen und ihn den Herren im Hintergrund zu präsentieren. Ich indessen, von den immer gleichen Keilschriftzeichen verwirrt, brütete noch immer über der Übersetzung, ohne einen Einstieg zu finden. Mir war, als müsste ich vor Scham versinken, zumal da sich nun herausstellte, wie sehr sich mein Lehrer in mir getäuscht hatte. Der aber ließ sich dadurch nicht stören. Auch als einige der Herren im Hintergrund erste Zeichen gaben, die Prüfung für beendet anzusehen, vermochte ihn das nicht aus der Ruhe zu bringen. Vielmehr, mir in aller Ruhe die Hand auf die Schulter legend, fragte er mich, ob mir denn Wörter des Textes unbekannt seien. Froh über seine Frage - war nun doch wenigstens die unheimliche Stille durchbrochen, in der ich gesessen - erwiderte ich, dass "Cha-jil" die Kraft heiße. Was aber "ra-ul" heiße, wisse ich nicht. - "Und dann steht dieses "ra-ul" auch gleich dreimal da", fügte ich noch hinzu.

Den letzten Satz hatte ich nur leise und nur wie zu mir selber gesprochen. Meinem Lehrer aber war er nicht entgangen. Er hatte auch gleich eine Antwort darauf. "Gibt es etwas, was leichter und schneller zu begreifen wäre", sagte er, "als ein Satz, gebildet aus zwei Wörtern, wovon ein Wort dreimal vorkommt?", glücklich als hätte ich bereits alles mir nur Mögliche geleistet. Ob er mir auch den Satz von den Lippen zu saugen versuchte, so vermochte er doch nicht, die Stummheit von mir zu nehmen. Stattdessen mehrten sich die Stimmen von hinten. Die Prüfung, wie ich wohl merkte, stand jetzt auf des Messers Schneide. "Hier liegt ja das Problem", nahm mein Lehrer abermals das Wort, unbeirrt um die immer lauter werdenden Einsprüche. "Wie haben wir es vereinbart", fragte er, als wären wir allein und hätten Zeit in Hülle und Fülle. "Wie haben wir es vereinbart, wenn wir ein Wort nicht in seinem vollen Bedeutungsumfang kennen? Sagten wir nicht, dass wir uns dann im Wörterbuch umzusehen haben?" - Erstaunt sah ich ihn an, weil man uns eingeschärft hatte, dass bei der Prüfung kein Wörterbuch gebraucht werden dürfe. Seelenruhig, ja fast ein wenig schalkhaft sah er mich an. Da fasste ich Vertrauen, nickte mit dem Kopf und nahm das Wörterbuch zur Hand. Als ich das Buch aufgeschlagen hatte, fand ich neben dem Wort "Ra-ul" das Bildnis eines Tieres. In seinem von wilden Haarzotteln umhüllten Leib erinnerte es mich an den Ur- und Stammvater aller Hunde und Wölfe. Der Kopf mit den gespitzten Ohren, vor allem aber die hervorstechenden, von blutroten Flecken unterlaufenen Augen zeigten eine Gespanntheit, als hätte er sein Opfer schon ausfindig gemacht und wartete nur noch auf den nächstbesten Augenblick, über es herzufallen. Noch war ich mit dem Anschauen des Tieres beschäftigt, da traf mich abermals die Stimme meines Lehrers. "Wenn das Wort "ra-ul" dreimal vorkommt", sagte er, "so wird es kaum dreimal in ein und derselben Bedeutung vorkommen. Wir werden also gut daran tun, uns nach weiteren Bedeutungen umzutun!" Als ich im Wörterbuch weiterblätterte, fand ich abermals das Wort. Diesmal aber war neben dem Wort ein Mensch zu sehen, mit dichtbehaartem Oberkörper, wie sie vor Jahrhunderttausenden ausgesehen haben mögen. Das Gesicht nach vorn gebeugt, als wäre er dabei, den Gang auf zwei Beinen zu versuchen, war zu befürchten, dass er gleich wieder zu Boden müsste. Der Unterschied zum vorigen Bild war nur gering. Ein Mensch, dachte ich bei mir, und zugleich ein Hund? Als ich aber noch einmal weiterblätterte, fand ich neben demselben Wort wiederum ein solches Zwitterwesen. Es hatte eben einen Artgenossen gepackt und war dabei, diesem die Kehle zu durchbeißen. Die Kiefer hatte es schon so weit aufgerissen, dass es sich blind gemacht hatte gegen jedes Erbarmen. Jetzt begann mir zu dämmern, was der Satz zur Aussage bringen wollte. Dass nämlich Macht und Überlegenheit gefährliche Mittel sind, wenn man sich von ihnen hinreißen lässt. Der Lehrer aber, der sah, wie mich die Einsicht überkommen, er stand ja bei mir: "O ihr Töchter des Himmels, du Erkenntnis stiftende Eileithyia!" rief er jetzt aus und ein Schimmer der Entspannung umglänzte seine Augen. "Was zögerst du noch? Sag uns nun also deine Übersetzung!" Und so sagte ich denn, als ob ich nie daran gezweifelt hätte, dass es mir gelänge, die Wahrheit zum Vorschein zu bringen: "Gewalttätig wie ein Hund ist ein Mensch, wenn er nicht auf Herrschaft zu verzichten vermag."

 

6. Das letzte Schaf

Weil die späten Herbsttage noch so schön gewesen waren, hätten die beiden Schäfer gezögert, den Almabtrieb zeitiger zu besorgen: so hatte ich anfangs noch geglaubt. Als ich sie aber auch gegen Ende des Jahres noch sah, wie sie sich noch immer hoch droben im Gebirge aufhielten, überkamen mich Zweifel. Endlich aber war ich ärgerlich darüber, wie man nur so leichtsinnig mit dem Leben zu spielen vermochte, sowohl mit dem eigenen, wie auch mit dem Leben der Tiere, dass mir nichts anderes mehr im Sinn lag, als sie da droben im Blick zu behalten, bis es zur Katastrophe käme. Und zur Katastrophe musste es ja kommen. Jedermann konnte ja sehen, wie der Winter bereits mit seinem Eis und seinem Schnee die obersten Regionen im Griff hatte. Es war nur noch eine Frage von Stunden, bis wann der Dämon der Vernichtung auf sie aufmerksam würde, um sie dann in den Abgrund zu fegen.

Noch stand ich am Fenster, da sah ich auch schon, wie sich eine erste Lawine vom Gipfel löste und sich Bahn brach. Sogleich gesellte sich eine zweite hinzu, die sich wiederum verzweigte; und alsbald schon rollten über die oberen Schneefelder wie auch über die Berghalden darunter ungezählte Lawinen hernieder, begleitet von Massen aufgewirbelten Schnees, einem jeden bedeutend, dass es ratsam war, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Das schienen nun auch die beiden Schäfer zu begreifen. Indes zu spät! Da nämlich die Lawinen in Richtung des steilsten Gefälles herabkamen, die Schäfer aber aus Rücksicht auf ihre Tiere umständliche und weitläufige Wege einzuschlagen hatten, so war leicht abzusehen, dass sie das Unheil bald schon einholen musste. Eben waren sie dabei, ihre Tiere seitwärts in eine Schlucht hinab zu treiben, als es nun auch im Tal zu schneien begann. In einem einzigen Augenblick waren neben den Schäfern und ihren Tieren jede Spur und jeder Fleck Erde und jeder Gegenstand verschwunden und nichts weiter mehr war zu sehen als eine unendliche Masse von weißem Staub. Dazu brausten die immer näher kommenden Lawinen immer lauter heran, dass es mich unwillkürlich nach draußen zog, den Schäfern zu helfen.

Gefeit gegen alle Widrigkeiten des Wetters und gleichsam ausgerüstet mit den Siebenmeilenstiefeln eines Träumers, befand ich mich eben noch hinter dem sicheren Fenster, um mich im nächsten Augenblick in unmittelbarer Nähe der Schäfer und ihrer Schafe zu befinden. Zwar sah ich sie noch nicht, hörte aber bereits ihren Atem wie auch das Geläute der Herdentiere, als ich ihnen zurief, sie möchten sich endlich in Sicherheit bringen, sonst sei es zu spät.

Einer der beiden Schäfer aber, der etwas von meinem Unmut herausgehört haben mochte, rief mir entgegen, indem er das uns trennenden und unsichtbar machende Schneegestöber wie einen Vorhang bei Seite schob, sie würden nie früher von da droben herabgehen, als bis sich die ersten Lawinen losgelöst hätten. Wenn ihnen aber einmal eine Lawine zu nahe käme und sie keine Zeit mehr hätten, zu einem sicheren Unterstand zu gelangen, so würden sie sich einfach mit den Tieren gegen den Berg drängen; dann würden die Lawinen über sie hinweg donnern, ohne sonst einen Schaden anzurichten.

Kaum hatte er das gesagt, da brauste auch schon die erste Lawine über sie hinweg, der dann noch weitere folgten. Als alles vorbei war, eilte ich hinzu, um nachzusehen, was von den Schäfern und ihren Schafen übrig geblieben war. Ich war nicht wenig erstaunt, als ich sah, dass die Schäfer und die Schafe die Katastrophe unbeschädigt überstanden hatten. Ein kleiner Felsvorsprung hatte ihnen genügt. Niemanden, so schien es, hatte auch nur ein Stäubchen getroffen. Als ich jetzt die Tiere zählte, fehlte eines. Der Schäfer aber, während er schon wieder dabei war, den weiteren Abstieg zu besorgen, ersparte mir jede Frage. Mich beiseite nehmend raunte er mir ins Ohr: "Habe ich es denn nicht gesagt! Das ist das Gesetz! Eines trifft es immer!"

 

7. Mit dem neugewählten Dogen

Wohin wir kamen, überall waren die Leute von der ausgesuchtesten Höflichkeit: nicht nur die Beamten der Republik, die strengen Wächter der Gesetze, auch das Heer der vielen Händler, die, wenn sie ansonsten auch für klug vorausschauend galten und ihren Profit zu berechnen verstanden, sich heute in Gunstbeweisen und Freundlichkeitsbezeigungen nur so überboten, und zwar nicht nur solchen Personen gegenüber, die sie als gut betucht kannten, sondern gegen jedermann. Einem jeden, ohne Ansehen der Person, zeigten sie nicht nur die Erzeugnisse und Produkte der einheimischen Provinzen; wer immer zu ihnen hintrat, dem gaben sie von allem nicht nur Proben zum Kosten, sie gaben ihm auch mancherlei Proben mit nach Hause und freuten sich, wenn er ihre Gaben entgegennahm, als erweise er ihnen damit einen großen Gefallen.

Seltene Früchte und edle Weine aus Venetien und der anliegenden Lombardei wie auch Besonderheiten des Meeres wurden da immer wieder kostenlos überreicht. Ja nicht selten kam es vor, dass große Kaufherren einen der Kleinen herbeiriefen, der es nie gewagt hätte, sich in ihre Nähe zu begeben, ihm ein Geschenk zu überreichen, so dass er noch am selben Tag Besitzer war von kostbaren Stoffen aus Arabien oder auch von Steinen aus dem fernen Indien, von denen er zuvor vielleicht noch nie einen gesehen. Aber auch die ganz Armen, die heute am Straßenrand standen und etwas feilboten, hatten Glück, indem man ihnen für ihre ärmlichen Waren nicht selten ein Vielfaches gab, als was sie sonst dafür einzuheimsen vermochten.

Der Gondoliere, in dessen Boot ich mitfuhr, ein Mann, gekleidet nach Art der gewöhnlichen Fischer, machte mich darauf aufmerksam, dass an einem solchen Tag, an dem der neugewählte Doge sein Amt übernehmen sollte, schon oft Geschäfte abgeschlossen worden, die dann über Jahrzehnte hinweg Bestand gehabt hätten. Denn wenn der Doge jetzt auch streng inkognito daherkomme, so wüssten doch alle, dass er einer unter den vielen sei. Unter jedem noch so schlecht geflickten Kittel könne er stecken, in jedem noch so kleinen und armseligen Boot einherfahren und jeden noch so bescheidenen Halteplatz ansteuern. Ja, es sei schon vorgekommen, so erzählte er ferner, dass ein neugewählter Doge als Reisender verkleidet sich am Rialto eingefunden und sich die vorbeifahrenden Gondeln einen lieben langen Tag angeschaut habe, als sehe er zum ersten Mal das Treiben auf dem Canal grande.

Unterdessen waren wir in unserem Boot in die Nähe des Dogenpalastes gekommen. Gemächlich fuhren wir an ihm vorbei, vorbei an seinen Bogengängen und der darüber hinlaufenden Loggia, vorbei an dem Fenster, von dem aus der neugewählte Doge der vom Meer umkränzten Stadt seinen ersten Gruß zurufen würde, vorbei am Campanile, wobei wir nicht vergaßen, von jedem der vielen Armen etwas zu uns zu nehmen, was freilich öfters einiger Anstrengungen bedurfte. Denn mit Karren und Wagen, mit Lasten und Maultieren, zu Pferd und zu Fuß, an Land und auf Schiffen hatten sie sich eingefunden, dass ein Durchkommen kaum mehr möglich war, ganz zu schweigen von der viel zu kleinen Ladefläche, die unser Schiff für all die Erzeugnisse bot. Keiner aber war da, den mein Begleiter übersehen und dessen Waren er nicht versucht und gewürdigt hätte. Selbst auch die Kinder, die ein paar Blumen feilboten, nahm er wahr, ebenso wie die alten Mütterchen, denen er seine Aufwartung machte. Oft war es nur ein Stück Obst aus dem eigenen Gärtchen, das sie anzubieten hatten, doch er nahm es entgegen, als käme es just aus dem Garten der Hesperiden. Ja, es war erstaunlich, wie leicht es diesem Mann fiel, alles mit der gebührenden Kennerschaft herauszustellen und einem jeden, neben dem still zugesteckten Silberstück, auch noch ein freundliches Wort zu sagen.

Endlich - der Tag ging schon zur Neige - entzogen wir uns dem Gedränge. Und während der Lärm der Menge in der Ferne verebbte, wurde es immer enger und schattiger um uns herum. Als wir abermals in einen Seitenkanal einbogen, tauchte vor uns ein Palazzo auf, der sich von den ihm umgebenden Häusern aufs Prächtigste hervorhob. Nicht nur dass er sich von den im Dunkel liegenden Nachbargebäuden wie eine Sonne in der Nacht hervorhob. Seine in maurischem Maßwerk gestaltete, von einer Menge von Fackeln erhellte Fassade schien sich auf das dunkle Wasser hinaus zu lehnen, als hätte sie den Besitzer entdeckt und eilte ihm entgegen. Und die elektrischen Lichter des Hauses wurden gezündet und allerlei Herrschaften und Bedienstete beeilten sich, beim Wasser zu erscheinen: die einen, um einen Teppich die Treppenstufen hinunter zu entrollen, andere, um dem Boot beim Anfahren behilflich zu sein, wieder andere, um uns mit protokollarischem Anstand zu empfangen. An den Fenstern aber sah ich Diener auftauchen und Dienerinnen, allesamt in Prunkgewändern, ausgerichtet auf den Mann in unserem Boot. Und als nun auch noch ein paar junge Leute, Sprösslinge der Edlen der Stadt, damit begannen, ihm mit einem Flötenständchen beim Aussteigen aufzuwarten, es waren nur noch wenige Meter bis zur Lände, da wusste ich endlich, dass es der neugewählte Doge war, in dessen Boot ich den heutigen Tag verbracht hatte. Der aber, ohne sich um das Treiben zu bekümmern, hatte das Steuerruder längst bei Seite gelegt und im Boot Platz genommen, wo er bedächtig die eine und andere Frucht probierte. Dabei war es, als stünden ihm alle die vielen Leute leibhaftig vor Augen, die in den nun kommenden Jahren seinem Schutz anvertraut waren und von denen er keinen vergäße.

 

8. Der Mond im Griff

Viele Menschen hatten sich auf dem Platz versammelt, Theoretiker und Experimentalphysiker, Techniker und Ingenieure, neben all den anderen, die noch an dem Projekt mitgearbeitet hatten, noch mehr aber die Schaulustigen, die sich von überall her eingefunden hatten, um an diesem wahrhaft historischen Tag mit dabei zu sein. Nichts Geringeres nämlich stand eben jetzt auf dem Programm als der Versuch, den Mond in den Griff zu nehmen und ihn in Richtung auf die Erde zu zwingen, um dabei an die frei werdende Energie zu gelangen. Zu diesem Zweck hatte man mehrere Verankerungen im Mondboden wie auch auf der Erde angebracht und Seile hindurchgezogen, die man nun mittels mächtiger Motoren anzog. Von frei werdender Energie war in diesem Stadium freilich noch nicht die Rede. Im Gegenteil. Man hatte es vorausberechnet und wusste es ja, was die Motoren zu leisten hatten, jeden Meter an die Erde heran. Dass man es aber mit einem solchen Widerstand zu tun bekäme, wie sich jetzt zeigte, damit hatte niemand gerechnet. Ohrenbetäubend war der Lärm, kolossal die Erschütterungen, die sich am Ort der Verankerungen abzeichneten, unübersehbar die Veränderungen an den Seilen, die wie bloßgelegte Nervenstränge zu zittern begannen. Vor allem aber war der Mond nicht wiederzuerkennen. War er bis dahin als stiller Gefährte am silberglänzenden Nachthimmel bekannt, so erinnerte er jetzt, während er nur immer schneller über den Himmel hin raste, an ein aufgestacheltes, wilderregtes Tier, das vor nichts mehr zurückschreckt.

Keiner sprach mehr ein Wort. Ein jeder schaute jetzt nur noch mit bangem Blick empor, was weiter geschähe. Plötzlich aber, wie in einem Augenblick der Besinnung, die Motoren waren eben dabei, in den härtesten Gang umzuschalten, wurde ein allgemeines Rufen und Schreien laut, das dem Leiter des Unternehmens galt. Eben nämlich war er am Fenster seiner Beobachtungsstation, einer provisorisch gebauten Blockhütte, erschienen, um die Vorgänge nach dem Umschalten zu verfolgen, als ihn die Schreie erreichten. "Der Versuch ist eine Versuchung!" schrien sie durcheinander und riefen ihn nach draußen.

Ein paar Augenblicke später sah man ihn dann auch nach draußen kommen: einen lange aufgeschossenen, jungen Intellektuellen mit bleichem Gesicht. Gewohnt, bei Tag und Nacht sich hinter seinen Arbeiten zu verstecken, schien er jedoch weder ihre Rufe zu hören, noch auch die gehässigen Blicke zu verstehen, mit denen man ihn bedachte. In seiner Hütte hatte er eben noch einmal alle Berechnungen überflogen, bis auf eine allerletzte Gleichung, von der alles abhing. Noch immer aber vermochte er nicht zu sagen, ob er mit ihr zu rechnen hatte oder ob sie für den Versuch bedeutungslos war. Ahnungslos, was die Menge anging, die in panischer Angst zu ihm hinsah, allein in der Hoffnung, dass sich endlich der Erfolg zeigte, war er bereits einige Treppenstufen hinabstiegen, seine Leute, die am unteren Ende der Treppe standen, zum Messen auszuschicken: als er sie wahrnahm, ausgerüstet mit Stöcken und Stäben, wie sie sie in der Eile hatten zusammenraffen können, bereit, sich zur Wehr zu setzen, wer immer ihnen in feindlicher Absicht zu nahe käme. Das aber galt nicht nur den Zuschauern, von denen jetzt einige Anstalten machten, die Kommandozentrale zu erstürmen, es galt, wie er jetzt sah, auch ihm selber, dem Gefolgschaft zu leisten sie nicht länger willens waren.

Einer von diesen nahm nun auch das Wort und schrie ihm entgegen: "Auf was für ein Projekt haben wir uns eingelassen, mit was für Mächten uns angelegt? Jedes Kind sieht doch, dass wir inzwischen nichts weiter erreichen, als dass sich der Mond nur noch schneller dreht. Und nun sollen wir Energie bekommen? Wie denn? Woher denn? Wo wir die Wärme nicht umzuwandeln vermögen, werden wir nicht einmal die Energie, die wir in den Versuch hineingesteckt haben, wieder herausbekommen. Was aber können wir tun? Wie uns mit heiler Haut aus dem Schlamassel herausziehen? Denn stellt man die Motoren ab, so werden die Seile reißen und der Mond wird nach außen treiben, dass wir froh sein können, wenn es uns nicht auch noch ans andere Weltende hinaus treibt."

Auch ein älterer Mann hatte sich unterdessen herangedrängt. Er war als Platzwart angestellt, eine gutmütige Natur, der jetzt auf den Leiter zueilte und sich ihm zu Füßen warf. Und die Augen demütig zu ihm erhebend streckte er die Arme aus und begann, nach dem Messer zu tasten, das der junge Mann unter seinem Mantel verborgen trug.

In diesem Augenblick aber drang es wie ein Schrei aus der Kehle der Menge: "Feuer! Feuer!" Inzwischen nämlich hatte sich eines der Seile so heiß gerieben, dass es in Flammen stand. Oben am Himmel, wo man den Mond aufgeknüpft hatte, war das Feuer ausgebrochen, das nun, hellleuchtend wie ein brennender Komet, sich zur Erde herab fraß. Es war jetzt nur noch eine Frage von wenigen Sekunden, wann auch die Erde in Flammen stünde.

Jetzt endlich schien der Versuchsleiter die Situation zu begreifen. Und hatten seine Arme zuvor noch schlaff herabgehangen, so riss er sich jetzt das Messer von der Seite, eilte auf die Seile zu und kappte sie. Die Erde aber brüllte auf und tat einen Ruck. Und während es die Leute in die Höhe schleuderte, stiebte der Mond, erzürnt über die ihm zugefügte Tortur, ins All davon.

 

9. Ramses

Tief versteckt liegt der Tote, ausgerüstet mit allem, was erforderlich ist für die Fahrt durch die kommenden Jahrmillionen. Damit er aber nicht merkt, dass man ihn aus seinem alten Grab weggeschafft und ins Museum gebracht und dort in eine Kammer eingesperrt hat, weil man bislang noch keinen geeigneten Ausstellungsraum für ihn gefunden hat, bleibt der Ort für die Öffentlichkeit streng geheim. Kein Führer erwähnt die Kammer, kein Wegweiser verweist auf sie, keinen Besucher gibt es, der um der Geheimnisse dieser Kammer willen hergekommen wäre. Kaum einer weiß, dass es eine solche Kammer überhaupt gibt, bis auf den Direktor des Museums, der aber von seinem Wissen vorläufig nicht den mindesten Gebrauch macht, selbst auch dann nicht, wenn er nur von ferne und summarisch von den Kostbarkeiten und den Schätzen seines Museums spricht. Und auch dem Jungen des Direktors wäre das Versteck verborgen geblieben, hätte er nicht schon von klein auf den dringenden Wunsch verspürt, einmal einem der uralten Toten zu begegnen und ihn über seine Fahrt durch die Gewässer des Todes zu befragen. Ja, schon in der frühesten Kindheit hatte sich der Junge darum bemüht, das Leben der Toten zu ergründen, und manch eine Nacht war ihm darüber vergangen, ohne dass er einen Weg in den Schlaf gefunden hätte. Wann immer er die Gelegenheit gehabt hatte, mit Erwachsenen eine Unterhaltung aufzunehmen, hatte er versucht, das Gespräch zu diesem Thema hinüber zu lenken, hatte sich dabei aber nie etwas anderes als ein Kopfschütteln oder bestenfalls ein nachsichtiges Lächeln eingehandelt. Selbst auch mit dem Direktor des Museums, seinem eigenen Vater, hatte sich eine solche Unterhaltung ergeben, dass sie den Sohn zufrieden gestellt hätte. Morgens beim Frühstück, wäre allenfalls etwas Zeit gewesen für eine Unterhaltung. Da aber musste der Vater die Zeitung lesen. Und so kam es nur dann zu einem Stück einer Unterhaltung, wenn der Vater ihn etwas gefragt hatte, was ins Gebiet der Altertumswissenschaften gehörte. Doch selbst diese Stücke waren, wie gesagt, durch die Zeit für die Zeitung begrenzt. Einmal, als ihm der Vater einen neuen Fund, der in der Zeitung abgebildet war zeigte, ein Bild das Osiris als Totenrichter zeigte, und der Junge auf den Glauben der toten Könige an einer Teilnahme der Fahrten in der Sonnenbarke zu sprechen zu kommen suchte, sagte der Vater, das alles seien nur Märchen, wenn auch schöne, imponierende, ohne dass er dabei nötig gehabt hätte, die Zeitung beiseite zu legen. Die Leute von damals hätten es eben noch nicht besser gewusst. Heute wüssten wir, dass mit dem Tod alles vorbei sei!

Unter solchen Umständen verwundert es nicht, dass das Verhältnis des Jungen nicht nur zu seiner Umwelt, sondern auch zu seinem Vater sich nicht gut entwickelte. Da nützte es auch nichts, wenn der Vater den Sohn vor hochrangigen Besuchern immer einmal wieder als künftigen Spezialisten und Archäologen rühmend hervorhob, um dann den Beweis zu liefern, indem er ihn nach den Namen der ersten Erbauer der Pyramiden fragte oder nach den Ausmaßen der Pyramiden oder mit was für Mitteln und Werkzeugen sie damals zu Werk gegangen. Mitunter fragte er ihn auch nach den Bestattungsriten und was für Schmucksachen und Amulette man den Königen mit ins Grab gegeben, was der Sohn alles aufs Beste zu beantworten wusste: "Ist es nicht jammerschade", pflegte der Vater dann die kleine Befragung mit einem Augenzwinkern zusammen zu fassen, "ist es nicht jammerschade, dass ich mit meinem Sohn ein paar tausend Jahre zu spät auf die Welt gekommen! Sonst fürwahr wäre sein Lebensweg bereits auf Schönste festgelegt. Als einem hochtalentierten Baumeister oder als königlichem Balsamierer würde ihm ansonsten nichts im Wege stehen."

Eines Tages vollends, als ein Besucher den Vater, wenn auch nur im Spaß, zum Geständnis gebracht hatte, dass die Projekte jener Pharaonen, sich Pyramiden als Denkmäler für immer zu errichten, aus nichts als eitler Selbstüberschätzung und krankhaftem Vergöttlichungswahn hervorgegangen seien, erkannte der Sohn, dass er von nun an seinen eigenen Weg zu gehen hätte. Das war für den Jungen zu viel. Immerhin, so dachte er bei sich, waren die Pharaonen ja doch einmal die Lieblinge der Götter gewesen. Was den Göttern heilig gewesen war und gefällig, dem waren sie Zeit Lebens nachgegangen, um sich nach Beendigung ihrer Lebensreise ins himmlische All hinübertragen zu lassen, wo sie für immer bei ihren Göttern weilten. Indessen gab der Junge gut Acht, niemandem etwas von der Welt zu verraten, die in ihm von Tag zu Tag mächtiger erstand: weder durch ein bedeutendes Wort, noch auch durch ein Fragen hervorrufendes Schweigen. Nur die Tatsache, dass er von nun an immer bleicher in Erscheinung trat, den Blick tief nach innen gekehrt, ein Asket und Träumer im zartesten Alter, hätte sich für den Jungen ungünstig auswirken können, hätte er sich nicht den Blicken der Welt entzogen, um fortan meist in seinem Studierzimmer zu verweilen, wo er sich in seinen Schreibheften mit sich selber austauschte. Und doch wär auch das kaum nötig gewesen, gab es doch niemanden, weder einen Freund noch einen Lehrer, der die Veränderung wahrgenommen hätte. Ja, auch auf alle die Annehmlichkeiten des Lebens zuhause hätte der Junge gern verzichtet, wäre er dafür nur den Toten ein Stück näher gekommen. Und hatte er zuvor schon die meiste Zeit auf die Lektüre verwandt, so tat er dies jetzt nur noch mehr - längst war er ja vertraut mit den Anfangsgründen der Schrift und der Sprache der alten Ägypter -, sodass er, wenn er nicht las, über das Gelesene nachdachte. Vor allem aber galten seine Forschungen der Frage, wo das Reich des Todes und des ewigen Lebens zu finden wären und wie er dorthin zu gelangen vermöchte.

Eines Abends nun, als sich der Junge noch in den Hallen des Museums aufgehalten, hatte man ihn unbemerkt für die Nacht mit eingesperrt. Der Junge hatte eine Hymne auf den Sonnengott auf einem Sarkophag entdeckt, die er, unerachtet der vorgerückten Stunde, noch in sein Notizbuch hatte eingetragen wollen. Als er sich dann aber als eingesperrt entdeckt hatte, war er, statt darüber unruhig zu werden oder gar zu verzweifeln, auf seine Weise tätig und darüber hinaus noch fündig geworden. Ramses hat er entdeckt, wie er es in seinem Notizbuch festgehalten hat. Seit der Zeit begibt er sich Abend für Abend ins Tal der Könige, zu Ramses, um sich mit ihm zu unterhalten!

Sobald die letzten Besucher das Museum verlassen haben, macht sich der Junge auf den Weg. Versteht sich, dass er dabei gut darauf achtet, von niemandem bemerkt zu werden. Doch der Weg ist nicht weit. Von seinem Studierzimmer aus sind es ein paar Meter, die ihn zu einem vergessenen Seiteneingang führen, von wo aus er sich in das Museum einschleicht. Früher einmal hatte er zu Lagerräumen des Museums geführt; inzwischen aber liegt er abseits und unbenutzt. Dieser mit dichtem Buschwerk und Efeu umwucherte Teil des Museums gehört zu den Bauteilen, die bis zur Gründungszeit des Museums zurückführen und die längst schon zum Abbruch bestimmt sind. Sobald der Junge sicher ist, dass ihn niemand sieht, zieht er den Schlüssel hervor, den zu beschaffen ihm ein Leichtes gewesen, und huscht durch die Türe. Hat er dieselbe dann wieder hinter sich verschlossen, nimmt er die bei der Türe befindliche, lange schon vom Dienst suspendierte Lampe vom Haken und setzt sich in Bewegung.

Leise und langsam setzt er sich in Bewegung, sorgfältig darauf bedacht, auch weiterhin von niemandem gesehen zu werden. Mitunter Für den Fall, dass er von einem der Hausmeister oder Museumsangestellten getroffen werden sollte, hat er sich als Antwort zurechtgelegt, er habe sein Notizbuch liegen lassen, das er unbedingt noch brauche, ehe er zu Bett gehe. Je länger er aber unterwegs ist, umso mehr verliert er alle Scheu und Angst vor einer Entdeckung, bis er endlich fast ungezwungen, in traumhafter Sicherheit dahin eilt. Die schnurgeraden langen Flure und die Korridore, die Treppen, die bald aufwärts, bald abwärts führen, die Wege entlang der großen Museumssäle, vorbei an Nischen und Kammern voller Registraturen und alter Unterlagen: alles geschieht fast wie im Flug. Und ob es die Nacht ist, die allmählich heranbricht und immer weniger Tageslicht in das Gebäude hinein lässt oder die spärlichen Fenster an den Decken, unbeirrt eilt er weiter, bis er in einem nicht weiter auffälligen Raum, einer Art Rumpelkammer für ausgedientes Mobiliar stehen bleibt. Ohne Rücksicht auf den bereits ausgeführten Weg und ohne sich eine Verschnaufpause zu gönnen, räumt er einen Stapel alter Teppiche zur Seite, zündet seine Lampe an, hebt sodann eine in den Boden eingelassene Falltür in die Höhe und steigt mittels einer Strickleiter in den darunter befindlichen Raum herunter.

Mit welcher Behutsamkeit der Junge die Leiter hinabsteigt, mit welcher Vorsicht und Umsicht er die Lampe an sich gedrückt hält, mit welcher Erwartung, ja neuerlichen Erregung er dem Toten entgegengeht, das ist unaussprechlich. Kaum steht er in der Leiter, da beginnt er auch schon zu flüstern: "Ramses, fürchte dich nicht, ich bin´s, ich bin wieder da!" Dabei versucht er seinem Sprechen immer wieder denselben leisen, melodisch-beruhigenden Klang zu verleihen, weiß er doch, dass jetzt alles darauf ankommt, den Toten nicht zu erschrecken, sondern als ein ihm Vertrauter zu erscheinen.

Hier übrigens wäre auf das bereits erwähnte Notizbuch zu verweisen, in welches der Junge alle für ihn bedeutsamen Ereignisse und Erkenntnisse einträgt. So finden sich dort über viele Tage hinweg Überlegungen, die sich mit nichts anderem befassen, als wie man einen Toten auf sich aufmerksam zu machen vermag. Aber nicht allein über die Stimmführung und über die dabei passenden Worte hat der Junge nachgedacht, auch über die Art und Weise der Sätze, etwa wie viel Fragen er ihm vorlegen kann, wie auch über die dabei zu berücksichtigenden Pausen. Keinesfalls darf er so mit ihm sprechen, dass der Tote das Kommen als eine nächtliche Störung auffassen könnte. Und das ist nicht leicht. Zumal nicht zu Beginn, wo man nicht wissen kann, ob nicht schon ein noch so leises Geflüster beim Toten einen panischen Schrecken auslöst. Dies ist eines der Ergebnisse seiner Überlegungen, dass er, will er den Toten aus dem Todesschlaf wecken und zu einem Gespräch bewegen, sich zwar mit sicherer, zugleich aber auch mit verhaltener Stimme an den Toten zu wenden hat, etwa mit der Stimme jener Wesire und Minister aus dem Gefolge des Pharao, die als vorbildlich in der Geschichte der Pharaonen bekannt sind. Dabei vergisst er nicht, mit einer sanften Bewegung der Lampe die Worte jeweils ins rechte Licht zu rücken. O wie viel hat der Junge nicht bereits über die Erweckung der Toten nachgedacht! Überall am Rand aber steht das Wort "Geduld!", womit er sich daran erinnert, dass das Schlimmste wäre, wenn er sich in Versuchung führen ließe, durch eine einzige Unachtsamkeit oder Ungeschicklichkeit alles zu verspielen. Schließlich weiß er nur zu genau, dass seinen Besuchen mit dem Anbruch des Morgens eine unüberschreitbare Grenze gesetzt ist. Weil aber nicht in einer einzigen Nacht alles erzwungen werden kann, so ist es im Zweifelsfall besser, in der nächsten Nacht dort weiterzumachen, bis wohin man gekommen, oder einen neuen Versuch zu starten. Wenn nun also auch oft viel Zeit verstreicht und mehr als die halbe Nacht vergeht, ohne dass der Tote eine Regung zeigt, so wird der Junge deshalb nicht ungeduldig. Bei der kleinsten Anwandlung von Unmut oder Ungeduld, so hat er es zum eigenen Gebrauch aufgeschrieben, mag er sich vergegenwärtigen, wie mühsam das Heraufsteigen aus dem Reich des Todes ist: dass es bald schwere Kämpfe gegen unsichtbare Widersacher, bald mühsame Umgehungen gewaltiger Hindernisse erforderlich macht und dass immer auch ihm als Helfer dabei eine große Rolle zukommt. Je größer und schwerer aber solche Arbeiten sind, umso größer ist auch das Verlangen des Toten nach Ruhe, umso unentbehrlicher und heilkräftiger auch der Balsam des Schlafs. Da wäre es schon ein Riesenerfolg, wenn sich auf dessen Gesicht auch nur die Spur einer Regung zeigte.

Noch immer aber hat der Junge kein einziges Wort von dem Toten gehört. Nichts, keine Bewegung, nicht einmal den kleinsten Wimpernschlag hat er mit seinem Kommen bewirkt. Und bildet er sich bisweilen auch ein, dass ihm ein Durchbruch gelungen, so erweist es sich schon bald, dass er nur einer Täuschung erlegen. Nur allzu leicht bilden wir uns ja ein, zu sehen, was wir nicht müde werden, zu sehen zu begehren, und sehen ja auch mit den Augen der Vorstellung. Das von den Jahrtausenden schwergezeichnete Gesicht des Toten, das der Junge freilich stets nur mit scheuen und flüchtigen Blicken streift, zeigt ihm dann aber letztendlich, wie weit er noch von einer Ankunft des Toten entfernt ist.

Trotz aller Misserfolge gibt der Junge nicht auf. Wie sollte er auch! Wo er sich nun einmal in den Kopf gesetzt hat zu Ramses vorzudringen, gibt es nichts, was ihn sonst noch in Beschlag nehmen könnte. Wie einer, der sich auf etwas besinnt, was er im Augenblick noch nicht hat, wovon er sich aber sicher ist, dass er seiner habhaft wird, wenn er sich nur geduldig darauf einlässt, ebenso denkt der Junge darüber nach, was ihm bei seinem kommenden, nächtlichen Besuch bevorsteht. Und wenn er dann später kleinsten Maßnahmen eine Bedeutung zumisst, um dem Toten Brücken bereitzustellen, so hat er sich das alles schon unzählige Male zu Hause zu Recht gelegt. Aber selbst die Möglichkeit eines Scheiterns hat der Junge schon im Voraus bedacht. Können ist das Eine. Ein anderes aber ist die Erkenntnis unserer Unwissenheit und Unfähigkeit. Wo wir mit unserer Unwissenheit und Unfähigkeit ans Unmögliche geraten ... Unvollendet hat er den letzten Satz stehen gelassen, um nur noch mit großen Buchstaben hinzuzufügen: "Still, Still!"

Mit einem Scheitern will der Junge nicht rechnen. Er lässt es nur zu als eine Möglichkeit, die indes für ihn nicht in Frage kommt. Vielmehr glaubt er zu wissen, dass es bei der Erweckung von den Toten ganz entscheidend auf das rechte Verhältnis zu dem Toten ankommt. Unwissenheit und Unfähigkeit verbindet er mithin mit dem Verfehlen des rechten Verhältnisses. Vornehmlich hat er sich klar gemacht, dass es nicht erlaubt ist, den Toten als ein Objekt zu betrachten; er glaubt aber auch zu wissen, dass eine gänzliche empathische Einfühlung oder gar Ineinssetzung mit dem Toten schädlich ist zum Erreich des gewünschten Zieles. Der Tote darf weder zu einem Objekt des Handelns werden, noch auch darf er im Monolog des Jungen aufgehen und seine Eigenständigkeit verlieren. In diesem Zusammenhang hat er auch darüber nachgedacht, wie er den Toten unmissverständlich anzusprechen hat. In einem ersten Versuch hat er sich seinem Schreibheft so anvertraut: "Heil dir, Ramses dem Großen! Heil dir, dass du auferstanden bist! Wärst du nicht auferstanden, so sehnte auch ich mich nicht nach einer Auferstehung. Nun aber habe ich in dir das Leben der Götter gefunden!" Als er so niedergeschrieben hatte, lehnte er es aber dann doch als zu intim ab. Später vielleicht, wenn sie sich gemeinsam zu unterhalten gelernt hätten, könnte er sich dem Toten gegenüber so äußern. In den Tagen der Annäherung aber hatte er sich strikt auf dem schmalen Pfad zwischen sachlichem Forscherblick und familiärer Anhänglichkeit hindurch zu bewegen. Und wenn sich herausstellte, dass er, der Junge, dem Forscherblick zu sehr nachgegeben hätte, dann musste er versuchen, den Toten augenblicks wieder durch Blicke der Entschuldigung und der Reue zu versöhnen. Ja, der Junge hat viel nachgedacht und alle die viele Arbeit hat sich gelohnt. Denn wenn auch längst noch von keiner Methode die Rede sein kann, mit dem Toten ins Gespräch zu treten, so war es doch ein ganz ungeheuerlicher Durchbruch, als er dem Toten die ersten Regungen und Bewegungen und bald darauf auch die ersten Worte zu entlocken vermochte.

In Betreff der Tage vor diesem entscheidenden Durchbruch lesen wir im Notizbuch des Jungen: "Bin ich drunten in der Kammer neben dem Toten angekommen und geht alles gut, so geschieht es, dass sich beim Schwenken der Lampe ein Spalt unter den Augenlidern auftut. Regelmäßig, wenn auch ruckartig, zusammen mit einem rhythmischen Gesäusel, das dem Satzklang des Buchfinken ähnelt, tut sich ein Spalt auf. Nur leider geschieht es dann meist ebenso regelmäßig, dass sich die Lider wieder verschließen, ohne dass sie in derselben Nacht noch einmal aufgehen. Hätte ich fortfahren sollen mit dem Schwenken der Lampe oder hätte ich, statt mich in die Nähe des Toten zu stellen, ihm mehr Freiraum lassen sollen? Dabei kommt doch alles darauf an, wenn erst einmal die Lider offenstehen, sie offen zu halten."

Ein paar Tage später heißt es dann: "Wenn ich auch noch immer nicht weiß, was ich tun soll und ob nicht alles Weitere eine unvorhersehbare Sache des Glücks ist, so achte ich jetzt auf das Licht, dass es nur wohldosiert und gedämpft das Gesicht des Toten überrieselt, ohne ihm dadurch freilich einen Rückfall in den monoton schläfrigen Zustand zu verschaffen. Dazu säusele oder singe ich ihm etwas vor, womit ich ihn aus seinem halberwachten Zustand herauszuholen versuche."

Endlich, an jenem Tag des ersten großen Erfolgs finden wir den Eintrag: "Und ich sprach zu ihm: "Ramses, Sohn des Re, ich bin es! Ich bin wieder da! Hörst du? Ich bin wieder da! Du wolltest doch auf mich warten!" Wie eine Mutter über ihrem Kind so sang und säuselte ich über ihm. Da plötzlich tat er den Mund auf und sagte: "Du kommst aber spät!" In der darauf folgenden Nacht geschah es dann, dass der Tote das zweite Mal seinen Mund auftat und sagte: "Heb das Licht weg; es blendet mich!"

Überglücklich darüber, dass er es geschafft hat, den Toten zum Sprechen zu bringen, sitzt der Junge die folgenden Tage in seinem Zimmer. Abgeschirmt von aller Welt sitzt er da, um über die Geschehnisse nachzusinnen und um sein weiteres Vorgehen zu bedenken. Selbstverständlich haben ihn die beiden Antworten nicht gestört, auch nicht die zweite, auch wenn sie ihm etwas Herbes und Abweisendes zu verstehen gegeben haben. Er weiß, dass der Tote nur aus Scham heraus so gesprochen hat, von der er ihn schon bald befreit haben will.

Indes, wenn es dem Jungen von nun an zwar auch fast in jeder Nacht gelingt, den Toten zu erwecken, so entwickeln sich die Fortschritte doch nicht in der von ihm erwünschten Weise. Je schneller und routinemäßiger die Erweckung von dannen geht, umso deutlicher machen sich Züge bemerkbar, die dem Jungen bedeuten, dass sich der Tote nicht wohl fühlt. Dies bleibt auch so, als der Junge die Zeit zur Erweckung wieder zu verlängern sucht. "Wer bist du? Und was hab ich mit dir zu schaffen?" scheint ihn der Tote in immer strengerem und deutlicherem Ton zu fragen. Ja, es ist alsbald schon so, als warte der Tote nur auf die Erweckung, um ihn danach zu fragen. Was die ersehnte Unterhaltung angeht, so ist unter solchen Umständen freilich an kein Fortkommen zu denken. Stattdessen sind die wenigen Worte längst wieder verstummt und die Nächte vergehen, ohne dass etwas anderes geschieht, als dass man Blicke tauscht, die nichts Gutes verheißen. Wiewohl das so ist und wiewohl der Junge das weiß, weigert er sich, die Lage als verfahren anzuerkennen. "Suche nichts Unheilvolles im Auge deines Nächsten", so sagt er zu sich. Das hilft weder ihm noch dir."

Eines Nachts nun geschieht etwas, was das Verhältnis von Grund auf verändert. Nachdem der Junge in die Kammer herabgestiegen ist, der Tote hat wie gewohnt die Brauen missbilligend in die Höhe gezogen, beginnt der Junge ihm den Hymnus aufzusagen, den er aufgeschrieben hat und längst auswendig kann:

 

Du vom Palast der Jahrmillionen,

Du Herrscher hoch auf deinem Thron,

samt allen, die mit dir dort thronen,

im Geist geheiligt und im Sohn!

 

Du Urquell ständiger den Dingen,

Du Überfluss an Wohlgestalt!

Zu deinem Werden leih mir Schwingen,

zu deines Wandels Aufenthalt!

 

Lass deine Herrlichkeit mich schauen,

leuchtender Lichtglanz fern dem Tod!

Und durch des Himmels grüne Auen

führ´ mich entlang in deinem Boot!

 

Da bemerkt er, wie ihn der Tote mit weit geöffneten Augen anstarrt. Unbeweglich und starr, ohne mit der Wimper zu zucken, ist der Blick noch immer missbilligend auf ihn gerichtet. Da aber, vielleicht erschöpft vom Fixieren, gähnt der Tote und sagt: "Wenn du schon hierher kommst, so könntest du mir wenigstens eine Zeitung mitbringen." Anders als die ersten Male treffen ihn jetzt die abweisend-feindseligen Worte. Dass der Tote sprechen kann, das wusste er ja schon. Dass ihm aber an einer Unterhaltung nichts liegt und dass er so offen die Langeweile zum Ausdruck bringt, das trifft ihn sehr. Zumal, wo der Tote die Herrlichkeit Gottes geschaut hat, wie kann er da nach einer Zeitung verlangen? Wie schwer es dem Jungen aber auch fällt, so ist er doch klug genug, nicht zu widersprechen. Tut er dem Toten heute keinen Gefallen, so tut ihm der Tote auch morgen keinen. Und warum soll er ihm nicht den kleinen Gefallen tun? Weil er hier und jetzt verschmäht, mit ihm über die Himmelfahrten zu sprechen? Was heute noch nicht ist, warum soll es morgen nicht der Fall sein? Wenn er jetzt nicht aufgibt, ist er vielleicht schon in einer Woche so weit, sich alle die dann kommenden Nächte mit Ramses über die Herrlichkeit des ewigen Lebens auszutauschen. Und ist nicht eben eine Zeitung so recht geeignet, dem Toten vor Augen zu führen, in was für einer erbärmlichen Zeit die Menschheit heute lebt? Vielleicht gelingt ihm auch nur, mit der Zeitung die Frage anzustoßen, warum sich die Menschheit in den letzten 5000 Jahren so sehr zu ihrem eigenen Schaden verändert hat.

In der nächstfolgenden Nacht ist der Junge nun also mit der gewünschten Zeitung zur Stelle. Kaum dass er den Toten erreicht hat, reicht er sie ihm. Ah, wie er nun dasteht und wartet, während sich der Zeitungsbogen wie eine Trennwand zwischen sie stellt. Eine gute Stunde mag der Junge schon so dagestanden sein, durchschauert von immer gewaltigeren Gefühlen: als er feststellt, dass der Tote die Zeitung zu nichts anderem verwendet hat, als um unbemerkt wieder ins Totenreich zu verschwinden. Wenn der Junge auch nicht glauben mag, dass dies der Grund der Bitte gewesen ist, so zeigt sich ihm in den folgenden Nächten, dass die Zeitung für den Toten nichts weiter bedeutet, als sich den unerwünschten Gast auf Abstand zu halten.

Nein, das war nicht der Zweck seiner Bemühungen. Das weiß der Junge. Da wäre es fast noch besser, die Zeitung als Mittel zur Provokation zu gebrauchen. Wie, wenn er sie, kaum dass er sie dem Toten gegeben, ihm wieder entrisse, um ihm dann ins Ohr zu brüllen, er, Ramses, habe sich an der Wahrheit der Götter vergangen! Drum auch seien ihm die Pforten der Unterwelt unzugänglich und die Fahrten der toten Könige in der Sonnenbarke nur märchenhafte Erfindungen geblieben! Wie, wenn er den toten Ramses der Lüge bezichtigte? O ja, er kann durchaus auch anders reden. Er weiß, dass es manch ein Mittel gibt, mit einem jedem so zu reden, dass man verstanden wird. Wenn der Junge sich auch nicht zu einer solchen Handlung hinreißen lässt, so ist doch bemerkenswert, dass überhaupt ein solcher Aufruhr in seinem Geist zustande kommt. Und so schreibt er sich in sein Tagebuch, dass man keiner Versuchung nachgeben darf. "Von nichts und von niemandem darf man sich eine süße Hoffnung zerstören lassen. Je größer eine Hoffnung, umso mehr Zeit muss man ihr lassen!" Gleichwohl aber ist der Schwung der Begeisterung aus seinem Herzen gewichen. Wenn er nun mit der Zeitung zum Toten hinabsteigt, denn das tut er alle Tage, dann ist ihm, als trüge er Schuhe aus Blei und die Türen und Gänge um ihn herum begännen zu kreisen, dass er oft unterwegs stehen bleibt und sich festhält.

Eines Abends einmal ist der Junge sogar von dem Toten fern geblieben. Das begann damit, dass er sich eines Morgens nicht in den Genuss einer Zeitung hat bringen können. Der Vater nämlich hatte die Zeitung, da sie viel Rühmenswertes über ihn enthielt, zur Aufbewahrung einbehalten. Die Kämpfe zwischen bangem Hoffen und schierem Verzweifeln, zwischen der Hoffnung auf das Glück und der Einsicht in das Ende all seinen Bemühens, die sich in dem Jungen an jenem Tag abgespielt haben, lassen sich kaum schildern, wenn man sie nicht selber einmal durchgestanden hat. Du willst aufs allerentschiedenste, und doch hält dich etwas zurück, dass du nicht kannst! Und dir ist, als beraubtest du dich deines eigen Glücks!

Am folgenden Tag aber, die neue Tageszeitung befindet sich wieder in der Hand des Jungen, und es ist jetzt nur noch der Ring mit der Platte zu heben, packt ihn plötzlich die Angst. Nie zuvor hat er bei dieser Handhabung auch nur an etwas Erschreckendes gedacht. Jetzt aber glaubt er den Toten zu sehen, wie er ihm drunten in seiner Gruft auflauert, sich jeglichen weiteren Besuch von ihm zu verbitten.

Alsbald dann findet auch an den weiteren Tagen kein Besuch mehr statt. Nun nämlich haben die Arbeiten begonnen, an denen die baulichen Maßnahmen zur Vergrößerung und Verschönerung des Museums einsetzen. Zumal bei der alten Pforte, wo der Junge stets seinen nächtlichen Lauf begonnen, ist ein Durchkommen nimmer möglich. Damit scheinen auch die Zeiten, wo der Junge noch die Begebenheiten und Erkenntnisse glückselig in sein Notizbuch geschrieben hat, zu Ende zu gehen. Der letzte Eintrag, den er getätigt hat, lautet: "Wenn wir nicht gelernt haben, uns auszutauschen, was soll uns dann ein ewiges Leben?

Zum großen Schweigen verurteilt zu sein, steht da als letzte Antwort auf die Frage, warum überhaupt Seiendes da ist. Mag das auch schlimm sein, zumal wenn einen schon in früher Jugend diese Erkenntnis überfällt, so nützt keine Anklage dagegen. Was ist, das müssen wir als seiend anerkennen, und was nicht ist als nicht seiend." Diesen Eintrag hat er noch getätigt, als er sich nicht länger die bittere Wahrheit verhehlen wollte, dass es nie zu einer Kommunikation mit dem Toten kommen würde. Seitdem verbringt der Junge die Zeit in seinem Zimmer, unbemerkt, fast schon vergessen von aller Welt. Über seinen Schreibtisch gebeugt, den Kopf in die flachen Hände gestützt, sitzt er da, ohne sonst etwas zu tun, als hätte er nur darauf Acht, wie die Zeit verstreicht. Erst spät am Abend, wann er sonst zu dem Toten aufzubrechen pflegte, macht er das Licht an. Dann schlägt er sein Notizbuch auf und liest die Hymne. Andächtig Zeile um Zeile, wiewohl er sie auswendig kann, liest er sie ab, wobei ihm Tränen in die Augen treten, die er sich tapfer abwischt. Doch auch die werden eines Tages versiegen.

 

10. Ausflug aus dem Schlafsaal

Es war schon tief in der Nacht, als ich mich auf den Weg in den Schlafsaal machte. Nicht dass ich mich nicht schon längst im Schlafanzug befunden hätte. Wie es mir aber aufgrund eines ungeschriebenen Rechts zustand, hatte ich die angebrochene Nachtzeit dazu benutzt, mir auf den Toiletten noch etwas aus der Formenlehre der alten Griechen für den nächsten Tag anzusehen und ins Gedächtnis zu prägen. Schließlich sind die Tage kurz und man hat viel zu tun als vielbeschäftigter Mann, der man nun einmal als würdiger Tertianer bereits ist. Leto und Gorgo und Sappho konnte ich inzwischen schon ebenso herrlich deklinieren, wie es Alkaios gekonnt haben mochte, als er im rosenfarbenen Frühlicht Griechenlands der schön dichtenden Sappho begegnete. Als ich nun dabei war, angefüllt mit so herrlichem Wissen mich ins Bett zu begeben, um ruhig bis zum kommenden Morgen durchzuschlafen, wurde ich von zwei Kleinen attackiert, einem Jungen und einem Mädchen. Vielleicht hatten sie nicht einschlafen können und hatten sich ein Vergnügen daraus gemacht, dort, wo die große Flügeltür den Durchgang zum großen Schlafsaal bildet, den Vorbeikommenden aufzulauern. Jedenfalls hefteten sie sich mir jetzt an den Schlafanzug, wobei sie ein derart mörderisches Siegesgeschrei erhoben, dass davon nicht nur der liebe Gott im hohen Himmel wach werden musste, sondern auch der Präfekt, der dicht nebenan sein Stübchen hatte und mit der Aufsicht betraut war.

"Wollt ihr gleich, ihr frechen Biester!" rief ich ihnen zu, bedacht auf die eigene Würde, die es zu schützen galt. Oder ist es nicht ein unerhörter Skandal, wenn es das Fußvolk noch immer nicht gelernt hat, einem Großen den ihm schuldigen Respekt zu erweisen? Wenn man von dem Geschmeiß auch nicht verlangen kann, Wert und Würde eines Großen zu ermessen, der selbst noch einen despektierlichen Nebenraum eines Schlafsaals in eine Werkstätte des Geistes zu verwandeln vermag, so hatten sie doch die Pflicht, ihn, wann immer sie auf ihn trafen, in seiner selbstgeschaffenen Welt zu respektieren.

Waren die beiden Flegel, die noch immer wie die Kletten an meinem Nachtgewand hingen, auch taub für die Stimme meiner Ermahnungen, so doch nicht Hübbers. Hübbers, denn so hieß der Präfekt, war zwar ein Mann, der durchaus auch einmal Verständnis für einen Schülerstreich aufbringen konnte, vor allem am Tag, wenn er mit seinen Gedanken eben anderswo weilte und insofern nicht gestört werden und nichts sehen wollte. Dann lächelte er bloß voll scheinbarer Nachsicht, als läge alles in weiter nebeliger Ferne. Nachts aber war das ganz anders. Da war nichts, was er weniger leiden konnte, als wenn ihm aus dem Schlafsaal noch ein Laut zu Ohren drang. Da gab es keine Nachsicht. Jede noch so kleine Störung wurde da schwer geahndet. Und gar ein solches Lärmen! Nachts traten die Gegensätze zwischen ihm und uns am gravierendsten hervor. Drängte es uns zu all den Schauplätzen der Kultur, vornehmlich aber an die Küsten Griechenlands, nach Delos und nach Lesbos und hinüber nach Sardeis und Tarsos und durch ganz Kleinasien, wo die ersten großen Künstler noch immer zu Hause waren, so saß Hübbers in seiner Klause, ein armer Teufel des Nordens, einsam und allein, die Handballen gegen die schwergefurchte Stirn gestützt, ohne zu wissen, was er mit sich anfangen sollte.

Weil ich wusste, wie nahe die Gefahr war, wie auch darum, dass Hübbers bei Verstößen gegen die Nachtordnung immer nur unter den Großen die Übeltäter ausfindig zu machen suchte, so nahm ich denn meine Zuflucht zu einer List. "Der Hübbers kommt!" rief ich und hatte Erfolg! Als hätte ich Persephone mit dem Haupt der Gorgo herbeigerufen und sie stünde schon unter der Türe, flitzten sie in ihre Bettchen, wo sie im Handumdrehen dalagen, als hielte sie der tiefste und süßeste Schlaf gefangen. Ich aber, stolz auf die Wirkkraft meiner Worte sowie überzeugt von der Rechtschaffenheit meines Tuns schritt ruhig und gemessenen Schrittes auf mein Bett zu, als ich plötzlich aufhorchte. Waren da nicht Schritte zu hören, die auf den Schlafsaal zukamen? Lange musste ich nicht warten, bis ich wusste, dass ich recht gehört hatte. Ohne irgendein Licht einzuschalten oder sich laut vernehmlich zu machen, bewaffnet nur mit einer kleinen Taschenlampe war Hübbers bereits in den Schlafsaal eingedrungen, wo er auf mein Bett zueilte, um mir dann, ohne lang nachzuprüfen, ob ich noch wach war oder schlief, ins Ohr zu raunen, dies sei die letzte Verwarnung; und wenn ich noch einmal auffiele, so sehe er sich zu Maßnahmen gezwungen, die weder für mich noch auch für ihn erfreulich ausfielen. Sprach´s und war schon wieder verschwunden. Mich aber ließ er zurück mit dem Gram eines zu Unrecht Gescholtenen, dass mir war, als bliebe mir nichts anderes übrig, als meinen Unmut in einem tiefen, alles vergessenden Schlaf zu ertränken.

Der Schlaf indessen kam nicht. Stattdessen kam Robert. Leise und doch so, als ob nichts vorgefallen wäre, kam er an mein Bett und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, zu ihm herüber zu kommen. Er habe bis jetzt noch an einer kritischen Anmerkung zum Hamlet gearbeitet, jene Stelle aus dem großen Monolog betreffend, wo von der Angst vor dem Jenseits die Rede ist; jetzt aber sei Schluss damit; denn jetzt sei Bill gekommen und sie brauchten noch unbedingt einen dritten Mann.

Die Nachricht, dass Bill gekommen war, versetzte mich in nicht geringes Erstaunen. Immerhin gehörte Bill zu den Externen und hatte hier nichts zu suchen. Soweit ich mich erinnerte hatte es noch nie so etwas gegeben, dass ein Externer zur Nachtzeit sich im Schlafsaal aufgehalten hätte. Selbst in der Hausordnung, in der auch noch die unausdenkbarsten Fälle behandelt standen, war von einem solchen Fall nirgends die Rede. So glaubte ich zuerst, Robert mache bloß einen Spaß. Als ich dann aber hinüberschaute, sah ich in der Tat, wie Bill sich an Roberts Bett zu schaffen machte. Neben sich hatte er allerlei Schätze ausgebreitet und war damit beschäftigt, immer noch weitere hinzu zu gesellen. Was immer ihm in den Sinn kam, schien er wie ein Zauberer mit leichter Hand aus seinem Sack heraus zu zaubern, dass es eine Lust war, ihm zuzusehen. Eben war er dabei, knusprige Fleischstückchen auf eine silberne Platte zu legen, dann brachte er Fischchen in gläsernen Schälchen zum Vorschein, ferner Käsewürfel neben Oliven und Paprika und Peperoni-Schoten, sowie in feine Saucen eingelegte Gewürzgürkchen, dann Gebäck und Süßigkeiten und endlich, wie zur Krönung von dem allem, ließ er eine dunkelgrüne, dickbäuchige Flasche zum Vorschein kommen, worauf er uns zu sich winkte und sagte, nun sei das Mahl bereitet, nun könne der Abend beginnen.

"Und was den Hübbers angeht", so sagte er, sich in aller Seelenruhe an mich wendend, "so brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Immerhin hast du ja schon deinen Rüffel eingesteckt und hast dir damit die Fahrkarte eingelöst für die Nacht. Im Übrigen aber sind wir nicht gewillt, uns unser erhabenes Dasein durch niedere und gemeine Dinge stören oder gar zerstören zu lassen! Oder hab ich nicht Recht?"

"Freilich", erwiderte ich. "Wenn jedes Ärgernis und jede Ungerechtigkeit zu einer so festlichen Tafel führt, so möchte man ausrufen: "Unrecht nimm deinen Lauf!" und erhob mich und begab mich zu ihnen hinüber. Und so saßen wir nun rund um Roberts Bett und ließen es uns schmecken.

Als wir von der Tafel der Leckerbissen zur Tafel mit dem herrlichsten Samos übergewechselt hatten - wäre Vater Homer unter uns gewesen, er hätte gesagt, er schmeckte so süß wie Honig -, bat ich Robert, uns etwas von seinen neuesten Forschungen mitzuteilen. "Wenn es droben, im hohen Norden, auch meist kalt ist und windig,", sagte ich, "so kann doch wohl nicht die volle Wahrheit sein, dass uns dort nichts als böse Träume überfallen!" Robert erwiderte darauf, dass das auch seine Meinung sei, dass man sich wohl jenen Zustand als einen der Zeit entrückten vorstellen müsse, dass aber der Inhalt jener Träume in Zusammenhang stehen müsse zu den Erlebnissen in unseren irdischen Tagen. "Hamlet", so fuhr er dann fort, "Hamlet ist ein großer Zweifler. Und wie es scheint, hat er auch guten Grund zu zweifeln, ja wohl gar zu verzweifeln, wenn man sich die Gesellschaft um ihn herum ansieht, zumal seine eigene Familie, die er in so schrecklich desolatem Zustand antrifft. Indes", so fuhr er fort, "scheint mir das Problem universeller, als dass man es auf den Helden allein zu beschränken hätte. In einer Gesellschaft, die keinen Zweifel kennt, scheint mir auch die Gefahr, dass ein Zweifler entsteht, nur sehr gering. In einer Gesellschaft aber, die glaubt entdeckt zu haben, dass nichts wahr ist, in einer Gesellschaft, wo sich die Lügen derart gehäuft haben, dass sich das Zweifeln etabliert hat und zum guten Ton gehört, in einer Gesellschaft, wo nichts mehr weniger Ansehen genießt, als dass man noch eine Hoffnung pflegt, und sei es nur die Hoffnung des Vertrauens von Eltern und Kind, wie bei Hamlet und seiner Mutter, oder eines Vertrauens von Mann und Frau, wie bei Ophelia und Hamlet: da geraten auch die zuvor festesten Fundamente ins Wanken. Wär ich ein Regisseur und hätte den Hamlet zu inszenieren, ich wollte ihn einmal in dem Sinn zur Aufführung bringen, dass gar kein Mord geschehen, sondern dass alles nur als eine Ausgeburt von Angst und Zweifel zustande gekommen wäre. Eine Welt aber, die zweifelt, wo anders kann sie enden als in Zweifeln und in verzweifeltem Morden? Ähnlich mag es einer Welt widerfahren, die nur auf Macht und Geld setzt. Auch sie wird das ihr vorherbestimmte Schicksal erfahren. Jeder erhält, wozu er sich bereit gemacht hat und reif ist.

Jawohl: Reif sein ist alles! Mag der Intellektuelle sich in alle Ewigkeit um seine intellektuellen Spielchen bemühen. Und mag der kleine Mann, dem es das Höchste ist, Nervenkitzel zu verspüren und Adrenalinschübe zu erlangen, mit solcherlei die Ewigkeit bestreiten. Was anderes auch sollte ihm ein Gott bereitstellen? Mag jeder erhalten, wonach ihn verlangt! Uns aber, denen der Gott die Heimkehr versprochen, uns soll keine Frucht vom Lotosbaum vergessen machen, wozu wir berufen! Ja, wenn wir teilgenommen haben an einem bedeutenden Leben, wenn wir uns geöffnet haben für alles über unser endliches Sein Hinausreichende und Beständige, dann werden wir auch Anteil erlangen an dem, was dem Menschen über alle Endlichkeit hinaus bestimmt ist." - "Wenn es ein jenseitiges Leben gibt!" wiederholte ich nachdenklich. - "Und ob es ein jenseitiges Leben gibt!" rief Bill, der uns jetzt zum Trübsinn keine Zeit ließ. "Lassen wir uns nicht vom Unglauben der Zeit verseuchen! Und was das Hegen und Pflegen schöner Hoffnungen betrifft, so muss man nur zeitig genug damit beginnen. Oder liegt es nicht nur an uns, einen bedeutenden Anfang zu machen? Kommt!" rief er aus. Wir aber wussten nicht, was er damit meinte. "Das Beste steht noch bevor", fuhr er fort. "Und wenn ihr keine Hasenherzen seid, sondern Männer voll Mut und Tatendrang, so erhebt euch und folgt mir. Zu Hause bei uns feiert man nämlich ein großes Fest und euch dazu zu holen, dazu bin ich gekommen."

Versteht sich, dass wir den Gedanken an Hasenherzen verschmähten und nichts lieber wollten, als Mut beweisen, zumal bei dem uns in Aussicht gestellten großen Fest. Ja, wenn man nur einmal seinen Mut zum höchsten Punkt hinauf geschraubt hatte, was konnte einem da noch ein Hübbers antun? Wenn wir jetzt den Schlafsaal verließen, genügten wir ja einer höheren Pflicht, die selbstverständlich alle Regeln des Hauses und des Schlafsaals außer Kraft setzte. Als hochoffiziell geladene und erwartete Gäste machten wir uns auf den Weg. Im Übrigen hatte Bill gute Vorarbeit geleistet. Sämtliche Wege hatte er bereits derart gebahnt, dass uns nicht anders war, als flögen sie an uns vorbei. "Wie sie doch schlafen, diese ägyptischen Schmeißfliegen!" sagte er, nachdem er noch einem von ihnen das Deckbett zu Recht gerückt hatte. Und als wir zur Flügeltüre kamen, schien sie sich von allein vor uns aufzutun wie vor den Israeliten das rote Meer, und wir durchschritten das Haus so lautlos wie Schatten. Kaum aber dass wir draußen standen, steckte sich Bill ein Zigarettchen an und blies den Rauch in die Luft, der, sich sogleich in kleinen zauberhaften Rauchwölkchen vor uns entlang zog.

Zuhause bei Bill aber wartete man schon auf uns. Bills Mutter im allerschönsten Abendkleid war vor die Türe getreten und hieß uns willkommen. Und während sie uns ins Haus führte, scholl uns die fröhliche Stimmung einer angeregten Gesellschaft entgegen. Ein herrliches Fest in einem mit den wundervollsten Blumen geschmückten Saal war bereits in Gang, als uns die Mutter einem Kreis schön geschmückter Damen und edler Herren vorstellte. Sogleich erhob man das Glas auf die Ankunft von uns Helden, und auch wir erhoben das Glas, vornehmlich auf das Wohl unserer schönen Gastgeberin. Und als wir das Glas auf die Gastgeberin erhoben hatten, erhoben wir es auch auf die beiden Töchter an ihrer Seite, von deren wimpernüberdachten Blicken wir uns wonnevoll überwältigt fühlten. Robert aber war es dann, der vom Zauber des Augenblicks durchdrungen in die Worte des Dichters ausbrach:

 

Vereint uns die Nähe nach der Trennung wieder,

so lächelt das Antlitz der Zeit, nachdem es in Runzeln hing.

Und werden von dir durch einen Blick meine Augen geschmücket,

verzeih ich der Zeit die Sünden, die sie an mir beging.

 

So reizend sagte er die Verse auf, dass alle ihm Beifall zollten. "Die beiden Herren sind angehende Dichter!" sagte die Mutter zu den im Raum versammelten Gästen. Sie hatte die Arme um die Schultern ihrer beiden Mädchen gelegt und lächelte uns zu. "O, nur er!" sagte ich, bescheiden und verschämt auf Robert weisend. Aber sie ließ es nicht gelten. Sie und auch die übrigen Gäste wollten nun unbedingt, dass auch ich etwas zum Besten gäbe. "Oder haben wir ihn nicht auf den Wiesen von Lesbos herumspringen sehen?" wandte sie sich an ihre beiden Töchter. Da begann ich denn, zuerst etwas unsicher und verschämt nach Worten suchend, dann so, wie es mir die Musen von Lesbos eingaben:

 

Kypris, reizendgeschmückte Tochter Kronions,

die zu deinem Fest wir uns hier versammelt,

komm, du Wunderbare, zu uns! Vom Himmel

steige hernieder!

 

Komm zu uns, zum heiligen Tempel von Paphos,

wo von schönen Apfelbäumen umgrenzt, ein Hain sich

rings erstreckt, darinnen Altäre stehen,

schwelend von Weihrauch.

 

Kühles Wasser rauscht an den Apfelzweigen

Leis vorbei, im Schatten der Rosensträucher

Liegt der Hang, von wiegenden Blättern senkt sich

Schlummer hernieder.

 

Eine Wiese sodann, den Pferden zur Weide,

prangt im bunten Schmucke der Frühlingsblumen,

süßen Duft verströmt das Aniskraut und

der blaue Lavendel.

 

Komm denn Kypris zu uns, die geschmückt mit Kränzen,

um in goldenen Schalen als liebliche Gabe

den zu deinem Feste bereiteten Nektar

mit uns zu trinken!

 

Daraufhin lud man zum Tanz und ein Fest, wie ich es noch nie erlebt hatte, entwickelte sich vor unseren Augen. Alles, was nur jemals ein Mensch sich zu ersehnen und zu erträumen vermag und was in unserem Leben entweder ein einziges Mal in Erfüllung geht oder nie, war hier zu erhaschen. Robert und ich hatten sich unterdessen erkühnt, die beiden Schwestern um einen Tanz zu bitten. Dass wir in der Kunst des Tanzes noch nicht unterrichtet waren, fiel dabei überhaupt nicht ins Gewicht. Unsere Partnerinnen tanzten so herrlich, dass sie selbst noch unseren plumpen Körpern Grazie und Bewegung einhauchten. Was mich anging, so genügten mir schon die von rötlichem Gold schimmernden Löckchen, die durch ein Haarband hindurch vom Nacken meiner Tänzerin fielen und ihren Hals umspielten, mich beinahe schwerelos zu machen. Und wenn ich einmal ein wenig unsicher war und zauderte, wie es weiterginge, so lächelte sie mir zu, dass ich nicht wusste, was schöner war: in grenzenloser Seligkeit wie in einem Tiefschlaf blind und fehlerfrei dahinzugleiten oder immer einmal wieder auf die schöne Tänzerin zu schauen, und einen Wink von ihr zu vernehmen. Vollends dann, als unsere beiden Tänzerinnen einstimmig als die Königinnen des Festes gekrönt worden waren, schien das Glück ohne Ende. Endlich aber war die Zeit vorüber und nichts mehr war in der Lage, unseren Abschied aufzuhalten.

Wer von uns aber wusste zu sagen, was sich dort in der Zwischenzeit zugetragen hatte? Ob nicht Hübbers noch einmal vorbeigekommen war und unsere Betten leer gefunden hatte? Bill aber voll göttlicher Heiterkeit: "Was seid ihr doch so ängstlich?" rief er aus. "Ist nicht damals unser Stern aufgegangen, als der Pharao mit Ross und Reitern zu Grunde ging? Und sollte das der Herr Aristoteles nicht verstehen, so sagt ihm, dass da, wo kein Beweggrund ist, auch keine Bewegung ist. Drum seid nur guten Mutes! Mein Wort darauf, dass ihr unbemerkt in euer Bett kommt!" Er hatte kaum ausgesprochen, da standen wir im Pausenhof und schauten nach dem Haus herüber, in dem unter dem Dach der Schlafsaal lag. Da aber sahen wir, wie im darunter befindlichen Studiersaal ein Licht anging. Für Robert und mich bestand kein Zweifel. Hübbers hatte im Dunkel gelauert und war jetzt auf uns aufmerksam geworden. Bill aber widersprach. "Was wir sehen, ist das Licht der Herzen, das durch die Dunkelheit leuchtet. Oder heißt es nicht im Lied: Ich schlafe, aber mein Herz wacht!" Dann hieß er uns mit ihm in den Park einbiegen, der das Gebäude von der einen Seite begrenzte, hieß uns dort im Schutz der Tannen warten und eilte voraus, wo er durch einen Seiteneingang ins Gebäude eindrang. Nach einer kleinen Weile kam er zurück mit Decken beladen. "Kommt!" sagte er leise, "alles ist in Ordnung. Nehmt das und verwandelt euch!" Da stülpten wir die Decken uns über und folgten ihm wie die Karawane dem Führer durch die Wüste. Durch das Haus, über Treppen und durch Gänge ging es, bis wir auch noch an Hübbers Zimmer vorbeikamen. Der aber schlief. Selbst die Zimmertüre mitsamt den Türpfosten schien zu schlafen. Und selbstverständlich schlief jetzt auch der große Schlafsaal mitsamt allen seinen Insassen, den kleinen und den großen.

Endlich lagen auch wir in unseren Betten, ohne freilich noch recht fassen zu können, was wir alles erlebt hatten. Noch immer war uns, als ob wir in dem herrlich geschmückten Ballsaal verweilten, umgeben von tausend Blumen, mit der Dame unseres Herzens zusammen. Man musste ja nur die Augen verschließen, um alles wieder zu sehen und zu hören und von Neuem zu erleben. Mochte auch Hübbers kommen. Mochte er uns auch aus unseren Betten holen und mit uns machen, was immer er wollte: Keinen ängstlichen Schülern mehr, Männern wäre er begegnet. Als aber die ärgste Erregung abgeklungen war und unsere Herzen allmählich wieder ruhiger schlugen, nahm uns der Schlaf in seine Arme. Und Glanz und Herrlichkeit und Mut und Gefahr begannen uns zu umspielen, dass uns war, als hätte uns alles bloß beim Zu-Bett-Gehen geträumt.

 

11. Das Mädchen im Koffer

Naturam expellas furca, tamen usque recurrit.

 

Ich aber gab nicht auf. Und da ich den beiden alten Damen noch auf dem Totenbett versprochen hatte, mich um ihren Ernesto, so hieß mein Freund, zu bekümmern, wobei sie mich auch ausdrücklich gebeten hatten, ihm zu einer Frau zu verhelfen, und sich eben wieder einmal ein Mädchen am Horizont zeigte, so gedachte ich, jetzt endlich mein Versprechen zur Erfüllung zu bringen, koste es, was es wolle. Genauer gesagt handelte es sich um eine durchaus adrette jugendliche Erscheinung, welche neu in die Nachbarschaft hinzugekommen war und die für diese Aufgabe nötigen Eigenschaften mitzubringen schien oder sich doch in sie hineinfinden könnte.

Ja, mein Freund! Den Dichter Horaz kannte er wie kein Zweiter. Jeden Satz, jede Konstruktion, jede stilistische Feinheit kannte er wie im Schlaf, die Oden, die Satiren ebenso gut wie die Episteln. Wenn er aber selber einmal einen Brief schreiben sollte, oder wenn es gar galt, sich einem jungen Mädchen in angenehme Erinnerung zu bringen, schienen ihn alle guten Geister zu verlassen. Kaum dass er zwei Sätze zu Papier gebracht hatte, war er auch schon mit seinem Latein am Ende. Dann schob er den Briefbogen unwillig beiseite, warf die Feder weg und verzog sich in eine Ecke, wo er für den Rest des Tages schmollend seinem Schicksal nachhing. Zeig mir einen einzigen Liebesbrief bei Horaz, sagte er dann. Und wenn ich ihn dann auf Ovid hinwies, war er auch nicht verlegen. Das war keine Liebe, das war Liebelei, sagte er. Deshalb hat ihn der Kaiser Augustus auch aus Rom verjagt. So stark er aber auch im freien Disputieren war, so war er doch kein Schreiber, geschweige denn ein Eroberer von Frauenherzen. Noch kaum je hatte er in seinem Leben einen Brief zu schreiben gehabt, schon gar nicht in eigener Sache. Und wenn er als Kind einmal etwas zu schreiben hatte, weil es zur Pflicht gehörte, sich beim Onkel für ein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk zu bedanken, so hatten ihm das seine Oma und seine Großtante nach kurzer Bedenkzeit besorgt, bei denen er als Vollwaise und Einzelkind aufwuchs. Alles, was zu tun war, hatten sie ihm abgenommen; und wenn er von Altersgleichen etwas begehrte, mit denen er aber, wohlbehütet wie er war, nur selten zusammenkam, so pflegte er das durch mannigfache Zugeständnisse und kleinere Geschenke zu erreichen. Bislang war er wirklich das schönste Beispiel für einen Menschen, den noch kaum einmal etwas hatte aus der Ruhe bringen können. Alles, was er brauchte, das hatte er oder bekam er; und so hatte er auch nie weder hochgesteckte Erwartungen gehegt, noch auch bittere Enttäuschungen hinnehmen müssen. Was zu tun war, das tat er, ohne sich selber zu nahe zu kommen. Was immer auch geschah, er nahm es hin, jedenfalls insofern es nicht mit Schmerzen verbunden war. Als müsste alles so sein, wie es ist, so empfand er die Welt und seinen Platz darin. Und da ihn nicht danach verlangte, sich als ein Auserwählter der Liebe hervorzutun, so hatte er durchaus auch in dieser Hinsicht berechtigten Grund, mit sich zufrieden zu sein. Jetzt aber, wo es galt, die Aufmerksamkeit eines jungen Mädchens auf sich zu ziehen und er sich diesem nicht nur empfehlen, sondern auch noch die Herzensruhe stehlen sollte, ergab sich eine Situation, die für ihn gänzlich neu war. Mit Bestechungsgeschenken war da nichts auszurichten. Hier musste eine Hand her, die von Grund auf und eigenmächtig ans Werk ging. Da er aber eine solche Hand nicht hatte, so war die Folge, dass er Ausflüchte machte, ja dass er sogar mit der Aufkündigung unserer Freundschaft drohte, sofern ich noch weitere Versuche machte, ihn zu einem geschriebenen Wort zu bewegen.

Was für Mühen dieses Erziehungswerk bereitete, ist kaum zu ermessen! Schon das Aussprechen des Namens der jungen Dame bedurfte unendlich vieler Arbeit. Als lehrte ich ihn die Kunst, sich selber in panische Angst zu versetzen, oder als riefe ich seinen Henker herbei, so starrte er mich an, sobald es an das Aussprechen dieses Namens ging. Das wurde auch mit der Zeit nicht besser. Die Welt, die um ihn herum im Tiefschlaf gelegen hatte, schien jetzt plötzlich auf ihn aufmerksam zu werden, so, als hätte er sie gestört und er hätte sich nun dafür zu verantworten. Nicht nur die Straße und der Gehweg draußen, die an dem Haus der jungen Dame vorbeiführten, auch sein eigenes Haus, samt der innersten Gemächer und der darin befindlichen Gegenstände, alles schien wach zu werden und sich gegen ihn, den Störenfried, zu verschwören. Versteht sich, dass ein Fortschreiten auf diese Weise kaum möglich war. Und doch konnten wir da nicht stehen bleiben. Die Zeit drängte. Wir mussten vorwärts. Und so kam denn nun neben dem Mündlichen auch noch das Schriftliche an die Reihe. Dabei schärfte ich ihm ein, dass die Aufgabe kaum anders war, als ob er einen Klassiker zu übersetzen hätte. "Vergiss", sagte ich zu ihm, "wenn du schreibst, dass es sich um dich handelt. Denk, du wärst Cäsar, der auf dem Weg von Spanien nach Haus einen Kurier an den Gardasee vorausschickt, um der Lesbia sagen zu lassen, dass er vorbeikommt. Und sage dir nur ja nicht, die Lesbia gehöre schon dem Catull! Sage dir, dass sie dem gehört, der sie sich zu erobern vermag. Denk, dass du willst und dass du kannst. Wer sich einredet, nicht zu können, der hat schon verspielt." Auf diese Ansprache hin war zwar der Geist für den Augenblick etwas williger, da aber auch die Angst zugenommen hatte, so war kaum etwas dabei gewonnen.

"Was soll ich denn nur schreiben?" fragte er und schaute mich an, als wäre es tausendmal leichter, als Märtyrer zu sterben, statt auch nur ein einziges Sätzchen zu Papier zu bringen. Ja, das Liebste wäre ihm gewesen, wenn ich die Briefe für ihn geschrieben hätte und dann für ihn zum Stelldichein gegangen wäre und hätte ihm dann weisgemacht, er wäre von alledem der Urheber und wäre dabei gewesen. Ich aber blieb hart. Und so versuchten wir uns in ein paar Sätzen, die wir für Cäsar formulierten. Alle diese Sätze hatten dieselbe Einleitung und waren nach demselben Muster aufgebaut: Cäsar schrieb an Lesbia: Meine Liebe, auf dem Rückweg aus Spanien zu der und der Zeit komme ich bei dir vorbei. Halte dich bereit!

Mit dem zwanglosen Niederschreiben solcher Sätze, die mit Ernesto nicht das Geringste zu tun hatten, konnten wir durchaus schon bald ein paar Fortschritte erzielen. Wann immer uns ein paar Sätzchen gelungen waren, schrieben wir sie auf ein Stück Papier in Schönschrift und versteckten sie in einem der Bände des 40 bändigen Reallexikons, das unbeachtet noch aus der Zeit seines Großvaters stammte und das so wieder zu der schönsten Verwendung kam. Eine Transformation in die erste Person aber war noch völlig ausgeschlossen.

Einige Zeit später - wir hatten ein paar Tage Urlaub genommen in den Alpen -, da waren wir so weit, dass wir ein Briefkärtchen, gleichsam die Frucht unserer alpinen Bemühungen, in einen Briefumschlag stecken und versiegeln konnten. Jedenfalls war ich des frommen Glaubens. Ich hatte es sogar schon so weit gebracht, dass er das erste Personalpronomen verwendet hatte, nämlich zu Beginn und am Schluss seines Schreibens. Gut, dachte ich, das wäre geschafft. Und wie ich so weit war, stolz darauf, was mir gelungen war, glaubte ich, nun auch noch den I-Punkt auf das Projekt setzen zu sollen; und gab ihm den Auftrag, das Werk nun auch noch eigenhändig zum Briefkasten zu tragen, um ihn als völlig unabhängigen und autonomen Helden ins Bewusstsein zu bringen. Als ich ihn ein paar Tage danach befragte, gestand er mir freimütig, dass er den Brief zwar in Richtung auf den nächsten Briefkasten zu tragen begonnen, den gesamten Weg aber nicht geschafft habe. Auf meine Nachfrage, was das heiße, der Weg betrage doch nur 100 m, begann er, mir darzulegen, was an jenem Abend im Einzelnen geschehen war. Fast stolz, so sagte er, sei er aus dem Haus gegangen, zumal da nun ja alles unter Fach und Dach gebracht worden wäre. Und so sei er bereits unterwegs gewesen, den Brief zum Briefkasten zu tragen. Beim Überqueren der Straße dann aber, auf dem Weg zum anderen Gehsteig, wo sich der Briefkasten befindet, seien ihm plötzlich die Augen aufgegangen. Überhaupt nicht sei jetzt nämlich alles unter Fach und Fach. Sobald der Brief im Schlitz des Briefkastens verschwunden wäre, könne ja keiner mehr sagen, wie es weiterginge. Mit dem Einwurf habe man jegliches Selbstbestimmungsrecht abgegeben. Auf Gnade und Ungnade habe man sich fremden Mächten unterworfen, die mit einem machen könnten, was sie wollten. Ja, wie der Kopf eines beutegierigen Raubtiers sei ihm der Briefkasten vorgekommen und der Briefschlitz wie ein gefräßiges Maul, hinter dem zwei Reihen scharf gespickter Zähne auf ihn lauerten. Er wisse nicht mehr, wie lange er für den Weg gebraucht habe. Er wisse nur noch, dass er von da an wie gelähmt dagestanden. Dunkel sei es um ihn herum geworden und sooft er die Augen geöffnet habe, habe er nur noch einen feuerspeienden Rachen gegen sich aufgesperrt gesehen. "Und der Brief?" fragte ich, "wo ist der?" "Den habe ich noch bei mir!" sagte er. Auffallend ruhig gab er mir die Antwort, wobei er mir den Umschlag mit der Karte überreichte.

So war denn die Sache ein für alle Mal ausgestanden. Jedenfalls wollte ich jetzt nichts weiter mehr tun, mochten mich seine Oma und seine Großtante deswegen auch beim jüngsten Gericht belangen.

Ein paar Tage später kommt Ernesto abermals zu mir, aufgeregt und außer Atem. Es war in der heißesten Sommermittagszeit. Einen großen nagelneuen glänzend schwarzen Koffer trägt er mit sich. Erstaunt frage ich ihn, was mit ihm los sei? Ob er verreisen wolle? Er schüttelt den Kopf. "Nicht ich!" sagt er und bedeutet mir, dass er sich über seine wahren Absichten hier auf der Straße nicht ergehen könne.

Unterdessen hatte er sich wieder in Marsch gesetzt, ich neben ihm. Wir waren ein gutes Stück weiter gekommen, ohne dass ich einen besonderen Blick auf den Koffer geworfen hatte, als er stehen bleibt und Halt macht. Und indem er sich den Schweiß von der Stirne wischt, nimmt er mich bei Seite, tritt ganz nahe an mich heran und teilt mir mit, sein Vorsatz stehe fest; er werde nicht eher ruhen und rasten, als bis er den Koffer am Ende der Welt wisse. "Am schönsten", sagt er, "ist das Leben, wenn nichts dazwischen kommt." Und dann, derweilen wir weitergehen, legt er mir Stück für Stück seine praktische Philosophie vor. Zu einem geglückten Leben, so lässt er mich wissen, trügen nicht nur die äußeren Umstände bei, auch wir selber müssten dazu beitragen. Vor allem müsse man die Augen unter Kontrolle haben. Man dürfe sie nichts sehen lassen, was nicht für sie bestimmt sei. Jawohl, eben hier habe man etwas ganz Entscheidendes zu beachten: nämlich darauf zu achten, dass nichts Beachtung finde, was nichts mit uns und mit unserem Wohl zu tun habe. Komme aber einmal etwas dazwischen und man sehe etwas, was nicht für einen bestimmt sei, dann gelte es, zu widerstehen, koste es, was es wolle.

"Wie auch kann etwas für dich bestimmt sein, wenn es nur durch einen verhängnisvollen Blick zu entdecken ist und nur Verhängnisse zur Folge hat?" fragt er mich, "muss ich denn darauf achthaben und danach suchen, was mir Angst einjagt und mich traurig macht?", und gab mir dann zu verstehen, dass ich nun an der Reihe wäre, falls ich noch etwas Vernünftiges darauf zu erwidern wüsste.

Es gibt Geschehensabläufe, die man, wenn sie erst einmal in Gang gekommen sind, kaum mehr zu beeinflussen vermag. Allenfalls, dass man noch ein Stück weit mitläuft, kopflos und ohne ernstlich nachzufragen, zumal da einem ja auch die Zeit fehlt, nachzuforschen, was sich da anbahnt. Erst später, wenn alles schon abgelaufen ist und man um die Hintergründe weiß, fragt man sich, warum man so tatenlos zugesehen und allem seinen Lauf gelassen hat. So war es auch hier. Ohne zu fragen, was er mit dem Riesenkoffer vorhabe, ja als wär es das Selbstverständlichste von der Welt, dass der Koffer mit zu marschieren hätte, gingen wir dahin. Es muss ein urkomisches Bild gewesen sein, wie wir so des Wegs dahingingen, er, indem er sich mit dem Koffer abmühte, ich aber, indem ich neben ihm einherging, unberührt und ungerührt von seiner Schwerstarbeit, fast als gehörte der Koffer zu ihm wie seine Arme und Beine. Das Einzige, was ich mir abverlangte, war, dass ich stehen blieb, wenn es den Freund zu einer kurzen Verschnaufpause zwang und er, den Koffer neben sich stellend und zum Himmel hinaufschauend, sich den Schweiß von der Stirne wischte. Zuerst ging es noch auf belebten Straßen dahin, dann auf immer kleineren Nebenstraßen, dann auf holprigen Wegen, und endlich waren wir auf einem schmalen Wiesenweg angelangt, dessen Ende wir bereits auf uns zukommen sahen. Weit und breit war keine Menschenseele mehr zu sehen. Wäre nebenan nicht noch der Bahnkörper gewesen, der die Züge ins Höllental bringt, man hätte sich wohl nirgends verlassener vorkommen können als in dieser Gegend. Als wir nun schon fast das Ende des Wiesenwegs erreicht hatten, blieb Ernesto stehen. Und nachdem er den Koffer auf den Boden gestellt hatte, setzte er sich darauf und schaute mich an, als verlange er von mir ein Wort.

"Hier wären wir also", sage ich. Doch nun sage mir, worauf das alles hinaus will!" - "Das sollst du gleich sehen!" sagt er und schaut den Weg hinunter, wo in der Ferne ein Bahnwärterhäuschen steht. Plötzlich sehe ich das Mädchen aus der Nachbarschaft, es trägt ein blau-weiß-gemusterten Kleid, wie sie in aller Unschuld Blumen von der Wiese pflückt. - "Das ist sie!" sagt Ernesto. "Das ist die besagte Christl." Ich aber traue meinen Augen nicht. Da sich das Mädchen beharrlich auf der Wiese aufhält, ohne wieder zu verschwinden, lasse ich alle Zweifel fahren. Mag sich uns zeigen, was uns zu sehen bestimmt ist, sage ich zu mir. Das Mädchen aber scheint uns nicht zu bemerken. Oder tut sie nur so? Wie sie beim Pflücken der Blumen immer näher an uns herankommt, dass sie nun schon auf Griffweite vor uns ist, öffnet Ernesto den Koffer, der sich zu meinem Erstaunen als leer erweist. Dann schnippt er mit den Fingern, worauf sich das liebe Kind auch schon anschickt, in den Koffer einzusteigen. Mit einer Unerschütterlichkeit, ja mit einer lächelnden Heiterkeit steigt das Mädchen in den Koffer, wobei es sich mit einer derart erstaunlichen Geschicklichkeit dreht und wendet, dass sie auf Anhieb perfekt in den Koffer hinein passt. Nur die Hände mit den Blumen muss sie noch dichter an die Brust drücken: dann ist es ein Leichtes, den Koffer komplett zu verschließen.

"Hab ich es nicht bei dir gelernt?" ruft Ernesto aus, noch ganz außer Atem und doch hochzufrieden, während er zusieht, wie es im Koffer immer ruhiger wird und stiller. "Hereinstopfen muss man, immer nur hereinstopfen!" Dann besteigt er den Koffer und beginnt auf ihm herum zu tanzen; und als gälte es, den bedeutendsten Sieg zu feiern, der jemals unter der Sonne gefeiert worden, zieht er mich zu sich herauf, dass wir uns nun in einem gemeinsamem Siegestanz ergehen. Hätten nicht irgendwo Abendglocken zu läuten begonnen, wir hätten den kannibalischen Tanz wohl noch lange weitergeführt. Augenblicks aber beginnt Ernesto, den Koffer zum Bahnkörper zu schleppen, wo er ihn unter der dort befindlichen Schlehenhecke hindurch auf das Bahngleis hinausschiebt. Dann wenden wir uns zum Gehen.

Kaum bin ich zu Haus, mich der Nachtruhe anzuempfehlen, denn wenn es auch noch nicht so spät ist am Tag, bin ich doch über alle Maßen erschöpft, als es läutet und man mich zur Haustüre ruft. Ich dachte an die Polizei, die alles längst aufgedeckt hätte und die mich nun abholen käme wegen dringendem Tatverdacht. Es ist aber nicht die Polizei, es ist Ernesto, der, dem Sommer zum Trotz, in Winterkleidung vermummt daherkommt. Seine Hände zitterten. Er hätte etwas darum gegeben, so sagt er, wenn wir die Tat nicht begangen hätten, oder wenn wir sie wenigstens fachgerecht ausgeführt hätten.

Weil ich aber weder ein beruhigendes Wort für ihn parat habe noch auch um eine schnelle Hilfe weiß, beginnt er mir Vorwürfe zu machen. Alles, so sagt er, wäre ja in Ordnung, wenn wir es nicht versäumt hätten, die Einwilligung des Mädchens einzuholen, sich freiwillig in den Koffer einsperren zu lassen. Meine Aufgabe sei es doch gewesen, Papier und Stift mitzubringen. Dann läge jetzt das Dokument als Testament und letzter Wille mit im Koffer und alles wäre in Gottes Hand.

Ohne mich weiter zu besinnen, nehme ich ihn bei der Hand und so eilen wir zum Tatort zurück. Wir haben den Tatort schon bald erreicht, da sage ich zu ihm: "Wenn alles gut gegangen und in der Zwischenzeit noch kein Zug vorübergefahren ist, ziehen wir den Koffer vom Bahndamm zurück. Dann befreien wir das Mädchen und erklären ihm, wie alles wirklich war: dass man uns zum Bösen gezwungen, wir aber, um das Schlimmste zu vermeiden, nur zum Schein darauf eingegangen seien. Zum Dank dafür wird sie auf unsere Bitte eingehen und alles in strengstem Stillschweigen bewahren." Ich habe ihm meinen Vorschlag unterbreitet, da sind wir auch schon beim Wiesenweg, in der Nähe des Bahnübergangs, angelangt.

Zum Glück ist die Bahnstrecke frei. Nichts befindet sich auf den Geleisen. Kein Koffer, nichts. Das Schlimmste scheint also nicht eingetroffen zu sein. Ein überfahrener Koffer ist nicht zu sehen. Freilich ist noch denkbar, dass das Schlimmste schon eingetroffen ist, dass man den Koffer aber schon wieder weggeräumt hat. Dann aber müssten doch Beamte der Kriminalpolizei vor Ort sein, die mit der Spurensicherung zu tun haben.

Dass der Bahnwärter unbemerkt aus seinem Häuschen heraus kommt und uns, wir stehen mit dem Rücken zu ihm, zu einem kleinen Schwatz in das Bahnwärterhäuschen einlädt, erschreckt uns zwar zuerst nicht wenig, ist uns dann aber durchaus lieb.

Zuerst nämlich bin ich fest entschlossen, seine Einladung auszuschlagen, um mich dort droben in Ruhe umzuschauen. Doch war jetzt in Anwesenheit des Schrankenwärters überhaupt noch ein ruhiges Umschauen möglich? Gab man dadurch nicht zu erkennen, dass man der Verbrecher war, den es an den Tatort zurückzog? Gut möglich war ja jetzt auch, wo der Koffer nicht mehr auf den Gleisen lag, dass unsere Sorgen gegenstandslos geworden waren. Denn warum sollte der der Mann nicht schon in der Zwischenzeit die Geleise kontrolliert und alles zu unserer Zufriedenheit, also auch fernab von aller Polizei, erledigt haben? Sollte er den Koffer nicht aus der Gefahrenzone heraus gebracht haben, ja sollte es wirklich zu einem Unfall mit tödlichem Ausgang gekommen sein, dann hätte es uns der Bahnwärter längst gesagt, dann hätte er uns gewiss nicht zu einem Schwatz eingeladen, wie er sich ausdrückte. Hatte er den Koffer aber aus der Gefahrenzone heraus gebracht und das Vorhaben eines Verbrechens aufgedeckt, so waren zumindest nicht wir als Mörder in Verdacht. Unmöglich, einen Mörder zu einem kleinen Schwatz zu bitten. Wir waren also keine Mörder. Was man von uns verlangte, war nur, dass wir uns unwissend und wissbegierig zu stellen hätten. Dann fänden wir vielleicht noch heraus, was sich in der Zwischenzeit alles zugetragen hatte. Zum andern hatten wir, wenn es nötig werden sollte, einen Zeugen, der uns bestätigen konnte, dass wir völlig ahnungslos hergekommen waren und mithin mit dem Mordfall nichts zu tun hatten. Also gaben wir seiner Bitte nach und folgten ihm in sein Häuschen, zumal, nachdem er uns zu unserer Beruhigung mitgeteilt hatte, dass der nächste Zug erst etwa in 15 Minuten zu erwarten sei.

Trotz unserer enormen Wissbegierde lassen wir erst einmal Vorsicht walten und legen keine allzu große Gesprächigkeit an den Tag. Plagt dich eine schlechte Tat, so spricht jedes Wort, das du sprichst, davon. Dem Bahnwärter freilich fällt nichts leichter, als eine Unterhaltung aufzunehmen. Ernesto mit seinem Wintermantel und der tief ins Gesicht gezogenen Wollmütze bietet dazu ja Anlass in Hülle und Fülle.

"Der Herr friert wohl?" sagt er. Und da wir noch immer zögern, auch nur ein Wörtchen zu sagen, als hätte er es mit zwei Stummen zu tun, lachte er zuerst über seinen Schabernack, um uns dann besorgt anzublicken, ob Ernesto etwa an einer tückischen Krankheit leide. "Ja, mein Freund friert oft", sage ich, "er ist ein einmaliger Fall innerhalb der Geschichte der Medizin. Je heißer ihm wird, umso mehr friert ihn." Ich habe das kaum gesagt, dass es nun auch mir heiß und kalt über den Rücken läuft. Der Bahnwärter indes scheint mich zu verstehen. "Es muss nur einmal etwas Außergewöhnliches über dich hereinbrechen", sagt er, "dann kann es durchaus geschehen, dass dir ist, als lebtest du in einer anderen Welt." Wie nebenbei und zufällig fragt jetzt Ernesto, ob es denn nichts Neues zu berichten gebe. Hier, wo die Züge von Himmel und Hölle rangierten, gebe es doch immer etwas zu berichten. "Was soll es Neues zu berichten geben?" fragt der Bahnwärter. Er stand jetzt mitten auf dem Bahnübergang, zwischen den Gleisen, und beschattete seine Augen, um zu sehen, ob der Zug schon das Höllental heraufgefahren komme. "Meinen die Herren etwa die Geschichte mit dem Koffer? Aber die kennt doch schon alle Welt!"

"Was für eine Geschichte mit dem Koffer?" entfährt uns jetzt wie aus einem Mund. - Hocherfreut, jemanden gefunden zu haben, der die Geschichte noch nicht kennt, beginnt der Bahnwärter zu erzählen.

"Das war heute Nachmittag! Da kommt meine Christel aus dem Haus. Ich denke schon, wie ich sie aus dem Guckfensterchen auf mich zukommen sehe, sie will mich zum Abendessen holen. Dabei war die Zeit zum Abendessen noch gar nicht so weit." - "Ihre Christel?" wiederholt Ernesto. Ein flüchtiger Blick zeigte mir, wie viel Mühe ihm das Aussprechen dieser beiden Wörter gemacht hat. Aber auch mir braust es gewaltig im Kopf. Gewiss war es ein Zufall, dass es auch hier eine Christel gab. "Nun ja, meine Christel kommt da also zu mir", sagt der Bahnwärter. "Passen Sie auf, damit Sie alles nur recht verstehen!" Er spricht jetzt etwas lauter, vielleicht weil der eben aufkommende Abendwind gegen die Scheibe schlägt.

"Nachdem wir uns einig sind, dass es bis zum Abendtisch noch etwas Zeit hat, fragt mich meine Christel, wie mir ihr neues Sommerkleid gefalle. Ach ja, das war es doch, denke ich, weshalb das junge Ding so freudestrahlend aus dem Haus gekommen ist. Und ich alter Esel hatte das neue Kleid überhaupt nicht bemerkt, auf das sie sich schon so lange gefreut hatte. So hat man es eben an manchen Tagen. Da sieht man dann nicht einmal die Dinge, die taghell vor einem im Sonnenlicht liegen. Dabei war das Kleid heute mit der Post angekommen. Ich hatte ja noch das Postauto beim Wenden gesehen. Dann schau ich sie mir an und gestehe, dass sie sehr hübsch gekleidet ist in ihrem blau-weiß-gemusterten Pop-Art-Kleid, worauf sie mich fragt, ob sie noch etwas spazieren gehen dürfe."

"In einem blau-weiß-gemusterten Kleid?" drängt es Ernesto auszurufen, denn just in diesem Aufzug hat sich auch seine Christel befunden, als er sie in den Koffer sperrte. Doch kommt es nur zu einem unauffälligen Blickkontakt zwischen mir und Ernesto, dann habe ich das blau-weiß-gemusterte Kleid als eine Belanglosigkeit kleingeredet.

"O du närrisches Ding, du Tochter Evas", erzählt der Bahnwärter daraufhin weiter, "hast gleich deines Vaters Schwäche aufgespürt und nutzest sie jetzt aus, dich in deinem hübschen Staat zu ergehen!" Und ob ich will oder nicht, so kann ich nicht anders, als ihr den kleinen Wunsch zu erfüllen. Dann aber steh ich vor dem Häuschen und schau ihr nach, wie sie den Bahndamm hinauf geht und denk etwas wehmütig bei mir, dass sie dabei doch gar niemand sieht und bewundert. Ich bin zwar nur ein ganz kleiner Angestellter bei der Bahn; das aber gehört denn doch zu meinen Lebenserfahrungen und davon lasse ich auch nicht ab, dass jeder Mann und jede Frau, wer immer über die Bühne dieser Welt dahingeht, etwas Bewunderung braucht." - "Und dann?" fragt Ernesto. Seine jetzt zu Tag tretende Ungeduld war kaum zu übersehen. - "Und dann?" wiederholt der Bahnwärter. "Ja, jetzt kommt allerdings etwas Erstaunliches. Oben angekommen bleibt sie nämlich stehen. Und wie sie so dort steht und nicht die mindeste Anstalt macht, umzukehren, denke ich bei mir, was steht sie nur so herum und kommt nicht zurück? Und ich winke ihr zu, sie möge wieder kommen. Da aber bedeutet sie mir, dass sie etwas Schreckliches auf dem Bahngleis entdeckt habe."

Aufmerksam haben wir ihm zugehört, wenn auch der Schwerpunkt unseres Interesses anderswo lag, als wo ihn der Bahnwärter vermuten mochte. Nachdem er uns ein Weilchen angeschaut hat mit einem Blick, dass wir die Antwort ja doch nicht in Ewigkeit erraten könnten, rückt er damit heraus, dass sich in dem Koffer ein Kind befunden habe.

"Sie können es sich kaum vorstellen, wie mir war, als ich dann nach da droben kam und den Koffer auf den Bahngleisen sah. Ich war empört über diesen Knabenstreich, wie ich dachte, glaubte ich doch, einen alten und ausrangierten Koffer vor mir zu haben, leer oder allenfalls mit minderwertigem Gelump gefüllt. Als ich den Koffer vom Gleis hatte, mit all seinem Gewicht, sah ich, dass er zwar verschlossen war, dass aber der Schlüssel noch von außen dran steckte. Nun aber öffne ich den Koffer und finde darin ein Kind."

"Das ist allerdings sonderbar", sage ich. Und wenn mich auch das Kind stört, weil wir ja eine junge Frau in den Koffer gesperrt hatten, ist die Erleichterung riesengroß.

"So sonderbar ist das nun auch wieder nicht", sagt der Bahnwärter, ohne seine Sache aus den Augen zu verlieren. "Ein stecken gebliebener Schlüssel beweist uns immerhin, dass wir es mit einem Täter zu tun haben, der es eilig hatte."

"Immerhin liegt der Koffer nicht mehr auf dem Bahngleis", meldet sich nun Ernesto zu Wort, um dann die Frage nachzuschieben, warum man denn den Täter noch nicht habe.

"Gemach, meine Herren, gemach", sagt da der Bahnwärter. "Eins nach dem andern! Versuchen Sie zuerst zu erraten, was in dem Koffer ist! Vielleicht gelangen Sie dann auf die Spur des Täters." "Was gibt es da zu erraten?" erwidere ich. "Ein Kind! Sie sagten es doch schon."

"Ob die Herren es glauben oder nicht, in dem Koffer befand sich aber kein Kind, es befand sich darin ein Mädchen. Jawohl, oftmals weiß man nicht Recht, ob man noch ein Kind oder schon eine junge Frau vor sich hat, zumal wir Männer. Und so sage ich, dass mir zuerst ein Kind erschien, das sich dann aber zu einer jungen Frau entfaltete. Wie im Sommerfrühlicht die Rosen in meinem Garten ihre Blüten entfalten, so entfaltete sich aus dem Koffer eine junge Frau. Leider war die Blüte nicht gleich in wohlgepflegtem Zustand. Das dauert eine Weile."

"Hauptsache, sie kann jetzt wieder lachen!" sagt Ernesto, wobei ihm selber ein irres Lächeln übers Gesicht huscht. "O, mit dem Lachen wird es so schnell nicht wieder", versetzt der Bahnwärter. "Das Kind hat einen Schaden weg. Ja, es scheint ungewiss, ob es je wieder wird lachen können wie früher. Nach allem, was wir festgestellt haben, scheint es sich nicht mehr daran zu erinnern, wie es in den Koffer gekommen ist." - "Eine retrograder Amnesie! Das kennen wir; das ist traurig", sagt Ernesto und atmet ein weiteres Mal zufrieden auf. Das ist allerdings traurig, nicht nur, weil das Kind vermutlich außer Stand bleibt, uns den Täter anzugeben, sondern auch, weil es von nun an unter einem Schock lebt."

Der Bahnwärter wollte eben noch etwas dazu sagen, da läutete es. Es war das Zeichen der Bahndirektion, dass der Zug ins Höllental in der Anfahrt sei und dass jetzt die Schranken unverzüglich geschlossen werden müssten. Sogleich stehen wir außerhalb des Bahnwärterhäuschens und machen dem Bahnwärter den Weg frei. Und während der Bahnwärter einen letzten Blick gleisabwärts zur Stadt hinab wirft, ehe er die Schranken hinablässt und den Weg schließt, werfe ich einen letzten Blick zum Höllental hinauf, um mir noch einmal zu verdeutlichen, dass kein Koffer mehr zu sehen ist, und dass ich ganz entspannt und gelassen der Ankunft des Zuges entgegenzusehen vermag.

Längst haben wir in die beiden Richtung geschaut, ich zum Höllental hinauf, wo wir zu unserem Glück keinen Koffer mehr auf den Gleisen entdecken, er aber zur Stadt hinab, von wo der Zug kommt: da saust er auch schon zu uns heran.

"Was für ein Jammer!" sagt Ernesto, während wir mit dem Bahnwärter dem Zug die Ehre geben, "was für ein Jammer, dass sich das Mädchen an nichts mehr erinnert. Das hätte der Polizei viel Zeit erspart und den Bürgern viel Geld. Aber dagegen ist ganz bestimmt nichts mehr zu machen." - Es ist unschwer zu erkennen, wie sehr ihn sein Bedauern erfreut.

"Schon möglich", versetzt der Bahnwärter, während der Rest des Fahrwindes seine Worte mit sich nimmt. "Und doch käme alles auf eine Gegenüberstellung mit dem Täter an", fügt er hinzu, nachdem er salutiert und die Schranken wieder geöffnet hat. "Wer mag es wissen, ob es dann nicht den Bösewicht erkennt! Meine Christel ist sich da jedenfalls ganz sicher. Sehen Sie, dort drüben, da ist sie, das ist meine Christel, und das Mädchen neben ihr, das ist die Christel aus dem Koffer. Sie pflücken zusammen Blumen." Und wies auf die Wiese neben dem abendlichen Bahndamm.

Als wir hinschauten, sahen wir die Christel des Bahnwärters und die Christel aus Ernestos Nachbarschaft, beide in blau-weiß-gemusterten Kleidern, wie sie einträchtig über die Wiese einherwandelten. Genauer gesagt, sahen wir zwei Mädchen, die sich beide so sehr glichen, dass wir nicht hätten sagen können, wer die Christel des Bahnwärters war und wer die Christel aus der Nachbarschaft. Zum Glück kehrten sie uns alsbald schon den Rücken, so dass wir sicher sein konnten, dass sie uns nicht sahen.

"Eigenartig, dass man den Täter schon vergessen hat!" sagt Ernesto und fügt hinzu: "Und die Leute, sagten Sie, kennten schon diese Geschichte?" "So etwas spricht sich herum", sagt der Bahnwärter, nicht ohne zu erkennen zu geben, wie stolz er darauf ist, zur rechten Zeit dem Mädchen zu Hilfe gekommen zu sein. "Darauf dürfen Sie allerdings stolz sein", sagen wir beide und drückten ihm die Hand.

Dann aber verließen wir den Schauplatz, so langsam und würdevoll, wie es uns mit unserer Unschuld verträglich zu sein schien, aber auch so schnell, dass uns keine der beiden Christels mehr zu sehen bekäme. Erst als wir ganz aus dem Gesichtsfeld geraten waren, drängte es uns, uns hemmungslos aus dem Staub zu machen. Und so rannten wir, so schnell wir nur konnten, davon; und ich schwor mir, von nun an der Natur ihren Lauf zu lassen und keine weiteren Versuche mehr zu unternehmen.

12. Im Pausenhof

Die Türen der Klassenzimmer flogen weit auf und die Schüler stürzten herab in den Pausenhof. Auch ich begab mich jetzt aus dem Zimmer. Ich war allein, ein Überbleibsel aus uralter Zeit, kaum mehr als ein Stück Luft. Seit wie langer Zeit hatte ich schon mit keinem Menschen mehr auch nur ein Wörtchen gewechselt! Weit und breit war nirgends mehr ein Mitschüler zu sehen. Nicht einmal eine Aufsichtsperson hatte man mehr hier droben gelassen, mich zu verwarnen, wenn ich mich erkühnte, anders als gesittet, Stufe um Stufe die Treppen hinab zu steigen. Aber mir war jetzt nicht nach Riesenschritten und lautem Geschrei zu Mute. Aufrecht, Schritt um Schritt und Stufe um Stufe, stieg ich die Treppen hinab. Selbst den delphischen Apoll, der hier im Treppenhaus schon Generationen von Schülern zur Achtsamkeit und zur Selbsterkenntnis aufgefordert hatte, würdigte ich keines Blickes. Mochte er mir sagen, wenn er es wusste, warum ich trotz meines hohen Alters hier noch immer Schüler war. Mochte er mir sagen, wenn er es wusste, was ich hier noch zu lernen hatte, wo ich wie ein Gefangener übrig geblieben war, während meine Mitschüler längst die halbe Welt erobert hatten. Ja, mochte er mir sagen, in was für einem Gefängnis ich hier eingesperrt war, damit ich ihm sagen könnte, wer ich war. So in Gedanken an meine Schülerschaft war ich an ihm vorbei die Treppe hinabgestiegen und war schon dabei, mich auf den Pausenhof zu begeben, als ich auf den alten Griechischlehrer stieß. Er hieß Klein, wurde aber seit Alters nur mit seinem griechischen Namen "Oligos" benannt, mit der Betonung auf dem ersten Omikron statt auf dem Jota, und hatte heute die Pausenaufsicht. Gerade hatte er einigen Pimpfen, die nach draußen drängten, dargelegt, dass es nicht ratsam sei, hinaus zu gehen, weil eben ein schrecklicher Regen herniedergehe, und hatte zum Beweis dafür einen Spalt breit die Türe geöffnet, als ich hinzukam.

"Auch du solltest bei diesem Wetter nicht hinausgehen", sagte er zu mir, als er sah, dass ich Willens war, den Weg auf den Schulhof hinaus zu nehmen, und zwar mit einer Stimme, als appelliere er dabei an mein hohes Alter, an die reife Vernunft, die ich mir in den vielen Jahren meiner Schulzugehörigkeit erworben, wie nicht zuletzt auch an die Vorbildfunktion, die ich den Kleinen gegenüber hätte. Wäre ich aber auch aus eigenem freien Willen bereit gewesen, bei der Türe wieder umzukehren, so zwang mich jetzt, allen Widerwärtigkeiten des Wetters zum Trotz, ein so unbeugsamer Wille, dieses kümmerliche Stümpchen meiner Freiheit zu demonstrieren, dass ich unmöglich wieder zurück konnte. Unbeirrt schritt ich weiter und nichts lag mir ferner, als ihm auch nur mit einem Zeichen zu verstehen zu geben, dass ich ihn gehört hätte. Ja hätte er auch versucht, mich mit Regen und Sturm ins Haus zurückpeitschen zu lassen, ich hätte mir Platz verschafft. Oder war ich nicht noch immer hier, weil ich noch immer kein Reifezeugnis erhalten hatte, mithin also, weil ich noch immer nicht reif war fürs Leben? Wie aber konnte ich ins Leben gelangen, wie vermochte ich mir ein Bild von der Welt zu verschaffen, wo ich nicht einmal den Pausenhof sehen sollte! Wenn sie den Schülern einredeten, dass hier nicht für die Schule, sondern für das Leben gelernt würde: was war das denn dann für ein Leben? Im Übrigen konnte ich mich ganz bequem draußen unter das Vordach stellen, wo der Pedell die Geräte für den Schulgarten verwahrte. Da würde mir das Wetter schon nichts antun. Ja, wenn ich nach Gründen suchte, weshalb ich noch immer da war, vergessen und übersehen in diesem Gebäude, ohne auch nur einen kleinen Fortschritt zu machen, so lagen sie doch hier: Weil man dem Einzelnen kein eigenständiges Handeln zutraute; weil sie einen beaufsichtigten und kommandierten bis in den Pausenhof hinab und dass man, wenn man etwas erreichen wollte, es nur gegen ihren Willen zu erreichen vermochte. Jawohl, wo man sie brauchte, da waren sie nicht da, und wo man einmal den Versuch machte, über sich hinauszuwachsen, standen sie einem im Weg. Die anderen hatten das längst erfasst und waren ihnen entwischt. Nur ich hatte nicht aufgepasst und hatte verschlafen. Jetzt aber war ich aufgewacht und erkannte, dass es höchste Zeit war, sich über ihre Gebote hinweg und, musste es sein, auch über sie selber hinweg zu setzen.

Ein Weilchen mochte ich schon unter dem Vordach gestanden haben, gespannt verfolgend, wie einige Schüler damit beschäftigt waren, unbemerkt durch ein fernes Pförtchen, das allgemein das Abitürchen genannt wurde, dem Schulgelände zu entschlüpfen: als Oligos auf mich zukam. Die Art und Weise, wie er mit langen wohlbemessenen Schritten auf mich zukam, und wie er bereits aus der Ferne meine Blicke an sich zu binden suchte, ließen mich nicht daran zweifeln, dass er es sich in der Zwischenzeit zur Pflicht gemacht hatte, mich aufzusuchen, um mich über die Pflichten eines Schülers wie auch eines Lehrers aufzuklären. Als wäre er einer von den Sängern, die als griechischer Chor ins Rund einer Orchestra einziehen, dachte ich spöttisch.

Als er jetzt neben mir stand, rückte er gleich mit der Frage heraus, was mir denn an seiner pädagogischen Praxis missfiele. "Es ist uns nicht entgangen", begann er, "dass du seit einiger Zeit ein höchst unzufriedenes Gesicht zur Schau trägst. Zwar hast du dich noch nie so zufrieden gezeigt, dass uns dein Anblick erfreut und uns in unserer Arbeit ermuntert hätte; dass du nun aber deine Misserfolge uns zur Last legst, das können wir keineswegs auf sich beruhen lassen. Drum bitte ich dich, nachzusehen, in wie weit du es nicht selber bist, der sich hier missversteht. Wie mir scheint, hast du dein Verhalten nicht genug bedacht, so dass du eher handelst, um uns zu missfallen, als dass du in der Lage wärest, uns mit deinem Verhalten auf schwerwiegende Fehler oder Versäumnisse aufmerksam zu machen. Würdest du dich nämlich verstehen, so würdest du auch uns verstehen, und dann würdest du dich in Geduld ertragen. Weil du aber weder dich noch uns verstehst, nimmst du dir ein Recht, uns zu grollen."

In dieser Art sprach er, während er hinaus in den Regen schaute. Ich aber, gleichfalls in den Regen hinausschauend, erwiderte nichts. Ich erwog nur, ob er es sich da nicht ein wenig zu einfach machte, wenn er mir vorgaukelte, mir würde es wie Schuppen von den Augen fallen und ich würde sie alle verstehen, wenn ich nur mich selber verstände. Warum begann er mit dem Verstehen nicht bei sich selbst? Vielleicht würden ihm dabei die Augen aufgehen und er würde erkennen, dass sich in dieser Schule noch nie ein Lehrer bemüht hatte, einen Schüler zu verstehen. Oder hatten sie sich nicht alle immerfort vor den Schülern versteckt und, wenn sie dann zum Unterrichten hervorkommen mussten, peinlich darauf geachtet, den Abstand so groß wie nur möglich zu machen, dass sie nur ja nicht Opfer würden von einem zufälligen Ausfall eines Schülerraubtiers? Warum gab man nicht zu, dass keine Begegnung vorgesehen war von Mensch zu Mensch, sondern dass man froh war, wenn man ihnen nicht zu nahe kam?

"Nächsten Monat werde ich pensioniert", fuhr er nun fort, indem er versuchte, seiner Stimme etwas Einschmeichelndes und Sanftes zu verleihen. "Dann trete ich in den Ruhestand; und das ist gut so. Denn wenn einem einmal die Sehkraft so sehr erlahmt, dass man nicht einmal mehr über den Pausenhof hinweg zu schauen vermag, soll man nicht länger mehr unterrichten. Andererseits aber mache ich mir Sorgen um dich, weil ich nicht weiß, was dann aus dir werden mag. Wer wird dich dann betreuen, wer auf dich aufpassen, wer dir einen guten Rat geben? Wohl gibt es auch unter den jungen viele gute Lehrer, doch wer kann es sich zutrauen, dich zu unterweisen, wo du schon auf mich nicht gehört hast?"

"Umsorgt von Aufpassern?" hallte es in mir wider. Was für ein bedeutendes und kostbares Potenzial hatte man denn in mir entdeckt, dass man sich um mich hätte Sorgen machen müssen? Etwas in mir wollte auflachen nach dieser grotesken, Sorge heuchelnden Beteuerung. Er, der noch nicht einmal mehr über den Pausenhof zu schauen vermochte, hätte mich umsorgt? Wo wäre auch nur ein einziger Rat, wo ein Ansporn, wo ein hilfreiches Lob gewesen? Hatten sie jemals ihren Schülern, und sei es auch nur mit einem Lächeln zu verstehen gegeben, dass alle unter denselben Bedingungen zu leben hatten? Zum Glück liefen ihre Aufpassereien jetzt endlich aus. Denn jetzt stand ja, wie er selber sagte, seine Pensionierung bevor. Und der Ingrimm, der sich seit langem in mir aufgestaut hatte, blitzte mir aus den Augen.

"Du beklagst dich", sagte Oligos, "weil du glaubst, von uns festgehalten worden zu sein? Und dann wieder machst du uns zum Vorwurf, wir hätten dich allein gelassen? War es nicht nur zu deinem Besten, dass wir dir Platz gemacht haben und zusammengerückt sind auf engstem Raum, damit niemand dich stört in deinem Fortkommen. Und selbst wenn wir dich festgebunden hätten am Mastbaum der Schule, wäre es nicht besser gewesen für dich, als dich mit Beifall zu überschütten und dir vorzulügen, du hättest schon alles erreicht?"

"Damit niemand dich stört in deinem Fortkommen" hallte es in mir wider. "Was war es denn, was sie als Ziel für mich ins Auge gefasst hatten, was sonst, als ein paar wertlose Kunststückchen, in die sie bereit waren, eine vor Glücksverlangen zitternde Schuljugend einzuweihen?

Oligos warf einen besorgten Blick zu mir herüber. Dann, tief Luft holend, sagte er: "Wie viele haben nicht schon Träume aufgezeichnet und Visionen, die sie für das Herrlichste hielten, was jemals erdichtet worden, und haben dann an sich zu zweifeln begonnen! Denn mögen sie auch fest davon überzeugt gewesen sein, das Leben in seiner ganzen Weite und Tiefe erfahren zu haben, so stellte sich dann doch heraus, dass sie nicht fähig waren, daraus Glück und Einsicht zu schöpfen. Eben an dieser Stelle aber hast du nun auch die Erklärung für mein Verhalten dir gegenüber. Gesetzt nämlich, ich hätte nichts anderes getan, als dir immer nur zuzuschauen und jede deiner Handlungen zu verfolgen, gesetzt, ich hätte dich jeweils auf jeden Fehler und auf jede Verbesserung hingewiesen: hätte ich dir damit geholfen? Hätt ich nicht nur wie ein schlechter Gärtner gehandelt, der in seiner Ungeduld andauernd den Boden aufscharrt, um nachzusehen, ob der Same endlich aufgeht? Was also hättest du davon gehabt, ich hätte dir die Worte Apollons oder der neun Musen eingeflößt: was sonst als einen Hohn auf die dir eigene Begabung? Vielleicht denkst du jetzt an Homer, dem die Musen seine großen Epen eingegeben haben. Täusch dich nicht! Was sie ihm eingegeben haben, das ist der Mut und die Ausdauer und die beharrliche Umsicht auf alles, was bis dahin von den Menschen geschaffen worden, neu zu gestalten, wie es ja schon im Proömium der Odyssee heißt, dass er danach trachtete, die Sitten und Gebräuche der verschiedensten Völker kennen zu lernen. Ähnlich ist für jeden festgesetzt, sich auf sich selbst hin zu entwickeln und sich zu finden, statt immerfort von uns gegängelt zu werden und von unserem Wohlwollen abhängig zu sein."

"O ihr Sophisten", dachte ich bei mir "Ihr Heuchler und Wortverdreher! Wie lange sollen wir warten, bis wir mit dem Leben beginnen? Fehlt jetzt nur noch, dass ihr mir erzählt, dass ihr die Dummen mit Belobigungen in die Welt hinaus schickt, während ihr die Talentierten in euren Schulkasernen gefangen haltet."

"Schau nicht auf die anderen!" sagte Oligos, als hätte er meine Erwiderung vernommen. "Schau nur auf dich, wie du dich weiterentwickelst. Jeder Schüler ist eine Welt für sich! Und wie erst in seiner Entwicklung! Nimm nur einmal die Kleinen! Nur zu einem winzigen Anteil gehören sie sich selbst. Wir sind es, die für sie haften; ja, wir sind es, die in Wahrheit einen jeden Fehler, den wir ihnen zurechnen, selber begehen. Wir sind es, in denen sie sich widerspiegeln. Was auch würde aus ihnen werden, wenn ihnen unser Wohlwollen abginge? In der Tat ist es ja auch überaus erstaunlich, wenn man zusieht, wie sie Formen und Figuren erfinden, die sie dann zur deutenden Wiedergabe der Vorgänge gebrauchen. Und wenn sie dann größer werden und wir ihnen dann freilich auch ihre kleinen Unbehilflichkeiten oder Fehler anstreichen, die sie selbst oftmals weit über Gebühr bekümmern, dann beschwichtigen wir sie, indem wir zu ihnen sagen: 'Hier hast du schon ein Meisterstück abgegeben.' Was dem Kind aber noch fehlt, das ist die Bewusstheit seiner selbst, die ihm Kraft und Sicherheit gibt, ihm aber auch sich selber gegenüber Verpflichtungen auferlegt. Erst nach und nach lernt es sich entdecken, um dann in freier Verantwortung sein Selbst zu entwickeln. Diese Arbeit aber, wenn sie auch von uns mitzutragen und zu verantworten ist, kann und darf ihm keiner abnehmen. Ihm allein ist sie vorbehalten. Versucht es einer von uns dennoch, so kann es sich nur um einen schrecklichen Irrtum handeln."

Wieder machte er eine Pause und wieder ließ ich sie verstreichen. Was aber hatte er bis jetzt vorgebracht als ein lehrbuchartiges Allgemeinwissen, das herzlich wenig mit mir zu tun hatte? Fehlte nur, dass er in seinem Bedürfnis nach Verkleinerung noch auf seinen Spitznamen, den Oligos, den Winzling zu sprechen käme, der bei keiner Erziehung fehlen dürfte. Was indessen gingen mich die Kleinen an, ihre Erziehung und Entwicklung und alle ihre kindlichen Versuche? Dabei war mir in der Tat keineswegs entgangen, dass er sich bemühte, immer kleiner vor mir zu erscheinen. Er täuschte sich aber, wenn er glaubte, durch das Gaukelspiel einer Selbstverkleinerung Eindruck auf mich zu machen. Ja, mochte er damit auch seinen Namen ehren, mit mir hatte das nichts zu tun. Oder hatte er die Stirn, zu behaupten, er habe sich jemals ernsthaft um mich bemüht? War sein Glaube an mich, wenn er mich nicht kannte und nichts von mir wusste, nicht gerade so viel wert, wie ein allgemeines Bekenntnis zum edlen Menschentum, das einen überkommt, wenn man sich einsam fühlt? Wahrlich, er konnte einem leidtun, wenn man ihn so reden hörte.

"Vernimm denn nun auch noch dies", so fuhr er jetzt fort, "ich kenne viele, ja leider viel zu viele, das muss ich gestehen, die wir in die Welt hinaus entlassen haben, aus denen aber nichts geworden ist. Und dies vornehmlich dadurch, dass wir sie mit einer Beurteilung ins Leben entlassen haben, die sie zu den höchsten Leistungen befähigen sollte, sie in Wahrheit aber überheblich gemacht und berauscht hat. Jawohl, mein Freund", seine Stimme war jetzt sehr leise geworden und seine Gestalt schien geheimnisvoll in sich zusammengefallen, "glücklich der Lehrer, der einen Schüler hat, bei dem sich seine Anstrengungen lohnen! Wenn es dir aber nicht gelingt, den Archimedischen Punkt aufzufinden, dann nützte dir auch nichts, wenn wir dir eine eigene Welt erschüfen."

Jetzt aber hielt es mich nicht länger. "Den Archimedischen Punkt hätte ich aufzufinden? Habt ihr jemals für uns etwas anderes im Sinn gehabt als den archimedischen Punkt der Genügsamkeit und der Bescheidenheit, der Sittsamkeit und der Bürgerlichkeit, des Wohlverhaltens und des Gehorsams? Oder ist das die Quintessenz eurer Schulweisheit, mit Heiterkeit und Behagen das Leben verstreichen zu lassen, ohne zuzusehen, was es mit ihm auf sich hat?" Und ich erinnerte mich wieder, wie er seinerzeit noch davon gesprochen hatte, nach seiner Pensionierung ein Häuschen bauen zu wollen, umgeben von einem kleinen Garten, in dem er den Rest seiner Tage ungestört von allem Schülerlärm und aller Schülerbeaufsichtigung verbringen könne. Was aber hatte ich damit zu tun? Aber so war das. Sie wussten nicht anders zu denken, als dass alles, was ihnen für sich selber gut schien, auch für andere gut sein müsste.

"Den Archimedischen Punkt hätte ich zu finden?" begab ich mich noch einmal auf den Kampfplatz der Rede. "Wie einfach habt ihr es euch doch gemacht, wie elend euch eure Aufgabe zu Recht gelegt, mit was für einer Lektion die Schüler auf das Leben vorbereitet! Erkenne dich selbst! Was sonst habt ihr ihm dazu beigebracht, als ihm eingetrichtert, dass er, der einmal als das erhoffte Glück der Erde empfangen worden, sie alsbald schon wieder zu verlassen hätte. Wie anders wäre es gewesen, wenn wir gelernt hätten, statt uns vor Wind und Wetter zu verkriechen, ihnen zu trotzen! Wie anders, wenn wir gelernt hätten, eine Arche zu bauen, um dann selbst auch noch über eine Sintflut die Oberhand zu gewinnen! - Wenn die Schule für das Leben erziehen will" fuhr ich fort, "und der Schüler für das Leben lernt, dann ist notwendig, dass der Lehrer weiß, was es mit dem Leben auf sich hat. Allein schon der Gedanke, dass ein Schüler erfolglos bleiben könnte, müsste eines Lehrers Leben vernichten. Und hätte ihm der Schüler auch tausend und abertausend Beweise an Unbrauchbarkeit und Unfähigkeit geliefert, so müsste er nur noch tausendmal mehr an ihn glauben. Hätten wir die Kunst erlernt, das Leben zu leben, dann könnten wir uns aufmachen, hinaus ins Leben. Und besser wäre es noch allemal, in einer Sintflut ums Leben zu kommen, als in einem Schulgefängnis zu Grund zu gehen. O mein Herr", rief ich jetzt noch, und zwar so laut, dass es auch noch die Schüler im Schulhaus hören mussten, "was weiß schon ein Lehrer davon, wie man eine Berufung weckt, wenn ihm selber jede Berufung ermangelt?"

Die Glocke war eben dabei, das Ende der Pause einzuläuten, da nahm Oligos noch einmal das Wort und sagte: "Ich war es nicht, der dich hier eingesperrt hat. Du selber warst es, deine Unsicherheit und dein mangelhaftes Bewusstsein und nicht zuletzt deine Angewiesenheit auf unser Lob. Indem ich dich links liegen ließ, wie man zu sagen pflegt, habe ich dich herausgefordert, dich zu erheben und dich als eigenständige und freie Persönlichkeit zu entfalten. Niemals bist du in Gefahr geraten, dich mit der Schule zu brüsten und darüber deine Lebensaufgaben zu versäumen. Im Übrigen habe ich dich nichts gelehrt, was dich nicht auch ein anderer hätte lehren können. Du verdankst mir also nichts, außer vielleicht den Ärger, den ich dir verursacht habe. Aber auch der ist schon bald vergessen, wenn du nur gehst, denn niemand hält dich. Tore und Wege stehen dir frei. Nimm es denn als Unart eines Aufsicht führenden Lehrers, dass ich dir in dieses Regenwetter hinaus gefolgt bin.

Nach diesen Worten spannte er seinen Regenschirm auf und machte sich auf den Weg zum Schulhaus zurück. Ich aber blieb noch eine Weile stehen. Mein Entschluss stand fest. Ich würde die Schule verlassen, so schnell wie möglich. Und wer mochte es wissen: vielleicht würde noch etwas aus mir werden.

 

13. Die Frage nach dem lieben Gott

Als Herrn G.s Frau verstorben war und er nun keine liebe Frau mehr um sich hatte, ward ihm die Welt immer enger und enger. Vollends trübsinnig aber wurde ihm, wenn er seiner alten Mutter begegnete. Ziemlich rüstig war sie noch, sodass sie für sich allein aufkam, ohne eigens einer Hilfe zu bedürfen. - Herr G. indessen hatte viele Hilfe nötig, vornehmlich von Seiten des lieben Gottes, der ihm zusammen mit seiner lieben Frau verschwunden zu sein schien. Wo immer er auch suchte, er fand ihn ebenso wenig mehr wie seine Frau. Alles aber, wovon er hörte, zumal wenn es mit der Liebe zu tun hatte, belastete oder belästigte ihn. Zumal missglückte Liebe griff ihn an und er fragte sich, warum ihm seine Frau hatte genommen werden müssen, wo sie doch zusammen harmoniert hatten, während jene auf Erden lebten, ohne zu wissen, wozu. Noch schlimmer aber setzte ihm die Frage zu, wie wir Menschen es denn schafften, uns das Liebste rein zu bewahren, wenn wir es verloren hätten. Wenn wir beten könnten, dein Reich komme, und dann wäre es da: ja das wäre wunderbar." Aber so war es nicht. Stattdessen hatte man mit der Bitte fortzufahren: dein Wille geschehe, was doch besagte, dass man damit einverstanden sein sollte, sich zu ducken und ohne die Liebste auszuhalten, und sei es auch für die nächsten 5 Milliarden Jahre. War dann aber nicht alles einerlei geworden? Oder machte er, Herr G., etwas falsch, wenn er so fragte? - Eines Nachts nun, als Herr G. wieder über all diesen Fragen gesessen und gegrübelt hatte, und er nun auf dem Flur seiner alten Mutter begegnete, die sich eben an ihm vorbeidrücken wollte, denn seine feindliche Art war ihm nicht verborgen geblieben, hielt er sie fest und sagte: "Was tust du nur hier, dass du auch noch die Nacht mit deinem Gepolter störst?" und dachte, dass sie ihn wenigstens in der Nacht in Ruhe lassen könnte, wo sie ansonsten doch für nichts und für niemanden mehr da war. Sie aber, als hätte er sie nach der ewigen Bestimmung gefragt, antwortete: "Warte nur! Bald bin ja auch ich im Himmel!" "Im Himmel?" wiederholte Herr G., ohne den flehenden Ton zu bemerken. "Zu wem willst du denn in den Himmel?" - "Zum lieben Gott", antwortete sie mit zitternder Stimme. "Wenn du zum lieben Gott willst, dann musst du wissen, wer der liebe Gott ist!" versetzte Herr G. "Unter Zehntausend musst du ihn herausfinden. Sag mir also, wer er ist und woran du ihn erkennst!" Der schärfer gewordene lauernde Ton verfehlte nicht seine Wirkung. Und weil die alte Frau merkte, dass ihr Sohn selber keine Antwort darauf mehr wusste, so vermochte sie nur hervorzubringen, der liebe Gott sei eben der liebe Gott und dass man weiter nichts über ihn aussagen könne. Weil er aber auf seiner Frage beharrte, sie ihm aber zur Antwort gab, sie wisse nicht, worauf er hinaus wolle, und die ersten schweren Tropfen sich ihr aus den Augen drängten: "So will ich dir denn sagen, wer der liebe Gott ist", versetzte Herr G. Und alles Gift und allen Unrat des Herzens aus sich heraus pressend sagte er: "Der liebe Gott, das ist der, den man sich gern einbildet, wenn man ihn nicht braucht und es einem gut geht, und der sich durch kein Opfer erweichen lässt, wenn es zum Äußersten kommt." Nach diesen Worten war ihm etwas wohler zu Mute. Zugleich aber merkte er, dass er seine Mutter zu hart angefasst hatte, weil er nicht verstehen konnte, dass sie noch lebte, während ihm seine Frau verstorben war.

 

14. Die Mutter als Wäscherin

Eines Abends war es, die Nacht war schon am Einbrechen, als ich mich im Wald befand, ein kleines Stück oberhalb der Ebene, wo sich einst das Haus der Eltern befunden. Als ich mich umschaute, bemerkte ich leicht erhöht im Hintergrund des Waldesdickichts ein Feuer, was mich verwunderte. Beim Näherkommen sah ich, dass da eine alte Waschhütte war mit einem Waschofen, in dem das Feuer brannte, aus dem die Flammen herausschlugen.

Über viele Jahre hinweg, genauer gesagt, vor der Erfindung chemischer Waschmittel, haben solche Öfen bei uns Verwendung gefunden. Auch bei uns, im elterlichen Haus war noch ein solcher im damaligen Waschkeller gestanden, ehe er einer leicht beweglichen, überall aufstellbaren Waschmaschine Platz machte. Man heizte dabei das Wasser, in dem sich die Wäsche befand, von Hand vermittels eines Holzfeuers unter dem Waschkessel bis zum Kochen, um dann den Reinigungsprozess durch Zugabe von Seife und Soda in Gang zu bringen. Das war eine schwere, anstrengende Arbeit, zumal wenn es dann galt, unter Verwendung entsprechender großer, Hitze nicht leitender Geräte, wie etwa aus Holz, die im heißen Wasser befindliche Wäsche nun immer wieder zu wenden und zu drehen. Dass dabei die Wäscherinnen (denn die Arbeit war eine Domäne der Frauen) in einem Meer von Dampfwolken standen, versteht sich fast von selbst. Von daher hört man auch heute noch an manch einem nassen und nebligen Tag, es herrsche ein Wetter wie in einer Waschküche.

Ähnlich war es nun auch hier. Vor dem Ofen stand eine Wäscherin, bekleidet mit einer langen weißen Gummischürze, wie sie noch meine Großmutter beim Waschen getragen hatte, die sich eben daran machte, die Ofentür zu öffnen und Holz in den Ofen nachzuschieben. Der gekrümmte Rücken wie auch die bedächtig ausgeführten Bewegungen beim Zurechtmachen und Einschieben des Holzes verrieten, dass die Wäscherin ihr Metier verstand, wenn sie auch nicht mehr die Jüngste sein mochte.

Unterdessen war ich ihr so nahe gekommen, dass ich auch die nähere Umgebung des Ofens genauer wahrzunehmen vermochte. Da entdeckte ich einen in die Erde eingelassenen Trog, zu welchem vom Waschkessel aus über ein Brett eine Rinne hinabführte. Und nun sah ich, wie die Frau begann, ein Wäschestück nach dem andern aus dem Kessel zu holen und es auf das Brett zu legen. Jedes Mal, wenn sie ein Stück herausgeholt und es behandelt hatte, ließ sie es die Rinne hinabrutschen, wo es drunten in den Trog plumpste. Die Frau verfolgte jeden Schritt des Vorganges mit der gleichen Bedachtsamkeit und Ruhe, die sie schon beim Einheizen des Ofens an den Tag gelegt hatte. Es waren aber keine gewöhnlichen Wäschestücke, die zur Bearbeitung anstanden. Teile menschlicher Körper waren es, wie ich jetzt sah, die da hinabrutschten, und was ich zuerst als ein Weichklopfen von Wäscheteilen gesehen zu haben glaubte, war nichts anderes als ein Zerhacken von Leichenteilen. Der Trog aber war angefüllt mit dem Blut, das bereits zusammen mit den Fleischteilen herabgeflossen war.

Kaum dass mir klar war, dass es ihre Kinder waren, die sie zerstückelt in den Trog tat, und sie auch schon einem weiteren Kind zuwinkte, das sich in ihrer Nähe befand, "Mutter!" schrie ich auf oder versuchte es zumindest, während mir der Schrei im Hals stecken blieb. "Mutter was machst du?" Denn niemand sonst war die Frau. Sie aber hatte mich nicht gehört. Angesichts der vielen Kinder, die sie so bereits zurecht gemacht hatte und wohl noch zurecht machen würde, war sie ganz in ihrer Arbeit aufgegangen. Das Kind aber, dem sie sich in der Zwischenzeit zugewendet hatte, kam auch gleich herbei, um sich ohne das geringste Widerstreben aufs Brett legen und alles mit sich geschehen zu lassen. Als hätte es die Süßigkeit des Lebens niemals verspürt!

Ich war nun schon ganz nahe gekommen und niemand mehr war neben mir übrig, da wandte sie sich nun auch an mich. Doch nicht, als ob sie mich dabei erkannt hätte oder auch nur hätte erkennen wollen! Ohne sich umzuschauen, streckte sie schon die Hand nach mir aus. Weil ich ihr aber auswich und sie mich nicht erreichte, sah sie sich jetzt um und ihr Blick fiel auf mich. Und während sie mich nun erkannte, schien sie mir zu bedeuten, dass ich keine Angst haben müsse, dass alles ganz leicht zu ertragen sei und schnell vorübergehe. Für einen Augenblick stand ich unentschlossen. Ein mir bislang noch unbekannter Schauer begann, mich wohlig zu durchrieseln und ich war schon versucht, mich all dem Kommenden zu überlassen. Doch dann packte mich das Entsetzen. "Nicht so!", schrie ich, "nicht so! Nicht so sich hinlegen und niedermetzeln lassen!" Und eilte, während sie mir nachsah, so schnell ich nur konnte davon.

 

15. Auszug aus dem elterlichen Haus

Zumal als Kind war es mir immerfort ein Rätsel, wie es geschehen möchte, dass ich eines Tages den Hut nähme und den Eltern Adieu sagte. Ich glaubte den Vater zu kennen und ihn zu verstehen bei all seinen Eigenarten; und ich liebte die Mutter und war gerne zu Hause, und wenn die Eltern auch einmal Sorgen plagten, so war ja doch immerhin ich noch da, ihnen ein wenig über ihre Nöte hinweg zu helfen. Und so kümmerte ich mich auch nicht weiter um die Zukunft und zog es vor, den Tag meines Auszugs auf sich beruhen zu lassen. Mochte der Tag kommen, wann immer dafür die Zeit war. Dann würde ich eben meine Habseligkeiten zusammenpacken, würde Adieu sagen und würde gehen; und dann mochte Gott dafür sorgen, dass wir alle nichts zu beklagen hätten und niemandem von uns etwas Schlimmes geschähe.

Eines Sonntags, im beginnenden Frühling, war es dann so weit. Freilich ahnte ich noch nichts davon beim Aufstehen. Alle die kleinen Besorgungen beim Waschen und Ankleiden verrichtete ich wie üblich und auch beim Frühstück saßen wir beisammen, als wäre alles wie immer und der Tag würde verfließen wie jeder andere auch. Und da ein schöner Tag angebrochen war, entschloss ich mich nach dem Frühstück, mich ins Freie zu begeben. Der Mutter hatte ich auf Nachfrage noch eigens gesagt, dass ich zum Mittagsessen wieder zurück wäre. Ich hatte also drei Stunden Zeit zum Wandern: und da ich die Zeit gehörig zu nutzen gedachte, so hatte ich mir eine entsprechende Route abgesteckt und war tüchtig ausgeschritten. Am Ufer der Dreisam war ich zuerst flussaufwärts geschritten, um dann über die Berge wieder nach Hause zu kehren. Wie zumeist auf meinen einsamen Wanderungen hatte ich über die mir obliegenden Studien nachgedacht, sodann aber auch, dass ich sie nun bald zu glücklichem Abschluss bringen wollte, ohne mich aber um die fernere Zukunft zu bekümmern. Dabei geschah es, dass ich in der Versunkenheit meiner Gedanken einem Holzweg zum Opfer fiel, worauf ich, als ich dessen gewahr wurde, einen Umweg einzuschlagen hatte.

Ich hielt indessen die Angelegenheit nicht weiter für schlimm. Schließlich war ich gut zu Fuß und konnte, wenn es sein musste, auch einmal über Gräben und Baumstämme springen. Und so tat ich denn nur das Nötigste, den Rückstand wett zu machen. Je näher die Mittagsstunde heranrückte, zeigte es sich, dass ich mein gegebenes Wort nicht einzulösen vermöchte, wenn ich mich nicht eines schnelleren Schrittes bediente. Und so eilte ich endlich wie ein passionierter Querfeldein-Läufer nach Hause, um den verabredeten Termin um 12 Uhr nicht zu verpassen. 12 Uhr hatte es indessen geschlagen und die Glocken der Heimatkirche waren eben dabei, die letzten Klänge des sich anschließenden Angelus-Läutens ins Land hinaus zu schicken, als ich ziemlich erschöpft die letzten Meter auf das elterliche Haus zu eilte. Als hätten mir die Engel des Jüngsten Gerichts noch die letzten Töne ins Ohr gejagt, unwissend, ob ich es nun geschafft hätte, die Reihen der Geretteten zu erreichen, drückte ich die Klinke des Gartenstores und betrat das elterliche Anwesen, als mir auch schon die Mutter aus der Haustüre heraus entgegen kam. Sie war eben dabei, das Mittagsgericht samt Tellern und Besteck aus dem Haus hinüber auf die Veranda zu tragen. Von meinen Sorgen wegen einer Verspätung schien sie nicht das Mindeste zu ahnen. Der Vater habe ihr erlaubt, sagte sie, heute, bei dem schönen Wetter draußen auf der Veranda das Mittagessen aufzutragen, und fügte dann hinzu, heute sei ja auch der erste Sonntag im Jahr, wo man endlich die Winterheizung ausschalten und sich wieder der Frühlingssonne überlassen könne. Mein Anerbieten, ihr zu helfen, während sie dann dort den Tisch deckte, fand sie gut, worauf sie mich bat, hier draußen zu bleiben und auf den Mittagstisch Acht zu geben. Sie habe nämlich Vaters Lieblingsgericht zubereitet, sein Fischgericht, und so könne sie dann noch die übrigen Besorgungen rasch hinter sich bringen.

Wenn ich nun auch nicht recht wusste, worauf ich Acht geben sollte - vermutlich wollte sie nur, dass sie nicht auch mich noch zu Tisch rufen müsste -, so kam ich doch gerne ihrem Wunsch nach. Nichts war mir lieber, als mich neben den Tisch zu stellen und jetzt, wo doch, wie mir schien, alles ein gutes Ende erreicht hatte, mich zu beruhigen und meinen Gedanken freien Lauf zu lassen.

Und ich dachte an die Mutter, die mir eben in ihrem neuen Frühlingskleid wie in ein glückliches Mädchen zurück verwandelt erschienen. Als Mädchen, von der Schulbank weg hatte sie der Vater, er war sieben Jahre älter, noch kurz vor dem Krieg geheiratet, um sie dann in den Kriegsjahren allein mit zwei kleinen Kindern zurück zu lassen. Nach dem Krieg dann hatte sie versucht, dem Vater eine gute und verlässliche Stütze zu sein. Als Botschafterin der Liebe und des Friedens war ihr nie etwas zu viel gewesen, wenn sie dadurch nur Freude und Zufriedenheit zu erwecken vermochte. Zumal jetzt, wo sie nach Jahren einer schweren Erkrankung wie durch ein Wunder erstarkt nach Haus zurückgekehrt war, hatte sie sich vorgenommen, alles zu tun, um erneut den Frieden und die Freude ins Haus zurück zu bringen. Aber auch an den Vater dachte ich, der die Mutter brauchte. Nicht viel hatte er in seinem Leben erreicht, jedenfalls nicht so viel, wie er hatte erreichen wollen. Ohne Studium und Beruf hatte er sich nach dem Krieg eine Arbeit gesucht und hatte dann eine Stelle als Beamter gefunden, allerdings ohne Gelegenheit, sich weiter zu entwickeln. Dazu waren dann noch ein paar Freunde gekommen, denen er sich etwas zu vertrauensselig offenbart hatte und die ihm den Geschmack an jeder Geselligkeit vergiftet hatten. Außer der Mutter hatte er bald schon niemanden mehr, der zu ihm hielt, was freilich für die Mutter die Aufgabe nicht erleichterte. Denn da er nun einmal Wunden trug in seinem Herzen, so brauchte er jemanden, mit dem er die Wunden teilen und mitunter auch, dem er etwas davon anlasten konnte. Da saß er nun also in seiner kleinen Hausbibliothek, wie er es sich in Mutters Abwesenheit angewöhnt hatte, müde und einsam, und saugte allerlei Gift aus den Büchern, mit denen er sich in selbstgewählter Einsamkeit verschanzt hatte.

Plötzlich hörte ich die Mutter, wie sie nach dem Vater rief und nach den übrigen, noch jüngeren Geschwistern, was mich aus meinen Träumereien weckte. Ein ungutes Gefühl war es als erstes, das mich umgab, dessen Grund ich aber gleich aufgedeckt hatte. Schließlich hatte ich der Mutter versprochen, auf die Speisen Acht zu geben.

Erschreckt sah ich mich denn nun um, ob auch alles in Ordnung wäre. Da aber sah ich, wie eben in der Schüssel mit dem Fischgericht ein Fisch sich zu bewegen begann. Wenn er auch nicht zu den größten und kräftigsten zählte, so war doch nicht schwer, ihn von den anderen Fischen zu unterscheiden. Oberhalb der Mitte der Schüssel befand er sich, noch fest eingepackt und umgeben von Gelatine, die aber unter seinen ständigen Bewegungen nachzugeben und flüssig zu werden schien. Einige Zeit schon musste er sich gegen seine Verpackung gewehrt und sie mit seinen Flossen von sich gestoßen haben, als er nun damit begann, das Maul zu öffnen und wieder zu verschließen, worauf er jeweils die Schwanzflosse in immer kräftigere Bewegung versetzte, deutlich bemüht, sich einen Weg nach oben zu bahnen. Als wäre es nur noch ein kleiner Sprung bis ins Freie, so arbeitete er sich jetzt immer höher hinauf, das Auge auf die Gelatinedecke gerichtet, dass davon angestoßen nun auch die Nachbarfische sich auf den Weg nach oben machten.

Nun sah ich, wie ein Lichtblitz aus der Schüssel herausschoss. Er kam vom Anführer der Fische. Nachdem es ihm gelungen war, die Decke des Gerichts zu durchstoßen, hatte er ihn aus dem Maul gefeuert, gleichsam wie zur Eröffnung eines großen Gefechts. Ein paar Augenblicke später war dann bereits ein großes Feuerwerk in Gang. Wenn auch kein Feind oder Gegner zu sehen war, so waren jetzt doch überall die Fische dabei, die Decke aus Gelatine zu durchstoßen und Blitze aus ihren Mäulern nach oben zu schleudern.

Eben hatte ich noch in Erwägung gezogen, zusammen mit der Schüssel die aufrührerischen Fische wegzutragen, da vernahm ich auch schon die Ankunft des Vaters. Zu spät war es nun also, die Schüssel wegzutragen und zu entsorgen. Unweigerlich wäre ich ihm begegnet. So nahm ich denn eine Gabel und stach zu, ob ich die Meute nicht doch noch kurzerhand zur Raison zu bringen vermöchte, wenn ich einige ihrer Anführer matt setzte. Die Hoffnung aber erfüllte sich nicht. Statt die Rebellen in ihre Schranken zu verweisen, bäumten sie sich jetzt nur noch mehr auf, sodass einige von ihnen bereits aus der Schüssel schnellten, wo sie dann auf das Tischtuch herabfielen und es mit ihrem Gezappel beschmutzten. Und da ich noch etwas Papier bei mir hatte, nahm ich es nun und zerknüllte es und warf es in die aufgesperrten Rachen: ein Versuch der gleichfalls desaströs endete. Nur noch größere Blitze erregte ich dadurch, so dass der gesamte Tisch mitsamt den Gedecken über und über besudelt war.

Für den Vater, der jetzt den Schauplatz erreichte, war der Anblick freilich keine Freude. Keines Wortes fähig, als wäre all das Unheil nur dazu da, ihm auch noch den letzten übrig gebliebenen Tag seines Lebens zu vergällen, schaute er bald auf die Mutter, bald auf mich, wen er für die Katastrophe verantwortlich zu machen hätte. Endlich sagte er, dass er sich das Mahl etwas anders vorgestellt hätte, um dann, da niemand etwas erwiderte, nachzulegen. Er habe es schon lange kommen sehen, dass alles einmal so enden müsse, und fuhr dann fort, indem er das Wort mehr und mehr an sich selber oder an ein Spiegelbild von ihm selbst richtete: "Bist du etwa traurig, wenn du keine Kinder hast? Vergiss deine Trauer! Denn sieh! Keiner hat ein Kind, das ihm zu eigen wäre. Einem jeden sind Kinder nur dazu gegeben, sie groß zu ziehen mit Mühe und Schweiß, bis sie ihre eigenen Wege gehen. Dann, sofern nicht noch etwas Schlimmes dazwischen kommt, magst du zwar noch sagen: "Dieser Mann war einst mein lieber Junge und diese Frau war als kleines Kind mein Augenstern! Jetzt aber sind dieser Mann und diese Frau längst selbständig geworden. Kaum mehr ein Band verbindet sie mit dir, bestenfalls noch ein paar Erinnerungen aus jener Zeit, als du in den Ferien noch mit ihnen gespielt und ihnen ein paar Süßigkeiten in den Mund gesteckt hast." Dann, sichtlich ein gebrochener Mann, kehrte er sich um und begab sich zurück in sein Bibliothekszimmer.

Eine Weile später trat ich zu der Mutter in die Küche, den gepackten Rucksack bei mir. Sie hatte das verdorbene Essen in den Abfalleimer und das Tischtuch zur Wäsche getan und war jetzt dabei, das Geschirr zu säubern. Ich sagte ihr, dass es für mich an der Zeit wäre, meinen Abschied zu nehmen. Ohne mir ihr Gesicht zuzuwenden, versuchte sie noch, mich zu überreden, mich mit dem Vater zusammen zu setzen und mit ihm ins Reine zu kommen. Doch sollte es dazu nicht mehr kommen. Was auch hätte ich ihm noch sagen können, was ihn beruhigt hätte? Die Tage, die wir zusammen verbracht hatten, waren abgelaufen. Kurz darauf, bei strömendem Regen, verließ ich das elterliche Haus, das mir bis dahin Unterkunft und Unterschlupf gewährt hatte, um von nun an meine eigenen Wege zu gehen.

 

3. Prüfungen

1. Die neue Melusine

Kaum hatte der Tag sein Haupt vom Kissen der Morgenröte erhoben, da verließ ich das elterliche Haus und machte mich auf den Weg. Wohin, das wusste ich noch nicht. Nur so viel war mir klar, dass es für mich an der Zeit war, eine Braut zu finden. Und da die Bächlein in der Morgensonne so munter ins Tal sprangen und der Himmel so frisch und frühlingsblau vor sich hin glänzte, so zweifelte ich nicht, noch an diesem Tag fündig zu werden.

Gegen Mittag gelangte ich an den Rand eines Waldes, der sich am Fuß eines Gebirges entlang zog. Auf einer Anhöhe, etwas versteckt über dem Eingang desselben, umrauscht von zwei Bächen, entdeckte ich ein Häuschen, auf das ich hinzu schritt. Mit einem hübschen runden Fensterchen im obersten Stock schaute es allerliebst auf mich herab. Und während ich mich der Vorstellung hingab, wie entzückend es sein müsste, wenn man im Sommer dort droben aus dem Haus träte und sich ins Gras setzte und umgeben von Blumen, Bienen und Bäumen ins Land schaute, mit der Liebsten im Arm, da zeigte es sich, dass der Weg vor mir versperrt war. Ein Drahtnetz war ausgespannt. Und war ich zuvor noch über eine zarte Grasnarbe geschritten, auf der die letzten morgendlichen Tautropfen wie Diamanten funkelten, so waren hinter dem Netz nur noch Teerstriche zu sehen, die hässlich gegen das zarte und helle Grün abstanden. Eine ältere Frau, ohne von mir Notiz zu nehmen und doch, als hätte sie mein Kommen bereits bemerkt, erschien nun mit einer Schaufel, um Erde über den Teer zu schaufeln. Mit dem Rücken zu mir machte sie sich an die Arbeit, sodass ich es vorzog, still wieder umzukehren.

Ich hatte bereits einen anderen Weg eingeschlagen, als ein Mädchen hinter mir herkam, frisch und munter, mit einem Band im leuchtenden Haar. Sie trug ein Kästchen bei sich. Es war aus feinpoliertem, schwarzglänzendem Ebenholz, mit einem goldenen Beschlag auf der Verschlussplatte und einem goldenen Tragering. Das Schlüsselchen aber, mit dem man es aufschließen konnte, trug sie um den Hals. "Da nimm!" sagte sie, als wir ein paar Schritte nebeneinander gegangen waren. Und indem sie mir das Schlüsselchen umlegte, sagte sie: "Du darfst es aber erst aufschließen, wenn wir zu Hause sind." Kaum hatte sie mir das Schlüsselchen um den Hals gelegt, da war sie auch schon wieder verschwunden und ich war mit dem Kästchen allein.

In dem Kästchen aber trug ich das Haupt meiner Braut. Denn wenn ich es auch noch nicht aufschließen durfte, so war mir doch nicht verboten, durchs Schlüsselloch zu schauen. Und musste ich´s nicht auch? Denn wenn ich meine Braut auch auf einem Kissen weichgepolstert trug, so war sie doch ganz auf meine Hilfe angewiesen. Oft hielt ich an, ihr Mut zu machen, um mich dabei auch selber zu ermutigen. Mitunter aber, wenn der Weg sich etwas länger hinzog und die abendliche Rast auf sich warten ließ und ich besorgte, sie möchte nicht bequem liegen, beugte ich mich über das Kästchen und sprach ihr Mut zu. Nachts endlich, mit dem goldenen Tragering in der Hand, als wär er mein Trauring, schaute ich nach ihr und erkundigte mich nach ihrem Befinden. Wie oft ich mich aber auch erkundigte, sie wollte nie etwas von einem Mangel oder einem Ungemach wissen. "Es ist nichts", sagte sie. "Wir gehen ja nach Hause."

Es war eines Abends. Wir waren schon manch einen Tag gegangen und das Frühjahr stand wieder vor der Tür, da versicherte sie mir, das Ziel unserer Wanderschaft sei nun ganz nahe. "Noch diese Nacht", sagte sie, "noch diese Nacht können wir es schaffen; dann sind wir zu Hause!" Ich aber, glücklich ob der Botschaft, küsste das Kästchen, als wär es ihr liebes Gesicht. Und so schritt ich, anstatt, wie sonst gewohnt, mich nach einer Unterkunft umzusehen, sogleich in die Nacht hinaus. Und ich lief und lief und nichts gab es, was mich hätte aufhalten können.

Als der Morgen dämmerte, gelangten wir zum Fuß der Anhöhe, wo das Häuschen stand, von wo mein Mädchen zu mir gekommen war. Und ich, ungehindert, ohne alles Drahtnetz und ohne Teer, stieg hinauf und gelangte ins Innere eines Zimmers. In dem Zimmer stand ein Bett, groß genug für zwei Erwachsene, und in dem Bett lag ein Säugling. Neben dem Säugling aber, durch ein Deckbett verdeckt, lag eine junge Frau, welcher der Kopf fehlte. Zuerst wollte ich unwillig werden, weil man einer fremden Frau ein Bett zur Verfügung gestellt hatte. Dann aber besann ich mich, nahm den Schlüssel zur Hand und öffnete das Kästchen. Und vorsichtig das Haupt aus dem Kästchen nehmend, legte ich es an den Körper, bis ich beide verbunden hatte. Da aber bildeten sie auch schon eine Einheit und Leben durchströmte sie. Und meine Liebste, das Kind in die Arme nehmend, herzte es und reichte ihm die Brust. Ich aber erkannte, dass es unser Kind war und dass nun die Zeit der Prüfung vorbei war.

 

2. Winterkleider

Kein Familienidyll ist hier zu bestaunen, das sich bei einem Tässchen Mokka im Kreis der Lieben wunderschön ausnimmt, kein zu einem andächtigen Verweilen einladendes Bild. Und hätte der Vater zur Feier des Tages auch den Vogelbauer geöffnet, wie er es sonst bisweilen tat, der Vogel wäre nicht aus seinem Bauer herausgekommen. Indessen ist bei dieser Familienszene auch kein Wellensittich dabei, der um den Tisch herumfliegt, die Anwesenden vergnüglich zu unterhalten. Nein, da ist weit und breit kein gefiederter Scherzbold, der seinen Schnabel in ein Mokkatässchen taucht, um dann um die drei herangewachsenen, heiratsfähig gewordenen Töchter herum zu tändeln und ihnen an den Haarbändern zu zupfen oder um ihnen ein paar schön gewellte Haarlöckchen oder Strähnen zu zerzausen. Hier ist man fest bei der Arbeit.

Der Vater in höchsteigener Person hat sich dem Kreis der Frauen hinzugesellt und überwacht das Geschehen, das den Winterkleidern gilt, die gründlich gereinigt und ausgebessert werden sollen, ehe man sie wieder in die Schränke zurückbringt. Da der Frühling wieder Einzug gehalten hat und der schönste Maitag draußen vorüberzieht, hat der Vater immerhin eines der Fenster geöffnet, durch welches von draußen ab und zu wenigstens ein paar Laute ins Haus dringen.

Meine Liebste hat eben ihren Lammfellmantel zur Hand genommen und ist dabei, ihn auf Fleck und Schaden zu beschauen, da spricht zu ihr die Mutter: "Die Arbeit schlag dir aus dem Sinn. Der Mantel muss zur Reinigung!". Sie hatte wohl bemerkt, wie sich meine Liebste bereits Gedanken machte, einem hässlichen Fleck zu Leibe zu rücken. Meine Liebste aber erhebt Einspruch. Sie glaubt, mit der Sache allein fertig zu werden. Überhaupt hat sie schon genug davon gehört, wie in chemischen Reinigungsanstalten manch ein kostbares Kleidungsstück irreparabel zerstört wurde. Die Mutter indessen, sie hat sich längst wieder der eigenen Arbeit zugewandt, lässt sich dadurch nicht stören. Unbeirrt von allen Argumenten und ohne ihr Arbeitsstück aus den Augen zu verlieren, hält sie daran fest, dass der Mantel zur Reinigung müsse. Endlich mischt sich auch der Vater ins Gespräch. "Weiß Mutter denn nicht, was sie spricht?" ruft er scharf und laut und wohlvernehmbar aus. "Ich meinte ja doch nur, dass die Wolle bricht, wenn sie sich mit scharfen Laugen vollsaugt", versetzt die Liebste. Doch der Vater will jetzt nichts mehr hören. Kein Wort und schon gar kein Widerwort. Jedes noch so treffende Argument hätte er jetzt nur mehr noch als ein Zeichen der Widersetzlichkeit und Rebellion angesehen. Und so beendet er den Redeaustausch von Mutter und Tochter, indem er erklärt: "Was Mutter sagt ist recht und gut!"

Schweigsam geht die Arbeit nun weiter. Mit Nadel, Faden, Bürste und Schere, um auszubessern, wo etwas auszubessern wäre. Es ist indessen eine bedrückende Schweigsamkeit, zumal für die Liebste. Über den Verlauf des Gesprächs höchst verwirrt, sucht sie nach einer Gelegenheit, alles wieder in Ordnung zu bringen. Schließlich hat sie es ja nicht böse gemeint. Ah, wie es ihr im Herzen brennt, wie dringlich sie sich wünscht, den Vater wieder gut und fröhlich zu stimmen. Endlich, den Blick erhebend, nimmt sie sich ein Herz, alles wieder ins Reine zu bringen. Der Versuch aber geht kläglich daneben. In eben der Richtung, wo sie eben noch den Vater vorgefunden, befindet sich jetzt ein ihr fremdes Wesen. Von Gestalt einer schweren und schwarzen Krähe ähnlich, mit dem Auge eines Raubvogels, scharf auf die Liebste gerichtet, hat es auf der Fensterbank Platz genommen. Ah wie es die Liebste anstarrt! Was will das Tier mit seinem harten, unbarmherzigen Schnabel? Was ist der Plan mit seinen messerscharfen Krallen? Sieht denn niemand das Tier? Doch nein, niemand im Zimmer sieht das Tier. Niemand nimmt von ihm Notiz. Niemand scheint zu ahnen, was sich da anbahnt. Mit dem Verweis des Vaters, als hätte er einen Fluch ausgesprochen, ihn zur Vollstreckung zu bringen, ist es herbeigeflogen; als hätte er es herbeigerufen, meiner Liebsten die Augen auszuhacken, damit sie den Schmutzfleck im Mantel für immer vergäße, und um sie dann mit seinen Klauen zu packen und davonzutragen, ist es gekommen. Und nun wartete es nur noch auf das Zeichen zum Beginn seiner Sendung.

Um die Mutter in ihrer Ansicht zu bestärken, wendet sich der Vater noch einmal zu der Mutter und spricht ein paar Worte zu ihr. Leise, der Liebsten den Rücken zugewandt spricht er zu ihr. Das aber ist das Zeichen. Denn nun erhebt sich der Vogel; den Kopf nach vorn gebeugt, die Füße zum Absprung bereit, schlägt es die Flügel; man hört es rauschen. Die Liebste aber, wie das Lamm Gottes, schließt die Augen. Wird sie nun also aus dem Kreis der Eltern gerissen? Dabei hat doch alles einmal so schön und verheißungsvoll begonnen. Ja, schöne Tage hatte es einmal gegeben, aber die sind vorbei, zugedeckt und überschüttet von trüben Äußerungen des Hasses und der Scham. Fortan gibt es für sie keinen Platz mehr auf Erden, fortan gibt es nichts Heiliges, gibt es keinen Vater mehr und keine Mutter. Vater und Mutter werden sie vergessen, als hätten sie nie ein Kind gehabt.

 

Wo wart ihr: Hoffnung, Liebe, Glauben,

dass sich das Tier das Liebste durfte rauben?

Indes voll Gram im weißen Haar

der Eltern herbes Antlitz war.

 

3. Beim Messerbaum

In unserem Roman stehen wir am Beginn einer Beziehung, um die durchaus heftige Kämpfe toben. Die Hand der Liebsten hat sich unser Held zwar erkämpft, er ist also der Hand seiner Liebsten sicher, soweit dies von ihr abhängt: doch da gibt es noch andere Leute, die ein Mitspracherecht reklamieren und die durchaus nicht gewillt sind, auf dieses Recht kampflos zu verzichten. Wir meinen den Kampf zwischen dem Vater der Liebsten und dem Bewerber um die Hand seiner Tochter. Denn dieser Bewerber, der sich da ohne die geringste Ansage eingefunden hat, ist durchaus nicht nach seinem Geschmack. Und wenn unser Held eine kleine leise Kritik duldet, so wollen wir hier gleich damit herausrücken, dass er, was seine gesamte äußere Erscheinung angeht, durchaus nicht zu gefallen oder gar zu beeindrucken vermochte. Ganz entschieden nämlich vertrat unser Held die Ansicht, dass alles Äußere als Äußerliches der Welt des Scheins angehöre und dass man als wahrheitsliebender Freund des Geistes nicht anders könne, als allem Schein abhold zu sein. Da kann man sich leicht vorstellen, was der Herr Vater und die liebe Mutter unserer Liebsten ausgestanden haben im Blick auf die Zukunft ihrer Tochter. Aber so berechtigt die Fragen auch gewesen sein mögen, wie ein solcher junger Mann ein Examen bestehen könne und wie sich einen Weg bahnen in die Gesellschaft, wo bekanntlich die Kleider die Leute machen, die fundamentalen Arbeiten, die auf unsere Liebste warteten, waren gewiss nicht geringer. Bis dahin aber muss sich der Leser noch etwas gedulden. Jetzt stehen uns erst noch die Erprobungen und die Kämpfe bevor, die unser Held zu bestehen hat, bis er seine Liebste seine liebe Braut nennen kann!

Da wäre nun die nächtliche Attacke zu nennen, wo unser Held aus dem Haus gelockt wird, um Zeuge zu werden, was mit seiner Liebsten beim Messerbaum geschieht.

Es war schon spät in der Nacht. Das Bild meiner Liebsten hatte ich schon auf den Nachttisch gestellt, während ich mich noch mit einigen Fachproblemen herumplagte. Weil aber der verflossene Tag sehr anstrengend war, so war es jetzt mit dem Studieren auch nicht mehr weit her. "Dieses Kapitel noch!" sagte ich zu mir, gnadenlos unzufrieden, wie wir mit uns mitunter sein können, wenn wir das uns gesteckte Tagesziel nicht erreicht haben, "dieses Kapitel noch, dann magst du dich ins Bett legen." Dann aber gab ich dem Drängen des Fleisches nach und legte die Wissenschaften beiseite. Und ich nahm einen Bogen Papier zur Hand, um der Liebsten noch ein paar Briefzeilen zu schreiben, wie ich es zu jener Zeit immer tat, um mich dann dem Schlaf anzuempfehlen. Eben war ich dabei, noch die Adresse meiner Liebsten hinzuzufügen, den Vornamen und den Nachnamen, denn beide hielt ich in höchsten Ehren: da glaubte ich, Geräusche zu hören. Sie kamen aber nicht vom Garten vor meinem Keller-Fenster sondern von der gegenüberliegenden Seite, wo ein Stock höher die Haustüre lag. Ich war mir sicher, dass es Einbrecher waren, Gesindel, das es auf einen schnellen Einbruch abgesehen hatte, wusste doch jedermann, dass unsere Haustüre leicht zu öffnen war. Um einem Diebstahl zuvorzukommen, nahm ich den Weg durchs Innere des Hauses, schlich die Kellertreppe herauf und legte mich im Flur vor dem Eingang auf Lauer. O, ich wollte den Einbrechern schon den Bart zu raufen, das sollten sie sehen.

Eben hatte ich den Eingang erreicht, da herrschte dort schon wieder eine solche Stille, dass sie im Totenreich nicht größer sein konnte. Aber das war es ja, worauf sie es angelegt hatten! Nichts als eine List! Und so rief ich ihnen zu im Innern meines Herzens: "O ihr Söhne der Hölle! Als hätte ich euch nicht verstanden! Ihr wollt mir weiß machen, als hättet ihr euren Plan aufgegeben und hättet euch schon wieder entfernt, um dann zuzuschlagen, sobald ich mich zurückgezogen habe. Doch da täuscht ihr euch sehr. Wollen doch sehen, wer von uns beiden den längeren Atem behält!"

Also blieb ich hinter der Türe stehen, jedes Geräusch unterdrückend. Indes, müde wie ich war, war ich alsbald schon dabei, mir einzureden, wie trefflich ich Wache hielt, ja ich ließ mir einfallen, mich zu überreden, dass ich selbst noch als stiller Schläfer ein unüberwindlicher Wächter wäre. "Gesetzt selbst den Fall", so sagte ich zu mir, "gesetzt selbst den Fall, dass wir es hier mit einer Sorte von Einbrechern zu tun haben, die auch noch die leisesten Gedanken erraten, war dann nicht notwendig, dass sie, wenn sie jetzt von meiner unerbittlichen Entschlossenheit Kunde erhielten, von ihrem Versuch ablassen und unverrichteter Dinge abziehen müssten! Wenn der Fall aber so lag, so schloss ich weiter, was wartete ich dann noch? War dann nicht am besten, sie jetzt gleich zu überraschen, um sie zu einer feigen Flucht zu nötigen?

Im Nachhinein betrachtet war es ein leichtfertiges und tollkühnes Experiment, mit einem Ruck die Haustüre zu öffnen und mich nach draußen zu stürzen. Denn wenn auch kein Fremder etwas auf deinem Grund und Boden zu suchen hat, so stört das einen skrupellosen Einbrecher mitnichten. Er wartet ja nur darauf, dass du dich übernimmst, um dich dann niederzuschlagen und ins Haus einzudringen. In jener Nacht aber hatte ich vorerst einmal Glück. Die dunklen Gesellen hatten die Flucht ergriffen. Das Gartentor hatten sie in aller Eile offen stehen gelassen, dass ich nicht widerstehen konnte, ihnen auf die Straße hinaus nachzusetzen. "Hurtig, hurtig!" rief ich, als müsste ich sie nur zusammentreiben, wie ein Schäferhund die Schafe, dass es eine Lust war. Ja, als müsste es nun zu der alles entscheidenden Schlacht kommen, in der ich mir einen schönen Sieg erföchte, setzte ich ihnen nach, was mir nicht schwer fiel und kein umständliches Suchen nötig machte, da ich sie im Dunkel dicht vor mir hörte.

So war ich denn bei der Verfolgung die Straße hinab gekommen, vorbei am Möslepark, und war schon aufs Zentrum der Stadt vorgerückt, über die Brücke der Dreisam, die zum Schwabentor führt, wo über viele Jahrhunderte hinweg die Stadtgrenze gewesen: als plötzlich, mit einem Schlag, alles um mich herum verstummte. Selbst die Schatten der Gegner waren wie vom Erdboden verschwunden, eine jede Spur wie für immer verloren. Nur noch ein paar Lichter von den Häusern der gegenüberliegenden Flussseite schienen sich mit ihrem ewig gleichen Spiel auf den Wellen zu unterhalten.

Ich aber war der Letzte, der nicht gewusst hätte, dass es sich abermals um eine Kriegstaktik handelte. Das war doch dasselbe Spielchen wie vor der Haustüre! Und so rief ich ihnen zu, sie sollten aus ihrer Deckung heraus kommen, wenn sie keine Feiglinge wären: als ein Auto, schwergepanzert und ausgerüstet mit mächtigen Scheinwerfern aus einer der dunklen Gassen auf mich zugefahren kam. Ob ich nun wollte oder nicht, so blieb mir nichts übrig, als mich in den Schatten des nächstgelegenen Buschwerks zurückzuziehen. Da aber entdeckte ich ganz in der Nähe einen Baum voll heller Lichter. Im grellen Scheinwerferlicht war er aufgetaucht. Es waren aber keine Kerzen oder Glühbirnen, die für das Licht sorgten, sondern Messer: glattpolierte, scharfe Messer, die an dem Baum hingen und die alles Licht blendend hell reflektierten. Das Auto hatte eben den Messerbaum erreicht, da sprang der Fahrer auch schon heraus, eilte auf die andere Seite des Wagens, riss die Türe auf und zerrte ein Mädchen nach draußen. Dann zwang er es zum Laderaum, ihm von dort seine Sachen herauszuholen. Er aber eilte zum Baum und prüfte die Messer. Als er sie geprüft und wohl auch für gut befunden hatte, nahm er ein paar zu sich, um sich dann wieder dem Mädchen zuzuwenden. Dieses hatte unterdessen einen Tisch und einen Stuhl herbeigebracht; den Tisch hatte sie in die Nähe des Baumes gestellt, den Stuhl aber dicht vor den Baum. Nachdem der Mann eine Reihe von Messern auf den Tisch gelegt hatte, winkte der Mann dem Mädchen, sich auf dem Stuhl niederzulassen, was das Mädchen auch sogleich tat. Und so saß es denn da, mit dem Gesicht zum Manne, der nun eines der Messer vom Tisch nahm, um es gegen das Mädchen zu schleudern.

Ein Unbeteiligter hätte wohl mutmaßen mögen, hier werde eine Zirkusnummer eingeübt. Es war aber bitterböser Ernst. Kaum nämlich, dass die ersten Messer an dem Mädchen vorbeigeflogen und im Stamm stecken geblieben waren, gingen mir die Augen auf und ich erkannte meine Liebste und ihren Vater. Da aber stak ihr auch schon eines der Messer im Leib. Unterhalb des Schulterblattes war es eingedrungen und hatte sich festgesetzt, dass es mir unmöglich war, länger in der Deckung zu verharren. Als ich aber aus der Deckung herausgekommen war, war weder mehr etwas von dem Mann, noch auch von dem Mädchen zu sehen. Wie ein Spuk war alles vorüber. Nur ein Muttermal, so groß wie eine Erdbeere, habe ich später unterhalb der Schulter meiner Liebsten entdeckt. Ich habe sie aber nie danach gefragt, wie sie dazu gekommen.

 

4. Vor dem Theater

"Als deine Sprache ich lernte"

 

In jugendlichem Ehrgeiz, um Gott und der Welt und nicht zuletzt freilich auch meiner Freundin zu beweisen, dass etwas in mir steckte, was ihrer Gegenliebe wert sei, hatte ich mir vorgenommen, nie geschaute, herrliche Taten zu verrichten. Hätten sich die Argonauten auf Fahrt begeben oder wäre die Zeit des trojanischen Krieges gewesen, ich hätte wohl keinen Augenblick gezögert, zusammen mit Jason nach Kolchis oder mit den griechischen Schiffen nach Troja zu fahren. Und hätte der Kaiser Augustus noch gelebt und ich hätte gegen den besten seiner Gladiatoren anzutreten gehabt, ich hätte mich auch dazu hergegeben. Weil aber die Zeiten der ersten Seefahrer vorbei waren wie auch das Zeitalter der alten trojanischen Helden und weil auch kein Gladiator des Kaisers Augustus zu einem Zweikampf mehr gegen mich anzutreten begehrte, so suchte ich nach einem anderen, Ruhm versprechenden Projekt. "Du musst Geduld haben mit dir", sagte meine Freundin, "so wirst du schon etwas finden", und wurde nicht müde, es mir wieder und immer wieder zu sagen, wobei sie mich lächelnd und mit beschwichtigenden Blicken ansah. "Warte nur ab! Die für dich bestimmte Aufgabe wird sich schon zeigen!"

Kurze Zeit später, es war ein herrlicher Frühlingstag, so recht geschaffen, alle Grübelei beiseite zu fegen: "Komm!" sagte sie und nahm mich mit sich und wir gingen ins Freie. Wir hatten eben den am Rand der Innenstadt gelegenen Stadtgarten betreten und uns inmitten der wieder erblühten Blumen auf eine Bank gesetzt, da teilte sie mir mit, dass wir eine Anstellung beim Theater erhalten hätten. Genauer gesagt handelt es sich noch nicht einmal um eine echte Anstellung, bloß um eine Aufnahme für eine Probe. "Doch was will das bedeuten? Sei nur guten Mutes!" sprach sie zu mir. "Hat man uns nur erst eine Zusage gemacht, uns beim nächsten Spiel zu erproben, so wird auch das übernächste Spiel nicht ohne uns über die Bühne gehen. Denn dass wir unsere Sache gut machen, daran zweifelst du ja gewiss ebenso wenig wie ich." Wie sie mir dann mitteilte, hatte sie für unser Engagement nicht viel zu tun gehabt. Nicht einmal einer persönlichen Vorstellung beim Spielleiter hatte es bedurft. Nur eine schriftliche Eingabe hatte sie gemacht und schon waren wir für das nächste Spiel angenommen.

Nachträgliche Mitteilung war wenig geeignet, mich für das Projekt zu gewinnen. Stattdessen begann ich, über den Wert eines solchen Versuchs zu spekulieren. Und ich erwog, was für ein leeres und unbedeutendes Spiel herauskommen müsse, wenn sich von überallher unbegabte und unwissende Leute zu einem Spiel zusammendrängten, bis ich mir ganz sicher darüber war, dass es unmöglich wäre, sich auszuzeichnen, wo jedermann von der Straße weg, ohne alle Probe und Prüfung, angenommen würde. "Solche Unternehmen sind mir bekannt", sagte ich ziemlich enttäuscht. "Ja, wenn mich nicht alles irrt, so wäre es noch nicht einmal nötig gewesen, eine schriftliche Eingabe zu machen. Oder ist dir ein Fall bekannt, auch nur ein einziger Fall, dass einer zum Vorspiel nicht zugelassen worden wäre? Endlich aber, und das scheint mir das Bedenklichste zu sein, haben wir noch überhaupt keine Rolle; nicht das Mindeste haben wir in der Hand; wie sollen wir da auf uns aufmerksam machen und gefallen?"

Sie aber bat mich um Geduld. "Lass uns wenigstens einen Versuch machen!" sagte sie. "Um etwas zu erreichen, darf es nicht an Selbstvertrauen fehlen. Lässt du dich aber von deinen Zweifeln anfechten, so hast du schon verloren, noch ehe du begonnen hast. Aber selbst, wenn wir uns anschicken sollten, auf diesem Weg kostbare Zeit zu verlieren, so ist es noch immer besser, unsere Kräfte zu erproben, statt dass wir nichts tun. Drum lass uns einreden, dass wir zu etwas Gutem unterwegs sind. Kommt dann noch der Fleiß hinzu, so kann das Gute auch gar nicht ausbleiben. Bewegen wir uns vor allem natürlich! Bewegen wir uns so, als ob wir in unserem Leben noch nie irgendwo anders gewesen wären als auf der Bühne! Und wenn wir zuerst auch nur scheinen, was wir doch sein wollen, so genieren wir uns deswegen nur nicht! Glaub mir, alles wird gut, wenn wir nur in unserem Bemühen nicht nachlassen!"

Die Worte meiner Freundin hatte ich wohl gehört, noch immer aber beherrschten mich Missbehagen und Unmut. Zumal die Tatsache setzte mir noch immer zu, dass wir nichts von dem auf uns zukommenden Spiel wussten. Und sagte ich nur: "Wie kann einer Zuversicht und Selbstvertrauen gewinnen, wenn er nicht weiß, was er spielen soll? Oder kennst du etwas Unzumutbareres, als sich unvorbereitet in ein Spiel einzulassen?" Doch auch darauf wusste meine Freundin einen Rat. Kaum nämlich, dass ich das gesagt hatte, holte sie ein Buch hervor, von dem sie behauptete, darin stehe unser Stück.

Das nun freilich veränderte augenblicklich die Lage. "Wer hat dir das Buch gegeben?" fragte ich, wobei ich bald auf sie, bald auf das noch in ihrer Hand befindliche Buch schaute. "Wer hätte es mir geben sollen?" gab sie mir zur Antwort. "Vom Spielleiter kann man es unmöglich verlangen, wo er niemals mit Gewissheit zu sagen vermag, wer sich alles am Spiel beteiligt. Deshalb bin ich in die Bibliothek gegangen und habe mich nach Stücken umgeschaut, wo wir beide zusammen auftreten. Da bin ich dann auf dieses Buch gestoßen."

"Lass sehen!" rief ich aus. Meine Freundin aber, das Buch zurückhaltend, versetzte: "Warst du noch nie im Theater, dass du nicht weißt, dass es bei jedem Spiel das Wichtigste ist, dass man zu gefallen versteht?" - "Es gibt viele Spiele" erwiderte ich, beinahe schon wieder in meiner vorigen Verstimmung, "wie also kannst du behaupten, in diesem Spiel seien wir enthalten?" "Du Ungläubiger" sagte sie, "genügt denn nicht, dass wir beide in dem Stück auftreten? Oder meinst du, ich hätte nicht mit der größten Sorgfalt nach unserem Stück gesucht? Wer immer außer uns noch mitspielen wird, kann nicht umhin, uns bei seinem Spiel mit zu berücksichtigen, und wäre unsere Rolle auch noch so klein." "Erst will ich das Stück sehen!" rief ich aus und streckte meine Hände aus. Sie aber hielt das Buch noch immer von mir entfernt. "Ehe du nicht weißt, was zu sehen sich lohnt, wirst du auch nicht sehen, was dich überzeugt", hielt sie dagegen. "Oder war das früher nicht auch schon so, dass man einem jeden nur seine eigene Rolle aushändigte, und das nicht nur der Sparsamkeit halber, sondern auch, damit er aus dieser seiner Rolle nicht nur sich selber, sondern mit ihr auch die ganze Welt zu verstehen suchte? Da nun keiner weiß, was ihm alles bei der Aufführung widerfährt, darf er auch nicht erwarten, dass ihm das Buch das alles in allen Einzelheiten angibt. Insofern gilt es auch, bei der Kennzeichnung der eigenen Rolle nicht über die eine und andere Auslassung zu stolpern. Bedenke nur, wie wenig Freiheit wir sonst hätten, und was ein Spiel wäre, wenn wir uns sklavisch an Worte und Regieanweisungen zu halten hätten! Unglücklich der Schauspieler, dessen Direktor ihm nur gestattet, seine Freiheit in der unbedingten Unterwerfung unter das ihm vorgeschriebene Wort zu suchen! Deshalb muss jedes überflüssige Wort bei der Beschreibung unserer Rollen unterbleiben und der Text muss sich auf das Allernotwendigste beschränken."

Als ich des Buchs habhaft geworden war - nur widerstrebend hatte sie es mir überlassen -, fand ich, dass ich als ein nicht näher gekennzeichneter Fremder aufzutreten hatte zusammen mit einer nicht näher gekennzeichneten Fremden. Das alles aber war von einer nicht zu überbietenden Allgemeinheit. Nicht einmal unser Alter, noch unsere Ausbildung, noch irgendwelche physiognomischen Besonderheiten waren da vermerkt, kein einziges Detail. Am Rand waren nur da und dort ein paar Formeln oder Operatoren zu lesen, je nachdem. wie man diese Kürzel zu deuten beliebte: N, A, F(x). Viele Seiten über war von uns überhaupt nicht die Rede. Da agierten dann wohl andere. Dann aber waren wir wieder an der Reihe; aber auch da waren wieder nur ein paar abstrakte Zeichen am Rand vermerkt, wenn auch nicht mehr so viele wie zuvor.

"Wenn das alles ist", sagte ich, rettungslos enttäuscht, "so kann mich dein Stegreiftheater nicht beflügeln. "Du darfst die Fingerzeige nicht für unnütz erachten!" erwiderte sie, ohne sich durch mich beeindrucken oder gar entmuntern zu lassen. "Vollends verkehrt wäre es, wenn du ihnen einen beliebigen Sinn unterlegtest". "So kannst du mir den Sinn verraten?" fragte ich und biss auf die Lippen. "Du Unbelehrbarer!" rief sie aus. "Sind denn Wörter und Sätze mehr als vorläufige Bezeichnungen, die trotz all ihrer scheinbaren Klarheit immerfort und unersättlich auf eine neue, noch genauere und bessere Ausdeutung und Zusammenfügung warten? Das Wort Stein oder Haus oder Rose, ja selbst das Wort Rose, was bedeutet es, wenn es noch nicht gefüllt ist? Drum vertrau mir doch! Noch ist nicht aller Tage Abend. Lass uns diese Erstlingsprobe zusammen ablegen, wie klein und unbedeutend sie auch sein mag! Nimm sie als Übung! Ja, verschmähen wir nur nicht diese kleine Übung! Seien wir nur wir selbst! Dann gelangen wir schon weiter! Ja, wenn wir uns erst einmal vollauf erprobt haben" rief sie aus, "und wir unserer Fertigkeiten sicher sind, dann genügt uns schon ein einziger Bleistiftstrich, um von ihm aus zum Himmel zu fliegen!" Und ihre Augen glänzten, während sie mir ihren Arm reichte.

Der Stadtgarten mitsamt dem herrlichen Frühlingstag lag jetzt hinter uns und die Umrisse des Theaters tauchten vor uns auf. Und die breite Rampe erschien, die zum Eingang hinauf führte. Am oberen Ende auf einem Sockel befand sich das überlebensgroße Standbild eines unserer großen Dichter. Aufgeschlagen vor sich hielt er ein Buch, als hätte er eben etwas Bedeutendes notiert und dächte darüber nach. Etwas von der hellstrahlenden Zuversicht meiner Freundin hatte jetzt auch in mir Einzug gehalten, dass mich die Lust überkam, zu ihm hinaufzusteigen und ihm über die Schulter zu schauen. Da aber fand ich, dass die beiden Seiten, auf die er mit seinem Finger deutete, unbeschrieben waren. Das also war das Bedeutende, so dachte ich, während mir ein grelles Lachen entfuhr, was uns der große Dichterfürst zu bieten hatte! Und ich bedauerte, dass ich kein Stücklein Kreide bei mir hatte. Sonst hätte ich ihm wohl gar noch den Schopf gestreichelt und ihm in sein leeres Buch ein F(x) hereingeschrieben.

"Mag er sich um den Beifall der großen Welt kümmern", sagte meine Freundin und erwiderte mein Lachen. Wir haben am wechselseitigen Beifall genug. Oder ist es nicht so? Und haben wir genügend zum Leben und das haben wir, wenn wir nur genügsam sind, was wollen wir dann noch mehr!"

Kurz darauf befand ich mich im Umkleideraum der männlichen Schauspieler, wo es recht lebhaft zuging. Einige standen vor den Spiegeln und probierten Kleider, andere richteten sich am Schminktisch oder ließen sich frisieren, wieder andere wandelten den Raum auf und ab, irgend einen Text memorierend; doch sah ich nirgends ein Buch, dass einer daraus noch seine Rolle studiert hätte. Eine Weile muss ich so dagestanden und dem Treiben zugeschaut haben, als ein Mitspieler auf mich zukam und mich auf eine Türe aufmerksam machte, von wo es auf die Bühne hinausging. Offenbar hatte er bemerkt, dass ich ein Neuling war, und wollte mir zeigen, wohin ich gleich zu gehen hätte. Vielleicht aber wollte er mir auch bedeuten, dass das Spiel bereits angefangen hatte und keine Zeit mehr zu verlieren war. Eben nämlich zog dort eine Schar buntgekleideter Kinder vorüber, die sich jetzt zu einem Tanz einfanden. Die Mädchen trugen Körbchen, aus denen Blumen herausschauten, die Jungen aber hielten Geräte in Händen, wie man sie in der Landwirtschaft gebraucht. Was sie spielten, war mir fürs erste nicht klar ersichtlich. Wie man ihren Gesichtern ansah, waren sie aber alle selber sehr gespannt. Jeden noch so kleinen Schritt schienen sie mit besonderer Andacht auszuführen, jeden Blick behutsam zu wechseln, jedes Wort, auch wenn sie es nicht völlig verstanden, mit besonderer Feierlichkeit auszusprechen. Und während ich so dastand und ihnen zuschaute, war mir plötzlich, als hätte ich dieses Stück schon einmal irgendwo aufgeführt gesehen. Alles kam mir so bekannt und vertraut vor.

Auf einmal glaubte ich auch zu wissen, dass nun auch größere Jungen und Mädchen auftreten würden und dann wären meine Freundin und ich an der Reihe. Einige Jungen nahmen schon Aufstellung, während sich auf der Gegenseite Mädchen bereit machten. Hinter den Mädchen, sie waren als Gärtnerinnen gekleidet, sah ich meine Freundin. Schön wie der holde Frühling stand sie dort und lächelte zu mir herüber. Und wie ich sie jetzt so dastehen sah, glaubte ich alles zu verstehen. Ja, ich würde die Bühne betreten und alles würde dann den von uns gewünschten Gang nehmen. Nichts würde schief gehen. Selbst durch den Spielleiter, der eben in den Raum trat und sich etwas unmutig nach dem Fortgang des Spiels erkundigte, ließ ich mich nicht beirren. Und ich begann zu begreifen, dass die Wirklichkeit, wie sie sich uns vergegenwärtigt, ein Schauspiel ist, vor allem aber, dass ich eine Liebste hatte, die auch in der Lage war, auch etwas scheinbar Unbedeutendem etwas Bedeutendes zu machen und dass sich an ihrer Seite das Wagnis lohnte, das Leben zu bestehen.

 

5. Eine Prüfungsfrage

Was bringt der Frühling?" So wurde mein Schätzchen einst von der hohen Kommission beim Deutsch-Abitur gefragt. Nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hatte, sie ließ sich bei wichtigen Dingen immer hinreichend Zeit, zögerte sie nicht länger und gab zur Antwort: "Der Frühling bringt das Leben!" und strahlte, wie es ihre Art war, wenn sie von etwas Wunderbarem erfüllt war.

 

6. Besuch einer Blume

"O Proserpina! Hätt ich die Blumen jetzt, die du erschreckt verlorst von Plutos Wagen!"

(Shakespeare, Das Wintermärchen, IV.3)

 

"Träumend hing die Blume am hohen Stängel. Abenddämmerung umzog sie." (Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande)

 

Abend war geworden und der Friede Gottes schien zurückgekehrt auf die Erde. Der Himmel selbst war dabei, sich erneut auf die Erde nieder zu senken, um sich mit ihr zu vermählen. Und weil noch eine angenehme Restwärme vom Sommertag vorhanden war und wir, meine liebe Freundin und ich, noch Lust verspürten, die zaubervolle Stunde zu genießen, so machten wir uns auf den Weg.

Es dauerte nicht lange, da hatten wir auch schon die Blumengärten erreicht, die wir uns schon lange einmal hatten anschauen wollen. Nur dass wir nicht bedacht hatten, dass sie von dichten Hecken umgeben waren, sodass wir vorerst noch kaum etwas zu sehen bekamen. Doch das focht uns nicht an. Selbst als wir uns bereits auf dem inneren Weg, dem Hauptweg der Gartensiedlung befanden, ohne noch kaum mehr wahrgenommen zu haben als die Hecken der dichtverschlossenen Gärten, blieben wir guter Dinge. Wie Kindlein, denen ihre Vorstellungen unentwegt ihre Blicke begleiten und ergänzen, wenn nicht gar wie im Traum glaubten wir schon zu wissen, was sich hinter den Hecken befand, sodass uns die Herrlichkeit nicht entgehen konnte, zu der wir unterwegs befanden. Wo wir sie dann wirklich fänden und wo sie für uns erblühte, wussten wir noch nicht, doch mussten wir es auch nicht wissen. Unser Verlangen genügte, uns zu dem Garten zu führen, der für uns bestimmt war.

So war es dann auch. Die Sonne war noch nicht bis zu den Bergen im Westen hinab, da hatten wir den Garten erreicht. Ob er auch, wie alle anderen Gärten ringsum, von einer undurchschaubaren und undurchdringlichen Hecke umgeben war, so waren wir uns doch sicher, dass wir an die rechte Stelle gelangt waren. War nämlich eben zuvor das Gartentor noch mit undurchdringlichen Dornen überwuchert, so eröffnete sich uns gleichwohl jetzt eine Aussicht, dass wir nun auch unsere Blume sahen, wie sie inmitten des sie umhüllenden Abendscheins stand. Als hätte sie auf uns gewartet, schien sie auch uns zu bemerken, dass uns war, als lächele sie uns zu. Kaum aber, dass wir sie bemerkt hatte, stand das Tor offen vor uns, ohne dass jemand zu sehen gewesen wäre, der uns Hilfe gebracht und es aufgeschlossen hätte. Der Wunsch allein genügte: da standen wir auch schon drüben auf der anderen Seite, und nichts war mehr da, was uns hätte aufhalten oder hindern können. Am Ende eines Laubenganges, der vom Gartentor mitten durch den Garten bis zu einem Gartenhaus führte, das eben so groß war, dass es über eine Kammer gegen Wind und Wetter verfügte, stand sie da, auf einem eigens für sie hergestellten Podest, und träumte über ihrer noch verschlossenen Blüte in den Strahlen der abendlich geröteten Sonne. Uns aber war, als wäre nun die Zeit gekommen, das Wunder zu vollbringen.

In der Tat! Kaum dass wir vor ihr standen, des Wunderbaren gewärtig, schickte sie sich auch schon an, ihre Blüte zu entfalten. Zierlich und zugleich voller Würde, ja, durchaus nicht ohne Stolz begann sie damit, den Schoß der Blütenknospe aufzunesteln und weit zu machen. Kurz darauf setzte sie die Kelchblätter in Bewegung, eines nach dem anderen; dann, als hätten sie nur auf dieses Zeichen gewartet, waren auch die Blütenblätter dabei, sich zu entfalten. Und während sie noch dabei war, die Kelchblätter sanft zur Seite zu schieben, begann sie auch schon damit, sich nach der untergehenden Abendsonne auszurichten. Und so, den Blütenkelch durchglüht und nun selber zu einer Sonne voll einzigartigem Purpur geworden, trat sie vor uns hin, wie zum Anblick der Ewigkeit.

Der Augenblick indessen währte nicht lange. Kaum nämlich waren die letzten Strahlen dabei, den Garten zu verlassen, als auch ein Schwarm Tauben, der von uns unbemerkt auf dem Gartenhausdach gesessen hatte, den Garten verließ. Als wir den Blick wieder zurück auf unsere Blume lenkten, bemerkten wir eine kleine unschöne Wunde an ihrem Stängel. In halber Höhe, wo der samtgrüne Schaft besonders stark mit feinen, milchweißen Härchen besetzt war, war er wie von einem Messer geritzt. Ein Blutströpfchen war aus der Wunde gequollen und ein weiteres drängte bereits nach, dass uns bange ums Herz ward. Und hatte unsere Blume zuvor noch über ihrem Stängel wie auf einem hohem Throne geträumt, so begann der Blütenkopf sich nun zu neigen, bis er herabhing wie der Kopf eines schlecht geköpften Verbrechers.

In unserer Bestürzung wussten wir uns nicht anders zu helfen, als dass wir uns weit in die Ferne wünschten. Schon hatten wir den Ausgang des Gartens erreicht, als sich ein Motorradfahrer mit höllischem Lärm ankündigte. Den Hauptweg kam er heraufgefahren, als wir aus dem nun offenstehenden Gartentor herauszutreten begehrten. Ob man unbefugt in fremde Anwesen eindringen dürfe, fragte der Mann, indem er sich als Besitzer des Gartens vernehmlich machte. Dann eilte er an uns vorüber, bis er zur Tür des Gartenhauses gelangte. Dort blieb er stehen; und nachdem er sich seines Lederkollers entledigt und festgestellt hatte, dass die Türe und das Fenster noch dicht verschlossen waren, teilte er uns mit, dass uns gleichwohl nichts mehr retten könne, dass der Tatbestand eines Einbruchs in seinen Garten feststehe, weshalb er denn auch die Polizei informiert habe, die jeden Augenblick eintreffen müsse. Kaum aber hatte er das gesagt, da hörten wir auch schon die Signale einer Polizeistreife, die auf uns zukam. Wir aber standen da und wussten nicht, was geschehen war, noch was weiter mit uns geschähe.

 

7. Hochzeitsglocken

Hymen, o Hymenaios!

Ehe wir mit dem Traum der "Hochzeitsglocken" beginnen, sei vorab gesagt, dass wir kein böses Blut gegen den Vater der Liebsten hegen, einmal weil die Liebste, sein Töchterchen, niemals ein böses Blut gegen einen Menschen, geschweige denn gegen ihren Vater hegte, zum andern aber, weil ja auch ich damals durchaus einiges zu wünschen übrig ließ. Unmöglich sich vorzustellen, dass meine Liebste jemals gegen ihren Vater aufbegehrt oder ihn gar wegen einer Untat zur Rechenschaft gezogen hätte! Wo sie doch seine kleine Göttin gewesen! Und zeugen nicht auch noch einige Geschenke und Souvenirs, wie etwa das hübsche Ledertäschchen aus Pisa, das er ihr von einer Ferienreise aus Italien mitgebracht, und das nun in einem Eck des Bücherschranks steht, von seiner innigen Verehrung! Zum andern, wer war ich, dieser grüne halbfertige und ungebildete junge Mann, der um sein Haus schlich und ihn aus dem Nachtschlaf schreckte!

Alles ist so, wie es nun einmal ist, und wenn auch nicht gut, so doch so, dass wir uns damit abzufinden haben. Bald schon werden wir ja alle nebeneinander liegen, Seite an Seite. Nur noch die Gestirne werden dann in schöner Regelmäßigkeit über unseren Gräbern dahinziehen, Tag um Tag und Nacht um Nacht, und die Vöglein werden singen, wie sie es schon immer getan haben. Und gibt es dann noch Unsterbliche, so wird manch einer von ihnen, wenn er an unseren Gräbern vorbeikommt, stehen bleiben und das Epitaph lesen, das von uns noch erzählt, um dann nachdenklich seines Weges weiter zu ziehen.

 

Aus dem unendlichen Schlaf der Welt

wurden zum Leben wir erwählt,

bis uns der Ruf des Schicksals traf

und wir wieder versanken in Schlaf.

 

Sollte an dieser Stelle, zur Einführung in den Traum von den Hochzeitsglocken noch etwas zu sagen sein, so allenfalls dies, dass es niemals zu einem Hochzeitsfest gekommen ist, weder wie es sich die Liebste seit ihren Kindertagen gewünscht hat, noch überhaupt; und dass auch der Weg durch die Schwangerschaft zum ersten Kind mit so vielen Mühsalen und Trübseligkeiten gepflastert war, dass es mich heute noch in der Seele schmerzt. Gewiss, unser Held und seine Liebste waren nicht die Ersten, die des Segens der Eltern der Braut entbehrten, und sie werden auch nicht die Letzten gewesen sein. Doch was hilft das? Der Weg, den du zu gehen hast, ist der Weg, der für dich und nur für dich bestimmt ist, wie du erkennen magst, wenn du ans Ende desselben gelangt bist.

Doch nun zum Traum!

 

Der liebe Gott hatte mir ein Mädchen gezeigt, wie es schöner und besser nicht gefunden werden kann auf der weiten Erde, und so hatte ich mich aufgemacht und hatte um sie geworben. Als wir beide, nach einigen Jahren wechselseitiger Prüfung, den Sinn unseres Lebens im Miteinander erkannt hatten und dass wir uns aufeinander verlassen könnten, sagten wir Ja zueinander. Wenn nun auch der Herr Schwiegervater, nicht minder laut Nein dazu glaubte sagen zu müssen, so stimmt es doch nicht, wie manche behaupten, dass er nicht bei unserer Hochzeit mit dabei gewesen wäre. Der Behauptung, dass im Vorfeld der Verlobung und der Hochzeitsvorbereitungen den Konflikten hätte begegnet und sie hätten behoben werden können, muss entschieden widersprochen werden. Es fehlte ja nicht an Versuchen vonseiten meines Mädchens. Von Anfang an aber stand das Nein des Schwiegervaters fest, als handelte es sich bei dem Bewerber um einen berüchtigten Straßen- oder Tempelräuber, sodass ich auch niemals zu einer formellen Anfrage und Aussprache zugelassen worden wäre. Stattdessen mag zutreffen, dass der Herr Schwiegervater, als er dann von dem Aufgebot vernahm, vor keinem noch so abstrusen und absurden Mittel zurückschreckte, unsere Hochzeit doch noch zu verhindern. Gleichwohl war es nicht so, dass er an jenem für uns so bedeutsamen Tag gefehlt hätte, wenn er auch damit gedroht hatte. Wie auch hätte er fehlen können, wo dies die letzte Gelegenheit war, mir die Beute, die ihm höchsteigene Tochter streitig zu machen? Tatsache ist nur, dass ihn niemand beim Entzünden des Hochzeitsfeuers gesehen hat, was er ja eigenhändig vor der Hochzeitsmesse hätte vornehmen sollen, wie überhaupt, dass er den Pflichten eines Brautvaters nicht nachgekommen ist.

Damals geschah, soweit ich überblicke, das Folgende: Als wir unter mächtigem Orgelgebraus aus der Kirche traten, meine liebe Braut und ich, sie etwas bleich unter dem grünen Myrtenkränzchen im Haar, sie hatte sich dieses Fest wahrlich anders vorgestellt und herbeigesehnt, und neben ihr ich, als der von ihr für nun und für immer anerkannte und bestätigte Bräutigam: da stand wohl bereits die Schwiegermutter auf den Treppenstufen, die von der Kirche hinaus auf den festlich geschmückten Kirchplatz führten, um dem Brautpaar Glück und Segen für die nun kommende Zeit zu wünschen, der Schwiegervater indessen befand sich nicht neben ihr. Heimlich und schnell war er zum Kirchturm geeilt, begierig den Glockenstuhl zu erreichen, um dem verhassten Hochzeitsgeläute ein Ende zu bereiten.

Mit Recht kann man sagen, dass die Kirche gerade an einem solchen Tag nichts wäre ohne einen Glockenturm voller Glocken, um das unaussprechbare Ereignis in alle Lande hinaus zu tragen. Neben dem Turm, dessen Sockel aus zyklopisch geformtem, unverwüstlich-massivem Urgestein erbaut ist, bereit, allen Äonen der Vergänglichkeit zu trotzen, wirkt das Kirchenschiff eher wie ein Vordach, das von Wind und Wetter bedroht, stets Gefahr läuft, hinweggeblasen zu werden, weshalb schon in alter Zeit einige Kenner der Kirche behauptet haben, der Turm sei eine Himmelsleiter, oder, die Kirche mit ihrem Turm müsse dastehen wie eine Leiter, die zum Himmel führt. Entsprechend deuten auch die unter rechten Winkeln aneinander stoßenden, nur von kleinen schartigen Löchern und Spalten unterbrochenen Turmwände auf ein von keinem Feind je einnehmbares Bollwerk. Der oberste Teil aber, wo sich auch der Glockenstuhl befindet, ist erbaut, um mit seiner offenen Brüstung den vier Weltengeln beim Anblasen zum Gericht zu dienen. Nur durch eine steile Wendeltreppe ist er zu erreichen.

Schon hatten wir an der auf dem Kirchplatz aufgestellten Hochzeitstafel Platz genommen, Braut und Bräutigam auf den beiden Ehrenplätzen, wie es sich gehört; die Brautmutter zur Seite der Braut, der Platz des Brautvaters aber stand leer. Aber auch die Brautmutter war mehr abwesend, wenn nicht eben ihr Blick auf mich fiel, für den sie kaum mehr als ein vergrämtes, vorwurfsvolles Gesicht übrig hatte. Schließlich hatte sie ja auch mir alles Gute wünschen müssen, der ich doch an allem Schuld war. Die Blasmusik hatte zur Festtafel aufgespielt und der Festchampagner perlte bereits in den Gläsern, während die Köche nur noch auf das Zeichen warteten, mit dem Auftragen der Hochzeitsgänge zu beginnen: als die Glocken ihr Geläute einstellten. Von den Gästen schien niemand das abrupte Abbrechen zu bemerken, alle waren mit der Aussicht auf das Auftragen der Speisen und der Getränke in Beschlag genommen, wohl aber wir. Meine Braut warf mir einen Blick zu; dann erhob sie sich und verließ den Tisch. In den Turm zu gelangen war weiter nicht schwer. Der Schwiegervater hatte die Türe offen stehen lassen, sodass sie ungehindert eintreten und emporsteigen konnte.

Unterdessen begann nu der Schmaus. Und wenn ich nun auch alleine dasaß, als Bräutigam ohne seine Braut, so achtete doch niemand darauf. Schließlich haben auch die Bräute, wie alle Weibchen, ihre lieben Besonderheiten und Toiletten-Bedürfnisse und pflegen sie auch an diesem Tage, wiewohl sie längst ganz bezaubernd aussehen. Erst als der erste Gang des Hochzeitsschmauses bereits dem Ende entgegenging, kam es zu einer gewissen Bewegung und Erregung, insbesondere vonseiten der Festredner, denn gekommen war nun die Zeit, wo sie ihre Reden zu halten hätten. Diese aber waren selbstverständlich nur in Anwesenheit der Baut möglich. Immer wieder hatten mich ihre Blicke mit der Frage gestreift, wann denn endlich die Braut zurück sei, damit sie mit ihren Reden beginnen könnten. Ich aber, in Gedanken nirgends sonst als hoch droben im Turm, fragte mich, was aus dem Fest werden sollte, als die Kunde laut wurde, die Braut sei bei ihrem Herrn Vater oben im Turm.

Alle, bis auf die Schwiegermutter, stürzten sich dorthin, neugierig über die Maßen. Das Bild, das sich ihnen zeigte, war etwa dies: Droben, dicht unter den Glocken, durch ein Tischchen voneinander getrennt, fand man sie: auf der einen Seite den Schwiegervater, stumm und versteinert, ihm gegenüber seine Tochter, mit einem Gesicht, wie ein blühendes Stiefmütterchen im eisigen Winterwind. Dass sie sich viel Mühe gegeben hatte, ihn zum Nachgeben zu bewegen und an die Hochzeitstafel zu kommen, war durchaus zu sehen; nicht minder aber war auch zu sehen, dass ihr kein Erfolg vergönnt war. Spuren von Tränen, die sie sich beim Ansturm der Leute noch rasch aus den Augen gewischt hatte, sah man noch auf den Wangen. Auf dem Tischchen aber standen zwei Tellerchen, wie bei einer Kinderhochzeit, zwischen denen sich eine Kerze befand, schwelend und blakend. Auf jedem der beiden Tellerchen aber lagen zwei Erdbeeren, eine kleinere grüne und eine rote, schön ausgereifte, ohne dass eine davon berührt worden wäre. Selbst mit den Blicken das Tischchen zu berühren schien den beiden verboten. "Ich habe meinen Segen nicht gegeben und werde ihn in Ewigkeit nicht geben", schien der Vater noch gesagt zu haben, um dann den Blick in eines der schartigen Löcher zu versenken. Der Blick meines Mädchens aber war unterhalb des Revers der väterlichen Anzugjacke zum Erliegen gekommen, auf dem Abzeichen der Vaterschaft.

So stand die Angelegenheit, als die Menge das Turmzimmer erreicht hatte und nun bald auf den Vater, bald auf die Tochter und dann wieder auf das Tischchen mit den Tellerchen und denn so sonderbaren Speisen schaute. Hätten die Leute, statt verständnislos herum zu gaffen, dem Vater die Botschaft gebracht, dass der Bräutigam über alle Berge getürmt sei, so hätte das dem alten Vater wohl gefallen. So in sein gutes altes und angestammtes Recht zurückversetzt hätte er wohl sein Töchterchen in die Arme genommen und zu ihr gesagt: "Ich hab es ja gewusst, dass er dich sitzen lässt. Du aber wolltest mir nie glauben." Und er hätte den Fluch von dir genommen und ihr verziehen, wie ein Verliebter seiner Braut verzeiht einer flüchtigen, viel zu ernsthaft befundenen Bagatelle wegen.

Die Hochzeitsgäste indessen, nachdem sie sich sattsam davon überzeugt hatten, dass sie alles Sehenswerte gesehen hatten, waren alsbald auch wieder verschwunden. Dann aber war man wieder beim Hochzeitsmahl und das Fest ging weiter.

Auch meine Braut war nun wieder bei Tisch. Es hätte ja einen schlechten Eindruck gemacht, wenn der Brautsitz noch länger vakant geblieben wäre. Freude indes wollte nicht mehr so recht aufkommen, nachdem alle Welt wusste, dass der Brautvater das Fest sabotierte. So wurde denn jetzt auch auf die Reden verzichtet. Still oder doch nur mit dem Nachbarn im Gespräch, wobei man sich wechselseitig über die Ursachen des nun so freudelos gewordenen Festes erkundigte, aß ein jeder vor sich hin. Nur einmal wurde die Tafel dann noch auf besondere Weise gestört. Einen Schrei nämlich hatte der Schwiegervater von sich gegeben, und zwar so laut und so entsetzlich, als hätte ihn jemand den Turm hinab gestoßen.

Drunten über das Geländer des Turmaufgangs gelehnt fanden wir ihn dann, erschöpft, als müsste er sich jeden Augenblick übergeben, irrsinnig mit der flachen Hand gegen die Stirne sich schlagend, unterbrochen von Seufzern wegen des ausgebliebenen Brautgelds. Als ihn die Liebste ein letztes Mal bat, mit zu uns zu Tisch zu kommen, schien er sie nicht mehr zu kennen. Erst als die Schwiegermutter hinzukam, ihn mit nach Hause zu nehmen, ließ er es geschehen. Dabei schaute er sie mit großen entgeisterten Augen an und sagte: "Ich weiß nicht mehr, was hier geschieht!" - Damals ereilte meine Braut eine schwere und unheilbare Krankheit.

 

8. Das Kleid der Mütter

Es ist eine uralte Geschichte, von der wir im 6. Buch der Odyssee hören, die damit beginnt, dass sich Athene ins Haus des Phäakenkönigs Alkinoos begibt, um seine Tochter Nausikaa daran zu erinnern, dass bald Hochzeit gefeiert werde und dass dazu alle Kleider frisch gewaschen zur Hand sein müssten. Vielleicht steckt so etwas auch hinter dem bereits erzählten Traum vom Lammfellmantel, der dringend zur Frühjahrszeit benötigt wird für die hochzeitliche Braut, der dann aber nicht vorhanden ist, wenn er erst noch zur chemischen Reinigung muss, wo er gar noch Gefahr läuft, für immer verdorben zu werden. Nausikaa gelingt es, die Kleider zu waschen und schön gewaschen wieder nach Hause zu bringen, wobei sie dann auch noch auf den gestrandeten Odysseus trifft, den sie aber nicht aufgabelt, wie sie selber ihren potentiellen Kritikern zuruft, wenngleich ihr der fremde Mann durchaus nicht unsympathisch ist. Und wenn wir gerade ein wenig am Träumen sind, so könnten wir auch noch darüber träumen, dass Nausithoos, der Gründer der Phäakensiedlung Scherija, eine Gattin hatte, namens Nausithea, und dass diese, auch wenn es nicht durch Homer verbürgt ist, für Nausikaa ihr Hochzeitskleid hinterlassen hat, das die Enkelin nun als ein ganz besonderes Schmuckstück zur Wäsche am Fluss gefahren hat.

Das Geburtskleid, das Taufkleid, das Hochzeitskleid und das Sterbekleid: sind das nicht alles Abkömmlinge ein und desselben Kleides, das uns und insbesondere den Töchtern vermacht wird! Schon die Göttin Inana von Uruk legt die Kleider ab bei ihrem Gang ins Totenreich, oder sie wird der Kleider beraubt, wie es auch heißt, um sie dann zusammen mit den nun vollkommen gemachten Me, Instrumente ihrer ungeheuren Wirkmacht, die man wohl vor allem auch im Umfeld ihrer Kleidung zu suchen hat, neu zu erlangen. Im weiteren Sinn wäre dann auch der Eigenname ein Kleid, das wir durchs Leben tragen.

Doch nun zum Traum der Tochter!

Da waren sie also beisammen beim Kleidersortieren, Mutter und Tochter. Und zwar waren es die Kleider der Tochter, die zum Sortieren anstanden. Zuerst dachte unsere Tochter daran, die Kleider zu falten, um sie dann in eigens dafür vorgesehene Fächer und Schubladen zu legen. Die Mutter aber meinte, dass es besser wäre, die Kleider aufzuhängen. Während die Tochter dabei ist, ihrem Wunsch nachzukommen, überrascht sie die Mutter, indem sie ihr noch ein besonderes Kleid bringt: das Kleid der Mütter. "Ich selber habe es von meiner Mutter bekommen und diese wiederum von ihrer Mutter", sagt sie, überreicht es ihr und sieht zu, wie es nun im Kleiderschrank der Tochter einen neuen Ehrenplatz bekommt.

 

9. Warnung vor Schwiegersöhnen

An einem Sonntagmorgen im tiefsten Winter war es, als ich noch wie ein himmelstürmender Jüngling um die Hand meiner Freundin warb, und ich darf sagen, ihr Herz schon ein wenig besaß, wenn es auch außer mir noch niemand wusste: da geschah es, dass der Schwiegerpapa, nachdem er durchs Wohnzimmer gegangen war, um, wie gewohnt, die Rollläden in die Höhe zu ziehen und sich des beginnenden Tags zu versichern, etwas Ungeheuerliches entdeckte. Und ob er auch zwei oder drei Mal die Augen rieb und sie bald öffnete, bald wieder verschloss, weil er ihnen misstraute, so änderte sich doch nichts am Sachverhalt: Dicht unter sich, in dem von tiefem Neuschnee bedeckten Garten, über dem eben die Sonne aufging, sah er auf der olivgrün gestrichenen Bank, die er für sich und Schwiegermama als Ruheplatz an sommerlichen Abendstunden aufgestellt hatte, ein paar Gesellen, wie er sie sein Lebtag noch nicht gesehen hatte. Sieben oder acht ungeschlachte, verwegene Gesellen, allesamt splitternackt, mochten es sein, nicht anders, als wären sie hier zu Haus und aalten ihre Körper in der Sonne. Dabei war es keineswegs so, dass sie ihre glänzendbraunen Oberkörper still der Morgensonne zur Bestrahlung dargeboten hätten. Immerfort räkelten und balgten sie sich, dass selbst ein geübter Rechenkünstler Mühe gehabt hätte, jeden Einzelnen aus diesem Knäuel ausfindig zu machen, um dann aus allen die Summe zu ziehen. Obschon der Schwiegerpapa schon so manches gesehen hatte in seinem Leben, das war nun doch auch für ihn des Guten zu viel! Dieses, jeder kulturellen Errungenschaft spottende, das züchtige Auge beleidigende Bild war doch wohl nicht mehr zu überbieten. Was ihn dabei besonders störte, war die Tatsache, dass diese Gesellen nicht die geringste Miene machten, das Feld zu räumen, auch nicht nachdem er ihnen, den Vorhang bei Seite schiebend, schon ein paar Mal ein solches Verhalten nahegelegt hatte. Und als er ihnen nun sein altbewährtes "Wollt ihr gleich!" zurief, das Fenster war allerdings noch immer geschlossen und nur die Fingerknöchel stenografierten ihnen die Worte nach draußen, da geschah gleichfalls nichts weiter, als dass Wulleball, der gelehrige Wellensittich, in seinem Käfig im Wohnzimmer aufgeregt hin und her hüpfte, die Aufforderung seines Ernährers wiederholend.

Der geneigte Leser darf versichert sein, dass ich die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit bezeuge, wenn ich sage, dass Schwiegerpapa als Sachverständiger von Gesichtsausdrücken wie auch im Besonderen im Repertoire der Augensprache nicht zu den Anfängern zählte. Wie viele Übungsstunden er dafür aufgewandt und ob er wie ein professioneller Mime vor dem Spiegel die jeweils passenden Züge einstudiert hat, entzieht sich meiner Kenntnis, es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass er als streitbarer Jurist auch hier bereits hinreichenden Übungsstoff genossen. Vor allem aber verstand er es, diese unhörbaren und doch so beredten Ausdrücke so zu variieren und zu steigern, dass endlich, wenn es Not tat, auch noch der letzte Hinterbänkler im Gerichtssaal begriff, was damit gemeint war. Natürlich konnte er, wenn es die Zeit nicht anders zuließ, auch gleich lautstark zur Sache kommen und hätte wohl auch noch den großen Demosthenes, der es bekanntlich mit dem wildesten und wütendsten Meeresrauschen aufnahm, mit Leichtigkeit überschrien. Als Kulturmensch aber, als der er sich für gewöhnlich verstand, zumal wenn seine Ehehälfte in der Nähe war, war es nicht seine Sache, immer gleich mit dem Ungewitter seiner alles verheerenden Stimme aufzubrausen und loszudonnern.

So begann er denn auch an diesem Sonntagmorgen, als kein Zweifel mehr bestand und er sich sicher sein konnte, dass er unliebsamen Besuch bekommen hatte, sich in aller Entschlossenheit dem Besuch zu widmen. Das Fenster war, wie schon erwähnt, noch verschlossen; nur an die Scheibe hatte er geklopft, um auf sich aufmerksam zu machen, hatte aber mit der schlichten Aufforderung, das Feld zu räumen, noch kein Glück gehabt. Hin und wieder kam es zwar vor, dass einer von den Gesellen etwas länger zum Fenster hinauf schaute und den Hausherrn nun auch zu entdecken schien, doch glitt sein Blick schon bald wieder ab, ohne dass sonst etwas geschehen wäre. Es war eher so, wie wenn man beim Gang durch den Zoologischen Garten auf eine Rarität aufmerksam gemacht wird, sagen wir auf den endemischen Vertreter einer Affenart, den man sich jetzt aber nicht allzu lange anschauen will, da noch andere, wichtigere Dinge auf dem Programm stehen. Von den bis dahin zur Schau gestellten Gesichtsausdrücken - sie mochten die Qualität einer Verdrießlichkeit gehabt haben, wie er sie artikulierte, wenn etwa eines der Kinder beim Abhören der Hausaufgaben nicht Bescheid wusste -, hatten sie sich nur wenig angesehen.

Glaube aber nur keiner, dass Schwiegerpapa jemals eine seiner Unwillensbekundungen als ein Weihnachtsspäßchen beendet hätte! Selbst auf der Stufe der Sparflamme seines Unmuts hatte jedermann zu erkennen, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war! Und wenn die Herrschaften da draußen die Äußerungen edler Einfalt und stiller Größe verschmähten, konnte er ihnen auch mit Darbietungen aus einem gröberen Register aufwarten. Weh ihnen, wenn aus seinen schwarzbebuschten Augen erst einmal die Funken einer ungehemmten Wut heraussprühten! Mochten sie sich jetzt auch noch um die Vorboten einer Gesichtsverfinsterung einen Dreck scheren, so hatten sie es sich selber zuzuschreiben, wenn ihnen später keine Reue mehr nützte! Das fehlte ja noch, dass man seinen Garten mit einem öffentlichen Spielplatz verwechselte.

Noch ehe wir zur Beschreibung kommen, wie das handfeste Drama seinen Lauf nimmt, beeile ich mich zu versichern, dass ich nicht das Geringste mit jenen Gesellen zu tun gehabt habe. Eigentlich versteht sich das von selbst. Und ich wüsste auch nicht, wer auf den Gedanken kommen könnte, mir einen so abscheulichen Vorwurf zu unterbreiten, gleichwohl füge ich das hier bei, meines Seelenfriedens und der Menschenliebe wegen. Niemals bin ich gestanden im Rat der Gottlosen, noch auch bin ich gewandelt auf dem Weg der Frevler, noch auch hab ich Witze gemacht im Kreis der Spötter, wenn ich freilich auch nicht ausschließen kann, dass Schwiegerpapa manch eine Ähnlichkeit zwischen diesen Naturburschen und mir festgestellt haben mag. Denn warum sollte nicht auch ihm einmal ein böser Zauberer mitgespielt haben, dass er einem jener Halunken den Schwung meiner Nase geborgt oder ein Gelächter zwischen die Zähne gestopft hat, wo wir doch alle am Menschsein teilnehmen, während ich zu jener Morgenstunde noch friedfertig in meinen Bett lag und vor mich hin träumte? Im Übrigen bitte ich nicht zu vergessen, dass jene Gesellen gut durchtrainierte, gertenschlanke, baumlange Kerle waren, so dass schon von daher eine Verwandtschaft mit mir ausgeschlossen werden muss. Ja, diese Naturburschen waren von einer derartigen Urwüchsigkeit, dass sie es nicht einmal für nötig erachtet hatten, den Schnee von der Bank wegzufegen, um darauf Platz zu nehmen.

Angesichts dieser Sachlage wäre Schwiegerpapa nun allerdings wohlberaten gewesen, statt sich auf seinen Feldherreninstinkt zu verlassen, einen genauen Schlachtplan zu entwerfen. Weil er aber nicht der Mann war, an den schlechten Ausgang einer Sache zu glauben, weder wenn er im Unrecht war, da half ihm sein juridisches Genie, noch auch hier, wo die Fahnen des Rechtes seinem Weg siegreich voraus flatterten, so begnügte er sich mit dem Wissen, dass er keinen Feind zu scheuen hätte und mochte er selber auch in der Minderzahl sein wie einst Gideon, als er mit 300 Mann gegen Tausende von die Midianitern in den Kampf gezogen, und eilte aus dem Zimmer, um sich vom Aufwind des bevorstehenden Sieges zum oberen Garten hinauf tragen zu lassen. Von dort dann sollte es ihm ein Leichtes sein, den Feind wie von einem unbezwingbaren Feldherrnhügel herab mit dem Zorn seiner Gegenwart zu zerschmettern.

Der Leser mag erahnen, was für einen geübten Erzähler die Geschichte jetzt verlangt, um sich in diesen entscheidenden Sekunden voll und ganz in unseren Helden zu versetzen und jede seiner Regungen zu erspüren. Hier nur von einem bürgerlichen Gartenbesitzer zu sprechen und ihn auf einem prosaischen Anschlich zu begleiten, würde der geschichtlichen Einmaligkeit des Ereignisses nie und nimmer gerecht. Aber auch der Vergleich mit einem Feldherrn, der eine Schlacht zu schlagen gedenkt, wie noch nie eine gewesen, dass man selbst noch in 10000 Jahren ihrer gedenkt, ja selbst die Eroberung des Olymp durch die Giganten kann dem nun einsetzenden Kriegsgeschehen nur von Ferne genügen. Um uns aber die Arbeit nicht zu schwer zu machen und das Kriegsgetöse nicht allzu schrecklich werden zu lassen, sagen wir mit der Gelassenheit der alten Historiker, dass unser Held jetzt die Absicht hatte, diesen gesetzlosen Eindringlingen und Störenfrieden die tödlichsten seiner Blicke entgegenzuschleudern. Mit diesen, da war er sich sicher, würde er diese Riesengrobiane auf der Stelle in Zwergnussmäuse verwandeln. Und wenn noch Zweifel bestanden, so mochten sie den Fliegenbart befragen. So nannte er nämlich für sich den damaligen Präsidenten des Finanzgerichts, der als ein princeps inter pares unserem Helden ein Urteil zur Emendation zurückgeben zu sollen vermeinte. Vielleicht weil ihm ein paar Fliegenbeinchen nicht hübsch geputzt und ein paar I-Pünktchen nicht abgerundet genug erschienen. O, da war er aber an den Rechten geraten! Ausgerechnet an ihn, der mit summa cum laude in Deutsch ins Leben hinaus marschiert war und dem alle Lehrer eine große Laufbahn vorausgesagt hatten!

Wie er nun also von seinem Feldherrnhügel herab zum Sturm auf den Feind blies, da hatte er wohl beides auf seiner Seite, den Mut des Tüchtigen und das Recht des Gerechten. Wie sehr er aber auch seinen Schlachtruf auf sie herabschrie, so rührte sich doch nichts; vielmehr, wie man eine harmlose Stubenfliege im Vorbeifliegen wahrnimmt, so schienen sie auch jetzt sein Erscheinen nur für etwas zu halten, was man ihnen zur Unterhaltung anbot. Schwiegerpapa mochte sich einfallen lassen, was er wollte, er mochte unter seinen Brauen die Augen nur immer noch wütender zusammenbrauen und seiner Stimme den Klang beimischen, der Josuas Trompeten in nichts nachstand: die Leute im Garten benahmen sich, als ginge sie das alles nichts an. Ja, so sehr prallte alles an ihnen ab, dass sich der Schwiegerpapa nun gezwungen sah, ein ganz neues Blatt im Buch seiner Kriegsführung aufzuschlagen. Würdevoll schritt er nun also in den Garten hinab, Stufe um Stufe. Und nichts Minderes lag ihm im Sinn, als plötzlich, ganz in ihrer Nähe, ein Exempel zu statuieren. Einem von diesen Calibanen wollte er zeigen, wo es aus seinem Garten hinaus ging; und, sollte das noch immer nichts fruchten, so wollte er ihn beim Schopf packen und ihn mit einem Tritt auf die Straße befördern. Wie? Oder prickelte es nicht schon in seinen Zehen? Spürte er nicht schon die herrlichsten Kräfte aus sich heraus wachsen? Er musste ja nur wollen. Und er wollte ja auch! Und wie er wollte! Notwehr bei Hausfriedensbruch war schließlich erlaubt, war gottgewollt! Zu ihrer Vernichtung hätte er jetzt Gebirgsbrocken abreißen können und hätte sie gewiss doppelt so weit geschleudert wie einst der einäugige Sohn des Poseidon. So viel aber brauchte er nicht zu tun; da war er sich ganz sicher. Ein kleiner Anhauch würde genügen, dann würde diese Bande zerstieben wie die Spreu im Wind. So war er nun also dabei, gegen sie vorzurücken, und ein Strom von Galle mischte sich mit den süßesten Prinzipien der Jurisprudenz, um die aus dieser Verbindung entstehenden Söhne der Gerechtigkeit in die Welt zu entsenden: als plötzlich einer der Gesellen sich von den Bank erhob, ein paar Schritte auf den Schwiegerpapa zu machte, fast als suche er den Kampf mit ihm aufzunehmen, um dann aber in einem knappen Bogen an dem verdutzten Hausherrn vorbei den Weg auf das Haus zu nehmen.

Mit allem hatte Schwiegerpapa gerechnet, nur damit nicht. Was nur mochte der Kerl im Schild führen? Was lief er zur Hauswand hinauf, was suchte er dort? Versteht sich, dass unter diesen Umständen der alte Kriegsplan, den Feind von der Gartenmauer hinab zu schleudern, sofort revidiert werden musste. Als erstes war der Kriegsfront am Haus ein Ende zu bereiten. Das war, wie er meinte, nicht schwer; das war zu schaffen, wenn man nur gleich tätig wurde. Vor Erreichen der oberen Terrasse war der Bursche zu stellen. Ah ja, wenn das kein Wink des Himmels war! Jetzt musste er sich schon keinen mehr heraussuchen. Jetzt konnten die anderen zusehen, was ihnen blühte, wenn sie nicht rasch das Weite suchten.

Und doch sollte sich jetzt herausstellen, was für eine Kluft liegt zwischen "gedacht" und "getan!" Nichts von dem, was sich Schwiegerpapa in der Eile und im Eifer des Gefechts vorgenommen hatte, sollte ihm gelingen. Ja, schlimmer noch! Statt den Wilden an der oberen Hauswand zu stellen, sollte er mit ansehen, wie er ihm davonflitzte und, keiner weiß wie, ins Haus eindrang. Hier nun kämen wir bei unserer Berichterstattung zu dem Punkt, wo auch die Schwiegermama ins Geschehen eingreift.

Ob es Motive gibt, dass der Wilde just den Weg zur Küche eingeschlagen, oder ob ihn der Zufall dahin getrieben, vermag ich nicht zu sagen. Nur so viel ist gewiss, dass Schwiegermama eben dabei war, den Kaffee und die Brötchen für das sonntägliche Frühstück zu richten, und dass das plötzliche Erscheinen des Wilden einen bemerkenswerten Eindruck auf sie machte. Soweit aber sind wir ja noch überhaupt nicht. Denn was sollte Schwiegermama, die noch von keinem Schlachtenbeginn und keiner Gartenoffensive etwas wusste, was sollte sie anderes mutmaßen, als dass der Schwiegerpapa zur Türe hereinkam? Von daher ist auch nicht verwunderlich, dass sie sich gar nicht umsah, sondern unbeirrt und wie gewöhnlich die Vorbereitungen fortsetzte. Eben hatte sie noch die Butter und die Johannisbeerkonfitüre aus dem Kühlschrank geholt, die wachsweichen Eier standen schon fix und fertig auf dem Tablett, als sie sagte: "Und wegen der Konfitüre, Hans, musst du dir wirklich keine Sorgen machen. Ich bin im Keller gewesen und habe nachgezählt; und wenn du so weiter isst wie bisher, so sollen sie uns schon reichen bis zum nächsten ..." Sie wollte sagen, "bis zum nächsten Johannistag", seinem Namenstag.

Da aber geschah es, dass sie statt des Gatten, einen Wilden, einen gottverlassenen nackten, nur mit langen, schwarzen Brusthaaren bekleideten Wilden erblickte. Dass sie dabei nicht zu Stein erstarrte oder doch wenigstens dem Gelüst nachgab, sich einer kleinen Ohnmacht hinzugeben, grenzt wirklich an ein Wunder. Über alles Wunderbare hinaus aber reicht dann vor allem die Unerschrockenheit und der Listenreichtum dieser wetterfesten Frau! Mochte sie sonst nämlich auch vor Ängstlichkeit vergehen, etwa wenn man mit dem Auto ein kleines Stückchen im Rückwärtsgang bergabwärts fuhr: hier trat sie aus dem Schatten ihrer Selbst, hier wuchs sie über sich hinaus. Ja, hier kann der Berichterstatter dieser einzigartigen Geschichte nicht anders, als sie ganz unbedingt zu den ganz großen Helden der Geschichte zu zählen, würdig eines Odysseus und eines Achill. Und so wusste sie denn auch schon, kaum dass sie den Fremden wahrgenommen, was ihre Aufgabe war. Schlicht und ungezwungen, mit einer Stimme, die eher um sein Heil besorgt war als um das Ihre, fragte sie ihn, wer er denn sei und was er um des lieben Himmels willen hier zu suchen habe. Dabei schmierte sie an den bereits fertig geschmierten Brötchen weiter, als mache sie das alle Tage so und das könnte auch heute nicht anders sein.

Unterdessen hatte auch der Hausherr wieder ins Haus gefunden. Und da er hörte, dass sich der Fremde in der Küche befand und mit seiner Ehehälfte konversierte, so hielt er es für das Beste, erst für Verstärkung zu sorgen, ehe er sich ins Getümmel einließ. Sorgen um sie musste er sich keine machen. Darauf durfte er bauen, dass sie wusste, wie sie sich zu verhalten hatte. Das hatte sie gelernt, als er noch im Krieg in Frankreich gestanden und sie ganz allein den Haushalt zu bewältigen gehabt. Für einen Augenblick hatte er zwar noch erwogen, zum Speicher zu eilen und von dort den Degen zu holen, mit dem er als Verbindungsstudent gekämpft. Doch was sollte er sich am hochheiligen Sonntag die Hände beschmutzen? Mochten die dafür bereit stehenden Diener des Staats diese Arbeit besorgen! Mit dieser Erwägung war er zum Telefon geeilt, das neben dem Flurspiegel fest installiert war, die Polizei zu alarmieren.

Doch Halt! Lassen wir das Telefon bei der Polizei erst einmal klingeln und eilen wir nicht voraus! Schwiegermama nämlich, kaum dass sie das Telefon hörte - ihr entging nichts, was ihr Hans tat -, wusste gleich, was da läutete. Wie Osterglocken hörte sie das Geläut des Telefons und sah bereits vorahnend im Geist, wie die Polizisten den Fremden in Handschellen abführten. Dabei hatte er es doch noch in der Hand, diesem schmachvollen Los zu entgehen. Und so, teils aus listiger Hinhaltetaktik, um ihn nicht aufmerksam zu machen, was da eben geschah, teils aus echtem Mitleid mit dem armen nackten Wilden, er war wirklich nackt bis auf sein Geschlecht, sagte sie zu ihm: "Geschieht Ihnen ganz recht, mein Herr! Was haben Sie auch die Stirn, am helllichten Tag in ein fremdes Haus einzubrechen?" Nun fuhr sie zwar nicht fort: "Haben sie noch nie etwas von Mausefallen gehört?" Oder dass es nicht gut sei, ins Fettnäpfchen zu treten. Witze zu machen war absolut nicht ihre Sache. Da ihr aber daran gelegen, auch den armen Jungen noch zu retten, fuhr sie fort, ganz in Übereinstimmung mit ihrer weiblichen Natur und im Stil der begonnenen Paränese, den ungebildeten Wilden an seine geistige Größe zu erinnern. "Mir ist völlig unerklärlich", fuhr sie also fort, "wie man sich so etwas nur ausdenken kann." Das Wort "Raubüberfall", das ihr schon auf der Zunge gelegen, schob sie wieder zurück. "Zumal bei Ihrer Größe sollte doch auch der Geist ein entsprechendes Format haben! Dann aber müssen Sie sich sagen, dass auf Gewalt nur Gewalt, auf Schwert nur Schwert und auf Feuer nur Feuer antwortet. Wenn Sie aber meinen, durch das Klauen eines Frühstückbrötchens - der Fremde hatte sich nämlich bereits das Lachsbrötchen, das einzige, das auf dem Teller gelegen, stibitzt und zu verspeisen begonnen -, den gewaltsamen Einbruch in unser Haus vergessen zu machen, so irren Sie! Ein neues Unrecht verdeckt nicht ein früher begangenes, wie viele Verbrecher meinen! Vielmehr jagen sie nur die Straße der Verbrechen dahin, bis sie erschöpft zusammenbrechen. Und schon gar nicht wird ein großes Verbrechen durch ein kleines verdeckt, auch wenn die Psychologie uns noch immer eine genaue Erörterung der Abschattierung von Verbrechen schuldig geblieben ist. Sollten Sie aber Schwierigkeiten haben, mir zu folgen, so geben Sie wenigstens zu, dass es von keiner sonderlichen Intelligenz zeugt, wenn man, ohne eingeladen zu sein, sich in fremde Häuser schleicht und unaufgefordert zu essen beginnt!"

Schwiegermama hatte ihre Rede nicht übel gehalten. Ganz aus dem Stegreif begonnen hatten sich Mitleid und Empörung die Waage gehalten. Und wenn sie dafür auch nicht belohnt wurde und der Wilde nicht auf der Stelle das Haus verließ, so ging dies in Ordnung, weil er nun solange bei ihr, hier, in der Küche bliebe, bis die Polizei da wäre, statt mit ihrem Hans im Hausflur zusammen zu rasseln. So glaubte und hoffte sie zumindest. Doch was hantierte nur ihr Hans noch immer da draußen herum? Entschlossen, nun selber aktiv den Gang der Handlung einzugreifen, schob sie den Teller mit den Brötchen an den Wilden heran und mit einem einladenden: "Greifen Sie nur ganz ungeniert zu! Ich bin gleich wieder da!" und war auch schon aus der Küche.

Im Flur indessen war Schwiegerpapa nicht mehr zu sehen. Nachdem er mehrere Male vergebens nach einem Anschluss bei der Polizei gesucht hatte, war er leise zur Haustüre gegangen und hatte das Haus verriegelt. Dann war er zurück ins Wohnzimmer gegangen. Sobald Schwiegermama mit den Vorbereitungen fertig wäre - die beiden Frühstückseier waren das Letzte, die stets noch in ihren waschweichen Zustand zu bringen waren -, würde sie das Frühstück wie gewohnt ins Wohnzimmer bringen. Das wusste er. Um für alle Fälle gewappnet zu sein, war er wieder ans Fenster getreten, eben zu der Stelle, wo er die Rollläden in die Höhe gedreht hatte, und hatte das Fenster geöffnet, um im Notfall um Hilfe zu schreien. Da aber kam nun die Schwiegermama auf ihn zu. Dass sie ohne das Frühstückstablett auf ihn zukam, bemerkte er gar nicht. Er war ziemlich enttäuscht und unsicher, ob er nicht noch einmal zur Haustüre zurückkehren sollte, um die Türe aufzusperren und sie weit offen stehen zu lassen. Seine ratlos gewordenen grauen Augen schienen nur zu sagen: Wenn du sie einmal brauchst, sind sie nicht da, und wenn du sie nicht brauchst, dann brummen sie dir einen Strafzettel auf. Er meinte die Polizei.

Sie hatten sich weiter noch nicht ausgetauscht, zumal den Punkt des offenen Fensters betreffend, da war auch der wildfremde Geselle aus der Küche gekommen und hatte sich neben sie gestellt. Wie ein Gentleman, mit dem Hauch einer wohligen Friedfertigkeit, die einem eine bereits eingetretene Sattheit beschert, war er auf sie zugekommen. Da standen sie nun also zu dritt am offenen Fenster: die Schwiegermama , der Schwiegerpapa und der wildfremde Niemand, als gehörte er schon immer zur Familie, und schauten in den Garten. Doch wo war der Junggesellenverein, der sich zuvor noch so wild und ungebärdig auf der Gartenbank herumgetrollt hatte? Wohin war er entschwunden? Nur noch der von ihren Hinterbacken festgepresste Schnee auf der Gartenbank schien von ihrem Besuch Zeugnis abzulegen, dass Schwiegerpapa schon wähnte, dem Gröbsten entronnen zu sein.

Nun steht etwas unterhalb jener grün angestrichenen Gartenbank ein stattlicher Baum, eine Birke, wie sie selbst in Schweden und Finnland nicht schöner gedeiht. Ihr kräftiger Stamm, in einer Tiefe von etwa 4m unterhalb des Wohnzimmers aus der Erde sich hebend, umkleidet von einem gelblich weißen Bast, war damals schon so hoch aufgewachsen, dass er 3m über das Wohnzimmer hinauf reichte. Dort hinauf schaute der Fremde, dass die Schwiegereltern nicht umhin konnten, seinen Blicken zu folgen. Was sie dort entdeckten, gehört wohl mit zum Ungeheuerlichsten, was einem in seinem Leben als angehende Schwiegereltern offenbart werden mag. Nichts anderes nämlich entdeckten sie dort als eine Unzahl völlig nackter Urwesen männlichen Geschlechts, die sich in den Zweigen festhielten und dort ihr Unwesen trieben. Mit ihren rosaroten klobigen Hängebäuchen und ihren buschigen Schwänzen schienen sie eine Mischung von Mensch und Erdhörnchen zu sein, wie man sie aus den Kinderbüchern kennt. Schaukelten die einen genüsslich in der Sonne, so machten sich die anderen einen Spaß daraus, sie vom Zweig zu stoßen, indem sie an ihm rüttelten; oder sie übten sich in Handständen und ähnlichen akrobatischen Einlagen, wie sie auch Kindern bisweilen einfallen, um sich dann wieder durchs Geäst zu verfolgen, wo sie ihre gewagten Sprünge nicht selten so zu Ende brachten, dass sie am Schwanz eines ihrer Artgenossen eben noch den letzten Halt fanden. Das Tollste an der Vorführung aber war, dass, kaum dass man die Zahl der Akteure halbwegs bestimmt hatte, eine weitere wilde Vermehrung einsetzte. Waren es eben noch ihrer 8 oder 9 Wildlinge gewesen, die im Geäst turnten, so waren es jetzt bereits 20 oder 30. Und nun waren sie alle wieder dabei zu wachsen und an Gewicht zuzulegen, um es möglichst bald zu einer neuerlichen Vermehrung kommen zu lassen.

Die Schwiegereltern, die unterdessen, ob sie nun wollten oder nicht, dem Schauspiel beigewohnt hatten, waren beide zutiefst davon überzeugt, dass es auf ihrem Gelände zu keiner weiteren Vermehrung des nackten Fleisches kommen dürfe, doch verfolgten sie dabei ganz unterschiedliche Strategien. Während Schwiegermama eher daran dachte, durch Wegschauen die Dinge ungeschehen zu machen, war es für Schwiegerpapa eine ausgemachte Sache, sich nun Charon, dem entsetzlichsten aller heimischen Kriegsgötter zu verschreiben. Und so hatte er bereits einen von Schwiegermamas Blumentöpfen erfasst, und hatte ihn hinüber zur Birke geschleudert. Viel zu flach indessen hatte er den Wurfwinkel angesetzt und viel zu kraftlos den Stoß ausgeführt, so dass dem Topf nichts übrig geblieben war, als erfolglos zur Erde zu sausen. Auch den nächsten Versuchen war kein besseres Glück beschieden. Die Erste aber, die das Kriegspech zu spüren bekam, war die Schwiegermama. Es nützte ihr nämlich nichts, dass sie jetzt entsetzt aufschrie, weil sie nicht zulassen wollte, dass sie als Heeresfeldmeisterin die Kanonen und Kugeln zu liefern und sie nach der Schlacht zerscherbt wieder aufzulesen hätte. Ein Topf nach dem andern, alle mit den wundervollen Exemplaren ihrer scharlachrot blühenden Klivie bestückt, alle nahmen sie jetzt Abschied vom Fensterbrett und flogen hinunter in den Garten. Aber auch die fleischigen Kerlchen wurden jetzt keck. Wenn sie sich bis dahin nämlich auch darauf beschränkt hatten, den zur Erde sausenden Töpfen von ihrer hohen Warte aus stumpfsinnig und ahnungslos nachzusehen, so schien sie nun eine immer größere Lust anzuwandeln, am Geschehen Teil zu nehmen. Und so begannen sie nun, aus der unergründlichen Tiefe ihres fleischlichen Daseins Bogen und Pfeile hervorzuholen und den Angriff zu erwidern. Und wenn auch Schwiegerpapa mit kaum mehr zu überbietender Wut vom letzten Vorrat an Munition Gebrauch machte - es waren nur noch die schwersten Kolosse an Töpfen übrig - und an einen Treffer überhaupt nicht mehr zu denken war -, so wurden die Kleinen mit ihren Pfeilchen immer dreister. Übermütig zielten sie alsbald schon auf seine Nase. Unnötig zu erwähnen, dass angesichts dieser Wendung der Dinge, auch Schwiegermamas allerletzte Einlenkversuche zum Scheitern verurteilt waren.

Der junge wilde Mann aber, der zuvor sehr manierlich und ruhig zugeschaut hatte, als ginge es ihn nichts an, erwachte plötzlich aus seinen Träumen. Und als er sich nun auch noch einschaltete und meinte, den Schwiegervater an Maß und Mitte erinnern zu müssen, da war es dann auch um den letzten Rest seines Gleichmuts geschehen. Und so, sein Ziel ändernd, war Schwiegerpapa auch schon dabei, den letzten der Giganten, den Goliath unter den Töpfen, mit urweltlichem Gebrüll auf die Brust des neben ihm stehenden Fremden zu schmeißen, und hätte ihn wohl auch zu Staub zermalmt, hätte sich dieser nicht mit dem Instinkt seiner unverwüstlicher Natur aufs Fensterbrett geschwungen, von wo aus er sich vermittels eines nicht minder kühnen, die Luft durchmessenden Sprunges auf der Birke in Sicherheit brachte. Von dort aus kletterte er in Windeseile weiter nach oben, um sich dann in der Baumkrone in tausend Fleischklümpchen zu verwandeln.

Und die drei Töchter? Hatte sie nicht der Kriegslärm aus den Betten gescheucht und ans Fenster getrieben, wo sie nun ihre niedlichen Näschen plattdrückten? Wenn uns bislang auch niemand darüber nähere Auskunft gegeben, so dürfen wir es doch für ziemlich sicher halten. Was sie sich im Stillen dabei gedacht haben, als sie ihren Erzeuger so vom Pech verfolgt sahen, darüber wollen wir nun allerdings nicht weiter spekulieren. So viel scheint indes sicher, dass sie es vorgezogen haben, still abzuwarten und sich erst zu zeigen, als der ärgste Lärm vorbei war.

4. Die Welt der Gesellschaft

 

1. Fahrt nach Denkendorf

Ein anstrengender und unerquicklicher Fall in Sachen eines Testaments, Bruder gegen Bruder, den man mir als jungem Gerichtsassessor aufgetragen hatte und zu dem ich eigens nach Breisach, einem kleinen Ort an der Landesgrenze gereist war, lag, wie ich mir schmeicheln durfte, zu meiner Zufriedenheit hinter mir, als ich mich auf den Weg zum Bahnhof machte, um mit dem Abendzug nach Hause zu fahren. Obwohl bis zur regulären Abfahrtszeit fast noch eine Stunde Zeit war und der Weg auch nur aus ein paar wenigen Schritten bestand, hielt ich es für das Beste, mich schon jetzt auf den Weg zu machen. Hat man sein Tagewerk gut hinter sich gebracht und hat man sonst weiter nichts mehr zu tun, so macht einem eine kleine Wartezeit am Bahnhof nicht viel zu schaffen. Mag dann auch ein trüber, lichtloser Dezembertag hinter blaukalten Wolkenmassen seinem Ende entgegengehen, so recht ein Tag voller Vorgeschmack auf die nun anbrechende, kalte Jahreszeit, so ist man doch zufrieden und blickt erleichtert auf den vergangenen Tag, der, wie man als Rechtskundiger wohl weiß, unter ein paar anderen Umständen, auch ganz anders hätte verlaufen können. Freilich hätte es nicht dieses erbitterten Streits bedurft. Jeder der beiden Söhne, Söhne reicher Eltern, hatte genug an Erbe bekommen. War das Leben nicht schwer genug, dass es sich einige Gruppen von Menschen noch etwas schwerer machen mussten, dergestalt dass der Rechtsstreit der gerechte Ausgleich dafür war, dass sie nicht unter Armut zu leiden hatten? Oder waren wir auf die Erde gekommen, um zu beweisen, dass auch wir heute nichts anderes waren als die Weltherrscher von einst, jene Riesenechsen und Dinosaurier, die von einer Laune der Natur erzeugt sich auffraßen, um dann wieder zu verschwinden? Und war die Institution der Gerichte und deren unablässige Inanspruchnahme Tag für Tag nicht ein untrügliches Zeichen, wie wenig der Mensch in der Lage war, etwas auf Brüderlichkeit und Toleranz zu geben?

Unter solcherlei Gedanken war ich die Straßen entlang gegangen, als mit auffiel, dass der Zug schon abfahrbereit auf dem Gleis stand. Dass er fast eine Stunde zu früh rangiert dastand, mochte ich kaum glauben; dass er aber dem Fahrplan zuwider abfahren würde, wollte mir noch weniger in den Sinn. Gleichwohl beeilte ich mich, für den Fall, dass eine unmittelbare Abfahrt bevorstand. Kaum dass ich die kleine Bahnhofshalle durchquert hatte und nun hinaus auf den Bahnsteig trat, gab es keinen Zweifel mehr, dass die allerletzten Besorgungen in Gang waren, ehe man einen Zug auf die Reise schickt. Der Bahnhofsvorsteher stand bereits am Kopfende des Zuges mit der Signallampe zur Abfahrt in der Hand, während sich noch immer eine Menge von Leuten vor dem Zug drängte: teils Passagiere an den Türen, um noch in einem der überfüllten Wagen einen Platz zu finden, teils außen vor den Fenstern, um die Angehörigen, die eben eingestiegen waren und einen freien Platz suchten, im Innern im Genuss eines Platzes zu finden. Andere, die ihre Angehörigen bereits wiedergefunden hatten, standen nur noch da, um durchs offene Fenster noch ein paar Worte zu tauschen, oder, wo das Fenster verschlossen war, durch irgendwelche Gesten und Gebärden, die Zeit bis zur Abfahrt zu überbrücken. Eigentlich hat man sich nichts mehr zu sagen und man wäre froh, wenn die Abfahrt schon erfolgt wäre, andererseits aber ist man bemüht darum, die letzten Augenblicke mit einem besonders denkwürdigen Zusammensein zu beschließen.

In höchster Eile war ich eben dabei, mich zu den weiter vorn befindlichen Wägen durchzukämpfen, wo meiner Erfahrung nach am ehesten noch ein freier Platz zu ergattern war: als ich glaubte, in einem der an mir vorbeikommenden Wägen Robert, einen meiner alten Jugendfreunde erblickt zu haben. Für einen Augenblick blieb ich stehen, um zu überprüfen, ob er es auch war. Das aber war nicht ganz leicht, da der junge Mann jetzt dabei war, sein Gepäck ins Gepäcknetz oberhalb der Sitzbank zu befördern, so dass er jetzt nur noch im Profil zu sehen. Einen Augenblick später aber befand ich mich drinnen in dem Abteil. Ohne alle Mühe und wie im Nu war ich hereingelangt, und stellte nun fest, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Es war Robert, der jetzt dabei war, es sich auf einem Sitz bequem zu machen.

Grund zur Verwunderung hätte es wohl jede Menge gegeben, wenn ich mich nur diesbezüglich hätte zu bedenken vermocht. Indessen hatte ich vergessen, dass ich mich eben noch im Gedränge befunden, auf der Jagd nach einem noch freien Platz, während hier ein ganzes Abteil mit allen seinen Sitzen leer dastand. Einzig Robert, der Jugendfreund, wie er so mutterseelenallein dasaß, verwunderte mich. Auch Robert war nicht wenig erstaunt, mich hier zu treffen. Gemeinsam waren wir zur Schule gegangen, gemeinsam hatten wir sie beendet und nicht selten war ich in Breisach bei ihm zu Besuch gewesen, wo sich seiner Eltern Haus befand. Manch einen Ferientag hatten wir zusammen verbracht und manch ein Gespräch geführt und Pläne geschmiedet für die Zukunft. Unterdessen aber waren schon über acht Jahre vergangen. Robert war seinen Weg gegangen und ich meinen; und so war es gekommen, dass wir uns aus den Augen verloren hatten.

Meine Besorgnisse wegen der Abfahrtszeit hatte er rasch zerstreut. Früher als Kind habe er diese Dinge auch sehr wichtig genommen. Aber da könne nichts schief gehen. Und wenn ich mich anders besänne, könnte ich ja bei der nächsten Station in Ihringen aussteigen und einen anderen Zug in die Stadt nehmen. Nun fragte ich ihn, wohin er denn unterwegs sei. Irgendein Lärm, vielleicht der probeweise Ausstoß von Pressluft aus einem der Ventile, der zur Überprüfung der Bremsen gehörte, übertäubte in dem Moment mein Ohr, dass ich die Antwort nicht recht verstand. Ich hatte den Eindruck, den Ortsnamen Denkendorf gehört zu haben, mochte es aber nicht wahr haben, da es, wie ich zu wissen glaubte, hier in der Gegend keine Ortschaft dieses Namens gab. "Nach Denkendorf?" forschte ich noch einmal nach. Ich hatte aber ganz recht verstanden.

"Hoch droben im Kaiserstuhl, in der Nähe von Achkarren", gab er mir zur Antwort. "Dort waren Vorfahren von uns als Winzer ansässig, ehe sie den Weg nach Breisach nahmen, wo dann meine Eltern eine Bäckerei eröffneten und dort ihr Glück versuchten. Jetzt wohnen wir, die Eltern und ich, wieder in Denkendorf. Nur hin und wieder muss ich nach Breisach zurück, teils des Geschäftes wegen, das mein Bruder inzwischen übernommen, teils weil es den Vater interessiert, was sich in der Zwischenzeit alles da drunten getan hat. Ein klein wenig möchte er eben noch auf dem Laufenden sein, wie er sagt. In Wahrheit aber ist es eine kleine Schwäche von ihm, dass er immer noch etwas braucht, woran er sein ruheloses Herz hängen kann. Heute war ich nun da und kann ihm die glückliche Kunde bringen, dass mit dem Bruder alles in Ordnung geht."

Das alles hatte er rasch und etwas kurzatmig gesprochen, so dass er jetzt eine kleine Pause einlegte. Dann, nachdem er eine Weile die Hand gegen die Stirne gedrückt hatte, fuhr er fort, fast als wolle er sich entschuldigen, dass er etwas zu sagen vergessen: "Mit Eckart, meinem Bruder, habe ich mich stets gut verstanden, das weiß du ja; und so bin ich auch schnell mit ihm betreffs des Erbes übereingekommen. De facto hat er schon über alle die Jahre die Geschäftsführung inne; nun wird er auch noch de jure das Geschäft übernehmen. Insofern darf ich sagen, dass mir meine Mission vollauf geglückt ist und das wird gewiss auch unsere Mutter beruhigen."

Nach diesen seinen Worten verspürte ich einen Ruck. Ich schaute hinaus. Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Er verließ jetzt den Bahndamm. Vom Gedränge draußen war keine Spur mehr zu sehen. Nur der Enkel des Bahnhofsvorstehers war noch zu sehen. Am äußersten Ende des Bahnsteigs. Verängstigt hielt er das Hosenbein des Großvaters umklammert, fast als ob er Angst hätte, der Luftzug des vorbeifahrenden Zuges könnte ihn mitnehmen. Schon beim Betreten des Bahnsteigs hatte ich ihn gesehen, wie er von einem Fuß auf den anderen wechselnd es kaum mehr hatte abwarten können, bis der Großvater dem dicht neben ihm aus der Führerkabine schauenden Lokomotivführer das Zeichen zur Abfahrt gäbe. Jetzt aber stand er da und schaute uns nach, als höben wir ab wie ein Flugzeug, während ein paar Prellböcke auf einem stillgelegten Nebengeleis sowie die letzte Bahnhofsuhr an uns vorübereilten.

Nun sollte sich zeigen, ob ich auch mit diesem außerplanmäßigen Zug mein Ziel erreichte. So trat ich denn vom Fenster zurück und warf mich aufs Polster. Robert, den ich mit einem fragenden Blick ansah, versuchte zu lächeln. Es war aber nur ein müdes, gequältes Lächeln. Er sei etwas vergesslich geworden, sagte er; sonst hätte er mir gleich sagen können, dass sich schon seit einiger Zeit die Gewohnheit herausgebildet habe, die Züge vorzeitig auf den Weg zu schicken. Zumal hier im Ländergrenzgebiet, wo Kommen und Gehen nie genau vorhersehbar seien, habe es sich als optimal herausgestellt, die Züge auf den Weg zu schicken, sobald sie voll seien; für später Hinzukommende werde ein Zusatzzug bereitgestellt, der dann allenfalls mit einer kleinen Verspätung starte. Wenn ich nicht mit ihm in den Kaiserstuhl fahren wolle, so müsste ich eben in Ihringen, bei der nächsten Ortschaft aussteigen.

Eine Hand vor Augen, damit ich nicht die müde gewordenen Augen sähe, hatte Robert die letzten Sätze gesprochen, so dass ich es vorzog, jetzt nicht mit weiteren Fragen in ihn zu dringen. Vielmehr drückte nun auch ich mich gegen das Polster, etwas Ruhe zu schöpfen. Und während der Zug ins offene Gelände hinaus fuhr, verlor auch Robert alsbald schon jede Scheu: schlaff sank die Hand hernieder und die Augenlider fielen ihm zu. Um den Freund nicht weiter zu stören, richtete ich meinen Blick für ein Weilchen nach draußen. Die Gegend war mir vertraut. Ich kannte das Gelände mit seinen landwirtschaftlichen Felder und Anbauflächen, die Feldraine im Frühsommer wie auch die Getreidefelder, von den blauen Kornblumen, den weißblühenden Margeriten und dem purpurroten Klatschmohn überblüht. Ich kannte die Bäume am Wegrand, die Kirschbäume gekleidet in ein überschäumendes Weiß im Frühling und die Nussbäume mit den Massen dunkelbraunen Herbstlaubs im Spätjahr. Und ich kannte die Maisfelder, die jetzt nur noch mit ihren Stoppeln dastanden, Scharen von Krähen zur Versammlung dienend. Alles war hier eintönig, einschließlich der Telegrafenmasten, die, einer nach dem andern, am abendlichen Fenster auftauchten, um an uns vorbei zu streichen. Bald schon würde es dunkel sein, dann würde man sie nicht mehr sehen. Dann würde man nur noch das Gestampfe der Maschinen hören, wenn ein Schienenstück nach dem andern unter die Räder kam. Robert indessen hatte Mühe, in den Schlaf zu gelangen. Die Augen verschlossen zu halten genügte nicht. Zumal den Armen hätte ein stützendes Polster zur Seite sehr gut getan. Endlich, nach vielen unruhigen und unregelmäßigen Atemzügen hatte er es wenigstens geschafft, sich den Geräuschen des Zuges anzupassen. So schlafwandlerisch, wie der Zug jetzt dahinfuhr, schaffte er es freilich nicht.

Unterdessen hatte auch mich die Müdigkeit überkommen. "Bis zur nächsten Ortschaft kannst ja auch du dich ausruhen", sagte ich zu mir. Wo Robert sich dem Schlaf hingab, schien auch mir nicht verboten, für ein Weilchen vor mich hin zu dösen. Dann aber würde ich den Zug verlassen und den nächsten Zug nehmen, der mich in die Stadt brächte. Noch einmal vergewisserte ich mich, dass Robert schlief, dann, nach einem letzten Blick nach draußen, schloss auch ich die Augen. Ich erinnere mich, wie ich mir noch eigens vorgenommen hatte, mich dem Schlaf nicht vollständig zu überlassen. Den Freund bis nach Haus zu begleiten lag nämlich nicht in meinem Sinn. Immerhin wartete meine Braut auf mich und die Hochzeit, für die noch einige Vorbereitungen nötig waren, stand kurz bevor. Nur ein wenig vor mich hin dösen wollte ich; das würde mir gut tun. Der Bahnhof zum Umsteigen war ja nicht mehr weit. In wenigen Minuten würden wir da sein. Da konnte nichts schief gehen. Wie oft hatte ich mir schon vorgenommen, wenn ich mich mittags zu einer kleinen Siesta aufs Sofa gelegt hatte, dass ich eine halbe Stunde ausruhen wollte, und war dann auf die Minute genau wieder erwacht!

Jetzt aber war mir, als sähe ich die Gipfel des Kaiserstuhls. Wie schwarzzottige Häupter sah ich sie auf uns zukommen, immer neugieriger und ungenierter, und ich sah, wie sie sich über uns neigten, während mich der Zug an ein Tier erinnerte, das sich fauchend und zum Letzten entschlossen gegen sie vorkämpft. Früher freilich, als es noch von einer Poststation zur nächsten ging und als man noch Pferde gegen Lokomotiven umzutauschen pflegte, wenn es einmal recht steil bergauf ging und die Zündung versagte, ja wo man in harten Winternächten, selbst die Pferde zurücklassen und das letzte Stück des Wegs zu Fuß zurücklegen musste, da war es noch anders gewesen. Da ging dann ein Laternenmann den Passagieren voran. Heute genügte eine Schaltzentrale, die man bequem in einem kleinen Raum eines Bahnhofsgebäudes unterbringen konnte, um sämtliche Fahrpläne einzuhalten, sowohl für die großen Kontinentalstrecken, als auch für die kleinen und allerkleinsten Nebenstrecken, verbunden mit einer Überwachungsanlage, die die pünktliche und gefahrlose Einhaltung der Fahrpläne garantierte. Ja, alles war heute derart ausgeklügelt, dass man sämtliche Züge besser ferngesteuert dahinfahren ließ, als dass man sie einem Missgeschick durch ein mitfahrendes Personal aussetzte. Im wohligen Gefühl all dieser Sicherheitsmaßnahmen war mir dann noch der Junge in den Sinn gekommen, der bei der Abfahrt dem Großvater assistiert hatte und der gewiss schon dem Tag entgegenfieberte, wo er selber die Pfeife und den Abfahrtsstock bedienen durfte. O, wie ihn das Leben enttäuschen würde, wenn er erführe, dass sich die Welt unter seinen Füßen so rasant geändert hatte! Ich war eben dabei, den Jungen, wie er erst triumphierend das Stöckchen hob und den Zug mit einem schrillen Pfiff auf den Weg schickte, mir im Bild zu halten: als ich merkte, dass der Pfiff ein Warnruf war, der von unserer Lokomotive stammte, da wir eben dabei waren, in einen Tunnel einzufahren.

Die Ortschaft, wo ich hätte aussteigen müssen, lag bereits hinter uns. Robert deshalb zu beschuldigen kam nicht in Frage. Auch er hatte geschlafen und er schlief ja noch immer. Im Übrigen war eine Weiterfahrt keine Katastrophe. Der Kaiserstuhl war, wie ich wusste, nicht allzu weitläufig. Im schlimmsten Fall konnte man noch in einem strammen Nachtmarsch zur Stadt zurück gelangen. Indes, seit wann gab es hier Tunnels? Noch nie hatte ich etwas von einem Tunnel in der hiesigen Gegend gehört und nun fuhren wir eben in einen?

Noch war ich im Nachdenken, da betrat ein Schaffner unser Abteil. Wie ein Nachtwandler streckte er erst seinen Arm ins Abteil und knipste das Licht an, ehe er selber seine Gestalt nachschob. Dabei war er so lang, dass er sich ducken und seine Dienstkappe festhalten musste. Dann, sich aufrichtend sah er sich um und verlangte nach den Karten. Während Robert noch immer Schlaf lag und die Kontrolle sich offenbar nicht auf ihn bezog, vielleicht weil er als regelmäßiger Fahrgast hier bekannt war, streckte ich ihm meine Karte entgegen. Wenn sie auch nicht für diese Strecke ausgestellt war, so nahm ich mir vor, nur ja keine Unannehmlichkeiten aufkommen zu lassen. Schließlich war ich in diesen Zug gestiegen im Glauben, er brächte mich in die Stadt, und niemand war dagewesen, der mich eines besseren belehrt hätte. Wo immer Unannehmlichkeiten zu erwarten sind, kommt es darauf an, schon im Voraus durch unmissverständliches Verhalten die Bereitschaft zu signalisieren, sich nicht das Mindeste gefallen zu lassen. So stand es ganz oben in den Maximen meines Verhaltens.

So gründlich, wie nur möglich, beschaute ich mir den Mann, der sich seinerseits noch immer an meiner Fahrkarte zu schaffen machte. Ah, wie schön er sie doch immer wieder zum Licht empor hielt, wobei er den Kopf ein klein wenig schüttelte, als genüge dies, sämtliche Mängel aus ihr heraus zu schütteln. Endlich ergriff er das Wort und begann, mir mitzuteilen, dass mich meine Karte nicht zur Fahrt dieses Bahnabschnitts berechtige. Wenn er einen Aufpreis wolle, so solle er es sagen, versetzte ich; das ließe sich machen; im Übrigen aber solle er mich nicht weiter belästigen, worauf der Mann das Abteil verließ. Fast hätte er dabei noch meine Fahrkarte mit sich genommen. Dabei duckte er sich so tief, als wäre die Türe nur halb so hoch gewesen und er hätte Angst gehabt, noch beim Weggang anzustoßen.

Kurze Zeit darauf - Robert war wieder erwacht - teilte ich ihm den Zwischenfall mit. Er bat mich, es gelassen zu nehmen. "Nur schade", sagte er, "dass du mich nicht geweckt hast. Das ist doch unser Hans, ein Narr gewiss, zugleich aber auch einer der harmlosesten Zeitgenossen, die man sich vorstellen kann, ein unschuldiges, kindliches Gemüt, meilenweit von jeder Verstellung entfernt und friedliebend, wenn man ihn nur recht zu nehmen weiß. Da hast du gemeint, einen Kontrolleur vor dir zu haben. Das ist aber nicht der Fall. Hans ist überhaupt nicht bei der Bahn angestellt. Nur als selbsternannter Inspekteur und Kontrolleur lässt man ihn hier Dienst tun, wenn man seine Auftritte einen Dienst nennen mag. Wenn ich unseren Hans einen Narren genannt habe, so habe ich es freilich nicht böse gemeint. Wenn auch längst nicht mehr alle von uns diesen Namen als liebevollen Kosenamen gebrauchen, so bleib ich doch dabei, dass er absolut harmlos ist." Robert hatte sich währenddessen erhoben und der Türe genähert. Er horchte nach draußen, fast als wäre ihm lieb gewesen, Hans wäre noch einmal ins Abteil zurückgekehrt. Er kam aber nicht wieder und so nahm Robert wieder Platz.

Überhaupt hatte der Schlaf Robert sichtlich gut getan. Ohne dass ich ein Gespräch angeregt hätte, begann er zu plaudern. Jetzt kämen dann schon die letzten Serpentinen, die wir hinauf zu fahren hätten, dann seien wir da. Mutter und Vater würden wohl staunen, wenn er mich, seinen alten Freund, mitbrächte. Vor allem auf die Mutter rechne er sich eine gute Wirkung aus. Gerade in letzter Zeit sei sie etwas empfindsam geworden. Kaum dass sie der Vater für einen Augenblick außer Acht gelassen habe, verfinstere sich ihr Gesicht. Manchmal scheine ihm, Robert, als ob die Mutter auf den Weltuntergang wartete. Für jetzt aber bringe er ihr neben den Grüßen vom Bruder immer auch ein kleines Präsent von ihm. Eckart als ihren Erstgeborenen habe sie schließlich immer ganz besonders geliebt. Da packe er ihr dann ein frisches Vollkornbrot aus und überreiche es ihr mit besonders herzlichen Grüßen an die Mutter. Selbstverständlich war mir der Duft des frischgebackenen Brotes nicht entgangen. Schon beim Einsteigen ins Abteil hatte ich ihn wahrgenommen. Doch hatte ich nicht weiter darüber nachgedacht.

Unterdessen hatten wir Denkendorf erreicht. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, dass sich niemand mehr außer uns im Zug befand. Lautlos und einsam wie Schatten durchquerten wir die Bahnhofshalle, während uns von draußen ein spärliches Licht den Weg zeigte. Es kam vom Kirchplatz. Als wir hinaus traten, war dort keine Menschenseele zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kirchplatzes befand sich eine aus roten Backsteinen erbaute Kirche; sie war so groß wie eine gewöhnliche Dorfkirche, hätte aber mit seiner unter Zusatz von weißem Marmor und schwarzglänzendem Vulkangestein erstellten Vorderfassade und seinen beiden den Eingang flankierenden Türmen besser nach Italien gepasst, als hierher, in den kalten Norden. Die beiden Portalflügel standen sperrangelweit offen wie zu einem Empfang. Aus dem Innern wogte ein Licht, das den gesamten Kirchplatz erhellte. In der Mitte des mit hellen Fliesen ausgelegten Platzes befand sich ein Brunnen, der aus mehreren Röhren Wasser spendete. Auf seinem Rand lagen ein paar Fische, jeweils halbseitig aufgeschlitzt, von Insekten umschwärmt. Über dem Brunnen prangte eine Siegesgöttin, die bereit war, einen Kranz zur Erde herab zu reichen, ohne dass zu sehen gewesen wäre, für wen er bestimmt war.

"Das also ist Denkendorf?" sagte ich, nachdem ich mir das alles angesehen hatte. - "Ja, das ist mein neuer Heimatort", sagte Robert, während er mich sanft zum Weitergehen drängte.

Da aber sah ich Hans, den Bahnschaffner, wie er quer über den Platz schlich. Ein paar Mal schaute er auch zu uns herüber, es sah aber so aus, als wollte er nicht auf seinem Weg beobachtet werden. Robert versuchte mich, wegzuziehen, während ich Hans nachschaute, neugierig, wohin er so schnell eilte. "Hans wird auch ohne uns sein Nachtlager finden" sagte Robert. "Er pflegt nämlich in der Kirche zu übernachten, fühlt sich jetzt aber durch uns gestört." Als ich noch immer Hans nachsah, wie er im Inneren der Kirche verschwand, nahm es Robert als eine Aufforderung, noch mehr dazu zu sagen.

"Sooft ich mit der Bahn unterwegs bin", sagte er, "kommt Hans bei mir vorbei, um mich zu fragen, wann ich endlich auch mit ihm in die Kirche käme. Zumal jetzt, in der kalten Jahreszeit sei es doch nirgends schöner und besser als in der Kirche, wo man sich nicht wegen der Kälte Sorgen machen müsse. Einem jeden sei dort das Bett gemacht. Sobald sie das Abendgebet gesprochen hätten, könne sich jeder dem Schlaf anheimgeben. Wie viel er mir nun auch zusetzt, so will ich doch nicht. Vor allem dem Vater zu Liebe. Die Vorteile sind zwar immens, zumal jetzt in der kalten Jahreszeit, wenn man des Abends nichts weiter zu tun braucht, als sich in einem gut geheizten Raum niederzulegen. Jawohl, Nacht für Nacht versammeln sie sich in der Kirche, bis auf die Wenigen, die am Dorfrand wohnen, wozu auch wir, die Eltern und ich und die kleine Schwester gehören. Die Mutter würde wohl auch gern in der Kirche übernachten, aber der Vater will es nicht. Der Weg sei zu weit, sagt er. Vermutlich aber hat er noch andere Gründe. Der lockere und heitere Umgang mit anderen Menschen fällt ihm nämlich noch immer schwer, was ihm schon als Geschäftsmann geschadet hat und weshalb er es vorgezogen hat, das Geschäft vorzeitig an meinen Bruder abzugeben. Mutter freilich leidet darunter. Wahrscheinlich fühlt sie sich deshalb so oft niedergeschlagen und weiß sich nicht zu helfen. Wenn ich dich jetzt aber mitbringe, meinen alten Freund, wirst du sehen, wie sie wieder aufblüht. Komm, gehen wir! Sie wartet sicher schon auf uns!" So beschloss er die Nachricht.

Seine Worte waren nun allerdings kaum geeignet, mich in seinem Sinn zu bestärken. Doch ich schwieg. Er aber ließ nicht ab, mich für seine Pläne zu gewinnen. "Was für eine Tätigkeit vermag einen Erdensohn heute überhaupt noch zu fesseln? Ist das Leben nicht nur dazu geschaffen, Umwege zu machen auf der Suche nach einer großen Tätigkeit, ohne etwas zu finden? Gewiss auch hier bei uns wirst du nichts Wunderbares erleben. Einsam wirst du deine Tage bei uns verbringen. Doch wir sind ja dann zu zweit. Und wo sonst ist der Mann zu Haus, wo sonst vermag er sich zu bewähren als auf den Pfaden der Freundschaft?"

Unterdessen war eine Wolke herangezogen, die den Platz überdeckte. Robert drängte abermals zum Gehen; die Eltern warteten gewiss schon und auch die kleine Schwester würde nicht zu Bett gehen, bevor er nicht zurückgekehrt wäre. "Hier bei uns hast du alles, was du nur brauchst. Mutter wird dir eine Kammer bereitstellen mit genügend warmem Bettzeug. Morgens dann kommen wir zusammen und tauschen uns aus im Gespräch. Oder, wenn wir es einmal etwas vergnüglicher haben wollen, so scharen wir uns um meine kleine Schwester und hören ihr zu, wenn sie Märchen erzählt. Hab ich dir nicht das Foto gezeigt, wo man sehen kann, wie sie Märchen erzählt?" Hätte ich Schaulust angemeldet, so hätte er gewiss auch noch das Foto hervorgeholt. Doch jetzt wirbelte aus der Wolke Schnee in so dichten Flocken, dass man schon nicht mehr die Hand vor dem Gesicht sehen konnte.

Robert schritt voraus, während um ihn herum nichts anders mehr zu sehen war als ein endloser Schneefall. Er schien mit den Füßen zu sehen. Mir aber wurden die Füße schwer. Mit jedem Schritt verstärkte sich der Entschluss, nach Haus zu gelangen, koste es, was es wolle. Und während Robert unentwegt voran stapfte, blieb ich plötzlich stehen und ließ ihn ziehen. Als ich ihn dann nach mir rufen hörte, kamen seine Rufe bereits aus weiter Ferne. Ich aber blieb still und gab keine Antwort. Den nächstbesten Weg wollte ich einschlagen, wenn er nur talabwärts führte. "Wenn du nach Haus kommen willst", sprach ich zu mir, "so musst du jetzt alle deine Kräfte zusammen nehmen. Halte dir das nur immer vor Augen, auch wenn du sonst nichts siehst." So sprach ich unentwegt zu mir. Manchmal schrie ich es auch in die Nacht hinaus. Nicht dass ich gehofft hätte, von jemandem gehört zu werden; es geschah nur gegen die Kälte, um nicht einzuschlafen. Oder ich richtete die Augen nach oben, ob sich irgendwo ein Loch auftun würde und man einen Blick in den Himmel werfen könnte. Alle Stellungen des großen Wagens gingen mir durchs Gedächtnis, die jetzt im Gang der Stunden zu erwarten waren. Ein kleines Stück schon würde mir genügen, mich daran festzuhalten. Und müsste ich auch sausen durch alle Tiefen des Weltalls, ich wollte nicht eher loslassen, als bis sich die Sonne erhöbe und ich wieder zu Hause wäre.

 

2. Die Feldpostkarte

Es war kurz vor Weihnachten. Viel zu früh war der Abend hereingebrochen. Schneidend kalt lief der Wind über die öde, nur mit etwas Gras bedeckte russische Steppe, als sich die Soldaten vom Gefecht zurückzogen. Unter ihnen befand sich auch der junge Karl, der heute das erste Mal mit ins Feld gerückt war und der es jetzt, müde und erschöpft, wie er war, seinen Beinen überließ, ihn nach Hause zu tragen. Wo so viele seiner Kameraden auf dem Feld zurückgeblieben waren, verwunderte ihn, dass er noch lebte. War es seine eigene Tapferkeit oder die des Hauptmanns oder war es eine Fügung des Himmels, die ihm das Leben gerettet hatte? Immer wieder traten ihm die Kameraden vor Augen, mit denen er gestern noch so fröhlich und ausgelassen zusammen gewesen war, und die der Tod heute so grässlich niedergemäht hatte. Als sie an dem kleinen Notfriedhof vorbeikamen, den sie erst jüngst in aller Eile in der Winterkälte dem Frost abgerungen hatten, blieb Karl stehen. Bei einem frisch aufgeschütteten Grab glaubte er nämlich einen Spalt offen zu sehen. Und als er näher hinzutrat, da war ihm, als sei in der Tiefe, kaum abgehoben gegen das Erdreich ein Holzsarg zu sehen. Wie er so dastand und darüber nachgrübelte, wie der Spalt zustande gekommen, war auch der Hauptmann noch einmal zu ihm zurückgekehrt. Und indem er ihm die Hand vertraulich auf die Schulter legte, sagte er: "Kamerad Karl, das ist doch nichts Besonderes. Oder hat nicht jeder der hier liegenden Kameraden ein Recht auf einen zum Atmen ausreichenden Spalt?" Eine kleine Weile danach, als sie still nebeneinander gestanden hatten, fügte er noch hinzu: "Als ob die Kameraden hier tot wären! Du weißt doch, dass das nur eine Erfindung nervenschwacher Gemüter ist! Sieh nur!" Dabei leuchtete er mit seiner Stablaterne in den Spalt hinein und ins Erdreich hinunter. "Nur der Feind, dem an unserer Niederlage liegt, bringt solche Märchen in Umlauf. Was tot ist, das ist das Holz, das ist die Hülle, der Schragen da! Dahinter aber regt es sich und lebt es! Da, sieh nur!" Und indem er nun sich selber bis zur Spaltöffnung zur Erde hinabließ, drückte er auch Karls Kopf gegen den Spalt und sagte: "Gleich sollst du es sehen, wie unsere Kameraden wieder zum Licht herauf drängen. Dann wollen wir unsere Reihen wieder schließen."

Kurz, bevor sie das Lager erreichten, fing es an zu schneien. Erst langsam, in vereinzelten Flocken, dann immer heftiger und dichter, so dass man kaum mehr die Hand vor dem Gesicht sah. In Windeseile war die Erde wie mit einem weißen Laken überzogen. Bei den Baracken, wo auch die Küche untergebracht war, wurden sie von den Frauen begrüßt. Im Gegensatz zu den sonstigen Feldlagern, wo die Feldküche von Männern bewirtschaftet wird, hatte man versuchsweise Frauen angestellt, die Kampfkraft der Truppe dadurch noch zu steigern. Während nun die älteren Soldaten bei den Frauen stehen blieben und sich unterhielten, begab sich Karl zu seinem Feldbett, die Zeit zu nutzen, vor dem Abendbrot noch rasch ein paar Zeilen nach Hause zu schreiben. Mit seinen 16 Jahren wusste er noch nichts von den Frauen und begehrte auch kein solches Vergnügen. Als er nun auf seinem Bett saß und nachdachte, was wohl wert wäre, mitgeteilt zu werden, fiel sein Blick auf einen Kameraden, der nun schon den dritten Tag regungslos auf seinem Feldbett lag und war durch kein noch so gutgemeintes Wort zu bewegen.

Da trat der Hauptmann abermals auf Karl zu und sagte: "Was schaust du nur so betrübt, Kamerad Karl! Mit diesem Kameraden verhält es sich wie mit den Kameraden dort draußen. Bei dem einen dauert es etwas länger, bei dem anderen etwas kürzer. Das ist der ganze Unterschied." Weil er aber merkte, dass Karl ihm nicht zu folgen vermochte: "Wie?" sprach er, "kann ich den Kameraden nicht bei der Hand nehmen und ihn aufrichten?" Weil Karl aber noch immer nichts zu sagen vermochte, beugte er sich jetzt über das Feldbett, fasste den Kamerad bei der Hand und sagte: "Kamerad Ordolf, jetzt ist genug geschlafen! Jetzt ist Zeit, aufzustehen." Da aber ging etwas wie ein Ruck durch die zuvor noch so schlaffen und reglosen Muskeln und Karl glaubte zu sehen, wie sich die Augen einen Spalt breit auftaten. Dann aber war ihm, als ob der Kamerad zum Hauptmann aufschaute, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er so lange geschlafen. "Siehst du nun", sagte der Hauptmann zu Karl. "Hätte ich ihn nicht geweckt, er schliefe ja noch immer. Als ob wir hierhergeschickt worden wären, die Tage zu verschlafen. Mag es auch manchem gefallen, sich im Schlaf faul herum zu räkeln, während die anderen Schwerstarbeit tun, bei uns ist das anders. Wir halten uns daran, dass es zu jedem Sich-Niederlegen ein Sich-Erheben gibt und zu jedem Fallen ein Auferstehen." Dann, den Kameraden vollends in die Höhe ziehend, sagte er: "Wünsche wohl geruht zu haben, Gefreiter Ordolf! Beeil er sich! Gleich gibt es Abendbrot. Da will er ja wohl nicht fehlen!" Nun endlich schien Karl ein Licht aufzugehen. Und eine der vom Hauptmann zum Beschreiben bereitgestellten Feldpostkarten vom Brett nehmend, schrieb er: "Ihr Lieben, alles geht sehr gut. Meine Kameraden und ich sind wohlauf, was ihr schon daraus entnehmen könnt, dass ich euch so regelmäßig schreibe. Sollte aber einmal von mir keine Karte ankommen, so macht euch deswegen nur ja keine Sorge. Dann hab ich nur ein wenig verschlafen. Der Hauptmann weckt uns schon wieder."

3. Helena

"Unser Weg führt an Häusern vorbei, deren Türen offen sind und wo in den Durchgängen Frauen sitzen." (Tausend und eine Nacht)

Ich stand vor dem Eingang des Friedhofs, die Riesenstatue einer Siegesgöttin über mir, die einen Kranz voll goldener Lorbeerblätter in die sonnendurchtränkte Luft hielt. Seitwärts von ihr, von Tauben umflogen, war das Standbild zweier Ritter zu sehen, die gegeneinander kämpften: der eine groß wie ein Goliath und zu Ross, der andere ängstlich unter sein Schild geduckt, den Todesstreich erwartend. Und während ein Wolkenwagen, vom Spektakel angelockt, gemächlich gegen sie heran zog, trat eine alte Frau mit ihren Enkeln aus dem Friedhof. Sie war am Grab ihres Mannes gewesen, blieb jetzt aber noch ein Weilchen vor dem Eingang stehen, die Fahrkarten zu richten für den Rückweg in die Stadt. Ein älterer Mann, der in Gebüschen versteckt auf einer Bank gesessen und die Kinder beobachtet hatte, wie sie zu den Kämpfenden hinauf blickten, erhob sich, spuckte vor dem Standbild aus und sagte: "Pfui dem Mann, der nichts kann, als sich im Niederstechen und Abschlachten einen Namen zu machen! Pfui auch der Frau und wär sie auch eine Siegesgöttin, die dafür einen Siegeskranz reicht! Oder sind wir etwa Tiere oder steht es so in den Sternen? Lassen wir nicht zu, dass Kinder in eine Welt eintreten, wo Männer sich auf die Spiele des Todes verstehen und Frauen es sich zum Ruhm anrechnen, sich den Schlächtern zum Preis hinzugeben!" Dann spuckte er noch einmal aus und ging seines Weges.

Jetzt erschien der Führer, der mir zur Besichtigung des Friedhofs zugeteilt war. In der Uniform eines Zeremonienmeisters erschien er mir und sagte, indem er hinter einem Monokel ein Auge auf mich richtete: "Jawohl, mein Herr, ich bin es!" Und mir einen Schritt vorauseilend betrat er den Friedhof. Die alte Einsegnungshalle ließen wir linker Hand, nahmen Kurs in Richtung auf das Krematorium und begaben uns von dort zu einem hügeligen Gelände, das in den vorderen Reihen mit jungen Lebensbäumen bepflanzt war. Hier blieb mein Führer stehen, zog zum Gruß seinen Zylinder ab und sagte: "Dort hinten, in diesem Wald, befinden sich die Gräber der Gattinnen der Helden."

Dann ging es weiter, wobei mich dieser Teil des Friedhofs immer stärker in seinen Bann zog. Schon bemerkte ich Attrappen von Schlössern, die sich mit ihren Türmen und Zinnen über den Grabstätten erhoben; und weitere Wohnstätten und Gebäude folgten, in deren Mauerwerk Türe und Fenster eingelassen waren. Sobald man sich ihnen näherte, sah man aber, dass sich dahinter nichts befand, weder prachtvolle Hallen und Kammern, noch auch Gänge und Treppen, die zu Zimmern und Gemächern geführt hätten, sondern dass man nur ins Leere blickte. Nur vereinzelt schien dieser Eindruck dadurch ein wenig behoben, dass man auf dahinter befindliche Fassaden Bilder des täglichen Lebens gemalt hatte. Vor den Wohnstätten aber waren Standbilder meist lebensgroßer Frauen aufgestellt, die einen so lebendigen Eindruck machten, als stünden sie da und warteten auf einen. Je näher man ihnen kam, umso zwingender wurde dieser Eindruck, umso mehr regte sich alsdann der Wunsch, auf sie zuzutreten und sie anzusprechen. Nur eines beherzten Zutritts schien es zu bedürfen, ihnen den Schleier vom Gesicht zu ziehen und sie wieder zum Leben zu erwecken. Das aber war noch lange nicht alles. Mein Führer ließ kein Anhalten und Bleiben zu. Weitere Frauen folgten, noch größer und herrlicher als die Ersten. Nicht einmal eines Wunsches bedurfte es da mehr, sie ihres Schleiers zu entledigen; denn sie hatten ihn bereits selber vom Gesicht getan. Kam man ihnen entgegen und sah, wie sie dastanden, mit Kamm und Spiegel in Händen, so hatte man den Eindruck, als hätten sie sich eben in aller Eile zum Empfang gerichtet und erwarteten nun vom Ankommenden eine Anerkennung. Als wir den Hang weiter hinaufstiegen, sah ich zwischen zwei ausgewachsenen Rotbuchen, wie von zwei Leibwächtern beschützt, abermals das Gesicht einer Frau. Auch sie hatte unser Kommen bemerkt und sich darauf vorbereitet. Das jugendlich-füllige, kastanienbraune Haupthaar trug sie nach hinten hinaufgekämmt, mit einem Band aus schwarzem Taft umwunden. Ein dunkelfeuchter Glanz aber belebte ihre Augen und die Wimpern zuckten, dass ich nicht anders konnte, als mich in diese Augen zu versenken. Dann aber war mir, als irrten und verwirrten sich unsere Blicke, dass ich das Bedürfnis hatte, den Versuch zu machen, ob ich noch aus diesem Irrgarten herausfände. Je mehr ich das aber versuchte, umso mehr zog sie mich an sich heran, dass mir war, als begänne sie wieder zu atmen. Unterdessen war ich ihr bereits so nahe gekommen, dass ich sie fast berührte. Doch mein Führer riss mich zurück und so gingen wir weiter.

Und abermals erschien eine Frau. Sie trug ein enganliegendes, hellblaues Ärmelkleid aus dünnem Stoff, das mit einem glänzenden Gürtel tailliert war. Über Hals und Schultern aber, die mit einem scharlachroten Tuch bedeckt waren, fiel in reichlichen Strömen blondschimmerndes Haar. Sonst aber trug sie keinen Schmuck. Ihre Schönheit schmückte sie so zauberhaft, dass man hätte glauben mögen, jeder weitere Schmuck würde ihre Schönheit nur vermindern. So groß und hochaufgerichtet, so echt und lebensgetreu, so strahlend schön stand sie da, dass schon aus der Ferne zu erkennen war, wie ihr Körper atmete. In der Hand aber hielt sie eine Binde, einen goldenen Schleier, den sie sich bei unserem Kommen von den Augen genommen haben musste und den sie nun mir umzubinden gewillt war. Ein Zug von Stolz und Selbstbewusstsein umspielte dabei ihr Gesicht, der mehr zu ihr hinzog als dass er mich von ihr abhielt. Wenn irgendwo, so glaubte ich hier das Urbild aller Schönheit gefunden zu haben. Der Führer aber, da er längst die Wirkung dieser Frauen auf mich erkannt hatte, "Hinweg!" rief er und deutete gebieterisch ins Weite. Kaum aber, dass er mit seinem Stab sein "Hinweg!" befohlen hatte, umwölkten sich die zuvor so heiteren Züge der Frau, dass sie uns den Rücken zukehrte. Und als ich mich abermals nach ihr umsah, sah ich, wie sie aufrecht stehend in einem Nachen davonfuhr. Und die Gestalt, die mich eben noch mit dem Ausdruck herrlichsten Selbstgefühls in Bann geschlagen hatte, verwandelte sich zum Objekt des Mitleids und des Bedauerns.

"Mein Herr", sagte der Führer zu mir, während sich die Frau endgültig aus unserem Gesichtskreis verlor, "wenn Ihnen daran liegt, etwas mitzunehmen von diesem Besuch, so lassen Sie sich gesagt sein: Keiner enträtselt das Geheimnis dieser Frauen, es sei denn, er enträtselt sich selbst! Und keiner enträtselt sich selbst, es sei denn, es gelingt ihm, sich einzuschleichen in das Geheimnis dieser Frauen. Zwar gerät der Mann in Trance, wenn das Weib auf ihn zukommt, als sei es nur noch ein kleiner Schritt zurück ins Paradies; doch kaum an einem geht dieser Traum in Erfüllung. Nicht an jedem Tag beugt sich eine Frau zu dir nieder, damit du ihr das Lied zu singst, das ihr gefällt. Nicht an jedem Tag findest du eine Stunde, ihr entgegen zu treten mit solcher Inbrunst und solch stürmischer Gewalt, dass du Löwen erschrecken und Tote wecken könntest."

Das letzte Stück ging ich neben dem Führer einher, nur darauf ausgerichtet, nichts mehr durch die Fenster meiner Augen zu lassen. Und während ich so dahin ging, grübelte ich darüber nach, ob die Gestalten, die ich gesehen hatte, überhaupt aus Stein herausgehauen oder nicht lebendige Körper waren, nur ein wenig zu Stein erstarrt. In mir aber wuchs die Überzeugung, dass es nur eines Geringen bedurft hätte, und etwas Ungeheuerliches wäre in Gang gekommen. Endlich, als wir den Ausgang schon fast erreicht hatten, warf der Führer noch einmal einen prüfenden Blick auf mich. Wie man auf ein krankes Kind schaut, das man eben in letzter Sekunde noch vor einem schrecklichen Unheil bewahrt hat, warf er noch einmal einen Blick auf mich und sagte: "Vergessen Sie nur ja nicht, mein Herr! Jede dieser Frauen ist noch immer in der Lage, Tausende von Trojas zu zerstören und in jedem Troja Tausende von Männern." Dann gab er mir einen Stoß, vielleicht um mir etwas von der zerstörerischen Wirkung zu zeigen, vielleicht aber auch, um mich wieder zu mir zu bringen, und verschwand. Ich aber stand noch lange da, ungewiss und voll Trauer, weil es mir nicht gelungen war, auch nur eine einzige dieser Frauen zum Leben zu erwecken.

4. Müll

Jedes Jahr, nachdem die Schwalben nach Süden geflogen sind, träumt mir vom ersten Schnee. Immer bin ich dann irgendwo unterwegs, ahnungslos, und immer holt mich der Traum dann ein, ohne dass ich eine entsprechende Vorsorge getroffen habe. Indes, wenn es eine Ursache gibt, sich über den raschen Umschwung zu wundern, so wohl hier. Denn wenn auch an manch einem Morgen noch ein kühler Wind über Wiesen und Herbstfelder hinweg weht, so blüht der Himmel niemals reiner und schöner auf als gerade zu dieser Zeit. Und freilich hat ja auch dir bei deinem Weggang kein eisiger Wind um die Ohren geblasen noch eine drohende Schneewolke sich über deinem Haupte geballt, sondern gerade ein solcher, von reinster Himmelsbläue und goldenem Sommerglück überfließender Tag war es gewesen, den du dir für deine Herbstreise ausgesucht hast. Kaum aber hast du dich auf den Weg gemacht, da hast du dich auch schon verirrt und verlaufen. Und während du dich nach einem Pfad umsiehst, dass er dich in vertrautes Gefilde zurückbringt, hat dich der Winter im Griff.

So erging es mir auch in diesem Jahr. Hoch droben in einem Gebirgsdorf war ich zu Gast. Und während es noch von drunten herauf von herbstlichem Gold schimmerte und glänzte, brach plötzlich der Winter ein, dass man vor lauter Schneefall kaum mehr nach draußen konnte. Und das nicht nur für ein paar vorübergehende Stunden. Ein Ende war überhaupt nicht abzusehen. Immer schneller und grimmiger raste und peitschte ein Schneesturm nach dem andern über die Hochfläche, dass keiner sein Haus mehr verließ, wenn ihn nicht eine dringende Not dazu antrieb. Ich stand am Fenster und sah hinaus, den nächstbesten Augenblick abwartend, wann ich mich in die freundlichere Ebene hinabretten könnte. Da kam eine Frau zum Vorschein, deren Mann erst kürzlich verstorben war. In einem dunkelseidenen Kleid, passend vielleicht zu ihrer Trauer, aber ganz unzureichend für das Wetter, kam sie eben das verschneite Gelände herab. Ein mannsgroßes Paket hatte sie bei sich, das sie mühsam hinter sich her zog. Ich aber, als ich sie so daherkommen sah, hob etwas Schnee vom Fenstersims, seine Beschaffenheit zu überprüfen. Sogleich verwandelte er sich mir in der Hand zu Wasser und troff zu Boden. Jeder Tropfen aber, der zu Boden fiel verwandelte sich abermals und zwar in spiegelglattes Eis. Weil aber aus meiner Hand, wie aus einem ergiebigen Quell unaufhörlich Wasser sprudelte, so ergab es sich, dass sich die gesamte Gebirgsfläche in ein einziges Parkett aus tückischem Glatteis verwandelte. War die Frau zuvor, wenn auch nur sehr beschwerlich vorangekommen, so gab es jetzt auf dem spiegelglatten Untergrund keine Möglichkeit mehr, auch nur noch einen kleinen Schritt vorwärts zu tun. Nirgends war mehr eine Stelle zu finden, wohin man den Fuß sicher hätte aufsetzen können. Es nützte ihr auch nur wenig, als sie nun versuchte, das Paket vor sich her zu schieben. "Langsam, langsam!" rief ich ihr noch zu, als sie in meine Nähe kam, und eilte nach draußen. Aber das war umsonst. Nur mitansehen konnte ich noch, wie sie ein kleines Stück unter mir, wo die Straße hinter dem Berg verschwand, mit dem Paket den Abhang hinab sauste. Kaum war sie meinen Blicken entschwunden, da fand ich mich von Leuten umringt, die ich bat, mir beim Versuch einer Rettung zu helfen.

Zwei Fremde, sagten sie mir, während sie mir zur Hand gingen, seien die Frau und ihr verstorbener Mann gewesen, die nicht zu ihnen hier droben gepasst hätten. Stets habe man sich, wenn man sich begegnet wäre, nur scheu und flüchtig gegrüßt. Am liebsten aber hätten sie sich in ihre Wohnung zurückgezogen und für sich gelebt, ohne sich am Leben der Gemeinde zu beteiligen. Und so sei es nach dem Tod des Mannes zu einer höchst unliebsamen Auseinandersetzung gekommen, dessen Ende ich eben miterlebt hätte. Auf dem kleinen Gemeindefriedhof konnte oder wollte man nämlich den Fremden nicht bestatten, für ihn und allenfalls für weitere Fremde aber einen eigenen neuen Friedhof anzulegen, dazu hätten sie sich auch nicht zu entschließen vermocht, selbst wenn sie Platz gehabt hätten. In dieser unangenehmen und aussichtslosen Lage habe sich die Frau nach einem Abgang ins Tal gesehnt; mehrere Male bereits habe man sie dabei aufgehalten. Jetzt endlich sei ihr der Versuch geglückt und der Wunsch in Erfüllung gegangen. In dem Paket habe sie nämlich ihren Mann bei sich gehabt. Nun sei man sie los, wisse freilich nicht, was nun weiter mit ihnen geschehe. So teilten sie mir mit, während wir uns den Weg hinab zum Abhang bewegten.

Hand in Hand und nicht ohne die nötige Vorsicht waren wir bis zu der Kante vorgedrungen, wo ich mich mit eigenen Augen davon überzeugte, dass weder mehr von der Frau, noch von dem Paket etwas zu sehen war. Nur ein Omnibus war auf halbem Wege herauf zu sehen; er war im tiefen Schnee stecken geblieben und mühte sich vergebens, weiter zu kommen. Auf unsere Rufe bekamen wir zur Antwort, man habe weder von einer Frau noch von einem Paket etwas gesehen. Den Nachbarn, die damit gerechnet zu haben schienen, riet ich, wieder nach Haus zu gehen, was sie auch gleich taten. Ich aber gedachte, den Berg hinunter zu steigen, um nach dem Schicksal der Fremden zu forschen.

Auf einen gefährlichen Abstieg musste ich mich nicht einlassen, denn sogleich befand ich mich auch schon in den Weinbergen, wo ein paar Meter unter mir die ersten Winzergemeinden in der Herbstsonne träumten. Die Trauben an den Weinstöcken glänzten in einem Licht, als gäbe es hier keinen Winter, und die Winzer, mit der ersten Lese beschäftigt, sagten, dass es ein ausgezeichnetes Jahr gebe. Mit trunken seligen Augen schauten sie über die Weinberge hinweg und wären nicht hin und wieder ein paar Böllerschüsse zu hören gewesen, mit denen man das gefräßige Krähenvolk vom Abfressen der Trauben fernzuhalten suchte, man hätte sich kein friedlicheres Land ersinnen können. Den Kirchturm mit den ihn umringenden Dächern vor Augen stieg ich nun einen Pfad herab, den ich noch aus den Kindertagen kannte, als ein Onkel von mir hier der Dorflehrer gewesen, bis ich das alte Schulhaus erreichte. Noch immer lag es da wie früher, als ob es die vielen Jahre über geschlafen und auf mich gewartet hätte. Der Herr Pfarrer und der Herr Bürgermeister mitsamt dem Herrn Lehrer, das waren damals noch die drei Autoritäten, die das Leben des Orts maßgeblich bestimmten und bei denen man um Rat fragen konnte, wenn einen eine Sorge oder ein Kummer bedrängte und man einmal nicht mehr weiter wusste. Nun also begab ich mich zum alten Schulhaus, anzuschauen, was die Zeit aus ihm gemacht hatte. Es bedurfte keiner längeren Visitation, um die Veränderungen zu entdecken. Aus den beiden Unterrichtsräumen von einst hatte man die Tische und die Bänke herausgeholt und sie in den Keller getragen, wo sie hinter den verschmutzten Fensterscheiben hochaufgetürmt standen. Heruntergekommen und nur noch als Abstellraum für allerlei Gerümpel stand es da; und dass man es noch nicht abgerissen hatte, lag nur daran, dass man sich der weiteren Verwendung des Platzes wegen noch nicht im Klaren war.

Ein altes Mütterchen, das eben des Weges vorbeikam, sprach ich daraufhin an. Es konnte mir aber keine Frage beantworten, noch auch schien sie sich an frühere Tage zu erinnern, was mich zuerst verwunderte, war sie doch viel älter als ich. Dann aber sah ich, dass die Frau mit anderem beschäftigt war. Zwei Jungen - sie waren im Alter von Schulanfängern und jeder von ihnen trug eine Holzkiste mit sich - suchte sie klar zu machen, dass sie sich nicht auf dem rechten Weg befänden. Die Jungen aber ließen sich dadurch nicht von ihrem Plan abbringen. Beim Eingang zur alten Schule, wo sie schon einiges Material abgestellt hatten, waren sie nämlich dabei, ein Gerüst zu erstellen. Dort aber, über der Türe, hatte ein Vöglein sein Nest gebaut und war am Brüten. Noch nie, sagte die Frau, sei es vorgekommen, dass sich ein Vogel durch das schöne Herbstwetter habe verleiten lassen, noch einmal ein Nest zu bauen. Nachdem sie es ihren beiden Enkeln gezeigt habe, hätten diese sich vorgenommen, es dem Vöglein zu sagen, um den Nestbau zu beenden, wenn es nicht selber so viel Einsicht zeigte.

Nun ging ich weiter und gelangte zum Kirchplatz. Was mir bei meinem Abstieg noch verborgen geblieben war, zeigte sich nun: Dass man nämlich nicht nur das Schulhaus, sondern auch die alte Kirche aus dem Dorf abgetragen hatte. Wo früher die Dorfkirche gestanden hatte, war nur noch der Kirchturm übrig geblieben. An der Stelle der früheren Kirche aber stand jetzt ein neuer Bau, ein Rundbau, vor welchen eine von mehreren Säulen getragene Vorhalle gebaut war. Und wäre nicht in der Mitte des Giebelfelds über dem Portal ein Christus zu sehen gewesen, so hätte man das Gebäude auch als eine prunkvolle Festhalle oder Verkaufshalle ansehen können. Zumal wenn man sich den regen Verkehr von Händlern und Verkäufern ansah, wie sie mit ihren Waren ein- und ausgingen, drängte sich die Frage auf, ob man nicht die Gestalt des Christus an einen unzeitgemäßen Ort versetzt hatte. Aus allen Regionen der Welt, aus allen Kulturen und Sprachen schienen die Verkäufer und Käufer zu kommen. Und wiewohl dem Blick dieses Christus noch immer etwas Festes und Unerschütterliches anhaftete, schien doch zugleich etwas Trauriges seine Stirn zu umwölken und der Mund, wenn er sich geöffnet hätte, wäre wohl kaum in der Lage gewesen, Sätze einer Frohen Botschaft zu verkünden. Das mochte zwar früher auch nicht anders gewesen sein; dennoch war die Einsamkeit damals längst noch nicht so hervorgetreten wie jetzt, wo er ohne einen einzigen Begleiter am Boden kniete, während ihn damals doch immerhin noch die Jünger umgeben hatten. Zumal mit ihrem linkischen Gebaren, einschließlich dem Geldsäckel-tragenden Judas, hatten sie immer auch ein wenig zur Ablenkung all des Betrüblichen beigetragen. An ihrer Stelle befanden sich jetzt einige kleinere Gestalten, nur dass sie so klein waren, dass sie sich in die Ecken hinein drängten. Dadurch aber schienen sie die Einsamkeit des ihnen entrückten Christus nur mehr noch zu vertiefen.

Während ich so dastand und dem Treiben um mich herum zusah, begriff ich, dass auch hier die Zeit nicht stehen geblieben war. Vorbei war die Zeit, wo man einst am Osterfest zu Beginn des Frühlings den Kirchberg hinauf gezogen war, um in der Kirche Einzug zu halten: allen voran die Mädchen und die Knaben, alle schmuck gekleidet, dahinter die in Chorhemde gekleideten Messdiener mit Fackeln und Weihrauchfässern und endlich unter einem Baldachin der Herr Pfarrer in honiggoldenem, mit kostbaren Stoffen verbrämtem Ornat, begleitet vom Bürgermeister und vom Lehrer, während die Bevölkerung mit weißgelben Kirchenfahnen und Fähnchen den Weg säumte.

Jetzt aber kam ein Amtsgehilfe auf den Platz geeilt. Mit einer Glocke in der Hand, die er unablässig läutete, um dem hinter ihm her kommenden Postboten Platz zu machen, kam er geradenwegs auf mich zu. Zwei weitere Bedienstete, die ihrerseits den Schluss bildeten, trugen ein Paket mit sich, das ich alsbald wieder erkannte. Es war das mannshohe Paket der Frau, in dem sie ihren Gatten verpackt hatte und das beim Sturz vom Berg verlorengegangen war. Als mich der Postbote mit seinen beiden Bediensteten erreicht hatte, der Gehilfe hatte jetzt sein Gebimmel eingestellt, fragte er mich, indem er auf das Paket wies, was er mit demselben anfangen solle. "Mein Herr", sagte er, "die Obrigkeit schickt mich, Sie zu fragen, was wir damit anfangen?" "Wie soll ich das wissen?" gab ich ihm zur Antwort, mehr durch den Ausdruck meines Gesichts, als dass ich laut vernehmbar gesprochen hätte. " Es ist unmöglich", versetzte der Postbote, um gleich zu sagen, was Sache ist, ohne etwas auf einen Einwand zu geben, "es ist unmöglich, mit alle dem fertig zu werden. Die Mülldeponie quillt über, die Häckselmaschinen kommen nimmer nach und dem Herrn Pfleger wächst die Arbeit über den Kopf. Wenn wir aber die Anlage schließen, ertrinken wir hier im Müll!" Ich aber sagte nur, als ob es mich nichts anginge und ich ihm nur einen Rat erteilte: "Stellen Sie das Paket da an die Mauer!", was er dann auch tat.

Sie waren fast schon wieder verschwunden, als ich ihm nachrief, ob es denn nicht noch einen Pfarrer im Dorf gebe. Da blieb er stehen und sah mich an, als könne er mich nicht verstehen. Ob sie keinen Seelsorger mehr im Ort hätten? fragte ich ihn. "Wenn Sie den Herrn Pfleger meinen", rief er zurück, "den gibt es freilich!", und wies dann auf den Rundbau, den ich zuerst für die neue Kirche gehalten hatte, und eilte davon.

Ich aber begab mich in das Innere des Gebäudes. Von einer sakralen Nutzung desselben konnte freilich nicht die Rede sein. Einem Handelshaus glich es eher, wenn man sich die vielen Händler ansah, die unablässig kamen und gingen. Vielleicht, dass man zur Zeit der Erbauung noch an eine andere Nutzung gedacht hatte, war es doch im Stil des Pantheons angelegt, und der Christus, der noch in der Mitte des Eingangs zu sehen war, und die Menge anderer kleiner Figuren und Figürchen, die sich in beide Ecken des Tympanons drückten, auch wenn sie eher notdürftig und flüchtig dort untergebracht waren, als dass man ihnen diesen Ort mit Absicht zugewiesen hätte, schienen mir darauf zu deuten. Allerdings sollte ich mit dieser Einschätzung nicht ganz Recht behalten. Ob nämlich auch ein mächtiges Treiben vorherrschte, ein Kommen und Gehen von Leuten, vornehmlich mit Kisten von Wein, sowie von Leuten für Buchhaltung und Kasse und freilich auch von Interessenten, die im Gespräch mit Händlern auf einen günstigen Einkauf spekulierten, so spielte sich das alles doch eigentlich nur im Eingangsbereich ab. An den hinteren Wänden im Inneren des Rundbaus waren zwar auch Regale zu sehen, in welchen Kisten und sonstige Gegenstände von Weinhandlungen zu sehen waren. Der Raum dort war aber merklich von weniger Kundschaft begangen. Ein Mann, der eine öffentliche Aufsicht zu führen schien, trat auf mich zu und erklärte mir leise, bald den Finger auf den Mund legend, bald ihn dahin und dorthin richtend, man habe die Grüfte aus der alten Kirche herbeischaffen müssen, jetzt aber würden diese Grüfte entleert.

Als ich seinem Fingerzeig folgte, wurde ich auf Riesengestalten aufmerksam, den Giganten oder Titanen der alten Griechen ähnlich, die als Halbplastiken in die Wände eingebaut waren. Wo die Wandebenen aufeinander zu liefen, waren sie angebracht. Fest stehend auf beiden Füßen schienen die einen die Kuppel in die Höhe zu stemmen, während die anderen, jeweils abwechselnd, bis hinauf zu den dreieckförmigen Wandfenstern reichten, als ob sie von dort für das einfallende Licht zu sorgen hätten. Dort nun an einem der schmalen Fenster, in schwindelerregender Höhe, war ein Mann zu sehen, der sich alsbald schon als der besagte Herr Pfleger herausstellte, wie er sich am Kopf eines dieser Riesen zu schaffen machte. In einen grauen Arbeitsmantel eingehüllt, stand er am Ende einer schier unendlich langen schmalen Leiter: ein zwergenhaftes Wesen gegen diesen Koloss. Doch zeigte er keineswegs ein ängstliches Verhalten. Kühn vielmehr, als könne ihm nichts passieren und er bräuchte nur seinen Mantel auszubreiten, um unversehrt auf den Fußboden herab zu fliegen, war er zu Gange. Eben neigte er sich dem Ohr des Riesen zu, als habe er vor, auf ihn einzureden. Der Riese indessen blieb unbeweglich. Als er ihm zurief, er habe vom Wein dabei, von ihrem besten, kam etwas Bewegung in die Gestalt. Wenn es auch kaum mehr als eine Handbreite sein mochte, die er sich seinem Pfleger zugewandt hatte, so war sie doch nicht zu übersehen. Der Größe nach überragte der Riese zwar ein jedes Maß, den Bewegungen nach aber erinnerte er eher an die unbeholfenen und unkontrollierten Bewegungen eines Säuglings. Leute am Fuß der Leiter, die unterdessen herbeigeeilt waren und sie zu halten suchten, ein gewiss törichtes und gefährliches Unterfangen, zumal wenn man sah, wie einige unablässig die Fußpunkte in eine bessere Lage zu bringen suchten, riefen hinauf und fragten den Mann, ob sie ihm eine andere Weinsorte bringen sollten, da sie zu sehen vermeinten, dass der Versuch, dem Riesen Wein zu reichen, misslang. Der aber, ohne ihnen eine Antwort zu geben, hatte inzwischen einen Ärmel seines Mantels mit Wein getränkt und an die Lippen des Riesen gehalten. Doch auch damit schien er keinen Erfolg zu haben. Endlich machte er sich daran, die Leiter hinabzusteigen. Er hatte etwa das erste Drittel hinter sich, als ihn einer der Umstehenden auf mich aufmerksam machte. Ob ich der neue Lehrer sei, wollte er wissen. Als ich verneinte, war sein Interesse an mir schon wieder erloschen. Ich gedachte gleichwohl, stehen zu bleiben und abzuwarten, da kam ein Mann auf mich zu und, indem er mich aus der Halle drängte, murmelte er vor sich hin, dass doch bald der neue Lehrer kommen möge. Draußen, im Freien, bedankte ich mich dann für seine Begleitung und begab mich zum Pfarrhaus.

Und ich zog die Glocke, die neben der Haustüre angebracht war. Nachdem ich mehrere Male gezogen hatte, ohne dass jemand zum Öffnen erschienen wäre, trat ich ein und begann, mich umzusehen. Überall wimmelte es von Puppen und Püppchen, dass ich mir eher in einem Kindergarten als in einem Pfarrhaus vorkam. Selbst noch über den Zierleisten über der Türleibung waren Figürchen und Miniaturen von Menschen aufgestellt und übereinander getürmt; und wenn es auch nicht an einer ordnenden und reinlichen Hand fehlen mochte, so schienen mir die Räume allesamt schrecklich überladen. Kein Zimmer war zu sehen, wo man sich gerne einmal für ein paar Minuten niedergelassen und ausgeruht hätte. Als ich mehrere Zimmer durchquert hatte, gelangte ich in ein Zimmer, in dessen Mitte sich ein einfaches Regal befand, in dem eine Art Puppentheater aufgebaut war. Ein zur Seite gezogener Vorhang gab den Blick frei auf Figuren, die wie Kasperlepuppen in verschiedenen Etagen herumsaßen. Ich hatte mich bereits in die Nähe der Figuren gestellt: als von seitwärts eine Frau auf mich zukam. Sie trug einen Eimer in der Hand, aus dem sie mit einem Kaffeelöffel Nahrung holte, um damit die Püppchen zu füttern. Wenn ich mich verbotenerweise in ein Privathaus begeben hätte, sagte ich, mich entschuldigend, so tue es mir Leid. Im Übrigen aber, so gab ich vor, hätten mich die Leute des Herrn Pfarrer hierher geschickt. Die Frau sah sich kritisch um, ob ich etwas Unerlaubtes angerichtet hätte, schüttelte dann aber nur den Kopf. Um sie versöhnlich zu stimmen, erzählte ich ihr, dass einer meiner Onkel früher einmal hier Lehrer gewesen und dass er sich mit dem damaligen Pfarrer sehr gut verstanden hätte. Endlich, da sie auch darauf nicht achtete, sie hatte eben zwei Figürchen in die Hand genommen, die sie überprüfte, um sie dann wieder an ihren Ort zu stellen, ohne recht zufrieden zu sein, sagte ich, dass ich wegen eines Paketes gekommen sei, das an der Mauer des Pfarrhauses stünde, und das ich dem Herrn Pfarrer zur weiteren Betreuung zu übergeben gedächte.

Kaum hatte ich das Paket erwähnt, da trat die Frau ans Fenster und schaute nach draußen. Sie hatte wohl auch gleich das Paket entdeckt, was sie aber in heftige Erregung versetzte. "Zur weiteren Betreuung!" wiederholte sie, indem sie mich grimmig anschaute. "Mein Herr, wovon reden Sie? Meinen Sie, da kann jedermann kommen und uns seinen Müll überlassen? Mit diesem Paket sind Sie bei uns am falschen Ort." Da sie wohl merkte, dass ich außer ihrem mürrisch-missbilligenden Ton nicht viel verstanden hatte, fuhr sie fort, indem der Ton nur noch feindseliger wurde: "Jedermann, ob groß oder klein, alt oder jung, bringt seinen Müll hierher. Was man nicht mehr brauchen kann, schleppt man zu uns. "Mag´s doch der Herr Pfarrer richten! Dafür ist er doch da, dafür wird er doch bezahlt! - Kommen Sie doch her und schauen Sie sich das an!" Dabei nahm sie mich mit sich ins benachbarte Zimmer, zog den Vorhang zur Seite und wies aus dem Fenster, vor dem sich ein Binnenhof befand. Und ich sah eine Halde von kleingehäckseltem Müll, der fast bis zum zweiten Stock hinauf reichte. Das Tor aber, durch das man sonst einmal hatte hereinkommen können, war von den Massen so versperrt, dass man eben noch den Türsturz erkennen konnte. "Vor so viel Müll", sagte sie, "würde selbst einem Herkules bang! Dabei hatte der nur einen Fluss umzuleiten, und schon war alles weggespült. Heute aber, wo es ein Leichtes wäre, einen Fluss umzuleiten, brächte auch das nichts mehr. Und schaffte man das Zeug auch auf einen anderen Planeten, so brächte auch dies keine Lösung. Es bleibt uns keine andere Lösung, als das Zeug zu verwandeln."

"Zu verwandeln?" fragte ich, weil ich gern gewusst hätte, was sie damit hatte sagen wollen. Sie aber erwiderte: "Geben Sie sich nur keine Blöße, mein Herr. Zumal ein Lehrer sollte sich keinem Verdacht aussetzen. - Aber auch wenn Sie nicht der neue Lehrer sind", korrigierte sie sich, nachdem ich sie auf den unpassenden Vergleich aufmerksam gemacht hatte, "können Sie sich leicht klar machen, dass da kein So-so-la-la genügt, um alles in die rechte Ordnung zu bringen, sondern dass einiger Mut dazu gehört, Tag für Tag von neuem die Mühen auf sich zu nehmen. Wem ein solcher Blick mangelt, der ist freilich nicht in der Lage, zu beurteilen, was hier geschieht. Gleichwohl tragen alle mit Ihrem überflüssigen Müll dazu bei, dass wir nicht aus den Sorgen kommen." Bei diesen Worten hatte sie abermals zwei Figürchen aus dem Puppenhaus genommen und sie daraufhin überprüft, ob sie Zeichen eines fortschreitenden Lebens zeigten.

"Im Vergleich zu den Arbeiten des Herrn Pfarrer sind meine Arbeiten freilich gering. Man kann hinsehen, wohin man will, überall stellen sich ihm Widerstände in den Weg. Wie viel Mühe hat der Herr Pfarrer nicht allein mit seinen Aposteln. Das sind die Karyatiden, die Sie gewiss gesehen haben. Kein Tag vergeht, wo er sich nicht mit ihnen abquälen muss, weil sie nicht tun, was er will. Dabei schwebt er hoch droben in der Luft, stets gewärtig, bei der kleinsten Bewegung sein Leben zu verlieren; es genügte schon ein leises Aufbegehren von einem dieser Riesen. Da liegt wohl nahe, sich einen anderen Weg zu suchen. Wie? Oder sagen Sie, da gibt es keinen anderen Weg mehr? O, mein Herr! Auch wenn es viele gibt, die davon abraten, weil sie nichts davon verstehen, so trägt sich der Herr Pfarrer bereits damit, die Geschäfte ohne seine Apostel im Freien, außerhalb der Kirche abzuwickeln. Freilich gehört Mut dazu. In der Kirche sind noch Wände. Im Freien aber hast du nirgends mehr etwas, wogegen du deine Leiter lehnen kannst. Senkrecht auf den Boden musst du da die Leiter hinstellen, das Ende gegen den Zenit gerichtet. Oben angekommen bist du freilich noch nicht im Himmel. Wo auch wäre eine Leiter, die diese Länge hätte? Aber selbst wenn du eine solche hättest, wo wären die Leute, die sie dir aufrecht hinstellten? Ja, selbst wenn du Leute dafür hättest, so würden sie dir doch nicht helfen, aus Angst, von Jupiters Blitzstrahl vernichtet zu werden. Was also bleibt dir übrig, als alleine zu Werk zu gehen und den Versuch zu wagen, dich vermittels eines praktikablen, endlichen Leiterstücks in die Unendlichkeit hinein zu schmuggeln! Indem du dir drei, vier Sprossen aussuchst, die du auseinander- und ineinander stecken kannst, arbeitest du dich weiter, dergestalt dass du stets die unterste der Sprossen über dir anbringst und sie so zur obersten machst. Versteht sich, dass man von allen Gassen aus dir zuschaut. Nichts ist ja so süß für den Menschen, wie zu sehen, wie einer aus drei oder vier Meter Höhe herabfällt und sich das Bein bricht. Und stürzest du schon zu Beginn, ah wie sie da jubeln und hüpfen und sich vor Freude auf die Schenkel schlagen! Jawohl, es ist eine mühevolle, die Lebenskräfte aufzehrende, an ein Wunder grenzende Arbeit, der sich mein Bruder unterzieht. Dabei ist das noch längst nicht alles. Nach diesen, die Zukunft erobernden, himmelstürmenden Versuchen kommen dann noch die Arbeiten hier!" Sie holte aus einem der Schubzüge unterhalb des Puppentheaters ein gallertartiges Paket von der Größe eines Briefumschlags hervor. "Sehen Sie sich das an! Sehen Sie etwas?"

Ich schaute mir das Paket an und sah im Innern schwarze, rasch sich bewegende Punkte, die mich an Kaulquappen erinnerten. Die Frau aber, die auf keine Antwort wartete, "o nein, Sie sehen nichts", sagte sie. "Sie sehen absolut nichts. Sonst würden Sie nicht nur sehen, wie sehr ich mich bereits um dieses Stück bemüht habe, Sie würden auch sehen, von wie viel Arbeit, insbesondere von wie viel Arbeit meines Bruders dieses Bündel Zeugnis ablegt! Wir alle sind zwar aus Müll und warten darauf, wieder verschrottet und klein gemahlen zu werden. Oder haben wir das nicht einmal gelernt, dass man erst zu Staub zerfallen muss, ehe man wieder wird, was man einmal war? Nun denn! Damit die Dinge nun also wieder ihre frühere Gestalt annehmen, müssen sie klein und fein gemahlen werden. Das geschieht mit den Häckselmaschinen oben in der Deponie. Das aber ist bei weitem noch nicht alles. Im Gegenteil, jetzt beginnt erst die eigentliche, das Menschenmögliche übersteigende Arbeit; jetzt, wenn der Staub ganz still geworden ist, übernimmt ihn der Herr Pfarrer zur weiteren Bearbeitung. Hat er dann Erfolg - für gewöhnlich dauert das eine Woche harter Arbeit droben unter der Kuppel der Kirche, mitunter aber auch noch länger, bis eine Wiederbelebung Früchte trägt und der neue Fötus in Bewegung gerät -, bringt er das Produkt hierher, wo wir es weiter betreuen, bis wir ganz sicher sind, dass das Leben neuerlich Fuß gefasst hat. Sie haben ja wohl gesehen und es ist ihnen nicht entgangen, wie wir alle Tische und Bänke und selbst noch die kleinsten Simse mit diesen Föten vollgestellt haben, dass wir für uns selber kaum mehr einen Platz haben. Vermutlich aber haben sie gleichwohl nicht bemerkt, dass alle diese Puppen und Püppchen, für die man sie halten könnte, kleine Lebewesen sind, die auf unsere weitere Unterstützung angewiesen sind, bis sie sich für die letzte Station qualifiziert haben. Ist uns das gelungen, was nur leider viel zu selten der Fall ist, dann bringt der Herr Pfarrer die Kinder, so nennen wir sie jetzt, zum Ort der schlafenden Jünger, wo sie sich so rasch wie möglich weiterzuentwickeln haben, bis wir sie wieder ins Leben hinaus entlassen können.

Zu allem Überfluss ist vorgestern Nacht etwas geschehen, was niemals hätte geschehen dürfen. Ja, vorgestern Nacht war es. Es mochte gegen Mitternacht gegangen sein. Müde nach des Tages Arbeit hatten wir uns zu Bett begeben, als eine Frau an die Türe pochte. Wo der Herr Pfarrer sei, wollte sie wissen; sie müsse unbedingt den Herrn Pfarrer sprechen. Und ob ich ihr auch durch die Türe hindurch sagte, dass der Herr Pfarrer jetzt nicht gestört werden dürfe, weil er auch einmal ein paar Stunden Schlaf benötige, ließ sie sich nicht abschütteln. Endlich, um möglichst schnell zu einem Ende zu gelangen, sagte ich, wenn es etwas Kleines wäre, so solle sie damit in Gottes Namen herausrücken. Sie aber mit widerspruchsvoller Stimme: "Etwas Kleines!", schrie sie förmlich auf, klemmte den Fuß zwischen die Tür und holte einen Beutel aus ihrem Handtäschchen. "Das ist nichts Kleines, das ist mein Alles!" - Im Beutel bewegte sich nichts. Alles war zermalmt und verschrotet. Mein Bruder hätte, wie sie meinte, jetzt schnell hinüber zur Kirche zu eilen und die Leiter hinauf zu steigen und ihn einem unserer Riesen zur Verlebendigung vorzulegen; am Tag darauf könnte er dann den wiederbelebten Sohn abholen und zum Platz der schlafenden Jünger herüberbringen; spätestens gegen Ende der Woche hätte sie ihren Jungen wieder.

So aber war die Ausgangssituation: Die Kinder hatten von ihrem Lehrer gehört, dass die Mülldeponie überquillt und dass wir nicht mit der Arbeit nachkämen. Daraufhin hatten sie sich entschlossen, die Missstände auf ihre Weise abzustellen. Doch freilich auf was für eine naive und abenteuerliche Weise! Als ob man sich nur der Nacht in den Weg stellen müsste, und schon herrschte ein endlos heiterer Tag! Die Nacht vorgestern nun war es, die sie sich zur Ausführung ihres Plans ausgedacht hatten. Damit sie keiner sähe, hatten sie sich die Nachtzeit zur Tatzeit auserwählt. Ihr Plan war dabei gewesen, keinen der Lastwägen mehr zur Deponie fahren zu lassen. Wenn sie so den Zirkel von Tod und Leben unterbrächen, würde es auch zu keinem Sterben mehr kommen. Daran glaubten sie. Um dies zu erreichen, hatten sie sich entschlossen, sich mit ihren eigenen Leibern den Müllautos in den Weg stellen. Mochten sie die Müllautos auch umfahren, die würden sie nur wie Luft durchfahren. So dachten sie. Denn sie waren ja im Recht und dienten der guten Sache und würden folglich augenblicklich wieder auferstehen. Freilich hatten sie damit nicht erreicht, was sie sich ausgedacht hatten. Kein Müllwagen hatte vor ihnen Halt gemacht, geschweige denn, dass er umgekehrt wäre; vielmehr hatten sie gleich zu Beginn mit mächtigen Hupen und kräftigem Aufblendlicht die Kinder von der Straße verscheucht und waren weitergefahren. Auch als die Kinder hartnäckiger wurden und bald da, bald dort aus dem nächtlichen Dunkel heraus auftauchten, änderte sich nichts. Stets mussten die Kinder im letzten Augenblick die Fahrbahn räumen. Endlich aber geschah es, dass einem Fahrer die Nerven durchgingen. Als nämlich wieder einer der Jungen nicht von der Fahrbahn wollte, war er aus dem Auto geeilt und hatte zu Fuß die Verfolgung aufgenommen. Quer über die gesamte Deponie, über Berge und Täler voll Müll hatte er ihn verfolgt und hatte nicht eher davon abgelassen, als bis er den Jungen gefasst hatte. Wie sehr der Junge sich auch zur Wehr setzte, es nützte ihm nichts; er musste mit, wohin ihn der Müllmann haben wollte. Ja, durch die Gegenwehr noch besonders in Wut gebracht, schleppte er den Jungen zu einer der laufenden Müllverschrottungsmaschinen und warf ihn dort hinein. Nicht lange danach steht die Mutter mit den Resten des verschrotteten Jungen vor unserer Türe und verlangt Gerechtigkeit. Eben die Frau war es, die uns um Mitternacht aus den Betten gescheucht hat.

"Jawohl, mein Herr", sagte die Frau des neuen Pfarrers, indem sie mich zur Haustüre führte, "so war das gewesen. Selbstverständlich wurde der Lehrer noch in selbiger Nacht entlassen und so warten wir auf den neuen Lehrer, von dem wir hoffen, dass er sich für den Herrn Pfarrer als eine verlässliche Stütze erweist. Nun wissen Sie alles."

Draußen vor dem Haus nahm ich noch einmal Richtung auf die Gruppe der vielen kleinen Gestalten, die der Pfarrer zu dem alten Christus gesetzt hatte und wartete ab, ob nicht vielleicht einer der Schläfer sich bewegte oder zumindest die Augen aufschlüge. Als aber nichts dergleichen geschah und ich weiter nichts Auffälliges entdeckte, entschloss ich mich, das Dorf zu verlassen. Als ich am Paket vorbeikam, sah ich noch, wie der Postbote einen Strafzettel auf das Paket klebte mit dem Vermerk, dass man es "wegen ordnungswidrigem Verhalten" schleunigst zu entfernen habe, doch interessierte mich das nicht mehr.

5. Der Dorfschullehrer

Noch keine drei Wochen war er im Amt, als sich eines Morgens kein einziges seiner Kinder mehr zum Unterricht einfand. Bis auf ein paar Tauben, die im ersten Morgenlicht noch rasch den Schulhof nach Brotkrumen absuchen, war der Schulhof leer, ebenso wie das Schulhaus, über dessen alte, viel betretene Holztreppe der junge Dorfschullehrer jetzt alleine zum Schulzimmer hinaufstieg. Als er nun am Fenster des Schulzimmers stand und den Blick schweifen ließ, ob nicht doch noch ein paar Kinder zum Unterricht erschienen, weit und breit aber war kein einziges Kind zu sehen: da begann er sich zu fragen, was er sich habe zuschulden kommen lassen, und sei es nur aus Versehen oder aus Unwissenheit. Wenn er aber auch nichts fand und sich ihm nahelegte, alle Bedenken für bloße Anfechtungen zu halten, so gelang ihm doch nicht, sich zu beruhigen. Solange nicht wenigstens ein Teil der Kinder angekommen wäre. Immerhin aber bestand ja eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder doch noch kämen. Denn dass alle Kinder über Nacht krank geworden wären, lag außerhalb aller Wahrscheinlichkeit. Und dass sie von zu Hause zur Schule geschickt worden waren, sich unterwegs aber aus eigenem Antrieb entschlossen hatten, die Schule zu schwänzen, das war ebenso unwahrscheinlich. Dass man sie absichtlich zu Hause gehalten hatte, war zwar möglich, doch weshalb auch nur? Mochte auch manches vorgekommen sein, was ihm den Einstand im Dorf nicht eben leicht gemacht hatte, bei Licht besehen waren es doch nur Kleinigkeiten, wie sie vorkommen, wenn Menschen sich unter Menschen neu einzuleben haben. Anlass zu einer ernstlichen Klage hatte er nun wirklich nicht geboten. Pünktlich war er im Dorf erschienen, pünktlich hatte er sich beim Bürgermeister als neuer Lehrer vorgestellt, pünktlich hatte er auch die Arbeit mit den Kindern aufgenommen. Freilich konnte und wollte er auch nicht übersehen, dass es schon da und dort einmal ein paar kleinere Unstimmigkeiten gegeben hatte. Doch waren sie nicht Kennzeichen eines lebendigen Lebens gewesen, und waren sie nicht dazu da, in aller Ruhe und gegenseitigem Respekt ausgeräumt zu werden? Hatte er nicht bereits erste kleinere Fortschritte erzielt, dadurch dass er gleich vom ersten Tag an darauf geachtet hatte, dass nicht das Faustrecht zwischen den Kindern entschied, auch nicht unter den Jungen? Oder lag etwa hier das Verhalten, das man ihm übel nahm, dass er, zumal vor der Obrigkeit des Dorfs, nicht die geringste Ungewissheit hatte aufkommen lassen, dass der Bestand einer Gesellschaft für ihn nur denkbar sei unter der Wahrung der gleichen Würde eines jeden, und dies nicht, weil alle Menschen gleich wären, das waren sie ja auch nicht, sondern weil man nur in Anerkennung aller Menschen zur Erkenntnis der eigenen Freiheit und Würde zu gelangen vermochte? Hatte man ihm übel genommen, dass er sich gegen Gewalt und Demütigungen ausgesprochen hatte, und zwar nicht nur in ihren bestialischen und brutalen Exzessen, sondern schon in ihren leisen, oft harmlos anmutenden Ansätzen ihrer Kinder? Der Mensch war zur Würde der Freiheit in der Gemeinschaft bestimmt: Das war sein Credo und daran hielt er fest. Dazu aber gehörte, dass man sich zu beherrschen verstand und dass man sich in der Gewalt hatte. So hatte er sich jedermann gegenüber geäußert und hatte auch den Kindern bereits davon erzählt.

Jetzt hielt es ihn nicht länger. Eben war er auf die Straße hinaus getreten, da sah er in der Ferne eine Gruppe von Männern, Kinder waren nicht bei ihnen zu sehen. Vom oberen Ende des Dorfs, wo sich das Rathaus befand, sah er sie die Straße herab kommen: In der Mitte der Bürgermeister, begleitet vom Amtmann, der schon dem früheren Bürgermeister und Vater des jetzigen Bürgermeisters als Amtmann gedient hatte, sowie einigen weiteren Männern der Verwaltung, unter ihnen auch der junge Ratsschreiber. Vom letzteren, der stets einen kleinen Schritt der Gruppe voraus war, wusste er, dass er in der Gunst des Bürgermeisters stand, was ihn zu einer tollen Laufbahn berechtigte. An straffer Leine hielt er dessen Hund, einen jungen Wolfshund, Pastor mit Namen, der bereits aus der Ferne deutlich machte, dass dieser Gang heute Morgen ganz besonders nach seinem Geschmack war. Hinter diesen, wie eine Schutzwache, gingen noch einige Gemeinderäte, der Bauunternehmer und sein Schwager, der Kiesgrubenbesitzer, die man an ihren weitausladenden, mit grünen Hahnenfedern geschmückten Hüten erkannte. Der Bürgermeister aber, trotz seines behäbigen Schrittes, war ohne allen Zweifel die Mitte und der Motor dieser Gruppe. Das war leicht daran zu erkennen, dass alle Dorfbewohner, wo immer er vorbeikam, ehrfürchtig stehen blieben und grüßten. Aus seiner Westentasche hing eine goldene Uhrkette heraus, zu der eine Uhr gehörte, die er anlässlich seines 60. Geburtstags von den Honoratioren der Gemeinde erhalten hatte.

Fürs erste schwankte der Lehrer noch, ob er der Gruppe entgegeneilen oder ihr ausweichen sollte. Weil man ihn aber bereits gesehen hatte und sie, wie er nun wusste, um seinetwillen losgezogen waren, schien ihm am besten, stehen zu bleiben und die Gruppe zu erwarten. Offenbar waren sie unzufrieden mit ihm, und hatten sich entschlossen, ihm dies auf diese Weise zu zeigen.

"Meine Herren", nahm der Lehrer nun das Wort, nachdem sie nahe genug gekommen waren, "gewiss sind Sie gekommen, mich wegen des Ausbleibens der Kinder zu unterrichten. " Weiter brauchte er nichts zu sagen. Denn schon ergriff der Ratsschreiber das Wort und indem er soweit auf den Lehrer zuging, dass der Hund ihn eben noch nicht zu ergreifen vermochte, sagte er: "Verehrter Herr Lehrer! Eigentlich sollten Sie selber am besten wissen, was ein Lehrer zu tun hat, denn dann hätten Sie uns die Mühe dieses Besuchs erspart. Zumal, wo Sie nicht auf unser Verlangen, ja noch nicht einmal mit unserem Einverständnis zu uns ins Dorf gekommen sind, lag wohl nahe, sich um ein besonders gutes Verhältnis mit uns, ihrem Brotgeber, zu bemühen. Auf Ihren eigenen Wunsch und aus freiem Entschluss haben Sie sich für unser Dorf entschieden und der Landrat hat Ihnen dazu seine Zustimmung erteilt. Gleichwohl aber steht es dem Herrn Lehramtsanwärter nicht frei, hinter unserem Rücken zu tun und zu lassen, was er will, selbst wenn er der festen Überzeugung wäre, dass das, was er zu tun beabsichtigt, das einzige und allein Richtige ist. Als Lehrer in unserem Dorf hat er sich an die bei uns gültigen Richtlinien und Satzungen zu halten. Und wenn er sich auch über unsere Gemeindearbeit erhaben dünkt, dass er uns seine Mitarbeit verweigert, wie er uns ja, trotz mehrfacher Einladungen, durch sein Ausbleiben an unseren Stammtischen demonstriert hat, so lassen wir doch niemals zu, dass er unsere Kinder in ihrer natürlichen Entwicklung aufhält. Wer heißt ihn denn, alle Kinder über einen und denselben Kamm zu scheren und ihnen ein Verhalten aufzunötigen, das jedem Rang und jeder Abstufung spottet? Glaubt er etwa, er solle unsere Kinder, einerlei woher sie kommen und was für Talente sie besitzen, zu Duckmäusern und Befehlsempfängern erziehen? Mag er die Kinder drillen und drangsalieren, soviel er kann; mag er die Jungen stramm stehen lassen und sie, wenn nötig, vermöbeln; mag er sie auf die Streckbank der Tapferkeit und der Tollkühnheit legen und sie windelweich schlagen! Ja, mag er mit ihnen machen, was immer er will: hüte er sich nur, die ihm anvertrauten Kinder den Gesetzen des Dorfs zu entziehen! Die Mittel der Züchtigung und der Zensur sind ihm nicht in die Hand gegeben, um das Unterste zuoberst zu kehren, sondern damit Rang- und Reihenfolgen gewahrt bleiben, wie sie der Tradition unseres Dorfes entsprechen!"

Nach diesen Worten nahm er den Hund kurz und fest zur Hand und trat ins Glied zurück, dem Lehrer die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. Der aber hätte jetzt wohl manches zu sagen gehabt, hätte er nur der inneren Rede zur Verlautbarung die Erlaubnis gegeben. Beim Kieswerk draußen, so hatte ihm der alte Hausknecht, der ihm beim Aufräumen des Schulhauses zur Hand ging, unter allerlei Andeutungen zu wissen gegeben, beim Kieswerk draußen befinde sich ein Schuppen mit einem Blockhaus, das sie als ihr Hauptquartier zur Abwicklung ihnen unliebsamer Dinge benützten. Dort auch hätten sie seinem Vorgänger im Amt den Prozess gemacht und ihn zum Verschwinden gebracht. So hatte der Lehrer gehört; doch hatte er noch keine Zeit gefunden, sich ein eigenes Bild zu machen, zumal da er diese Dinge nicht hatte für wahr halten wollen. Jetzt aber sagte er nichts weiter, als dass er die Frage vorbrachte, ob sie sich nicht besser im Schulhaus unterhielten als hier draußen auf der Straße, was man aber geflissentlich überhörte.

"Überempfindliches Pflänzchen!", versetzte der Ratsschreiber, nachdem er sich bei den Honoratioren umgeschaut und sich vergewissert hatte, dass keiner zu reden begehrte und dass er weiterhin für sie als Sprecher in Frage kam, "respektieren Sie vor allem, dass es innerhalb unseres Dorfes zwei Klassen gibt: die, welche etwas zu sagen haben und die, welche die Befehle ausführen. Und seien Sie dessen gewiss, dass wir darauf achten, dass in keiner der beiden Klassen die lang bewährte Ordnung einen Schaden nimmt." Er hatte beim letzten Satz den Ton etwas gemildert, redete aber immer noch so, als gälte es, jeden wütenden Einspruch im Voraus zu ersticken. "Und wenn Sie sehen, dass der Starke den Schwachen prügelt, so mischen Sie sich nicht ein, indem sie glauben, sich zum Vater der Schwachen und zum Richter über die Mächtigen aufschwingen zu sollen! Bedenken Sie lieber, dass ein Gemeinwesen, das nicht weiß, wer das Sagen hat, sich in Auflösung bringt. Lassen Sie deshalb Ihre Finger davon und mischen Sie sich nicht ein, wenn die Kinder sich streiten. Der von Haus aus Schwache hat nicht das gleiche Recht wie der Starke. Wehe ihm, wenn er als Lehrer glaubt, sich über bewährte Traditionen hinwegsetzen und unser Gemeinwesen korrigieren zu sollen. Wir verbieten ihm nicht, treuherzig wie unser Pastor in die Welt zu schauen, aber auch beißen muss er können! Ohne Rang und Abstufung, ohne Respekt und Bewunderung, aber auch ohne Furcht und Angst ist kein Gemeinwesen möglich, weder bei uns noch anderswo. Und dabei bleibt es und wir dulden keinen Widerspruch."

In was für eine Welt bin ich eigentlich gekommen! Und was soll ich hier tun? fragte sich der Lehrer, während er sah, wie alle bald dem Ratsschreiber zustimmten, bald verächtliche Blicke auf ihn warfen. Offenbar gab es hier nichts Entzückenderes, als gegen jeden vorzugehen, der sich ihrer Macht in den Weg stellte. Jedenfalls wusste er jetzt, woran er war und mit wem er es zu tun hatte. Wenn er mit ihnen nicht fraternisieren und sie in ihrer Macht unterstützen wollte, so war er für sie nur ein gewöhnlicher Lehrer, also einer, der sich zu schämen hatte, dass er es mit Unmündigen zu tun hatte. Gemäß den Weisungen von oben aber hatte er mit ihnen umzugehen, und zwar nicht, indem er diese Weisungen überprüfte und überdachte, sondern indem er sie aufs Pünktlichste erledigte. Wenn ihm das aber nicht passte und nicht behagte, so war er gut beraten, aufs schnellste wieder zu gehen.

Von solcherlei Überlegungen verwirrt und durchtobt war ihm der Blick an der goldenen Kette des Herrn Bürgermeisters hängen geblieben. Und so hängen geblieben und beinahe schon gefesselt, hörte er sich rufen wie einen, der sah, dass er ohne fremde Hilfe nicht mehr auskam. "Die einen trachten danach, dass ich den Kindern Ehrfurcht vor den Großen und Starken vermittle, und, muss es sein, dass ich dabei auch keine Prügel als Erziehungsmittel verabscheue; andere verlangen Ausbau der Mannigfaltigkeit intellektueller Leistungen, wieder andere Objektivität bei den Bewertungen und bei der Auswahl, wieder anderen liegt der Ausbau der Gesellschaft als einer für alle auf gleiche Weise offenstehende Einrichtung am Herzen; kaum einer aber wagt es, mit dem einzelnen Kind zu beginnen." So hörte er sich rufen, ohne aber vom Bürgermeister oder von seinen Vasallen vernommen zu werden. Diese nämlich hatte der Bürgermeister zu sich gewinkt und nun drängten sie sich um ihn und waren ganz Ohr für das Unglaubliche, das er ihnen zu vermelden hatte.

Zwei entscheidende Fehler hatte der Lehrer immerhin gemacht. Das sah er jetzt deutlich. Da war als erstes die Sache mit dem Stammtisch gewesen, die der Ratsschreiber bereits flüchtig angedeutet hatte. Bei jedem anderen Dorfrat wäre sie geeignet gewesen, zum Lob des Lehrers beizutragen. Denn wenn er bei seinem Antrittsbesuch sich erbeten hatte, die Anfangszeit im Dorf vor allem zum Einarbeiten und Kennenlernen der Kinder benutzen zu dürfen, so hatte er ja keine unlautere Bitte vorgebracht. Der Bürgermeister schien seine Bitte damals durchaus auch als billig zu erachten. Jedenfalls hatte er dessen Verhalten damals so eingeschätzt. Jetzt allerdings war er sich keineswegs mehr im Klaren darüber. Der Stammtisch hatte in der Dorfpolitik eine Bedeutung, die er vermutlich unterschätzt hatte. Über den Stammtisch hatte man sich vermutlich erhofft, den neuen Lehrer in die Gepflogenheiten des Dorfs und in seine Ordnungen einzuweihen. Dann war da aber noch etwas anderes, ein Nichts bei Licht besehen. Eben bei jenem Antrittsbesuch nämlich hatte es der Lehrer versäumt, Pastor, dem Hund des Bürgermeisters, mit dem nötigen Respekt zu begegnen. Dass der Bürgermeister damals auch nur eine Andeutung zu einem Versäumnis gemacht hätte, konnte der Lehrer freilich nicht finden. Der Bürgermeister hatte ja selber darauf hingewiesen, dass es in der Natur eines Hundes liege, sich von einem Gast etwas zu erbetteln. Dass er nichts für den Hund mitgenommen hatte, konnte also nur im Sinn eines verantwortungsvollen Hundebesitzers liegen, der keinem Gast erlaubt, seinen Hund zu verwöhnen. Was damals noch als korrektes und schickliches Verhalten gegolten haben mochte, wurde inzwischen offenbar ganz anders bewertet und zeigte sich jetzt als ein hässlicher Fehltritt.

So weit war der Lehrer in seinen Recherchen gekommen, als der Bürgermeister den Anwesenden mitteilte, dass er dem Lehrer noch eine Chance geben wolle. Er habe sie zwar nicht verdient, doch habe er sich dazu durchgerungen. Das sei dann aber für ihn die allerletzte Gelegenheit, zu zeigen, dass er in ihr Dorf passe!

Kaum hatte er das gesagt, die kunstvolle Mischung von Heiterkeit und väterlichem Erbarmen, die ihm dabei das Gesicht verklärt hatte, war noch nicht verschwunden: da winkte er auch schon in alle Himmelsrichtungen, und schon kamen von überall her die Kinder herbei. Kurz darauf saßen sie im Klassenzimmer ruhig auf ihren Plätzen. Neben dem Bürgermeister und seinen Gefolgsleuten waren auch Schaulustige mit hinzugekommen, die nirgends fehlen, wo man das Glück hat, eine Hinrichtung hautnah zu erleben oder doch wenigstens einen Delinquenten am Pranger zu sehen. Bis zur hinteren Wand verstopften sie den Raum. Vorn aber, neben dem Katheder, auf gleicher Höhe mit dem Lehrer, saß der Bürgermeister, neben ihm der Hund, Letzterer zu Fuß, beide den Blick auf die Kinder gerichtet. Und wenn im Schulzimmer auch das Rauchen streng untersagt war, so galt das selbstverständlich nicht für den Bürgermeister, der jetzt, während er sich mit einem Streichholz seine Zigarre anzündete, den Lehrer ermahnte, mit dem Unterricht zu beginnen.

Indes, wie viel Mühe sich der Lehrer auch gab, er brachte kein Wort über die Lippen. Mit welchen Worten er auch zu beginnen trachtete, stets verwirrten sich ihm die Gedanken, dass er sich nicht in der Lage sah, auch nur einen kleinen Satz im Voraus zu entwerfen. Jetzt, wo es höchste Zeit war, sich groß und stark und unmissverständlich hervorzutun und sich Geltung zu verschaffen, fehlten ihm plötzlich die Worte. Und wie er so dastand, die Rechte auf die Pultfläche gestützt, mit dem Rücken an der Wand, erschien ihm alles als fremd und dunkel. Fremd und dunkel war der Raum, fremd und dunkel die Menschen, fremd und dunkel das Ziel, zu welchem er einmal die Kinder hatte leiten wollen; fremd und dunkel erschien er schließlich auch sich selber. Bald glaubte er sich in einem dunklen und unauflöslichen Labyrinth zu befinden, bald sehnte er sich nach einer Entrückung in unzugängliche Fernen. Ein eigentümlicher Hang überkam ihn, die Augen zu schließen, eine Lust, sich in einen Tiefschlaf fallen zu lassen, die nur immer noch größer wurde, je mehr er sich vergegenwärtigte, dass er ihr nicht nachgeben durfte. Wenn er dann aber die Augen aufriss und er die vielen neugierigen Köpfe über sich sah und die Augen des Hundes, die auf ihn gerichtet waren, kam er sich vor wie ein gehetztes Wild.

Noch einmal ergriff der Bürgermeister das Wort. "Zeig er uns jetzt endlich, wie er mit den Kindern umgeht und was man ihnen als Erstes und Wichtigstes beizubringen hat!" Eine kleine Weile später erhob er noch einmal seine Stimme und sagte: "Augustus, sag ihm, dass uns die Geduld reißt, wenn er jetzt nicht beginnt!" Der Lehrer aber, um einem Unheil zuvorzukommen, sagte: "Jawohl, ich werde jetzt beginnen! Mag daraus entstehen, was will!" Und das Buch, das er immer auf dem Pult liegen hatte, mit beiden Händen ergreifend und an sich drückend, fasste er sich ein Herz und rief: "Mögen euch eure Kinder lehren, das Rechte zu sehen! Um aber das Rechte zu sehen, bedürfen wir des Lichts. Licht brauchen wir, Licht! Licht! Licht!"

Im Raum war es fast ganz dunkel geworden. Die Kinder aber, deren Anwesenheit bislang noch kaum aufgefallen war, waren jetzt plötzlich hell wach. Und als sie nun den Ratsschreiber sahen, wie er zur Türe schlich, das elektrische Licht anzuschalten, begehrten einige von ihnen auf. Diese nämlich hatten bemerkt, dass es jedes Mal beim neuerlichen Aussprechen des Wortes "Licht" im Zimmer ein wenig hell geworden war, um dann der Dunkelheit wieder Platz zu machen. Kaum, dass der Ratsschreiber das Licht eingeschaltet hatte, hatten es die Kinder auch schon wieder ausgeschaltet, um es dann ohne Knopfdruck, auf die Weise des Lehrers, zum Leuchten zu bringen. Zuerst vereinzelt und zaghaft durcheinander, dann aber immer beherzter mit einer einzigen Stimme riefen sie das Zauberwort: "Licht! Licht! Licht!" Und immer heller, je öfter sie das Wort aussprachen, leuchtete es auf. Alsbald schon riefen sie es so gut, dass die Dunkelheit kaum mehr Zeit hatte, ins Zimmer zurückzukehren. Einige der Anwesenden, die noch immer nicht verstanden, was da in Gang gekommen war, riefen dazwischen: Man sucht den Schalter. Die Kinder aber wie berauscht, dass sie das Licht auch ohne des Lehrers Mithilfe zum Vorschein zu bringen vermochten, schienen in ihrer Begeisterung kein Ende mehr zu finden. "Licht! Licht! Licht!" riefen sie nur immer noch lauter, dass sie das Zimmer nun beinahe schon taghell erleuchteten. Und so die Stimme erhebend trieben sie es noch eine gute Weile fort.

 

6. Eine Lehrprobe

Mein Mentor, ein erfahrener Lehrer, hatte mich davor gewarnt, in dieser Klasse meine Lehrprobe abzuhalten. "In jeder Klasse mögen Sie Ihre Lehrbefähigung unter Beweis stellen", hatte er gesagt, "nur nicht in dieser! Denn selbst, wenn Ihnen das Außerordentliche gelingen sollte und Sie brächten die Probestunde problemlos hinter sich, so würde Ihnen doch niemand den Aufwand so hoch anrechnen, wie er in Wahrheit ist. Im Übrigen verlangt niemand von Ihnen das Unmögliche. Wer es dennoch versucht, verrät eher einen waghalsigen und geltungssüchtigen Charakter und mag ihm das Unternehmen auch gelingen, so ist er eher zu tadeln als zu loben. Was wir aber brauchen, das sind nicht waghalsige und tollkühne Lehrer, sondern kluge und unerschütterliche, in sich gefestigte Persönlichkeiten."

Ich aber, mit dem Mut eines unbesiegbaren Helden, schlug den Rat in den Wind. Warum auch sollte ich vor einer Klasse, warum ausgerechnet vor dieser Klasse wie ein ängstlicher Hund auskneifen und ausscheren? Freilich, außer mir selber war ich keinem einen Beweis schuldig; hätte ich auch mir den Beweis vorenthalten, so hätte es zwar niemand bemerkt, ich wäre mir aber bis in alle Ewigkeit als ein Feigling und Versager vorgekommen. Es war unausweichlich; ich musste in den Kampf. Wenn ich mich jetzt, wo mich noch die Kraft meiner Jugend durchströmte, dieser Aufgabe nicht stellte, wann je würde ich mich dann stellen? So gerüstet betrat ich denn zusammen mit den Herren von der Kommission den Raum.

Während letztere noch dabei waren, sich seitwärts an den Wänden entlang zu schlängeln, um im Hintergrund Platz zu nehmen, war ich bereits vor die Klasse getreten und hatte die Schüler begrüßt, ganz nach meiner Art. Denn ob ich auch bemerkt hatte, wie mich die Schüler schon beim Eintritt in den Klassenraum mit einem abschätzigen Grinsen empfangen hatten, so tat ich doch, als hätte ich nicht das Mindeste bemerkt. Ein guter Lehrer registriert zwar alles, so bestätigte ich mir, beinahe genüsslich meiner Kraft bewusst, doch ist er weit entfernt, auch gleich darauf zu reagieren. Alles sollte sich von allein, aufs Schönste regeln. Der aufgestaute Übermut der Schüler sollte sich ganz allmählich entladen, wenn jetzt erst der Unterricht begänne. Daraufhin hatte ich sie sich setzen geheißen und hatte das Thema bekannt gemacht, mit dem wir uns heute beschäftigen würden.

Unterdessen, während die Schüler noch immer Äußerungen von respektloser Fröhlichkeit von sich gaben, deren Ende nicht abzusehen war, begann mir etwas im Ohr zu summen. Hatte mich da nicht ein Schüler bei der Begrüßung mit einem leisen "Schauspieler!" tituliert! Und ein anderer, hatte der nicht von einem Feldwebel gezischelt? Ich aber, weit entfernt, der Versuchung nachzugeben und deshalb zu recherchieren, "Lass sie doch!" sagte ich, mich beschwichtigend. "Sie haben ja Recht. Ist die Welt nicht ein riesiger Schauspielerverein? - Und wenn sie dir einen Zettel am Rücken angeheftet hätten und nun nur darauf warteten, bis du dich umdrehst? Ist es nicht ihr gutes Recht, den tüchtigen Mann auf ihre Weise zu erproben? An die Adresse der Schüler gerichtet sagte ich nun sogar: "Fängt nicht alles ganz lustig an?", indem ich meinen Lachmuskeln freien Raum ließ, "Lachen wir uns doch erst einmal tüchtig aus!" Nicht im Mindesten war ich im Zweifel, dadurch die für meine Arbeit erforderliche Ruhe zu erreichen.

Lange ließ ich sie dann freilich nicht lachen. Denn nun klatschte ich in die Hände und sagte "Nun ist genug!", was das Zeichen war, nun ernsthaft zu beginnen. Daraufhin hatte ich ihnen einen ersten Satz gesagt, der uns mitten ins Thema führte. Das war so meine Art. Ich hielt nichts von langen Sermones über Disziplin und Wohlverhalten. Beginne, wenn der rechte Augenblick da ist, und vergiss nicht, dass der rechte Augenblick da ist, sobald du beginnst! Die Schüler indessen, immer noch der Unbotmäßigkeit hingegeben, hatten überhaupt nicht auf den Satz geachtet. Im Lärm war er untergegangen.

Nun wollte das Schicksal, dass ein paar Flegel meinen Satz noch einmal zu hören verlangten. "Lehrer wiederholen ja so gerne", sagte einer der Rädelsführer, ein gewisser Lauser, und tat so, als hätte ich ihnen befohlen, der eine den anderen auszulachen, worauf er sich die Zeigefinger in die Ohren bohrte, damit nun nur ja auch ich seinen Satz nicht missverstünde. Die Darbietung dieses Lauser freilich passte ganz und gar nicht zu meinem Spielzug. Schon bei meinem Eintritt ins Klassenzimmer war er es ja gewesen, der sich durch den frechen Kommentar vom Schauspieler hervorgetan hatte, den dann sein Nachbar um das Bild eines Feldwebels bereichert hatte. Hatte ich an jener Stelle aber noch nicht nötig gehabt, Notiz von ihm zu nehmen, so lag der Fall jetzt anders. Mit seiner Verlautbarung, dass Lehrer so gerne wiederholen, wie auch dem Höllengelächter, das er mir dadurch einbrockte, lockte er mich aus der Reserve. Um mich nicht gleich schachmatt setzen zu lassen, bedurfte es jetzt eines Befreiungsschlages. - "Gut, lachen wir eben noch eine Runde", sagte ich zu mir. Und zu Lauser, diesem Schülerclown, gewandt sagte ich: "Pass gut auf, dass du nicht die gesamte Munition verschießt! Die Stunde ist noch nicht zu Ende!"- Das war noch ein höflicher Bescheid. Dass ich dann in die Klasse hinein grinste, war allerdings ein zweiter, entscheidender Fehler. "Wenn ihr auch bis zum jüngsten Tag lachen solltet", mochte es übersetzt bedeuten, "so werde ich mit euch doch allemal noch fertig! Verlasst euch darauf." Ja, das war bereits viel mehr als ein höflicher Bescheid; das war auch schon mehr als ein feiner Stich oder selbst als eine beherzte Erwiderung, das war bereits eine unverhohlene Warnung, ziemlich dicht schon in der Nähe einer ungewaschenen Abfertigung.

Jawohl, das war eine Unart von mir, ich gebe es zu, mit den Mitteln der Macht zu spielen. Selbst in der Vorstellung hatte ich nicht damit zu spielen. Mochte das Spielchen auch noch so amüsant sein, mit Drohungen und Verwarnungen durfte nicht gespielt werden. - Mit weitausgreifenden Schritten mich durchs Zimmer bewegend, noch immer das pausenlose Gelächter im Ohr, besann ich mich auf mein weiteres Vorgehen. Vor allem durfte ich mir mein Verhalten nicht von der Klasse aufdrängen lassen. Auch dem Letzten hatte ich klar zu machen, dass ich Willens war, zur Sache zu kommen. Dazu aber war nötig, Lauser aus dem Klassenverband zu nehmen, und sollte ich ihn auch wie eine Laus zertreten. Endlich blieb ich stehen und schaute mich um. "Schweigt nun und hört mir aufmerksam zu!" Mit diesem Zuruf, mit dem schon im Altertum die Redner ihre Rede zu eröffnen pflegten, wandte ich mich an sie. Lauser aber, mit einer unbeschreiblichen Grimasse der Klasse sich zuwendend, schlug eine helle Lache auf, worauf abermals ein tobendes Gelächter den Raum erfüllte. Nun aber, den Rädelsführer genauer ins Auge fassend, trat ich auf ihn zu und sagte. "Auch du bist gemeint, mein Freund, wenn es jetzt gilt, zu schweigen und aufmerksam zuzuhören!" Der junge Mann, noch ganz erfüllt vom Rausch der dargebotenen Nummer, schaute sich um, als wäre die Zeit stehen geblieben und er müsste mir behilflich sein beim Ausfindig-machen, wen ich wohl von den Hintersassen gemeint hätte, dass sie mir zuhören und schweigen sollten.

Währenddessen war ich ihm sehr nahe gekommen. Noch immer prustend vor Lachen, erschrak er nicht wenig, als er sah, wie ich jetzt dicht vor ihm stand. Ich aber sagte zu ihm: "Und nun mein Freund, sei so gut und wiederhole den Satz, den ich gesagt habe!" Er aber, ohne eine Antwort zu geben, schaute sich abermals um. Es war unübersehbar, dass es diesmal aus Furcht geschah, da ihn bereits eine Brise meiner Entschlossenheit angeweht hatte. Mochte er sich umsehen auf der Suche nach Hilfsgenossen oder mochte er dem Wunsch frönen, vom Erdboden zu verschwinden, meine Geduld war jetzt zu Ende. Ohne abzuwarten, bis er sich mir wieder zugewandt hätte, flüsterte ich ihm noch ins Ohr, dass ich eine Methode kennte, ihm seine Vergesslichkeit für immer auszutreiben. Dann, während er dabei war, mir sein ungläubiges und unschuldsvolles Gesicht zuzukehren, schob ich ihm, gut geführt mit dem nötigen Schwung, meine Faust ins Gesicht. "Die Stunde ist für dich einstweilen zu Ende!" sagte ich sodann, holte das Opfer aus der Bank, schleifte ihn vor die Tür und ließ ihn dort liegen.

"Nun aber ist alles gut!" sprach ich, "Beginnen wir nun den Unterricht!" Noch zitternd und erregt hatte ich gleichwohl Mühe, das Gefühl des Triumphes und der Genugtuung zu verbergen. Es gab jetzt nichts mehr, was mir die Stille gestört hätte. Kein Schüler redete jetzt auch nur noch ein einziges Wort. Aller Augen waren auf mich gerichtet, dass ich nicht umhin konnte, meinen alten Mentor herbeizuwünschen. Könntest du jetzt da sein und mich sehen, wie ich dieses Rudel von Raubtieren gebändigt habe, du kämest wohl nimmer aus dem Staunen heraus. Frömmer als die geduldigsten Lämmer könntest du sie jetzt sehen. Und verlass dich darauf, ich will schon achtgeben, dass mir keiner in seine alte Natur zurückfällt." Tiefbefriedigt, und weil es mich drängte, dem Grundsatz des großen Herodot gemäß, den Vorgang sich einprägen zu lassen, auf dass auch die kommenden Zeiten aus ihm zu lernen vermöchten, richtete ich jetzt das Wort an die Schüler, indem ich sie fragte, ob es nicht besser gewesen wäre, gleich Ruhe zu geben und Aufmerksamkeit walten zu lassen. Die Schüler aber, als hätten sie die Sprache verloren, schauten mich nur mehr noch mit blöden Augen an, ohne etwas zu erwidern. Alsbald merkte ich, wie ihre Blicke bald meine Hände berührten, bald wieder zu meinem Gesicht zurückkehrten. Als ich mir meine Hände ansah, ein verstohlener Blick hinter dem Rücken genügte: da bemerkte ich, dass sie voll Blut waren. Ah, was war das? Ein Erinnerungsstück an den Zweikampf oder ein Erzeugnis der Hölle? Zugegeben, ich hatte nicht in Erwägung gezogen, wie damals Odysseus vor dem Kampf mit dem Bettler, wie kräftig ich zuschlagen sollte. Eher war ich wie ein Achilles auf Hektor losgegangen, den Störenfried dem Zorn meiner faustbewaffneten Rechten überlassend. Trotzdem war ich mir ziemlich sicher, dass ich den Rebell mehr durch die Kraft meines unwiderstehlichen Willens besiegt hatte als durch rohe Gewalt. Wenn mir nun auch die Gesichter der Schüler wie auch meine blutigen Hände von etwas anderem erzählten, so wollte ich es nicht glauben. Mochten sie auch derart vollendetes Theater spielen, dass nicht einmal mehr der beste Kenner der mimischen Verstellung zu unterscheiden vermochte, was Wirklichkeit war und was Spiel: mich täuschten sie nicht. Mochten sie einen anderen glauben machen, als hätte ich ihren Mitschüler zum Krüppel geschlagen.

Da es mir keine Ruhe ließ und ich es ganz genau zu wissen begehrte, eilte ich hinaus, nachzusehen, was sich in Wahrheit ereignet hatte. Da aber sah ich mein Opfer auf dem Boden liegen, den Kopf seitwärts geneigt, ohne das geringste Lebenszeichen. Nur etwas Blut sickerte ihm noch aus der Nase, vor der Nase aber stand eine kleine Lache. Und doch war ich noch immer nicht überzeugt von dem, was ich da sah. "Genug der Schauspielerei!" rief ich aus, angewidert von dem, was ich sah, und stieß ihn mit dem Schuh in die Seite. Da aber nichts weiter mehr geschah, sagte ich noch mit der Stimme eines Herolds, der ein Friedensangebot unterbreitet: "Es ist jetzt genug! Steh auf! Wir wollen das Ganze vergessen!"

Erst jetzt begann mir zu dämmern, dass dies ihr Plan gewesen sein mochte, mich solange zu reizen, bis ich mich an einem von ihnen verginge und vergriffe. Diesen Preis zu zahlen, hatten sie nicht für zu hoch erachtet. Und nun saßen sie da, mit ihren vorwurfsvollen Gesichtern, und waren zufrieden, weil man nun ein Verfahren gegen mich einleiten und mich vom Dienst suspendieren würde. Mich aber hielt es nimmer zurück. Laut sprach ich aus, was ich über ihr Vorgehen dachte und wie alles hätte anders kommen können, wenn man nur guten Willens gewesen wäre. Es hörte mir aber niemand mehr zu. Alle schauten nur noch starr vor sich hin, als sähen sie überall Blut und es wäre nur eine Frage der Zeit, wann die ganze Welt im Blut unterginge. Und während ich unter der Türe stand und meine Worte in die Ferne schweiften, da war mir, als sähe ich den alten Mentor, wie er auf den niedergeschlagenen Lauser zutrat und zu ihm sprach: "Ah, mein Lauser, mein gutes Lauserchen! Was hätte nicht alles aus dir werden können!" Ich aber wünschte, die Berge möchten über mich fallen und mich bedecken.

7. Eine Wunde im Auge

Ein Lehrer, der nur noch über sehr wenig Selbstvertrauen verfügte, begann sich Gedanken zu machen, wie er sich vor allem Schmutz und Unbill der Welt zu schützen vermöchte. Denn ob er auch manch eine böse Erfahrung im Umgang mit Menschen gemacht hatte, so hatte er daraus doch weiter nichts gelernt, als dass er begriff, dass er wehrlos war. Ja, eine derartige Angst hatte inzwischen von ihm Besitz ergriffen, dass ihm nichts Besseres mehr einfiel, als sich um seine Augen zu kümmern. "Denn", so sagte er sich, "ist dir erst einmal dein Auge verwundet, so verdüstert sich dir das Bild der Welt und du siehst nichts mehr als Elend und Siechtum." Nur vor den Kindern, zumal vor den ganz Kleinen, gedachte er, sich weiterhin arglos und harmlos zu geben. Da nun aber die Sorge um seine Augen ihn überall hin begleitete, konnte nicht ausbleiben, dass sich seine Angst immer auch zeigte, wenn er mit den Kleinen zusammen war. Eines Tages nun, als er eben die Schulanfänger in einem Stuhlkreis um sich versammelt hatte, meldete sich eines der Kinder, ein gewecktes, munteres Mädchen, indem es ihn fragte, warum er immer so aufgeregt hin und her schaute. "Merkst du denn nicht, wie du die Augen zupresst, als hättest du Angst vor einem Stäubchen Kreide? Jedermann kann es sehen. Du musst dich nur vor den Spiegel stellen, dann siehst du es auch." Wie sehr es dem Lehrer auch angenehm gewesen wäre, die Sache wäre damit abgetan, so war sie es doch keineswegs. Ein Kind nach dem anderen nämlich meldete sich und bat um eine Erklärung. "Ja, etwas Argwöhnendes zuckt immer aus deinen Augen", sagte endlich noch ein Junge, "als ob du Angst hättest vor der Spitze einer Hacke", und schaute ihn mit so unwiderlegbarem Forscherblick an, dass es dem Lehrer unmöglich war, noch länger Schweigen zu bewahren. "Nun denn", sagte er, "wenn ihr schon eine Wunde an mir ausfindig gemacht habt, so wisst denn! Nicht nur meine Augen sind wund und krank, sondern auch meine Ohren und meine Atemwege! Und wartet nur ab, bald schon ist es so weit; dann bin ich nicht mehr in der Lage, euch auch nur noch ein kleines, fröhliches Wörtchen mit auf den Lebensweg zu geben!"

8. Drei Köpfe

Tief bekümmert schritt ich den Flur der Abteilung entlang, einer streng geschlossenen Abteilung, verlangte mich doch, herauszufinden, was der Grund gewesen sein mochte, dass jene Frau, die wir alle als so besonnen und vernünftig gekannt hatten, auf einmal so schwerkrank geworden war. Und wie ich so dahinschritt, immerfort einen Blick auf das Foto werfend, das mir die Frau mit ihrem Sohn zeigte, einem kräftigen jungen Burschen, der neben ihr stand, als schäme er sich seiner Mutter, trat der Stationsarzt auf mich zu, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte, man dürfe zwar nicht die Augen verschließen vor diesen Dingen, ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger sei aber, sich selber auf den rechten Weg zu bringen und diesen entschlossen weiter zu gehen.

"Es muss schrecklich sein", versetzte ich, immer noch benommen von dem Gespräch, das ich mit der Frau geführt hatte, "es muss schrecklich sein, ständig unter dem Gefühl zu leiden, drei Köpfe mit sich zu schleppen. Wenn sie wenigstens alle zu sehen wären und wenn man sie greifen könnte! Dann könnte man immerhin daran denken, die beiden überflüssigen wegzuoperieren. Was aber soll man entfernen, wenn überhaupt nichts da ist? Oder ist es gut, dass wir nicht an diese beiden anderen Köpfe herankommen? Was meinen Sie?"

Der Arzt, ein noch junger Mann mit schmalen, herben Gesichtszügen, harten Backenknochen und tief zurückliegenden Augen, als hätten sie sich vor all dem Elend weit zurückgezogen, seufzte tief auf und sagte: "Seien Sie froh, dass Sie kein Arzt sind und dass Sie sich nicht auszukennen brauchen in den Untiefen der Krankheit. Landläufig heißt es ja zwar, dass der der beste Arzt ist, dem es gelingt, in die letzten Schluchten und Winkel der Krankheiten hinab zu steigen, in Wahrheit aber ist das unmöglich. In die Krankheiten der Menschen mag er herabsteigen, sofern sie etwas sind, was mit den bekannten Mitteln und Apparaten angegangen und untersucht werden kann, nicht aber in die Abgründe der Sorgen und Ängste. Der Mensch mit seinen Sorgen und Nöten bleibt dem Arzt verborgen und könnte er sie aufdecken, so hätte er gelernt und wüsste vermutlich, dass sie ihm verborgen bleiben müssen, es sei denn" - hier machte er eine Pause - "es sei denn, es triebe ihn etwas unwiderstehlich, und er verließe die Mauern des Selbstschutzes und eilte dorthin, wo es auch für ihn keinen Halt mehr gibt. Doch wozu? Wer hätte etwas davon, wenn er sich so treiben ließe?"

Nach diesen Worten schwieg er. Und ich, da ich den Eindruck hatte, er wolle allein sein, oder ich es doch für geraten hielt, ihn mit seinen Problemen allein zu lassen, verabschiedete mich. Er aber, ohne meine ausgestreckte Hand entgegen zu nehmen, sagte, wenn ich den Mut hätte, mehr zu erfahren, so möchte ich mit ihm auf sein Zimmer kommen. Und gleichsam, als hätt ich ihm zugestimmt, schritt er voraus, einen schmalen Gang entlang, durch mehrere Türen hindurch, armiert und verriegelt mit Eisenstangen und Gitterwerk, die er jeweils sorgfältig öffnete und wieder verschloss, bis wir zu seinem Zimmer gelangten, einem kleinen Zimmerchen, eher einer Zelle vergleichbar, in das kaum mehr noch der schäbige Besucherstuhl passte, der vor der Türe gestanden.

Nachdem er die Krankheitsakte der Frau vor sich hingelegt hatte, als habe er vor, etwas daraus vorzulesen, besann er sich und begann folgendermaßen: "Wie Sie inzwischen Gelegenheit hatten, sich selber davon zu überzeugen, glaubt unsere Patientin seit geraumer Zeit drei Köpfe zu haben. Jeder, der das erste Mal davon hört, weist dies freilich, statt ihr zu glauben, als eine absurde Fiktion zurück und erwartet, dass wir Ärzte entsprechend mit der Kranken verfahren. Wenn nun hier nichts anderes vorläge als eine harmlose Einbildung, so hätten wir uns gewiss schon längst darum bemüht, der Patientin diese Sicht nahezubringen und hätten ihr die ebenso hässlichen wie überflüssigen Köpfe mit einem Placebo entfernt. Leider aber wissen wir inzwischen, dass da mehr vorliegt als nur eine leicht wegerklärbare fixe Idee, mehr auch als eine korrigierbare Zwangsvorstellung. Wo nichts ist, ist auch nichts zu sehen, da muss man sich mit dem Nichts begnügen. Darüber sind wir uns alle einig. Aber wo nichts zu sehen ist, da kann durchaus etwas vorhanden sein. Und wo etwas vorhanden ist, da schafft es keiner, dieses Etwas aus der Welt zu schaffen. Wohl sieht auch ein Arzt für gewöhnlich, d.h. wenn er sich nicht seines fachlichen Wissens vergewissert, nur einen einzigen Kopf, nimmt er aber Mittel und Methoden seiner Wissenschaft hinzu, so kann er sich jederzeit leicht vom Vorhandensein zusätzlicher Köpfe überzeugen."

"Jederzeit leicht?" wiederholte ich und schauderte bei dem Gedanken. "O ja, leider", versetzte der Arzt und nickte dabei sonderbar bestätigend mit dem Kopf. "Leider sind die drei Köpfe eine unabweisbare Tatsache, mit der wir wohl fertig werden könnten, wenn es damit getan wäre, dass wir ihre Existenz nachwiesen." Dann stützte er die Ellbogen auf das vor ihm befindliche Tischchen mit den Krankheitsakten der Frau, legte die Hände an die Wangen, schloss die Augen und sagte: "Ich rede hier nur von dem, was sich nachweisen lässt, mithin also von Tatsachen. Alles, was ich Ihnen jetzt sage, lässt sich durch Experimente überprüfen. Und wenn es auch besondere Experimente sind, so lassen sie sich von jedermann ausführen, wenn er nur in die Kunst des Experimentierens eingeweiht ist. So kann ich z.B. die Patientin auffordern, der Reihe nach ihre drei Köpfe zu umfassen. Ich kann aber auch einen jeden der drei Köpfe in Bewegung bringen, nicht nur den sichtbaren. Wenn ich z.B. einen der unsichtbaren Köpfe in Bewegung versetze, so bemerke ich schon nach wenigen Augenblicken, wie auch der sichtbare mit in Bewegung versetzt wird. Ich kann aber auch den sichtbaren in Bewegung setzen, der dann die unsichtbaren mit in Schwingung versetzt. Wenn man die unsichtbaren Köpfe auch nicht sieht, so kann man sie dennoch durch den oszillierenden Energiefluss nachweisen. Hier z.B." - er reichte mir ein paar Blätter, auf denen Oszillationen aufgezeichnet waren - "hier sehen Sie, wie die Bewegung des sichtbaren Kopfes immer langsamer wird und verebbt, ja wie er hier sogar für eine Weile stille steht, um dann wieder Energie aufzunehmen, freilich unter Berücksichtigung einer gewissen Dämpfung. Wir haben es hier mit komplexen, untereinander in Wechselwirkung stehenden Schwingungen zu tun. All das lässt sich nicht nur objektiv nachweisen, es lässt sich auch berechnen. Freilich beschränken wir uns nicht auf solche, wie zur Befriedigung der Neugierde ausgerichteten Betätigungen, sondern versuchen, die dahinter befindlichen Mechanismen zu verstehen, um so eines Tages einen Heilprozess in Gang zu bringen. - Aus der Tatsache, dass der eine der beiden unsichtbaren Köpfe nur schwer beeinflussbar von den beiden anderen mitschwingt, zogen wir den Schluss, dass er sehr dominant sein müsse, was sich dann auch im Rahmen unserer Berechnungen bestätigte. Als wir eine ungefähre Übereinstimmung mit den Messwerten erreicht hatten, ließ es uns keine Ruhe, unsere Beschreibung weiter zu verfeinern. Sie mögen mich fragen, wozu wir das getan haben, wenn wir damit keine praktischen Interessen verbinden. Was soll ich darauf antworten? Natürlich haben wir Ärzte immer das Interesse, die uns anvertrauten Kranken gesund zu machen. Leider aber genügt nicht, diesen Wunsch zu haben. Die Wege, die bislang schon in der Heilkunst beschritten wurden und die vermutlich noch beschritten werden, zeigen es uns ganz deutlich. Oftmals hat zu Beginn eines Projekts niemand auch nur einen Pfennig dafür gegeben, was dann später von Erfolg gekrönt wurde. Im Gegensatz dazu hat man oft geglaubt, einen königlichen Weg zu besitzen und alles hat sich dann nur als ein betrüblicher Irrtum herausgestellt. Hinzu kommt noch, dass sich die menschliche Neugierde und das berechtigte wissenschaftliche Anliegen nicht gar so strikt auseinanderhalten lassen, wie es wünschenswert wäre. Auch die menschliche Eitelkeit und alle die oft blind in uns umherschweifenden Kräfte und Mächte lassen sich nicht so säuberlich von den sogenannten Tugenden trennen, wie es für das Zusammenleben wünschenswert wäre. In der Tat gibt es in der Wissenschaft viele Beispiele, wo am Anfang viel Ehrgeiz und Machtstreben und Eitelkeit und Hochmut mit im Spiel waren und wo dann später etwas Bedeutsames für die Menschheit heraussprang."

"So halten Sie die drei Köpfe für mehr als eine krankhafte Einbildung?" wandte ich dazwischen. Wenn mir auch nicht daran gelegen war, den jungen Mann durch zusätzliche Fragen in Bedrängnis zu bringen, so wollte ich jetzt doch alles wissen. Ich glaubte zwar, den jungen Mann so verstehen zu sollen, doch zweifelte ich, ob er sich nicht verstiegen hätte und er nun seine Ansicht zurücknähme oder doch präzisierte.

"Vielleicht macht Ihnen noch immer das Paradox zu schaffen, wie es möglich sein soll, dass etwas, was Gewicht hat, nicht zu sehen sein soll!" sagte der junge Arzt. Dabei richtete er sich auf, sich mit beiden Händen gewaltsam durchs Haar fahrend. Und sein Blick suchte in meinen Augen nach einem Haltepunkt. "Kann denn nicht auch, was keinen sichtbaren Raum einnimmt, gewichtig sein? Sehen Sie: hier läuft man Gefahr, die gefährlichsten Fehler zu begehen bei der Beurteilung solcher Dinge. Ein Kopf ist in allererster Näherung nur so etwas wie ein starrer Körper, aber er ist darüber hinaus noch viel mehr. Keineswegs ist es so, dass hypothetische Massen und Koppelungen allein das komplette Schwingungsbild bestimmten. So wissen wir, dass auch die Art der Bewegungsanstöße zur Differenzierung von Schwingungen beiträgt, ein Phänomen, das in der Physik noch unbekannt ist, und dass dieselben bei unserer Patientin mit unterschiedlichen Schmerzen verbunden sind. Doch selbst dieses Wissen ist noch nebensächlich, ja vielleicht sogar schädlich, wenn wir die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit nicht zu unterscheiden verstehen. Dazu aber gehört nicht nur, dass wir sie nicht durcheinander bringen, dazu gehört auch, dass wir nicht leichtfertig gewisse Ebenen, nur weil wir sie auf den ersten Blick nicht wahrnehmen, für inexistent erachten. Je tiefer und fundamentaler eine Ebene ist, umso schwerer ist es, sie zu erfassen, umso notwendiger aber ist sie auch und umso höher steht sie mithin im Rang. Deshalb haben auch schon die Denker der Antike gut daran getan, den Atem der Welt als das Erste und Notwendigste, mithin das Lebensnotwendigste, sich ganz zuunterst vorzustellen, untergeordnet unter das gesamte Sein und ihm doch zugleich den höchsten Rang zumessend. Dass die drei Köpfe nicht das Lebensnotwendigste sind, dass mit ihnen aber etwas überaus Wichtiges berührt wird, steht wohl außer Frage; schließlich haben wir es hier mit etwas Pathologischen zu tun. Dass es aber mit Lebensnotwendigem in Verbindung steht, darüber sollten wir keinerlei Bedenken tragen. - Was nun Masse und Gewicht angeht, so würde Sie freilich jeder Naturwissenschaftler auslachen, wenn Sie behaupteten, es gäbe Massen und Gewichte, die sich nicht sehen bzw. vermessen ließen. Jeder empirische Nachweis ist für ihn ein Sehen. Etwas anderes ist es allerdings, wenn wir uns fragen, ob die drei Köpfe zum Lebensnotwendigen gehören. Als wir unsere Untersuchungen begannen, ging es uns erst einmal darum, uns ein vorläufiges Bild zu verschaffen. Natürlich liegt es im Interesse der ärztlichen Kunst, den wahren Zusammenhang der Dinge aufzuweisen, d.h. alles aus der Genese der Krankheit heraus zu verstehen; aber das alles ist leichter gesagt als getan. Das ist ja das Letzte und steht somit am Schluss aller unserer Forschungen. Das Erste und Auslösende finden wir immer erst am Schluss.

Nehmen Sie nur das Bild eines Hauses! Vermag es uns nicht so Gegensätzliches zu vermitteln wie die Geborgenheit in unserem Selbst wie auch zugleich die Verletzlichkeit und Versehrbarkeit unseres Körpers? Doch um mich kurz zu fassen, sage ich: Je mehr sich einer in einem verletzlichen Körper aufhält, umso weniger fühlt er sich frei, umso mehr fühlt er sich eingeengt und eingesperrt. Denken Sie nur daran, auf wie viele Weisen man in ein Haus eindringen kann. Für gewöhnlich hat ein Mensch am Bild genug und verlangt nicht, dahinter zu schauen. Bei uns aber ist das anders. Einer meiner Lehrer, er war unter seinen Kollegen gemieden, sagte mir einmal: "Hüte dich davor, unbesehen zu einer Lehrmeinung deine Zuflucht zu nehmen, mag man sie auch für noch so stimmig halten. Nur darauf kommt es an, dass die Rückseite mit der Vorderseite übereinstimmt! Nun aber glaube ich einen Weg gefunden zu haben, der zur Rückseite führt."

Alles das hatte er gepresst und beinahe hastig vorgetragen, oftmals bei verschlossenen Augen, um dann wieder den Blick schweifen zu lassen, als wäre es nur der Anfang gewesen von etwas, was nur allzu lange schon in ihm gesteckt und er mühsam aus sich herausgewunden hatte und er sich irgendwo, weit entfernt von ihm, einen Haltepunkt suchte. Jetzt aber hielt er inne und schwieg. Mit zu Boden gehefteten Augen saß er da, dass ich Angst hatte, er könne jeden Augenblick vornüberfallen. Was ging in ihm vor? Wo hielt er sich jetzt auf? Was für Sätze bereiteten sich in ihm vor? Ungewiss, ob er auf ein Wort von mir wartete, das ihn in Gang brächte, oder auf meinen Aufbruch, wartete ich ab, bis ich den Eindruck hatte, als hätte er mich bereits vergessen. Und so nahm ich das Gespräch wieder auf, und indem ich ihn aus seinen Gedankenverstrickungen herauszuholen und auf das Praktische zu richten versuchte, sagte ich: "Vielleicht haben die Verwandten und die Bekannten es versäumt, der Frau rechtzeitig zu helfen." Der Arzt aber schaute mich nur groß an. Dann, an den Wangen sich packend, als könnte ihm sonst das Gesicht entgleiten, sagte er: "Wir haben zwar den Auftrag, einander zu helfen, doch fürchte ich, wir hätten nichts weiter ausgerichtet, auch wenn wir das Menschenmögliche getan hätten. Nicht dass Sie meinen, ich huldigte einem Fatalismus, aber es gibt wohl Dinge, die müssen über einen Menschen kommen, und nichts wäre törichter, als sie von unserem Verhalten abhängig zu machen."

Es war, als wäre er im Hinabtauchen, um von irgendwoher, aus der Tiefe etwas heraufzuholen, und ich müsste nur warten, bis er wiederkäme, als ich ihn fragte, woran er denn dächte?

"Woran ich denke?", versetzte er. "Muss man, um die Dinge zu verstehen, nicht Anteil an ihnen nehmen?" Er war wohl selber überrascht, dass ich ihn in seinen Vorbereitungen gestört hatte. Ich aber, ohne weitere Zeit verstreichen zu lassen, schob die nächste Frage nach. "Wie aber geschieht eine solche Anteilnahme?" fragte ich ihn.

"Gewiss nicht", sagte er, "indem wir nur messen und korrigieren und dann ausrufen: nun bist du gesund! Was für eine Anteilnahme, was für ein Theater wäre das doch! Längst ja haben wir es aufgegeben, uns um den Kranken zu bekümmern. Worum wir uns bekümmern, das ist ein Satz von Daten, die gemessen und verändert werden können. Und haben wir es so weit gebracht, so beglückwünschen wir unseren Patienten, weil er, wie wir ihm gern und tausendfach versichern, wieder gesund ist. Und doch ist er nicht gesund, auch wenn alle Sollwerte erfüllt sind. Wie, wenn es einen Weg gäbe, dem Patienten in Wahrheit und Wirklichkeit die Krankheit zu nehmen, indem wir sie uns ansteckten?"

"Gott bewahre!" rief ich aus, nachdem ich zuvor schon versucht hatte, einen Einwand vor zu bringen. "Zum Glück liegen solche Dinge nicht in unserer Macht."

Etwas in mir begann jetzt gegen diesen jungen Mann zu rebellieren, dessen ohnmächtiger Ehrgeiz mir immer unerträglicher wurde. Oder hatte er nicht eben zuvor noch auf die Messkunst geschworen und mir stolz die Messergebnisse gezeigt und nun setzte er sich darüber hinweg, als hätte er mich nur in die Irre führen wollen?

Der aber, fast als hätte er meine Gedanken erraten und suchte nun mein Missverständnis aufzuklären: "Mein Herr", sagte er, "wir mögen uns noch so sehr schmeicheln, was für großartige Entdeckungen wir in der modernen Medizin gemacht haben, in unserem Fall gibt es nicht den leisesten Anlass, auf etwas stolz zu sein. Auch ich habe noch vor kurzem geglaubt, um die Natur im Innersten zu verstehen, käme es nur darauf an, die bei den Messverfahren anfallende Datenmenge genauestens zu verstehen. Die Kräfte, so habe ich in meiner Doktorarbeit geschrieben, die Kräfte haben wir ausfindig gemacht, die uns den Weg dahin weisen. Müsste ich heute dazu eine Stellungnahme abgeben, so würde ich sagen: wir untersuchen die Natur zwar mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln; doch dass wir die Natur recht verstehen, davon kann niemals die Rede sein. Ein eitler Dünkel ist es, ein Trick, sich groß zu tun unter denen, die es gelernt haben, sich glänzend über Wasser zu halten. Ja, walte das Schicksal, dass wir nicht dazu verdammt sind, die Natur einmal restlos zu verstehen!"

Du hast Recht, dachte ich, unwillig, weil mir der Arzt zu schwarz in die Welt hinauszusehen schien. Ganz davon zu schweigen, dass er jetzt, wie mir schien, sich zu widersprechen begann. Und ich schaute mich um in diesem seinem Zimmer, dem ich zumindest eine Mitschuld an all dem Elend beilegen zu müssen glaubte. Ja, eine Gefängniszelle hat mehr Komfort als diese deine Behausung, sagte ich mir. Da sitzt der Herr Doktor in seiner Zelle wie ein Gefangener. Ein Fensterchen in unerreichbarer Höhe: das genügt ihm, damit er etwas sehen kann wie auch, um das Bedürfnis nach Licht in ihm zu erdrücken. Und selbst ein die Gemütsruhe dämpfender Gucker in der eisenschweren Gefängnistüre fehlt nicht, damit man ihn von draußen beobachten kann. Und was das Mobiliar betrifft, das in der Zelle angebracht ist! Da gibt es die beiden Stühle und eine Couch mit einem Tischchen, alles zusammengedrängt und übereinander geschichtet; vermutlich für einen Ramschpreis erstanden. Bedarf es da noch eines Blickes in das Heft, das auf dem Tischchen liegt, um sich davon zu überzeugen, dass alle Krankengeschichten in Katastrophen enden!

"Junger Mann", sagte ich nun, "auch wenn mich bereits die ersten Boten des Alters erreicht haben, so bin ich noch immer kein Freund der Melancholie. Muss auch das Ende der Zeit einmal auf uns zukommen, so flehen wir es gleichwohl nicht herbei! Rufen wir bessere Geister auf, Geister der Jugend und der Hoffnung, und trösten wir uns damit, dass es für unser Verstehen, niemals ein Ende gibt!"

"Wenn Sie den Mut haben, sich selbst zu verdammen", versetzte der Arzt, "bitte schön! So gehen Sie den Sachen auf den Grund! Für mich als Arzt gibt es nur zwei Wege: Entweder ich ziehe es vor, ein gewöhnlicher Arzt zu sein, schaue mir die Ausdrucke der Apparate an und verteile meine Ordonnanzen: dann bleibt mir der Abgrund verborgen; oder ich gehe den Sachen auf den Grund und gehe selber damit zu Grunde. Für mich gibt es nur die beiden Wege: entweder man zieht es vor, Arzt zu bleiben und ist es nicht - oder man entbirgt den Abgrund und bringt sich ihm zum Opfer! Nur als Scheinarzt vermag man am Leben zu bleiben; andernfalls ist man zwar Arzt, aber nur für einmal.

"Mag sein", erwiderte ich, "dass es einiger Größe bedarf, um zu erfahren, dass man zum Scheitern bestimmt ist. Doch wozu taugt eine solche Größe? Nehmen wir uns da nicht etwas zu wichtig? Mag ein Empedokles sein Heil im Ätna suchen. Kann man es nicht auch anderswo suchen, und sei es auch nur auf Gut-Glück? Ist es nicht besser, etwas zu wagen, als sich nutzlos aufzureiben? Und wenn Sie Ihrer Patientin etwas vorgaukeln würden! Auch etwas vorgaukeln, ein Märchen erzählen, selbst eine gefällige und geistreiche Biografie für Ihre Patientin erfinden, ist ja nicht verboten! Im Gegenteil, viele Menschen warten nur darauf, da sie unfähig sind, sich selber zu Mitwissern ihrer Biografie zu machen. Die Hauptsache bleibt allemal das Ziel."

"Das alles haben wir schon versucht", versetzte der Arzt. "Selbst Unehrenhaftes und eines Wissenschaftlers Unwürdiges haben wir schon versucht. Jeder Möglichkeit sind wir nachgegangen und jeden Vorschlag haben wir aufgegriffen. Und wenn Ihnen etwas einfällt, so sagen Sie es mir. Sie dürfen sicher sein, dass wir Ihren Vorschlag sorgfältig prüfen und, falls er erfolgversprechend ist, in unsre Therapie einbeziehen."

"Ich denke da an die beiden Angehörigen der Frau", sagte ich, "ob man sie nicht in Verbindung bringen kann mit den beiden zusätzlichen Köpfen? Da ist der Mann, der Vater. Vielleicht hatte er einen sehr bestimmenden Charakter. Dann könnte man den schweren Kopf mit ihm in Verbindung bringen. Und ebenso ließen sich gewiss Wege finden, die auch ein neuerliches Verhältnis zum Sohn ermöglichten. Man müsste nur darauf achten, dass es die Frau als eine Bevorzugung und als eine Auszeichnung empfände, so in die Nähe zu ihren Lieben gebracht zu werden; dann könnte dies eine beruhigende Wirkung auf sie hervorrufen."

"O ja", versetzte der Arzt. "Wir haben uns in dieser Interpretation bereits versucht, indem wir von den drei Köpfen als von einer Familie gesprochen haben. Vom Vater als ihrem Oberhaupt an der Spitze. Neben ihm die Mutter. Zwischen beiden das Kind. Zwischen dem Vater und der Mutter haben wir einen besonderen Austausch gefordert. Manchmal ist es der Vater, von dem eine Bewegung ausgeht, dann wieder ist es die Mutter, die sagt, was getan werden soll. Dann aber haben wir noch das Kind, den Kindskopf, der immer wieder die Beziehungen durcheinander bringt. Ich will nicht sagen, dass es sie stört; doch bedarf es einiger Fähigkeiten der Vermittlung, wenn es nicht weiß, was es will und wenn es dann eine Eigenständigkeit zu Tage bringt, wenn Vater und Mutter einmal untereinander uneins sind. Andere Kollegen haben darüber hinaus noch den Vorschlag unterbreitet, dass Vater und Mutter sich um des Wachstums des Sohnes willen mit der Zeit immer kleiner machen und verschwinden müssten. Wieder andere haben die Köpfe als eine Art Füße gedeutet in Beziehung auf das alte Rätsel der thebanischen Sphinx. Doch es wäre zu weitläufig, alle die Überlegungen und Vorschläge vorzutragen. Wir haben es dann auch mit einer noch allgemeineren Darstellung versucht, doch auch damit haben wir uns nur in Sackgassen begeben.

Nur einen Vorschlag möchte ich noch erwähnen, damit Sie sehen, wie viel Forschungsansätze uns vorliegen. Nach diesem stellt der Vaterkopf die Einsamkeit des Verstandes dar. Der Verstand nimmt für sich in Anspruch, die Rätsel des Daseins zu lösen. Weil ihm aber eine absolute und endgültige Lösung misslingt, wird er immer unruhiger und unruhiger. In dieser wachsenden Unruhe entdeckt er als seinen Schatten die Angst. Wäre der Verstand nicht so anmaßend, die Angst könnte sich nicht so bedrohlich entwickeln. Manche behaupten sogar und sie haben vermutlich dabei Recht, dass, gäbe es den Verstand nicht, auch die Angst nicht vorhanden wäre. Der dritte Kopf würde dann die Geborgenheit und den Schutz bei der Mutter garantieren. Demnach gäbe es also nur die Wahl zwischen der Geborgenheit bei der Mutter und dem Ausgeliefertsein an die Angst. Das ist nun zwar alles schön und gut gesagt; nur hat es uns bislang nicht weitergebracht. Und glauben Sie mir nur: für mich gibt es nichts Hässlicheres, als wenn ein Arzt seinem Patienten Märchen vorgaukelt, zumal wenn sie dann noch nicht einmal anschlagen. Wir brauchen keine Märchen, wir brauchen die Wahrheit. Läge für mich in irgendeinem Märchen auch nur eine Chance auf ein glückliches Ende verborgen, ich hätte es versucht. Und mögen auch morgen schon, wo heute noch erst drei Köpfe sich hin und her bewegen, 30 zu wanken beginnen, was tut es! Wenn die Theorie in Einzelheiten auch noch falsch sein mag, so zwingt sie uns doch auf den Weg der Wahrheit."

Unterdessen war mir aufgefallen, dass der Kopf des jungen Arztes immer stärker und unheimlicher zu wackeln begonnen hatte, dass ich es vorzog, die Behausung möglichst schnell zu verlassen. "Genug!" rief ich aus, indem ich mich erhob. "Genug! Wenn ich noch eine letzte, eine allerletzte Frage an Sie richten darf", sagte ich und bückte mich bereits unter der Tür, "so gestatten Sie mir die Frage, ob es wahr ist, dass Sie mit bloßen Augen die drei Köpfe zu sehen vermögen!" "Ob ich die drei Köpfe zu sehen vermag?", wiederholte der Arzt, indem er sich an den Kopf fasste, um ihn wieder zur Ruhe zu bringen. "Jeder Geschulte sieht sie! Allein, was für eine Schulung, was für Konsequenzen, mein Herr! - Keiner", so schrie es nun plötzlich aus ihm heraus, "keiner sollte über die Erde wandeln, ohne das Gefühl zu bekommen, dass es sich gelohnt hat, diesen Winkel der Welt zu betreten. Doch was ist es, das du erlebst? Heute scheint dir alles noch fest und bestimmt und für ewige Zeit; und morgen erwachst du und alles gehört der Vergangenheit an. Das aber ist der Mensch: Der Mensch mit den drei Köpfen! Und wenn ich zuvor von einer pathologischen Erscheinung gesprochen habe, so möchte ich mich jetzt dahingehend korrigieren, dass ich behaupte, dass eben in dieser Frau der eigentliche zutiefst in uns verborgene Mensch zum Vorschein gekommen ist. Das ist die Wahrheit. Und wenn es darüber hinaus noch eine Wahrheit gibt, so die, dass diese Frau meine Frau ist und dass ich dazu berufen bin, an all ihrem Leid teilzuhaben. Übergib mir die beiden unsichtbaren Köpfe, dass ich sie von nun an für dich trage! So werde ich zu ihr sagen." Und die flachen Hände vom Gesicht ziehend, begann er sich plötzlich mit den Fäusten zu schlagen. Ein wenig Erleichterung mochte es ihm bringen, die vom Schauen müde gewordenen Augen so zu traktieren. Dann aber war ich davon. Hatte mich zuvor noch sein närrisches Gebaren zu heftigem Widerspruch gereizt, so überwog jetzt ein schauderhaftes Mitleid.

Lange schon hatte ich das Zimmer verlassen, da sah ich ihn noch immer, wie er dasaß, die Hände bald flach und dicht gegen das Gesicht gepresst, bald mit den Fäusten dagegen schlagend, ohne dass es ihm gelungen wäre, das Bild der drei Köpfe zu verwischen.

9. Die Fürstin

Schwerkrank lag meine Frau danieder, so schwer, dass ich bereits die Hilfe der Ärzte aufgegeben und auch noch den letzten aus ihrer Gilde verjagt hatte. Auch meine Bedienten hatte ich entlassen, da sie mir zu nichts mehr nütze schienen. Ich aber hatte mich auf den Weg gemacht, nach einer Heilpflanze zu suchen, die mir noch helfen könnte; doch war es vergebens. Kein einziges Exemplar hatte ich entdeckt. Und da es nun schon gegen Abend ging, ich befand mich tief drinnen im Wald, stieg ich auf einen hohen Baum, ob sich mir eine andere Gegend zeigte, wo ich meine Suche morgen mit mehr Erfolg fortsetzen könnte. Ich war gerade droben angelangt, als mich die Rufe einiger junger Mädchen erreichten. Sie riefen mir zu, wenn mich nach etwas Außerordentlichem verlangte, so sollte ich nur rasch zu ihnen herab kommen. Ich würde es gewiss nicht bereuen. Also stieg ich den Baum wieder herab und folgte ihnen.

Wir waren nur wenige Schritte gegangen, da öffnete sich das Gelände. Und eine Wiese tat sich vor uns auf, mit Streuobst bestanden, über welche abendliche Nebelstreifen dahin wallten. Weiter hinten, etwas erhöht, dem Waldrand zu, zeigte sich ein Schlösschen. Viele Leute hatten sich dort eingefunden, Männer und Frauen: alles vornehm gekleidete Personen, in festlichen lilafarbenen Roben, die Frauen mit lilafarbig aufgeblühten Schwertlilien in Händen, die wie Kerzen aus lilafarbenen Schalen leuchteten. Aus dem Schlösschen trat ein Herr, auf den alle schauten. Ohne eine Miene zu verziehen, in stoischen Gleichmut kam er daher. Auf der Brust trug er ein goldenes Kreuz. Es war aber viel zu schwer für ihn, so dass er, auch wenn er es mit den Händen von sich weghob, nur gebeugt dazustehen vermochte.

"Das ist der Fürst", flüsterten die Mädchen. "Ihm gehört das Schlösschen. Er ist es auch, der heute, am Jahrestag, zusammen mit seiner Gemahlin, der Fürstin Olympia, zur Soiree einlädt. Passen Sie gut auf! Denn wenn es ein Weltwunder gibt, das nichts neben sich duldet, so findet man es hier!" - Nach diesen Worten eilten sie auf eine Schar gleichaltriger Mädchen zu, die alle in lila Kleidern und mit Kränzen von lilafarbenen Rosen geschmückt waren. Dann, nachdem sie dem Fürst das goldene Kreuz abgenommen und es vor den Eingang gelegt hatten, begannen sie gemeinsam, die Grasnarbe abzutragen, die auf dem Gelände unterhalb des Schlösschens zu sehen war. Es war keine schwere Arbeit. Wie Stücke eines Flickenteppichs ließ sich das Gras ablösen und beiseite tragen. Als dies besorgt war, trat der Fürst vor die von den Mädchen freigelegte Fläche, nahm einen Apparat zur Hand und brachte, während das Schlösschen im Boden versank, ein Gebäude zum Vorschein, das sich als ein Mausoleum entpuppte. Wie eine Pflanze im Zeitrafferfilm hob es sich aus der Erde heraus und wuchs empor, bis es seine volle Größe erreicht hatte. Dann, es war jetzt so groß, dass von dem Schlösschen nichts mehr zu sehen war, öffnete der Fürst das Portal und trat ein. Die Leute aber, die sich um ihn versammelt hatten, folgten ihm in gemessenem Abstand. Da ich nicht zu den Geladenen gehörte, so blieb ich draußen stehen und besah mir das Gebäude, einen Rundbau in antikisierendem Stil. Von der Gesamtanlage bis hin zu den kleinsten Einzelheiten erschien es mir als ein unübertreffbares Wunderwerk. Man musste nur ein wenig den Platz verändern, ja, mitunter genügte schon eine kleine Drehung des Kopfes, um die Wände zum Verschwinden zu bringen und ins Innere zu schauen.

"Ja, mein Herr", sagte der Fürst", der plötzlich wieder neben mir stand sah, "da meinen die Leute, sie wüssten, was es mit diesem Bauwerk auf sich hat. Mag sich der Tod auch aussuchen, was immer ihm gefällt, so gibt es doch ein von ihm unberührbares Leben." So denken und sagen sie. Und auch ich, als ich das Bauwerk in Auftrag gab, dachte einstmals so.

Sie aber, was denken Sie?" wandte er sich plötzlich an mich. "Was halten Sie davon, das Sterbliche zu ersetzen, z.B. mittels der Errungenschaften der modernen Technik? Den Leib ersetzt man durch einen unsterblichen Leib, die Stimme durch einen unsterbliche Stimme und wo einst das Auge gewesen, setzt uns die moderne Optik eine Anlage ein, die besser als jedes natürliche Auge alles zu sehen und zu erkennen vermag."

Nach diesen Worten hielt er inne, und zwar nicht, weil er auf eine Antwort gewartet hätte, sondern um eine Seitenwand zum Verschwinden zu bringen, die bislang den Blick ins Innere versperrt hatte.

Da aber sah ich seine Gemahlin, die Fürstin. In einem lila Gewand, einem Ball- und Jagdkleid, mit zarten Bändern und Rüschen sah ich sie liegen auf einer Liege, ruhig ausgestreckt, fast wie in der Sommerfrische. Und selbst ihr bereits etwas ergrautes, schütteres Haar, war wunderbar belebt durch ein paar violette Schleifchen und trübte nicht im Mindesten den Glanz ihrer Erscheinung. Neben ihrer Liege war noch eine zweite Liege aufgestellt, die für den Fürsten bestimmt war.

"Es gehört mit zum Erstaunlichsten, was mir das Leben zu bieten hatte", fuhr der Fürst fort, nachdem wir eine Weile ins Innere geschaut hatten und ich mich des peinsamen Eindrucks nicht zu entledigen vermochte, den Fürsten von seiner Gemahlin abzuhalten, "es gehört mit zum Erstaunlichsten, dass diese so einzigartige Frau ausgerechnet mich geheiratet hat, wo es gewiss noch manch einen gegeben hätte, der bedeutend mehr Besitz und Talent mitgebracht hätte als ich, ganz zu schweigen von den Untiefen meiner Liebe. Wenn ich darüber nachsinne, wird mir klar, und ich schäme mich darüber, dass sie sich in mir so sehr getäuscht hat. Zumal, wenn ich bedenke, wie schlecht, ja wie elend und gemein ich ihr zur Seite gestanden habe, als es mit ihr zu Ende ging. Unerträglich ist es mir, daran zurück zu denken. Oder hatten wir uns nicht einmal Liebe und Treue geschworen bis auf den Tod? Hatten wir nicht ausgemacht, zusammen sterben zu wollen? Und dann kam der Tod und ich blieb feige zurück? Ah ja, einmal zuckte es noch in mir, als ich sah, wie sie so schrecklich um Atem rang. Dann aber habe ich den Dingen ihren Lauf gelassen. Feige, wie ich bin, ja, ebenso feige habe ich sie ihrem Geschick überlassen.

Jetzt, da, sehen Sie!" rief er kurz darauf aus, indem er auf vier Damen wies, die rings um die Fürstin Platz genommen hatten und nun auf ihren Streichinstrumenten ein Stück begannen. Jetzt spielen sie ihr auf. Es ist das Lieblingsstück, dessen Thema ich ihr in den letzten Tagen ihres Lebens immer wieder auf dem Piano intoniert habe: ein Thema, das sie beschäftigte und bewegte. Mitunter waren die Ausbrüche so leidenschaftlich bewegt, dass ich mir sagte "Jetzt entscheidet es sich, ob sie wieder gesund wird und weiterlebt oder erschüttert zusammenbricht. - Dieses Stück spielen sie jetzt."

Er entschuldigte sich, dass wir nichts hörten, sondern nur die Bewegungen der Saiten streichenden Hände sähen; er habe den Ton eigens ausgeschaltet, weil ihn dies zu sehr angreifen würde; aber schon das Bild sei für ihn fast zu viel, sagte er, indem er den Blick von der Gruppe abwand; auch noch die Töne zu hören brächte er nicht übers Herz.

"Als ich mir dieses Stück von den vier Frauen, es sind die intimsten Freundinnen meiner Frau, als Abschiedsstück bei der Leichenfeier erbat", fuhr er sodann fort, "lag mir im Sinn, meine Frau durchs Tor des Lebens zurück zu führen. Beweis sollte mir sein, dass die Fürstin etwas ganz und gar Unvorhergesehenes und Außergewöhnliches täte. Vielleicht mit einem Wort, das der Fülle dieser Musik entspräche, mit einem Wort außerhalb aller in den Wörterbüchern stehenden Wörtern, nur für mich verstehbar. Damals war mir in der Tat, ich stand dicht bei ihr, als habe sie mich noch einmal angeschaut; und als hätte sie mir, zusammen mit den Tönen , sehr leise, aber dennoch gut vernehmbar zu mir gesagt: "Komm, mein Liebster!"

Plötzlich holte er eine Art Operngucker aus der Tasche - er war so klein, dass man ihn in der hohlen Hand hätte verschwinden lassen können - und reichte ihn mir. "Damit, mein Freund, sieht man nicht nur schärfer und genauer, damit kann man auch jedes gesprochene Wort verstärken, so laut man es nur haben will. Als ich das Gerät das erste Mal benutzte, war ich sehr davon angetan. Alles war ja so schön, so überaus schön. Plötzlich aber fasste mich ein Grauen und ich sprach zu mir: Ist es denn schön, sich durch solche Raffinessen dafür entschädigen zu lassen, dass es für dich keine Schönheit mehr gibt? -

Ja, mein Freund", fuhr er nach einer Weile fort, "fass das Unfassbare, wenn du es vermagst! Es ist ein Fass ohne Boden. Und wäre ich auch ein Orpheus und ich hätte mich zum Beherrscher der Unterwelt auf den Weg gemacht, ich hätte nichts erreicht als die Qual des sicheren Wissens, in Ewigkeit nichts mehr zu erreichen: nicht einmal mehr einen Kuss, nicht ein einziges Küsschen alle Jahre oder auch nur in jedem Jahrzehnt eines! Dabei hatten wir uns geküsst und uns ewige Treue gelobt. Nun standen wir einander gegenüber, der eine hier, der andere dort. Vor allem das plötzliche Verstummen war grauenhaft. Einmal nichts zu reden, wenn man gemeinsame Unterhaltung pflegen könnte, ist weiter nicht schlimm. Das nenne ich holdes Schweigen. Aber nicht mehr mit einer Rede beginnen zu können, weil keiner mehr da ist, der zuhört, das ist, wie wenn einer da ist, der nur darauf wartet, dir den Mund zuzudrücken, sobald du dich anschickst zu einem einzigen Wort.

Was wissen wir auch schon vom Tod? Dass du von nun an bist, als wärest du nie gewesen, entzogen dem Fluss der Zeit, entzogen der Geschichte, an Land geworfen wie ein Fisch, dem Nichts preisgegeben. Nenn es Schlaf, nenn es Nichts, nenn es ein traumloses Schlafen: wie immer du es benennen magst, es wird dir kaum Beruhigung verschaffen. Denn was ist ein Schlaf ohne Erwachen in alle Ewigkeit, was ein Traum, der nirgends eine Fluchttüre aufweist, was ein Raum, in dem du wie in einem Gefängnis verweilst, ohne je mehr daraus heraus zu kommen? Mag auch ein Verstorbener Schluss gemacht haben, über sein Schicksal nachzudenken, für einen Zurückgebliebenen sind alle diese Fragen unabwägbar schrecklich, zumal wenn er einen Menschen verloren hat, der ihm sehr viel bedeutet. Am allerschrecklichsten aber sind dir dabei deine Freunde, die Bekannten und die Verwandten, die dich nicht gelten lassen wollen, wenn du nicht unverzüglich in ihren Alltag zurückkehrst. Für sie gibt es ja auch keine Veränderung. Sie leben gut und merken es nicht, wenn dir dein Liebstes abhandenkommt. Es fehlt ihnen ja nichts; ihr Tagewerk geht so ehrenwert weiter wie bisher. Aber auch wenn man dir ernstlich beteuert, dass einen kaum etwas so schmerzt wie der Heimgang deiner Liebsten, so hat man sich doch in so schöner Gewalt, dass man schon nach fünf Minuten sich nicht anders benimmt, als wäre nie etwas geschehen. Um mich nicht so schmerzlichen Lügen auszusetzen, die mir mit dem Tod der Fürstin bevorstanden, beschloss ich, tätig zu werden.

Ich erinnere mich noch gut an jenen Wintertag, an dem geschehen war, was über uns alle verhängt ist, und was wir dennoch ein Leben lang vorweg zu bedenken uns scheuen. Ich stand am Fenster und schaute nach draußen, während ein leiser Schnee herniederging. Mein Herz war beklommen. Noch niemand wusste davon, dass mir meine Liebste gestorben war. Der Gedanke, von nun an noch etwas Brauchbares oder Schönes zu Stande zu bringen, schien mir sinnlos, ja widerwärtig. Und wenn es den Beifall der ganzen Welt hervorriefe, müsste ich es dann nicht hassen, wo ich es meiner Liebsten nicht mehr zeigen konnte. Sie allein war ja der Hort, zu dem ich alles, was mich bewegte, brachte. Jetzt aber lag sie neben mir auf dem Totenbett. Sie hatte ausgekämpft. Mit derlei trüben Gedanken stand ich am Fenster, wie lange, ich weiß es nicht: als mir plötzlich war, als stünde sie neben mir, den Arm mir auf die Schulter gelegt, und schaute mit mir hinaus. Ganz leise, ohne mich umzusehen, ja beinahe ohne mehr zu atmen, stand ich da, um nur ja den Eindruck nicht durch eine falsche Bewegung zu zerstören. Wie oft hatten wir nicht auf diese Weise nebeneinander gestanden! Mitunter aber, wenn wir ein wenig geplaudert hatten, konnte auch geschehen, dass wir noch ein Lied miteinander sangen.

O ja, Olympia konnte gut singen und sie sang sehr gern. Damals nun kam mir der Gedanke, mir meine Liebste nachbauen zu lassen, um sie mit diesen Liedern zu begaben. Von vielen der von ihr meisterlich gesungenen Lieder hatte ich ja Aufnahmen verfertigen lassen. Dann würde sie mir wieder ihre Lieder singen. Ja, solch ein Nachbau sollte mir meine geliebte und teure Fürstin wieder ins Leben zurückbringen. Alles sollte so gut und so lebensecht sein, dass ich über der Erscheinung den Verlust vergäße und, wer mochte es wissen, sie zu mir ins Leben zurückzöge. Mit einer Puppe, die Lieder sang, war es freilich nicht getan. Was ich brauchte, war keine technisch perfekte Puppe, die meiner Frau ähnlich sah, was ich brauchte, war meine Braut selbst, das war die Fürstin. Wiewohl ich voraussah, dass mir dies nie gelingen würde, hielt ich dennoch trotzig an meinem Plan fest. Alles gedachte ich zu versuchen, um nur dieses Ziel zu erreichen. Und so kam denn nach und nach auch der Bau dieses wundervollen und raffinierten Gebäudes mit all dem, was Sie hier sehen, zustande."

Drüben begann jetzt die Fürstin zu singen. Ich konnte sie hören, denn der Fürst der mir den Operngucker überreicht hatte, hatte ihn schon wieder an sich genommen und so angestellt, dass man jetzt alles, was drüben gesungen wurde, laut hören konnte. Als ich eine Weile zugehört hatte, nahm der Fürst abermals das Wort und sagte: "Ja, mein Herr! Was immer möglich war, der Vergänglichkeit zu entreißen, habe ich der Vergänglichkeit entrissen. Selbstverständlich gehörte auch ihre Stimme dazu, es ist ihre echte und treue Stimme, wenn sie jetzt auch nicht mehr im spontanen Lebensvollzug erklingt.

Doch was bekümmert das die Leute? Sie merken es ja nicht. Sie merken nichts, so lange ich Willens bin, dafür den Preis zu bezahlen. Diesen Bau mit all den Raffinessen habe ich anfangs um meinetwillen gebaut. In der Hoffnung, noch das Unmögliche möglich zu machen. Nun aber erfüllt das Schauspiel seinen Zweck für die Leute meiner Gesellschaft. Sie haben jetzt etwas, was sie ablenkt und zufrieden stellt, weil es ihnen vorgaukelt, als wäre nie etwas Schreckliches geschehen. Sie meinen, alles wäre wie früher, als hätte ich der Fürstin dieses Schlösschen als Ausgleich zu ihrer schweren Krankheit geschenkt. Für mich freilich ist nichts wie früher. Immerhin aber muss ich nun nicht auch noch die Gleichgültigkeit der Menge ertragen.

Wenn Sie nur wüssten, wie sehr ich auf diese Gedenktage warte und wie sehr ich sie zugleich befürchte", fuhr er nach einer Weile fort. "Einerseits sehe ich die Gestalt meiner Frau wieder und bin in der Lage, ihre Stimme zu hören, wenn mich die Begierde danach überkommt, und andererseits weiß keiner besser als ich, dass ich nur immer noch unglücklicher aus diesem Festtag hervorgehe. Das Beste, was mir noch zu erreichen bleibt, das ist, dass ich bald schon nicht mehr in der Lage sein werde, lebendiges Unglück von totem Glück zu unterscheiden. Ah, wie hass ich doch den Schein der Täuschung. Die Tage, wo ich bei ihr gewesen bin und mit ihr gesprochen habe, sind vorbei. Nur zu genau weiß ich, dass nach den Unterhaltungen, die wir einst geführt haben, keine mehr folgt. Und wenn ich mir manchmal auch die Frage vorlege, ob wir nicht auch jene früheren Unterhaltungen nur zum Schein geführt wurden, weil schließlich alles, was uns betrifft, niemals ins Fundament des Seins eindringt und dort ein Bleiberecht erlangt, ein Scheingefecht, um die schlimmste Bitterkeit von mir abzuwenden, so habe ich mich doch ein für alle Mal dazu entschieden, niemals ihr letztes Wort zu bezweifeln. Nur dies, ja nur dies habe ich mir noch nicht ausreden lassen und ich werde es mir auch von niemandem auf der Welt ausreden lassen, dass ihre Seele lebendig ist und lebt, wenn sie mir das letzte Wort zuruft. Wenn sie mir zuruft "Komm Liebster!", dann ist sie es, die mich ruft. Und müsste ich mich auch zu Grunde richten, niemals werde ich auch zulassen, dass ich selber mir bei diesem letzten Wort auflauere und mich der Selbsttäuschung überführe. Reden Sie mir nichts dagegen, kein Wort!" sagte er drohend. "Lieber würde ich die Hand gegen mich erheben!"

Inzwischen war es stockdunkel geworden. Die meisten Besucher hatten das Mausoleum schon wieder verlassen. Nur noch das erleuchtete Innere mit der Fürstin war zu sehen. Nachdem nun auch noch die Allerletzten sich entfernt hatten, nahm der Fürst noch einmal das Wort und sagte: "Das gesamte Leben über habe ich mich auf diese Zeit vorbereitet, die mich jetzt umlagert, ohne dass es mir zum Bewusstsein gekommen wäre. Hat mir diese Vorbereitung etwas genützt? Nimmermehr. Das gesamte Leben über haben wir uns gefragt, ob wir etwas anderes sind als Gespenster, und haben es für unmöglich gehalten. Jetzt aber wissen wir es."

"Komm, mein Liebster!" so hörte ich jetzt noch die Stimme der Fürstin. Sie stand, während die Rollläden bereits herabliefen, dem Fenster zugewandt, als suchte sie draußen im Dunkeln noch nach der Gestalt des Fürsten. Für einen Augenblick zauderte der. Dann aber, sich mir entziehend, "Ich komme bald, Liebste!" gab er ihr zur Antwort und eilte davon. Ich aber sah noch, wie er auf die Mädchen zuging, Tränen in den Augen, und einem jeden der Mädchen ein lila Fähnchen ansteckte. Sie waren dabei, die Grasnarben wieder an den rechten Fleck zu bringen. Ich aber eilte durch die Nacht, um möglichst schnell wieder nach Haus zu gelangen.

 

10. Vorlesung

Allgemein war man der Ansicht, das neuerbaute Auditorium, in welchem der berühmte Professor R. die Eröffnungsrede halten sollte, sei eigens von ihm erbaut worden. Sein überragender Geist habe mit Hilfe göttlicher Mächte, den kunstvollen Kosmos dieser unaufhaltsam nach oben strebenden Ordnung geplant und zur Entstehung gebracht. Und wenn er erst die große Eröffnungsrede halte, so werde sich dies alles auch aufs Schönste offenbaren. Das war, wie gesagt, die allgemeine Ansicht und Erwartung vom ersten Spatenstich an. Und als sich dann das Gebäude im Bau befand und man sich durch all die vielen Schwierigkeiten hindurch zu winden hatte, die ein solches Riesenwerk mit sich bringt, so wäre es wohl niemals gelungen, es pünktlich zum gesetzten Termin zur Vollendung zu bringen, ohne diese grenzenlose Zuversicht. Nun stand es da und alle Welt fieberte der Eröffnung entgegen.

Schon am Vorabend des Festtages hatten sich die Leute von überallher aus der Stadt eingefunden, um morgens in aller Frühe eingelassen zu werden. Denn wiewohl auch da und dort die Frage aufgetaucht war, ob auch alle ins Auditorium hereinpassten, so war es doch kaum die Angst, die die Leute schon so zeitig hergetrieben, vielmehr waren es die Vorfreude und die Erwartung, später einmal sagen zu können, man sei mit dabei gewesen, als dieses Ereignis stattgefunden. In der Vorfreude des Herzens waren sie zusammengekommen, nun endlich alles zu erfahren, was dem Menschengeist bislang verborgen geblieben und was nun offenbar werden sollte in ihrer Zeit. Keiner zweifelte dran, dass Professor R sich in der Sprache eines jeden, für jedermann leicht verständlich und zugleich auf unübertreffliche Weise an alle wenden und alle erreichen würde: Jung und Alt, Reich und Arm, die Starken und die Schwachen, die Klugen wie auch die Einfältigen des Geistes; und alle, davon waren sie zutiefst überzeugt, würden ihn auf ihre Weise verstehen. Was sie alle schon immer bewegt hatte und was sie hatten wissen wollen, und selbst das, wovon sie nicht wussten, dass sie es nicht wussten, was sie aber wissen müssten, um für immer von Sorgen und Kümmernissen frei zu sein: alles das würde er ihnen erschließen, dass sie das Leben preisen könnten für alle Zeit.

Versteht sich, dass die Nacht im Austausch solcher Erwartungen wie im Flug dahin ging. Kaum war das Heer der Sterne so weit gekommen, dass der Morgenstern die Ankunft des Tages verkündete, da waren auch schon die Türhüter und Türsteher zur Stelle, die ihre Arbeit aufnahmen. Wunderbar war es mit anzusehen, wie geräuschlos und würdevoll der Einlass von statten ging. Gemeinsam hatte man die Nacht verbracht, gemeinsam machte man sich nun auch auf den Weg in das eröffnete Gebäude. Stets genügte ein Blick der Kontrolleure auf den Besucher - und er war auch schon eingelassen. So ruhig und stetig ging anfangs alles dahin, dass man leicht aus der Länge der vor einem Stehenden den Augenblick errechnen konnte, bis man selber an die Reihe kam und man den Einlass erreichte.

Als nun der Morgen zu verstreichen begann, geschah es, dass weitere Leute herbeiströmten, zuerst aus den benachbarten Gemeinden, dann aus den anliegenden Städten und Provinzen, endlich aber aus aller Herren Länder, von überall her schienen sie zu kommen, Tausende und Abertausende der verschiedensten Gruppen, Sprachen und Völkern, ohne dass einer hätte sagen können, wie das zu geschehen vermochte. Nur dies war jetzt immer deutlicher zu ersehen, dass die Zeit knapp würde bis zur Eröffnung der Feierlichkeiten, wenn der Zustrom so anhielt. Zu groß und zu unübersichtlich, viel zu wenig vorhersehbar war die Menge der noch Abzufertigenden, als dass man eine genaue Angabe oder auch nur eine Schätzung hätte vornehmen können. Wer aber würde es wagen, zu gegebener Zeit den zum Eingang drängenden Leuten den Zugang zu versperren? Denn dass während der Vorlesung noch Leute ins Auditorium strömten, war undenkbar. War es da nicht besser, jetzt gleich ohne alle Kontrolle jedermann einzulassen? Warum überhaupt hatte man Karten ausgegeben und Kontrollen aufgestellt? Hatte man bis jetzt auch nur einem Einzigen der Besucher den Eintritt verwehrt oder gab es jemanden, der gekommen war, dieses einzigartige Ereignis böswillig zu stören?

Es währte nicht lange, da entschloss sich einer der Türhüter, die Kontrollen aufzuheben. Ihm folgte ein Zweiter und dann ein Dritter und bald schon war kein einziger mehr da, der anders verfahren hätte. Nur leider hielt der durch solche Erleichterung erzielte Effekt nicht lange an. In der Meinung nämlich, es müsste nun alles nur noch viel schneller gehen, stürmte jedermann, wo immer er sich befand, nach vorn, ohne sich noch länger an die Reigenfolge zu halten, so dass sich die Türen alsbald schon als viel zu eng erwiesen. Von allen Seiten bedrängt vergrößerte sich der zwischen dadurch entstehende Druck derart, dass ein jeder, der nun hindurch wollte, es kaum mehr schaffte, den Durchgang zu erreichen; wo immer nämlich sich einer in der Verengung einer Tür befand, wurde er derart auf seinen Platz fixiert, dass er nicht mehr in der Lage war, sich auch nur noch einen Schritt zu bewegen. Und so sah man manch einen, der zwar noch sehnsüchtig die Hände zum Auditorium hin streckte, ohne hinein zu gelangen. Waren die Eingänge anfangs noch groß genug gewesen, so erwiesen sie sich jetzt als so eng und schmal wie ein Nadelöhr.

Dieser Effekt hinterließ aber nicht nur an den Türen seine Wirkung, auch im Innern kam es jetzt zu tumultartigen Szenen. Hatten die Neuankömmlinge nach Betreten des Hörsaals stets noch ruhig nach einem Platz Ausschau gehalten, um sich dann dorthin zu begeben, so sah man sie jetzt in den Saal hinein stürmen, als wären bereits alle Plätze besetzt und nur mit roher Gewalt ließe sich noch einer erobern. Wo immer man nicht rasch genug vorankam, drückte und drängte man die anderen bei Seite, was ständig zu unschönen Szenen führte. Eigentlich war die Richtung der Wege durch die Architektur des Rundbaus wie von selber vorgegeben: Vom Parterre des Hörsaals aus ging es die Treppen hinauf, vorbei an den Galerien, bis hinauf zu den höchstgelegenen Rängen, um dann wieder auf wohldurchdachte, nicht zu verfehlende Weise nach unten zu führen. Da nun die Einen in die, die anderen in jene Richtung sich vordrängten, geschah es, dass verschiedene Ströme sich ausbildeten, die immer wieder aufeinanderstießen und die Wege versperrten, sodass den Hinzukommenden kaum etwas übrig blieb, als die entstandene Unordnung durch ihre Ankunft noch zu vermehren. Geschoben und gestoßen mussten sie mitunter sogar an dem gewünschten, noch freien Platz vorbei, um es bei besserem Glück mit einem neuen Ziel zu versuchen. Hinzu kam, dass nun oftmals auch ein frisch in Besitz gelangter Platzinhaber, verlockt durch einen noch besseren Platz, sich erhob und sich erneut in den Kreislauf einmischte.

Unterdessen hatte es schon das zweite Mal geschellt und der Beginn der Vorlesung stand kurz bevor. Professor R. hatte die Lehrkanzel bestiegen, von wo aus er mit gedankenversunkenem Gesicht dem Strom der Dahineilenden zusah. Wie sehr er aber auch mit feinen Worten und artigen Lächeln klar zu machen versuchte, dass sich alles von alleine regelte und alle einen Platz fänden, es war umsonst. Auch als er mit etwas lauteren Appellen durchs Mikrophon daran erinnerte, dass es bereits das zweite Mal geschellt habe und dass alle dafür Sorge tragen sollten, dass jetzt Ruhe einkehrte, blieb er erfolglos. Mit welchen Mitteln er es auch versuchte, gegen die nun einmal in den Raum eingeschleuste Unruhe hatte er nicht mehr Erfolg, als wenn er einen über die Ufer getretenen Fluss zur Umkehr gebeten hätte. Endlich, es hatte bereits das dritte Mal geläutet, entschloss er sich, keine weitere Zeit durch Ratschläge und Hilfestellungen zu verlieren und begann mit seiner Rede. Wohlvertraut mit der Tatsache, dass man die Anwesenden durch die Sache selber zur Aufmerksamkeit zu bewegen vermag, hätte er vielleicht noch einen Weg zum Erfolg gefunden, wäre da nicht ein junger Mann gewesen, dem nicht an einem Beginn gelegen war. Kaum dass er sich in den Saal hereingezwängt hatte, begann er auch schon, dem Redner zuvorzukommen, indem er seine Stimme erhob, um dann lautstark nachzufragen, ob der Herr Professor nicht warten könne, wo er doch sehe, dass viele noch keinen Platz gefunden hätten.

Wer immer den jungen Mann sah, mochte ihn für einen Jungradikalen halten. Seine ungepflegte Kleidung samt Schuhwerk, sein Gehabe, sich zu bewegen wie auch die Art und Weise, wie er auf sich aufmerksam gemacht hatte, all das verriet, dass er nichts auf Umgangsformen gab, sondern dass es ihn drängte, anders zu sein als die anderen, um ihnen zu zeigen, wie sehr er sie verachtete.

Die Menge aber, sie die eben noch nicht schnell genug hatte vorwärts kommen können, blieb plötzlich stehen, sich umzusehen, was nun weiter geschähe.

Währenddessen hatte es der junge Mann geschafft, sich mit ein paar Sprüngen bis zum Postament der Kanzel vorzubewegen, von wo aus er sich mit ein paar gekonnten Körperdrehungen bis zur Plattform unterhalb der Kanzel hinaufhob, wo er jetzt halt machte.

Ein paar Saalhelfer, die in der allgemeinen Verwirrung noch immer nicht wussten, ob sie ihn hätten festhalten sollen, staunten zu ihm hinauf. Auf ähnliche Weise sah man die Leute, wie sie die Bewegungen des jungen Mannes verfolgten, die sie ebenso faszinierten wie verwirrten. Als wären sie an einem ihnen fremdem und gefährlichen Ort erwacht, wo entweder alle zum Heil gelangen oder keiner, so standen sie da, und manch einer von ihnen begann, den Blick auf den jungen Mann gerichtet, sich mit der Hand über die Stirne zu fahren, als hätte er eine Erscheinung. Selbst der Professor stand jetzt da, bleich und geistesabwesend; auch er schien nicht zu wissen, was sich unter seinen Füßen abspielte, während der junge Mann abermals das Wort an sich riss.

"Da seid ihr nun gekommen, im schönsten und besten Haus der Welt die große Vorlesung von dem berühmten Professor R zu vernehmen!" So begann er seine Rede und reckte bald eine Faust drohend nach oben, bald ließ er die flachen Hände wie zum Schutz über eine Brüstung streichen, als wolle er damit den bösen Geist aus der Höhe verscheuchen. "Doch was wollt ihr denn? Weshalb seid ihr gekommen? Etwa, um euch die große Rede des berühmten Professors anzuhören anlässlich der Eröffnung dieses Auditoriums? Um euch an seiner Weisheit zu erlaben und an seinem Wissen? Oder seid ihr nicht eher gekommen, euch mit Kindermärchen einlullen zu lassen?

Hört gut zu und lasst euch die Wahrheit sagen, damit ihr nicht mehr jedem Rattenfänger nachlauft! Wenn die Zeit reif ist, sendet Gott seinen Sohn. Das mag wahr sein, ist aber nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte lautet: Wenn die Zeit abermals wieder reif ist, sendet er der Menschheit den Würger zum Untergang.

Schaut euch doch nur um! Geht und beschaut euch die Fundamente, ob sie tadellos sind! Steigt die Mauern und die Stützpfeiler empor und prüft nach, wie stark und haltbar sie sind! Untersucht die Dächer, ob sie gebaut sind, den kommenden Unwettern zu trotzen! Ja prüft nach, ob dieser Hörsaal mit seinen Treppen und Galerien ein Weg ist zum ewigen Leben; oder ob nicht schon der Zerfall sein Besitzrecht eingegraben hat in jegliches Material. Welche Brücke könnte von sich behaupten, tragfähig zu sein für ewige Zeit? Welcher Turm, welche Kirche, welches Hochhaus bestünde für immer?,

Doch nein, ihr könnt euch die Mühe sparen. Von maßlosem Ehrgeiz angestachelt und verblendet, verrückt gemacht von den Gespenstern einer ewigen Dauer habt ihr ein Gebäude errichtet, das sich schon bei der Eröffnung in seiner ganzen Schwäche und Trostlosigkeit erweisen sollte. Hättet ihr doch nur nie etwas Großes gewollt, wo ihr nicht in der Lage seid, es zu erschaffen! Statt auf ein Haus zu schauen, das als Abbild himmlischer Vollkommenheit bewundert werden sollte, habt ihr nichts als ein Tretrad des Willens hinterlassen, eine Mausefalle der Verheißung, ein Grab leerer Hoffnungen!

O Eitelkeit über alle Eitelkeiten! Dass ihr euch nicht zu bescheiden vermochtet! Dass ihr in eurer maßlosen Selbstüberschätzung gar noch die Bewohner fremder Landstriche und Erdteile herbeirufen musstet! Wäre dieses Haus aus ewigem Stein, so wären diese Türen nicht so engherzig und unnachgiebig gewesen, auch nur einen Einzigen vom Eintritt abzuhalten; vielmehr wären sie von selbst aufgeflogen und hätten allen den erwünschten Einlass geboten. Und hätten die Bauleute auch in aller Eile vergessen, das rechte Maß zu bedenken, so hätte doch die Erde zu beben begonnen und die Riegel wären zerbrochen beim Einzug der Völker.

Mag nun der Herr Professor über euch noch für ein Weilchen seine Weisheiten ergießen, wenn er noch Lust dazu hat. Mag er es, ich hindere ihn nicht. Nur dies eine gebe ich euch noch mit, ehe man mich zum Abtritt nötigt, nur diesen einen Wunsch hege ich noch für euch: achtet darauf, dass ihr nicht bald schon Fremde seid in eurem eigenen Land!"

Jetzt aber kam ein mächtiger Tumult auf. Zwischenrufe und Proteste wurden laut und Pfiffe gellten durch den Raum. Und plötzlich war die Menge wieder dabei, den Saal zu durchwandern, auf und ab, als wären sie noch immer auf der Suche nach einem geeigneten Platz. Jetzt aber trieb sie die Unruhe, weil sie die Rede aufgewühlt und verstört hatte.

Einige der am Fuß der Kanzel stehenden Ordner hatten sich unterdessen zu dem jungen Mann emporgearbeitet und hatten sich seiner bemächtigt, dergestalt dass sie ihn aus dem Hörsaal führten, was der aber ohne Widerstand über sich ergehen ließ.

Und der Professor! An eine Festrede war jetzt freilich nicht mehr zu denken. Was er sich für den Festtag vorgenommen hatte, schien er vergessen zu haben. Nur mehr noch in sich versunken, ein Leidensmann, ein gebrochener Greis stand er da, während der Lärm der Menge brausend gegen sein Ohr drang.

 

11. Verspäteter Unterricht

Jeden Werktag, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit, war ich von Freiburg über den Notschrei zur Schule gefahren. So heißt der Bergpass, der vom Dreisamtal hinüber zum Wiesental führt. Er hat seinen Namen von daher, dass die dortige Bevölkerung seinerzeit zum regierenden Fürsten aufgeschrien und ihn um die Genehmigung zum Bau der Straße ersucht hatte, um den Transport mit den Produkten der einheimischen Manufaktur über die unwegsamen Höhen des Schwarzwalds überhaupt erst möglich zu machen und damit für jedermann ein kleines Einkommen zu garantieren. Schließlich gab es für sie in den dunklen Wäldern sonst kaum eine Möglichkeit, sich ein paar Pfennige zu verdienen. Tag für Tag, im Sommer wie im Winter, bei Schnee und Regen war ich gefahren und hatte wohl auch manches Mal, wenn ich heimwärts auf der winterglatten Straße den Aufstieg nicht mehr schaffte, den Umweg ins Wiesental zurück und über die Rheintalautobahn nehmen müssen.

Überhaupt waren viele von uns Lehrern über den Berg gekommen. Wenn es uns nämlich auch die Direktion gern zur Pflicht gemacht hätte, am Schulort zu wohnen, so galt die Residenzpflicht doch nur für den Schulleiter und seinen Stellvertreter. Wir übrigen Lehrer waren frei davon. Hier aber lag einer der Gründe, weshalb es zwischen den Lehrern, die mit dem Auto über den Berg kamen und der Direktion so oft zu Auseinandersetzungen kam. Wer außerhalb des Schulortes wohnt, so hörte man von Seiten der Direktion, kümmere sich nur wie ein Schalterbeamter um die Schule, während viele andere behaupteten, man beneide uns nur um der Freiheit willen, unser Leben nicht so eingepfercht in einem so kleinen und engen Kaff verbringen zu müssen. Immerhin bot die Stadt Freiburg allein mit ihrer Universität, wo ich mich täglich noch zu schaffen machte, durchaus mancherlei Abwechslung, dass es einem jedenfalls nie langweilig wurde. Indessen, da beiden Seiten, vornehmlich aber die Direktion im Rahmen ihrer Befugnisse über mancherlei Möglichkeiten verfügte, so blieb es nicht bei verbalen Attacken. Nicht selten kam es vor, dass man uns die Unterrichtsstunden weit auseinander legte, so dass wir nicht selten bis spät am Abend da zu bleiben hatten. Oder wenn Eltern eines Schülers gegen einen von uns etwas hatten, etwa wenn einer von uns einmal einen Schüler etwas robust angefasst hatte oder wenn man mit Zensuren nicht zufrieden war, da suchte man nicht den betreffenden Lehrer in seiner Sprechstunde auf, da wandte man sich an die Direktion, die auch gleich, ohne auf den Amtsweg hinzuweisen, die Beschwerde zur Chefsache machte. Von Seiten der Direktion war man schnell bei der Hand, dem betreffenden Lehrer im Sinne der Anklage Taktlosigkeit, Faulheit und Schlamperei oder fehlende Einsicht in die näheren Umstände zu unterstellen. Wiewohl bekannt war, dass wir Lehrer vom Berg, wie man uns allgemein nannte, gerne ein Auge zudrückten, wenn Schüler Schwierigkeiten hatten, und wir uns über unsere Verpflichtungen hinaus, um solche Schüler bemühten, so wurde selbst dieses unser Verhalten keineswegs als Zeichen der Humanität und der Mitmenschlichkeit bewertet. Da sieht man, so hieß es hinter vorgehaltener Hand, wohin das führt, wenn man, weil man nicht mehr frei ist, zu Zugeständnissen gezwungen wird. Und wenn man sich auch nicht getraute, offen dagegen vorzugehen, wenn wir bei der Versetzung einem armen Schlucker die Note so drehten, dass er noch die nächste Klasse erreichte, so hielt man das für ein Kennzeichen eines schlechten Gewissens, mit dem die Lehrer vom Berg ihren Unterricht besorgten. Wir indessen, wenn auch nur unter uns, hielten aber auch nicht mit der Kritik zurück. Wo denn war das gute Vorbild, mit dem er uns voranging, wenn er Morgen für Morgen von Lörrach zur Schule kam, einem Vorort von Basel, der von ihm so innig verehrten Weltstadt jenseits des Rheins?

Es mochten einige Jahrzehnte vergangen sein, während ich längst anderen Ortes eine Arbeit gefunden hatte, da träumte mir eines Morgens, dass es Zeit sei, aufzustehen und mich zum Unterricht auf den Weg zu machen. Kurz vor dem ersten Morgengrauen war jemand zu mir gekommen und hatte mir mitgeteilt, dass ich mich fertig machen müsse. Die großen Ferien seien schon seit manch einem Tag vorüber, und wenn ich es nicht zu unliebsamen Recherchen im Personalrat oder gar zu meiner Entlassung kommen lassen wolle, sei es höchste Zeit, meiner Arbeit nachzukommen.

Kaum hatte ich das vernommen, da lag auch schon der etwa 50 km lange Weg übers Gebirge vor mir. Im Auto saß ich auf der Fahrt. Der Traumgott indessen hatte es sich anders ausgedacht, als dass ich nun auch in Gedankenschnelle drunten im Wiesental ankäme. Die Fahrt selber hatte er sich für mich als ein besonderes Erlebnis ausgedacht. Es begann damit, dass mich die Frage beschlich, auf welche Weise ich ins Schulgebäude herein käme und was für Klassen mich erwarteten. Schon lange hatte ich mich ja nicht mehr um die Schule gekümmert hatte. Wenn der Hausmeister die Schule öffnete, wollte ich auf jeden Fall gleich zur Stelle sein. Dann hätte ich noch immer eine Stunde Zeit, mich nach dem neuen Stundenplan umzusehen, die Räume meiner Klassen zu besuchen und ein paar Experimente vorzubereiten, falls dies nötig werden sollte.

Was die Fahrt als solche angeht, so begann sie über Erwarten gut. Die Straße war leer, trocken und gut befahrbar. Nicht der mindeste Schnee lag auf der Straße. Denn wenn auch Ende August war, so hinderte das den Schnee nicht, den Weg unbefahrbar zu machen, wenn es ein höheres Schicksal beschlossen hatte. Der Aufstieg ins Gebirge, der sich in weiten Serpentinen mit fast gleichbleibender Steigung vollzog, ging so gut vonstatten, dass ich in meinem Übermut alsbald schon begann, mir mit einem Spielchen die Zeit zu vertreiben. Fast als wäre ich noch ein Kind, so fragte ich mich, wenn ich für zwei drei Sekunden die Augen verschloss, was für ein Stück Landschaft vor mir auftauchen und mich überraschen würde. Und siehe da. Immer wieder fand ich beim Wiederöffnen der Augen die Landschaft vor, die ich mir vorgestellt hatte. War das nicht herrlich! Wenn man auch die Autostraße in der Zwischenzeit beinahe zu einer noblen Bergschnellstraße ausgebaut hatte, die Gegend war doch noch immer dieselbe. Ich kannte sie immer noch, Meter um Meter. Und da ich, wie gesagt, gut in der Zeit war, so musste ich mich auch nicht allzu sehr beeilen. In meinem Übermut gewann ich vielmehr den Eindruck, dass man das Spiel noch ausbauen könnte, wenn ich die Augen noch länger verschlossen hielte. Wenn es anfangs stets nur zu kleineren Veränderungen gekommen war, da ich stets noch ein Stück vom kommenden Bild vorausgesehen hatte, so verloren die Bilder jetzt immer mehr den Zusammenhang. Manchmal war mir auch, als wäre ich gar nicht mehr unterwegs, sondern als stünde ich still, während die Gegend sich einen Spaß machte, mit ihren Bäumen, Bergen und Wäldern hinter mich zu springen. Wie im Rausch war mir zumute, weil ich glaubte, einer Methode auf der Spur zu sein, an Orte zu gelangen, wohin vor mir noch nie ein Sterblicher gelangt war. Dergestalt verbrachte ich die Zeit, bis ich den Pass erreicht hatte. Das Gröbste war jetzt geschafft. Von nun an hatte ich nichts anderes mehr zu tun, als mich bergabwärts tragen zu lassen. Und selbst, wenn der Motor versagte, blieb ich nicht im Wald stecken, sondern kam im Freilauf noch zur nächsten Tank- und Reparaturstelle.

Eben nun hatte ich mein Spiel wieder aufgenommen, mit langen Zwischenpausen des Hinwegschauens, als ich feststellte, dass ich mich nicht mehr auskannte. Angangs zwar wollte ich es nicht wahrhaben, dass ich vom Weg abgekommen war, alsbald aber lag offen am Tag, dass mir nicht nur die Landschaft mit ihren Ausblicken unbekannt war, sondern dass auch der Straßenbelag zu wünschen übrig ließ. Von allen Seiten wucherten Büsche und Bäume in die Straße hinein. Hatte ich beim Augenschließen ein Schild übersehen und war unbemerkt in eine Nebenstraße oder in einen Waldweg eingebogen? Dann aber hätte mir doch der Abgang von der glatten Asphaltstraße nicht entgehen dürfen. Langsam, jetzt aber offenen Auges, jeden Meter genau kontrollierend, fuhr ich weiter, meine ganze Hoffnung darauf setzend, zur alten Autostraße zurück zu gelangen. Als nun auch noch Maulwurfshügel die Straße überdeckten und ich mich nach einem Platz umsah zum Wenden, gewahrte ich einen Mann, der mit einer Hacke das Gelände bearbeitete. Vom Alter gebeugt, vielleicht auch schwerhörig war er so sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, dass er zuerst überhaupt nicht merkte, als ich auf ihn zukam. Freilich ließ ich das nicht gelten.

Die Frage, ob man hier ins Wiesental hinabkomme, bejahte er, und fügte wie zum Beweis hinzu, er selber komme ja aus dem kleinen Wiesental, nämlich aus Maulburg. "Mulburg" sagte er in seinem alemannischen Dialekt. Doch ich glaubte ihm nicht. Und so versetzte ich, beinahe ein wenig grimmig, als hätte er mich verhöhnt, dass man zu Fuß wohl einen Weg von hier ins Wiesental finden könne, über Stock und Stein, kaum aber mit einem Auto; und gedachte schon, das Gespräch mit der rhetorischen Frage zu beenden, ob denn die Leute aus Maulburg zur Beseitigung von Maulwurfshaufen besonders geeignet seien.

"Mögen wir uns auch falsche Vorstellungen machen von den Begabungen und Fähigkeiten anderer Leute", sagte daraufhin der Mann, so bleibt das doch ohne Folgen, solange wir ihnen fernstehen und nichts mit ihnen zu tun haben. Anders aber sieht es aus, wenn wir ihnen vertraut sind wie ein Vater seinem Sohn. Oder wäre es etwa eine Auszeichnung für einen Vater, wenn er von seinem Sohn nichts hielte! Dabei war unser Sohn, noch ehe er in die Schule kam, unser einziges Glück. Als Kind stimmte er uns immer wieder so fröhlich durch seine Heiterkeit, zumal wenn einmal in Haus oder Hof etwas schief gelaufen war. Ja selbst wenn uns alle Gebäude in einer Nacht abgebrannt wären, so hätte uns unser Peter doch die Heiterkeit des Lebens wiedergebracht. Und dass Sie es nur glauben: wenn er vielleicht auch nicht alle die Wörter der gebildeten Welt kannte und zu schreiben vermochte, die Wörtlein des Herzens beherrschte er alle, noch ehe er in die Schule kam. Nur dass die nichts gelten in der Schule. Und so waren für unsere Familie die Tage des goldenen Glücks auch bald schon zu Ende."

All das hatte der Mann zu mir gesagt, der mir eben noch an Ärmlichkeit kaum zu überbieten erschienen, jetzt aber, aus sich herauskommend, fordernd vor mich hintrat, dass ich mich in ein anspruchsvolles, bedeutendes Thema verwickelt sah.

"Die Schule ist nicht für alle ein Glück. Da haben Sie wohl Recht", sagte ich. "Und zwar deshalb, weil es nicht allen Kindern vergönnt ist, sich als bedeutende Leistungsträger hervorzutun. Sie werden verstehen, dass ich hierzu an dieser Stelle nicht allen Ursachen nachzugehen vermag. Jedenfalls sollten wir zusehen, dass unsere Schulen aus möglichst kleinen Klassen bestehen." So sagte ich.

"Sie können sich nicht vorstellen", sagte der Mann, ganz mit dem Schicksal seines Sohn beschäftigt, ohne sich um meinen Einwand zu kümmern, der ihn in seiner Allgemeinheit eher gelangweilt hätte, "wie schrecklich das für meine Frau war, als nun auf einmal schlechte Leistungen ans Licht kamen, vor allem in der Muttersprache. Als hätte sie sich mit dem Kind keine Mühe gegeben. Er wird es schon bald packen, sagten wir uns. Und wenn ihn der liebe Gott als Pastor im kleinen Wiesental vorgesehen hat, dann wird er auch Pastor werden, mag ihn die Schule beurteilen, wie sie will. Denn nur zu gerne sahen wir ihn schon als einen solchen hier im Tal."

Auf seine Hacke gestützt, stand er mir gegenüber, unverrückbar den Blick auf mich gerichtet. Wenn ich den Mann auch nicht näher kennen gelernt hatte, so wusste ich jetzt doch, wer er war und wovon er sprach. Es war der Vater von Peter Schädler, einem Schüler in der untersten Gymnasialklasse, für den das Gymnasium nach dem ersten Jahre zu Ende gegangen war. Ich hatte in der Klasse Mathematik erteilt, der Mathematik halber war er aber nicht auf der Strecke geblieben. Oder etwa doch?

"Freilich ließ ich es nicht an Anstrengungen fehlen", fuhr der Mann fort. "Immer wieder erschien ich in der Sprechstunde bei Dr. Richter und bat ihn, mir zu sagen, wie es mit meinem Sohn stünde und wie wir seine Leistungen verbessern könnten. "Gibt es nicht Kinder, mit denen man nur ein wenig Geduld haben muss, so eine Art von Spätzündern oder Spätberufenen", fragte ich. "Vielleicht hat auch unser Johann Peter Hebel in seinen Kindertagen es nicht besser gekonnt." Dies stellte Dr. Richter zwar nicht in Abrede, ich bewirkte damit aber keine Vergünstigung für unseren Sohn. Kurze Zeit später drang dann nämlich die uns alle zerschmetternde Nachricht ins Haus, dass wir uns darauf gefasst zu machen hätten, dass Peter das Klassenziel nicht erreichte. In meiner Not wandte ich mich an den Schulleiter, Herrn Oberstudiendirektor Friedhelm Obermann. Als Schulleiter, das sagte er mir aber gleich, alle meine Hoffnungen dämpfend, als Schulleiter könne er nur überprüfen, ob Kollege Dr. Richter billigermaßen Leistungen abverlangt und beurteilt habe. Eine hochentwickelte zivilisierte Gesellschaft brauche eine Auslese, das sei nun einmal so in unserer Welt. So erklärte er mir und damit war dann der Fall für ihn abgeschlossen. Aber selbst nach diesem enttäuschenden Besuch auf der Direktion gab ich noch nicht auf. Was auch wäre die väterliche Liebe, wenn sie in ihrer Torheit nicht auch noch in der Lage wäre, dem Schicksal selber zu widersprechen und an ein Wunder zu glauben! Die entscheidende Konferenz stand ja noch bevor. Da aber fiel mir ein, dass es ja noch Sie gab und dass Sie als ein Lehrer vom Berg ein Herz für Kinder hätten."

An dieser Stelle verstummte er plötzlich, ohne aber seine Augen von meinen Augen zu lassen. Und sein Blick traf mich, das traurig heruntergekommene, schuldbewusste und zugleich zu allem entschlossene Gesicht eines Mannes, der jetzt, wahrscheinlich zum ersten und zugleich zum letzten Mal den Versuch wagte, eine Anklage zu erheben. Von seinem Anliegen, mich wegen seines Sohnes ins Vertrauen zu ziehen, hatte ich allerdings nie etwas erfahren. Warum war er nicht zu mir gekommen?

"Ein paar Nächte waren schlaflos vorübergegangen", so berichtete Vater Schädler nun weiter, "weil ich nicht wusste, ob ich so dreist sein konnte, noch einmal von einer Sprechstunde Gebrauch zu machen. Zweimal hatte ich mir nun schon einen abschlägigen Bescheid geholt. Wie würde ich dastehen, wenn ich mir nun auch noch eine dritte Abfuhr holte? Was auch hatten Sie mit unserem Peter zu tun? Seine Leistungen bei Ihnen waren ja an und für sich nicht so schlecht, dass sie für eine Versetzung nicht ausgereicht hätten. Ausreichend", so stand dann später ganz genau im Zeugnis. Ganz genau "ausreichend". Ein "ausreichend" bei Ihnen war aber nicht ausreichend zur Versetzung. Wohl wusste ich, dass ihn ein "befriedigend" von Ihnen noch retten konnte; doch konnte ich vor Sie hintreten und Sie um etwas bitten, was objektiv betrachtet unzulässig war? Wenn ich also in Ihre Sprechstunde käme, worum hatte ich Sie dann zu bitten? Als einem Vertreter der modernen Pädagogik, für die doch das Kind Vorrang vor allem anderen hat, hatte ich Ihnen jedenfalls meine Sache vorzubringen. Dazu bedurfte es neben einer geschickten Gesprächsführung vor allem noch einer sehr ruhigen, entspannten Stunde zur Zusammenkunft. Die aber, das wusste ich, hatten Sie nicht. Ein vertrauliches Gespräch im Rahmen der modernen Pädagogik war also nicht möglich. Nur auf dem Gnadenweg war bei Ihnen als einem Lehrer vom Berg noch etwas zu erreichen. Da ich aber bereits bei der Direktion vorstellig geworden und der Fall mithin stadtbekannt war, so war auch auf dem Gnadenweg nichts mehr zu erlangen.

O, wie erwog ich damals alles, was dafür sprach, mich dennoch an Sie zu wenden! Endlich aber schien mir am besten, Sie nicht zu behelligen, indem ich mir sagte: "Wenn Herr Kühnlein ein Herz hat für Kinder, und das hat er, und wenn er die Gnadengabe besitzt, auch auf krummen Linien gerade zu schreiben, dann hat er unserem Peter bereits in aller Stille die Note gegeben, die nötig ist, auf dass wir alle weiter atmen können. Und so entschied ich mich dafür, Sie nicht zu behelligen.

Damit nun wissen Sie alles und somit komme ich an mein Ende. Denn dass ich mich auch in Ihnen getäuscht habe, muss ich Ihnen ja nicht sagen. Indem Sie sich nicht daran erinnern können, unserem Peter geholfen zu haben, gestehen Sie ein, dass auch Sie nichts anderes getan haben, als sich in Unschuld die Hände zu waschen. Indem Sie sich dem allgemeinen Urteil angeschlossen haben, glaubten Sie, sich einer höheren Notwendigkeit zu fügen. Und ich hatte immer geglaubt, hier droben stünde der Thron Gottes und jenseits des Gebirges würde die Gnade wohnen, die alle Gleichheit verachtende, nur auf das Wohl bedachte Gnade. Aber damit ist nichts. Nirgends steht ein Thron Gottes und nirgends wohnt die Gnade. Nur das Gesetz herrscht, das unerbittliche, Gott und Menschen verachtende blutleere Gesetz. In seiner Allmacht ist es dazu da, an uns die Gerechtigkeit zu vollstrecken.

Da glauben die Leute, es sei da ein neuer Maulwurf zu uns ins Land gekommen, der alle diese Verwüstungen anrichtet." So hörte ich ihn noch sagen, als ich wieder auf der mir bekannten Straße ins Wiesental hinabfuhr, beinahe als säße er hinter mir im Auto. "Mich hat man deswegen hier herauf geschickt. Und einige von diesen Tieren hat man auch schon eingefangen und ins Labor gebracht, um sie zu untersuchen und Maßnahmen zu treffen, dass der neue Asphalt nicht von ihnen durchnagt wird. In Wahrheit aber sind es nicht die Maulwürfe, die uns zu schaffen machen, wir selber sind es, wir mit unseren Schulen und Lehrerschaften. Unsere Verbrechen sind es, die die Straße aufbrechen und zerstören. Statt Berge abzutragen, schütten wir neue auf. Damit will ich nun zwar nicht sagen, dass ich auf einen der Lehrer oder auf den Direktor der Schule böse geworden wäre oder dass ich in einem von ihnen einen Feind erkannt hätte. Nein, Urheber unseres Unglücks ist nicht eine einzelne Schule oder gar ein einzelner Lehrer, mag er sich auch noch so schuldig gemacht haben, Urheber sind wir alle, die wir auf die Gnade gesetzt haben, ohne etwas für sie zu tun. Gleich noch am selben Tag, als unser Peter das Zeugnis mit der Nichtversetzung nach Haus gebracht hatte, rief ich ihn zu mir. Ich musste ihn kein zweites Mal rufen. Er stand gleich neben mir. "Du bist mein Fleisch und Blut!!" sagte ich zu ihm. Mehr sagte ich nicht. Dann ging ich hin und holte den Ochsenziemer. Ohne auch nur einen Schritt sich entfernt zu haben, stand mein Sohn da, als ich mit dem Ochsenziemer zurückkam. Er weinte auch nicht, als ich ihn mit dem Ochsenziemer auspeitschte. Tags darauf schaffte ich ihn ins Gebirge, damit er sich mit der Hacke sein Brot verdiene."

Seine Worte hallten noch nach, da befand ich mich drunten im Tal, vor der Schule. Der Zeiger der Schuluhr stand kurz vor 8 Uhr, dass ich mir hätte schmeicheln können, noch rechtzeitig vor Ort zu sein. Als ich mich aber umschaute, stellte ich fest, dass nirgends etwas, weder von einem Schüler noch auch von einem Lehrer, zu sehen war. Ohne darauf zu achten, dass Türen und Fenster verschlossen waren und dass aus keinem der Zimmer ein Lärm von Schülern erscholl, lief ich zum hinteren Eingang, durch den, wie ich wusste, schon manch einer von uns die Schule betreten hatte. Da aber erfuhr ich von zwei Frauen, die eben dort aus dem Haus kamen, dass man an Stelle der alten Lateinschule, die viel zu klein geworden war, eine neue Schule erbaut hatte. Nicht weit von hier, über der Straße, würde ich sie finden.

"Mag Gott mir helfen, dass ich nicht für die erste Stunde eingeteilt bin", sagte ich zu mir. Denn nur das konnte mich noch retten. Um das herauszufinden galt es, möglichst unbemerkt zur neuen Schule hinüber zu gelangen, um drinnen, am schwarzen Brett, die Unterrichtspläne für das neue Schuljahr einzusehen.

Leise wie ein Schatten hatte ich eben das schwarze Brett erreicht, als sich eine Hand mir auf die Schulter legte und eine Stimme sagte: "Sieh einer an! Unser Meister Kühnlein! Hat sich auch wieder eingefunden. Und wir hatten schon daran gedacht, sein Postfach aufzubrechen, um die für uns wichtigen Dinge heraus zu holen. Aber das ist ja die alte Bredouille mit unseren Lehren vom Berge, dass wir nie wissen, woran wir sind. Selbst wenn sie die Gelegenheit haben, sechs Wochen lang sich von den Strapazen der Fahrerei zur Schule zu erholen, so bringen sie es noch fertig, uns zum Schulbeginn sitzen zu lassen. Nicht genug, dass unsereins dabei ist, ohne einen einzigen Tag Ferien auszukommen! Nicht genug, dass wir die Unterrichtspläne für das neue Schuljahr herausknobeln mit all den verzwickten Aufgaben der Raumzuweisungen und Lehrerdeputate, nicht genug, dass wir bei all den vielen Verwaltungsarbeiten die Lust am Leben verlieren: da kommen dann die Herren vom Berg schon gleich am ersten Tag nach den Ferien wieder zu spät, und hat man sie entdeckt, so schauen sie einen an, als obläge es uns, ihre schlechten Gewohnheiten abzusegnen. In Wahrheit sitzen die Schüler unruhig und ohne ihren Lehrer in den Klassen, und keiner ist da, der kommt. Nun also, da Sie in den Ferien Wichtigeres zu tun hatten, als bei uns vorbei zu sehen, haben Sie sich zum schwarzen Brett geschlichen, sich kundig zu machen, wo Sie sich jetzt zu befinden hätten."

Ich musste mich nicht umsehen. Ich wusste, dass es der alte Konrektor Kleinberg war, der neben mir stand. Die zynisch ironische Art mit einem umzugehen, zumal mit einem Junglehrer vom Berg, war ja bekannt. Und wenn er jetzt auch das Licht über dem schwarzen Brett mit zu Hilfe nahm und mich nach seinen scharfzüngigen Worten betrachtete wie ein Exemplar einer ausgestorbenen Spezies, so blieb ich doch ruhig, ohne mich zu erregen. Was auch sollte ich aufbegehren, wo das Recht auf seiner Seite lag! Und so teilte ich ihm nur mit, dass ich unterwegs sei zur Klasse von Peter Schädler.

Wenn ich nämlich oben auf dem Pass auch nichts zu seinem Vater gesagt hatte, so hatte ich mir doch vorgenommen, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Nichts sollte geschehen sein, was sich nicht noch gerade biegen ließe. Aus dem Gebirge würde ich den Jungen herausholen, so hatte ich es mir vorgenommen, und dann sollte er in der zweiten Klasse der für ihn bestimmten Zukunft entgegen gehen. Mochte ich heute Abend auch erst spät nach Haus kommen, so wollte ich es doch nicht unterlassen, die Unterlagen noch einmal mir vorzunehmen und Schädlers Arbeiten durchzugehen, Punkt um Punkt und Strich um Strich; und kein Verteidiger sollte jemals strenger nachgeforscht haben, ob nicht irgendwo irgendwas zu Gunsten seines Mandanten übersehen worden war. Ja, nicht eher wollte ich davon ablassen, als bis ich so viele Punkte für den Jungen beisammen hätte, dass man nicht umhin käme, ihm rückwirkend eine befriedigende Leistung zu bescheinigen, und sollte es mir noch so viele Scherereien bescheren.

Kleinberg zögerte keinen Augenblick, meinen Wunsch zu erfüllen. Ohne ein Wort zu verlieren, eilte er mir voran, ins Erdgeschoss, wo schon von weitem zu hören war, dass da eine Klasse war, lehrerlos und alleingelassen, unfähig, sich aus eigner Kraft zu bemeistern. Als wir wahrgenommen wurden, die Türe stand sperrangelweit offen, einige Schüler hatten auch noch den Gang zur Unterhaltung entdeckt, da sah ich, wie alles seinem Platz zu jagte, was nur Beine am Leib hat. Als wir dann ins Zimmer traten, und ich das Gewirre der noch immer durcheinander springenden Schüler nach Peter Schädler hin absuchte, stellte ich fest, dass sich unter den Schülern zwei junge Männer befanden. Verdeckt von den Schülern ringsum, saßen sie am Katheder bei einer Tasse Kaffee und schienen sich nicht viel, weder aus dem Durcheinander noch auch aus unserem Kommen, zu machen. Ich hatte sie kaum entdeckt, mit der Vermutung, dass man sie als Hilfslehrer engagiert haben könnte: als die Türe abermals aufging und der Herr Oberstudiendirektor Friedhelm Obermann in Begleitung von ein paar Herren vom Oberschulamt den Raum betrat. Er hatte die Türe kaum zugezogen, da herrschte auch schon eine solche Stille im Raum, wie man sie sich nicht stiller auszumalen vermag. Auch die beiden Hilfslehrer, die sich um unser Kommen herzlich wenig geschert hatten, schienen die veränderte Lage zu begreifen. Mit dem Aufkommen der Stille hatten auch sie sich aufgerichtet. Gleichwohl blieben sie ruhig bei ihrem Kaffeegeschirr sitzen und wandten nur ihre Köpfe den neu eingetretenen Herren entgegen. Meine anfängliche Vermutung, auf die Frage des Oberstudiendirektors, was hier vorgehe, nun Zeuge zu werden einer vernichtenden Kritik, erwies sich aber als grundlos. Der Konrektor zumal war sogleich des höchsten Lobes voll über die beiden Männer. Jawohl, hier werde Unterricht dargeboten vom Feinsten, erklärte er den Herren vom Oberschulamt. Hier würden die Erkenntnisse der modernen Pädagogik ohne alle Abstriche in die Praxis umgesetzt. Oder ob nicht allein schon die Phänomene in einer Kaffeetasse eine Welt für sich darstellten, fragte er, indem er auf die beiden Tassen der Hilfslehrer zeigte. Und indem er die Peitsche nahm, die auf dem Katheder lag, reichte er sie den Herren vom Oberschulamt zur Prüfung, wobei er bemerkte, dass man nicht nur das edle Material mit Händen betasten könne, dass auch die akustischen Phänomene einer Peitsche mit zum Aufregendsten und Schwierigsten der klassischen Schwingungslehre gehörten, die nur noch von den Phänomenen des Kreisels übertroffen würden.

Und an die Schüler sich wendend, sagte er, dass man eine solche Peitsche einen Ochsenziemer nenne und dass er aus dem getrockneten Glied eines Ochsen hergestellt werde. Ein Schüler wurde vorgerufen, die Peitsche mit den Zähnen zu erproben; dann rief er einen Zweiten, worauf er die beiden Schüler mit den Zähnen ein Tauziehen veranstalten ließ. Auf die Frage der beiden Hilfslehrer, ob sie noch weiter dienlich sein könnten, schlug der Konrektor vor, da sie schon einmal beim Ochsenziemer angelangt seien, mit den Lasttieren und ihrem Nutzen für den Menschen fortzufahren. Lasttiere hätten schließlich schon beim Bau der Pyramiden Verwendung gefunden.

Ob man ihm den Namen eines Lasttiers nennen könne, begann sogleich der eine der beiden Hilfslehrer, ein gewisser Herr Pfeifenhals, indem er sich eine Zigarette anzündete. Auch im Hintergrund rauchte es schon gewaltig. Einer der Schüler nannte noch einmal den Ochsen. Ein zweiter nannte das Kamel und das Dromedar, ein dritter das Pferd. "Und Sie!" fragte der andere Hilfslehrer, indem er sich an mich wandte. "Wissen Sie auch noch eines?" Da ich mich aber nicht angesprochen fühlte, meinte er: "Wie wäre es denn mit dem Esel? Er ist rüstig und diensteifrig und selbst wenn er keine Säcke mehr zu schleppen vermag, kann er noch in der Mühle dienen; endlich, wenn er auch dort nichts mehr taugt, kann man ihn zum Schinder bringen, der ihn dann zur Seifensiederei weiterleitet." Sämtliche Kinder hatten ihm zugehört und hatten nur auf das Signal gewartet zu einem ungeheuerlichen Lachen. "De Welt hatt sick umgekehrt, drumm heff ick arm Esel dat Pypen geleert", sagte der andere Hilfslehrer und schlug mit der Faust auf den Tisch. Direktor Friedhelm Obermann darum bat, ihm den Satz ins Hochdeutsch zu übertragen. Doch da hatte ich schon das Wort an mich genommen.

"Überhaupt bin ich gekommen", sagte ich, "mich nach Peter Schädler umzusehen und Sie, meine Herren, als die Schulleitung zu bitten, ihm die Versetzung nachträglich zu genehmigen. Wenn ich ihn auch nicht bei seinen Mitschülern sehe, so hat das einen zweifachen Grund: einmal dass er draußen im Gebirge sich aufhält, wo er mit einer Hacke arbeitet, und dann, dass ich ihm in meinem Fach eine zu schlechte Note gemacht habe."

"Ich weiß", erwiderte Kleinberg. Und sich an den Direktor wendend, als müsse er ihm die Sache näher darlegen, sagte er: "Das mit dem Esel war wohl ein Versehen unseres Junglehrers Ramstal. Wer nämlich hier vor uns steht, ist niemand anderer als unser verehrter Assessor Kühnlein. Und wenn wir auch das Unwesen von jenseits des Berges so gut wie abgestellt haben, so ist zum Schluss doch noch dieser Herr übrig geblieben zu einer profunden Belehrung. - Das sollten Sie nämlich wissen", wandte er sich noch einmal an mich, "dass es Not tut, sich belehren zu lassen, auf dass man fähig wird, andere zu belehren."

"Unverbesserliche, Fleisch gewordene Natur", ergänzte der Oberstudiendirektor, indem er sich den Herren vom Oberschulamt gegenüber explizierte: "Da korrigieren sie die Hefte zwischen Tür und Angel; eine große Pause genügt ihnen dazu, 30 Schülerarbeiten durchzusehen und zu benoten; und dann kommen sie und bitten uns um Revision! - Im Übrigen sollten Sie wissen", wandte er sich nun wieder an mich, "dass es schon lange keinen Peter Schädler mehr bei uns gibt. Einen Peter Schädler hat es einmal bei uns gegeben, aber das war vor nunmehr fast 50 Jahren, als wir noch im Gebäude der alten Lateinschule hausten. Glauben Sie nur ja nicht, dass Doktor Richter auch nur eine Kleinigkeit falsch gemacht hat. Dr. Richter war nicht nur ein Sprachgenie, er war auch einer der gerechtesten Männer seiner Zeit. - Aber wir, nicht wahr, wir sind nicht Willens, dem länger zuzusehen", wandte er sich an Kleinberg, seinen Stellvertreter, und an die Herren vom Schulamt. "Und damit kein Lehrer vom Berg mehr zu uns hereinschneit, haben wir den alten Schädler beauftragt, im Gebirge droben Ordnung zu schaffen. Ein für alle Mal! - Meister Kühnlein", wandte er sich nun noch einmal an mich, "seien Sie froh, wenn nur keiner jemals erfährt, was Sie an Talenten in unserer Schule haben brach liegen lassen." Und während ich dabei war, den Raum zu verlassen, glaubte ich noch den Lärm und das Geschrei der Schüler zu vernehmen, deren Wohl und Wehe mir einstmals am Herzen gelegen.

 

12. Beim Nachtdienst

"Du hast dein System! Dir hätte so etwas nicht widerfahren können!" So pflegte ich zu sagen, wenn ich sah, wie man einen zur Direktion führte, der sich wegen schwerer Pflichtversäumnisse zu verantworten hatte. Vollends, wenn es sich um einen der jüngeren Kollegen handelte, mit dem ich mich zuvor noch über den Dienst unterhalten und dem ich Ratschläge erteilt hatte, der sie aber in den Wind geschlagen hatte, spürte ich, trotz all der Schwermut, die eine Katastrophe in uns weckt, zugleich doch auch so etwas wie eine geheime Genugtuung. Ja, mir war dann stets, als hätte das alles geschehen müssen, um endlich meinem System zum Durchbruch zu verhelfen. Jedenfalls glaubte ich fest und unerschütterlich an seine Macht, dass ich mich nicht enthalten konnte, wenn mich dann das nächste Mal Dienstanwärter bei der Arbeit begleiteten, das Loblied auf mein System um eine neuerliche Strophe zu bereichern.

"Allein schon darum zu wissen, dass man ein solches System hat und dass man darauf zurückgreifen kann", so pflegte ich meine Unterweisungen regelmäßig zu beginnen, "ist süß und von unschätzbarem Wert. Die Hausordnung und ihre Regeln sind zwar wichtig, doch genügen sie nicht, wie ja schon aus den Dienstvorschriften hervorgeht, die ausdrücklich betonen, dass sie nur als eine notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung zur Bewältigung des Dienstes zu verstehen sind. Zwar muss ein Wachthabender selbstsicher sein und muss sich im Ernstfall auch etwas zumuten, was alles durch das Wissen um die Hausordnung und ihre Regeln begünstigt wird, getragen aber wird er in Wahrheit durch die Liebe und die unbedingte Unterordnung unter das System. Ohne das System zu lieben, wirst du keinen Weg in eine verlässliche Praxis finden. Und glaubst du auch, einen eigenen Weg gefunden zu haben, der Irrtum holt dich ein und nichts und niemand kann dich vor deinem Fall erretten. Das Schlimmste dabei ist, dass du gerade dann am leichtesten jedem Unheil Tür und Tor öffnest, wenn du dich auf dein vermeintliches Wissen berufst. Lässt du dich aber vom System leiten und achtest und ehrst du es in deinem Herzen, so kann dir nichts widerfahren."

Natürlich verstand mich keiner. Und wenn man mir auch nicht offen widersprach, so merkte ich, dass man mich nur anstandshalber nicht unterbrach. Das aber störte mich nicht. So besessen war ich von meiner Mission, dass ich jede Gelegenheit wahrnahm, es zu verdeutlichen und nahe zu bringen. "Den totalen Überblick", so erläuterte ich denn auch, "könntest du das System nennen, das nicht nur um deine Verantwortung weiß und sie dir vor Augen stellt, das sie dir auch abnimmt und das dich trägt über alle Hindernisse, die sich dir in den Weg stellen. Und sollte ein Gefangener auch die Kunst beherrschen, sich zu verwandeln in jegliche Gestalt, dem System entflieht er nicht. Von dort her kannst du dich in seine Lage versetzen, von dort her ihn verstehen, was immer er auch tut. Ohne ihn aber zu verstehen, wird er dir in Ewigkeit fremd bleiben und du wirst ihm niemals gewachsen sein, zumal wenn er es auf einen Ausbruch abgesehen hat. Und glaube nur ja nicht, diese Leute dächten nur hin und wieder einmal über einen Ausbruch nach! Was auch anderes können sie tun, eingesperrt wie sie sind, als von ihrer kommenden Freiheit zu träumen? Entweder, dass sie die Tage und Stunden zählen, die sie noch abzusitzen haben oder aber, dass sie Pläne schmieden, wie sie sich ihrer Fesseln entledigen und sich in Freiheit bringen. Und hätten sie auch nichts, was ihnen eine Aussicht böte, sie schüfen sich eine. Der auf Befreiung und Freiheit bedachte, aufmüpfige, rebellische, zu Umsturz und Revolution geneigte Mensch: das ist der Ansatz, der dem System zu Grunde liegt, und der alle die Beobachtungen und vorbeugenden Maßnahmen, wie auch die mannigfaltigen Verhaltensweisen sowohl der Gefangenen als auch der Wachtleute nach sich zieht.

Zu der Kunst, dich in den Gefangenen zu versetzen, kommt noch ein Zweites, Reziprokes, hinzu. Stets musst du dich zugleich auch so verhalten, dass dich der Gefangene in sein Bewusstsein aufnimmt. Dies gilt besonders für die ersten Tage, in denen du mit ihm zusammentriffst. Alle deine Fähigkeit und Kunst musst du daraufhin ausrichten, dass der Gefangene nichts denkt und plant oder gar unternimmt, ohne dabei dich vor Augen zu haben. Indem du zu einem Teil seines Innern wirst, musst du ihn von innen heraus beherrschen und ihm gleichsam selber aus den Augen schauen! Hast du diese beiden Aufgaben gelöst, so wird dir auch noch ein Drittes gelingen übrig: nämlich so auf die Gefangenen einzuwirken, dass du sie zu dem Einverständnis zwingst, dass alles, was du auch tust, immer nur zu ihrem Heil geschieht. Diese dritte Aufgabe aber ist eigentlich schon keine Aufgabe mehr. Sie lässt sich eher als eine Erprobung und als Beweis verstehen, dass du die beiden ersten Aufgaben souverän meisterst.

Aber auch ich habe mich geirrt, auch mir ist meine vermeintliche Sicherheit zum Fallstrick geworden. Mit meinem System habe ich geglaubt, alles im Griff zu haben und habe versagt. 40 Dienstjahre lang habe ich mir vorgegaukelt, zum absoluten Wissen gelangt zu sein, bis ich nun, ein paar Monate vor meiner Pensionierung, über nichts so gut Bescheid weiß, wie dass ich versagt habe. Erinnerte mich heute noch jemand an den Nachtdienst und mir fiele mein System ein, so müsste ich mich schämen. Und erbäte einer von mir eine Antwort, wie der Nachtdienst zu verstehen sei, so würde ich sagen: "Er ist die große Auseinandersetzung mit der nur allzu schwer erkennbaren Bedingtheit des Daseins, die mit der späten Abenddämmerung beginnt und im ersten Morgengrauen endet. Und ich würde hinzufügen: Und vergiss nicht, o Mensch, dass du auf die Welt gekommen bist, im Miteinander der Mitmenschen deinen Frieden zu finden!"

Der Nachtdienst! Was für ein Dienst! Die Sonne ist bereits untergegangen und über die ins Dunkel taumelnde Erde wölbt sich wie ein ungeheuerlicher Schädel die Nacht. Zu dieser Zeit beginnen die ersten Gefängnisscheinwerfer ihre Arbeit. Und während sie noch dabei sind, beinahe wie zur Probe ihre Blitze auszusenden, beginnt auch der Nachtdienst. Eine lange Einübungszeit brauchen diese Lichtblitzgiganten allerdings nicht. Siegreich ist dieses Licht, wenn es gilt, Widersetzliches und Aufrührerisches aufzuspüren und zu zerstören und damit jeden Flucht- und Ausreißversuch zu unterbinden! Wenige Minuten schon, nachdem sie ihre Arbeit aufgenommen haben, vermag nichts mehr, sich ihrem Licht zu widersetzen. Was nicht von selbst klein wird und sich auflöst, wird aufgegriffen und von den Strahlen zerrieben. Diese Lichter wissen gleichsam, dass das Gefängnis nur aus potentiellen Flüchtlingen und Ausreißern besteht und dass sie dazu da sind, sie schon von einem Gedanken an einen Fluchtversuch abzuhalten. Und doch ist das nur die eine Seite; die andere Seite, auch wenn sie nur von ganz wenigen bemerkt wird, ist die, dass auch das Licht aus solchen Auseinandersetzungen nicht unbeeindruckt und spurlos hervorgeht. Zu Beginn der Nacht scheint das Licht noch frisch und aktiv, begierig, etwas von seinem großen Vermögen zu zeigen; später dann aber wirkt es oft müde geworden und alt und verbraucht. Die Vermutung liegt nahe, dass das Licht bei jedem Kampf mit dem Dunkel ein klein wenig trüber wird und dass es etwas verliert von seiner Überlegenheit und von seiner Unbesiegbarkeit. Um diesem Verfall zuvorzukommen und den Verschleiß möglichst gering zu halten, gibt es die Rotoren, mächtige, raffiniert gebaute Schwunggeber, die dem Licht zu Hilfe eilen, sodass es nur eben so viel an Kraft verströmt, wie ihm an neuer Kraft wieder zukommt. Dass sie sich in kurzen Abständen in beiden Drehrichtungen zu drehen vermögen, ist noch das Geringste. Auch dass sie sich so schnell zu drehen vermögen, dass die Drehrichtung allein aus den Lichtblitzen niemals ermittelt werden kann, gehört dazu. So kunstvoll scheinen diese Rotoren gebaut, dass sie sich vom Verhalten verständiger Wesen kaum unterscheiden. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass sie sich vorzugsweise dorthin wenden, wo eine Gefahr im Verzug ist. Das ist vornehmlich rund um die Arbeitshallen und um die alten Geräteschuppen der Fall, wo das Gelände verbaut und unüberschaubar ist. Wenn aber ein Sektor schon längere Zeit nicht mehr ausgeleuchtet worden ist und er dann in der Folge beinahe in jedem Augenblick mit Strahlen aufgehellt wird, so muss das noch immer nicht viel bedeuten. Man mag dann zwar den Eindruck haben, als sei dort etwas Verdächtiges aufgedeckt worden, es kann aber ebenso gut sein, dass das augenblickliche Interesse einer ganz anderen Stelle gilt und dass das wiederholte Beleuchten einer Stelle nur dem Zweck dient, einen Ausreißer in Sicherheit zu wiegen. Durch solche Scheinmanöver werden Ausreißwillige ordentlich in die Irre geführt, so dass schon manch einer auf seiner Flucht gescheitert ist. Was immer aber auch geschieht, stets scheint das Licht auf seine Gegenwart aufmerksam machen zu wollen, gleichsam als wolle es sagen: "Vergesst nicht, ihr seid überwacht!"

Die Anlage der rotierenden Blitzlichter, so heißt es auch in einem Begleitheft zu den Dienstvorschriften, erfüllt hauptsächlich die Aufgabe, dem Gefangenen einzuschärfen, dass man ihn überall sieht. Nichts ist diesen rotierenden Lichtgiganten zu gering, ihre Macht zur Schau zu stellen, zumal zu Beginn der Nacht. Selbst so Nebensächliches wie eine im Wind bewegte Kehrrichttüte entgeht ihnen nicht, als hätten sie sich in den Kopf gesetzt, selbst noch die Schatten aus ihren Schanzen zu schlagen. Es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Rotoren in ihrer Spielfreude manch einen Gegenstand, der zuerst noch am Boden liegt, in Bewegung bringen, um ihn dann zu verfolgen. Anders sieht es aus, wenn sie irgendwo im Dunkel die Gestalt eines Häftlings ausfindig gemacht haben. Auch wenn dann die Arme der Rotoren in behäbiger Monotonie weiterrotieren, bleibt die Entdeckung nicht ohne Folgen. Und würde sie auch von den Leuten in der Direktion vergessen werden, die Rotoren vergessen sie nicht. Wenn da ein auf der Flucht befindlicher Gefangener versucht, die Aufsicht habenden Beamten zu täuschen, indem er etwa mit einem Steinwurf an ferner Stelle ein Geräusch erzeugt oder indem er ein Wort auf irreführende Weise in die Nacht hinaus schreit, sodass es aus der entgegengesetzten Richtung widertönt - die Gefangenen vermögen da so manches -, so mag zwar manch ein Beamter der Täuschung erliegen, nicht aber die Rotoren. Selbst wenn der Fall längst bereinigt ist und kein Mensch mehr an ihn zurückdenkt, ist einem mitunter, als ob sich die Rotoren noch nach jenem Ort umwendeten, wo sie zuerst den Fluchtversuch aufgespürt haben. Dabei scheint es keineswegs so zu sein, dass sich die Rotoren nur für die Orte außerhalb des Gefängnisgebäudes interessieren. Ein weitverzweigtes Geflecht kleiner und kleinster Spiegel lässt vermuten, dass sie sich auch Kunde über die Vorgänge im Innern verschaffen. Wie viel aber auch die Lichtscheinwerfer beitragen zur Aufrechterhaltung der Ordnung bei Nacht, so ist sie nur ein Teil der Gesamtüberwachung. In den Dienstvorschriften heißt es denn auch dort, wo die Vorschriften am deutlichsten aus der Allgemeinheit und Unbestimmtheit hervortreten: "Sollte ein Ausreißer nicht von den Rotoren gestellt werden, so muss er von den Hunden gestellt werden. Kann er nicht von den Hunden gestellt werden, so tragen die Einfriedungs- und Wehrmauern die Verantwortung. Sind aber auch diese nicht mehr in der Lage, so trägt nur noch der Wachthabende die Verantwortung."

Mit dem ersten Blitzlicht der Gefängnisscheinwerfer beginnt nun also der Wachtdienst. Gemäß den Dienstvorschriften ist er vom Wachthabenden in einem Stück zu absolvieren. Dabei gliedert er sich in drei, zeitlich fest begrenzte Abschnitte. Die erste Nachtwache beginnt mit Sonnenuntergang und reicht bis Mitternacht; die zweite erstreckt sich bis zum Morgengrauen, wenn der erste Hahnenschrei ertönt; die dritte findet mit dem Aufgang der Sonne ihr Ende. Wie die drei Teile zeitlich klar bestimmt sind, so sind sie auch aufgabenmäßig nicht minder klar unterschieden. Der erste Teil muss als Zeit strengster Beobachtung in ständiger Bewegung verbracht werden. Nirgends darf der Wachthabende für längere Zeit bleiben, noch auch darf er mit jemandem sprechen. Still und unauffällig hat er den gesamten Bereich des Gefängnisses abzuschreiten, von den Mauern der frei stehenden Gebäude bis zu den Mauern der Außenanlagen und hat sich dabei, wie es heißt, auf die Nacht vorzubereiten. Kein Ort, weder im Gefängnisgebäude noch auf dem äußeren Gelände darf von ihm in dieser Zeit unkontrolliert bleiben. Selbst die Stellen, die nach menschlichem Ermessen niemand zu einer Flucht beschreitet, muss er wenigstens einmal aufsuchen. Hat sich ihm aber an irgendeiner Stelle etwas Verdächtiges gezeigt, so hat er, ohne seine übrigen Arbeiten dabei einzuschränken, derselben seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen, wenn nötig, unter Anforderung eines zusätzlichen Wachthabenden oder zusätzlicher Wachthunde. Was diesen letzten Punkt angeht, so mahnen die Vorschriften allerdings zu höchster Sparsamkeit. Jede aus dem Gewohnheitsgemäßen fallende Maßnahme bringt Gefahren mit sich, heißt es dort. In der Tat, haben Ausreißer ihr Vorhaben schon dadurch erfolgreich beendet, dass sie den Wachthabenden zu einer ihm ungewohnten Verfahrensweise überlistet haben.

Um Mitternacht dann beginnt der zweite Teil des Nachtdiensts. Nach dem ersten Teil, der in alten Handschriften noch als die Zeit der sich einübenden Geduld bezeichnet wird, beginnt nun die Zeit der sich bewährenden Erwartung. Im Gegensatz zum ersten Teil lassen einem die Dienstvorschriften jetzt einen viel größeren Freiraum. Nach früheren Auslegungen lässt sich die nun beginnende größere Freiheit als Frucht des bereits bestandenen ersten Teils deuten. Heutigem Verständnis gemäß bezieht sich die Lockerung in den Dienstvorschriften vornehmlich auf das Leistungsvermögen des Einzelnen. Man darf ja nicht vergessen, dass alle, die nachts Dienst tun, diesen zusätzlich zu ihrem Tagdienst verrichten. Dabei ist nicht einerlei, ob einer müde und abgearbeitet oder frisch und ausgeruht an die Arbeit geht. Wie es scheint, hat man in der Rücksichtnahme auf den Einzelnen versucht, den Gefahren zu entgehen, die aus einem allzu genauen Beobachten vieler Einzelheiten entstehen könnten. Man muss ja nicht glauben, dass der Dienst ohne präzise und kontrollierbare Anweisungen nicht anders als schlecht verrichtet werden könnte. Keiner unserer Beamten würde es sich getrauen, sich zu einem Nachtschläfchen irgendwohin zurückziehen, nur weil ein solches nicht ausdrücklich von den Vorschriften erwähnt wird. Schon die Vorstellung, sich an einer Mauer anzulehnen, um für ein Weilchen die Augen zu schließen, ist für ihren Diensteifer ein Gräuel. Wo aber unsere müde und schwache Natur an ihre Grenzen kommt, wäre es wider alle Vernunft, sie auch noch durch unerfüllbare Vorschriften zu drangsalieren.

Freilich muss ich nicht verschweigen, dass wir es uns zur Regel gemacht haben, uns in diesem zweiten Teil der Nacht noch enger an den uns begleitenden Wachthund anzuschließen. "Lass den Wachthund tun, was du für angemessen und gut hältst, und tu selber, was mit dem Vorhaben deines Wachthundes übereinstimmt." So steht es in den Dienstvorschriften und so war es auch in meinem System verankert, auch wenn ich mich nicht daran gehalten habe. Eine Nacht lang ununterbrochen den Strahlen der Scheinwerfer ausgesetzt zu sein und nicht nur sie zu ertragen, nein, auch noch sämtliche Szenarien im Kopf zu haben, deren man gewärtig zu sein hat, das überstiege eines Menschen Kraft.

Da sitzen nun also Mensch und Hund unter dem Kuppeldach, ohne sich zu rühren, während die Flügel der großen Rotoren dröhnend über ihnen kreisen. Unter dem Anprall der grellgelben Lichtblitze sind inzwischen selbst die härtesten Gegenstände müde und mürbe geworden. Der Hof mitsamt den Geräteschuppen und Werkhallen und den Erholungsplätzen, die innere und die äußere Mauer mit dem dazwischen befindlichen Wassergraben, die Pfähle und Stacheldrähte, der Starkstrom, der ruhelos die Drähte durchpulst: alles scheint jetzt nur noch nach Schlaf zu verlangen. Nur Mensch und Hund machen da noch eine Ausnahme: Der Hund, indem sich jetzt zeigt, dass er einer zweiten Natur gehorcht, und der Mensch, indem er sich von seinem Hund anstecken und mitreißen lässt. Den Oberkörper kraftvoll emporgerichtet sitzt der Hund da, Augen und Ohren auf jedes noch so kleine Ereignis gerichtet und nichts, aber auch gar nichts vermag ihn anzufechten. Wie kein anderer hat er es gelernt, die Bewegungen, die vom Anprall des Lichts verursacht werden, von jenen Bewegungen zu unterscheiden, die der Unbotmäßigkeit entspringen. Im letztgenannten Fall beginnt er, die gespitzten Ohren hin und her zu drehen und zu winseln, während die Vorderpfoten auf den Treppenstufen leise zu scharren beginnen. Alles geschieht zuerst nur andeutungsweise, dann aber immer deutlicher und unduldsamer, bis der Beamte ihn zu sich heran zieht und der Einsatz beginnt.

Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass es kaum ein Lebewesen gibt, das unsere Hunde an Selbstbeherrschung übertrifft, was auch nicht verwundert, sind sie doch viele Jahre auf eben dieses Ziel hin trainiert worden. Auf unzähligen Lehrgängen haben sie sich als die besten ausgezeichnet, ehe sie zu uns kamen, so dass sie es nicht mehr nötig haben, an der falschen Stelle Mutproben abzugeben oder sich an tollkühnen Stückchen zu versuchen. Etwas Verrücktes zu wagen, haben sie sich längst abgewöhnt. Ihr Wert besteht vielmehr darin, dass sie sich gleichsam selber an der Leine halten, ehe sie sich zusammen mit dem jeweiligen Beamten zu einer Aktion entschließen. Weit entfernt davon, das erstbeste zu tun, was einem der Instinkt eingeben mag, aber auch entfernt davon, in praxi umzusetzen, was sich die Beamten bei Berücksichtigung der gegebenen Mittel und unter den gegebenen Umständen ausgedacht haben, gehört es zu ihrer zweiten Natur, erst davon Kunde zu geben und eine Bewilligung einzuholen, ehe sie sich an die Ausführung machen. Versteht sich, dass dies alles lautlos und in geschuldetem Respekt dem Dienstherrn gegenüber von Statten geht. Die letzte Entscheidung, das wissen unsere Hunde, liegt stets beim diensthabenden Beamten, selbst wenn er eine Maßnahme ergreifen sollte, die ihnen ganz und gar unpassend zu sein scheint. Und führte auch die Entscheidung eines Beamten zu ihrem Tod, so ist ihnen genug, in Erfüllung der Dienstanweisung gehandelt zu haben.

Wenn dann der zweite Teil des Nachtdienstes zu Ende geht, bekommt der Wachthund einen Imbiss. Über diesen Imbiss ist schon viel nachgedacht worden und auch in unseren Dienstvorschriften findet sich einiges dazu. Die Meisten sind der Ansicht, dass der Wachthund nicht nur einen Imbiss verdient hat, sondern dass er einen solchen auch braucht: und zwar sowohl zur Stärkung als auch zur Vertiefung seiner Zuneigung zum Beamten. Daneben aber hat die Fütterung noch einen weiteren Sinn. Wie nämlich die Erfahrung über viele Jahre gezeigt hat, ist es gerade um diese Zeit, wo die Müdigkeit unserer Beamten ihren Höhepunkt erreicht. Gegen diese Müdigkeit würde selbst der angespannteste und energischste Wille nichts mehr ausrichten, käme ihm jetzt nicht diese handfeste, praktische Arbeit zustatten. Wohl wäre es den meisten, gegen die Versuchung des Schlafs kämpfenden Beamten lieber, sie könnten still oben unter der Kuppel bleiben; doch unsere Hunde lassen nicht locker; sie sorgen dafür, dass der Beamte in den Hof hinunter geht und die Türe zu den Fütterungsplätzen aufschließt. Versteht sich, dass es bei diesem Imbiss von Seiten des Hundes kein Lärm aufkommt. Wenn man etwas hört, kommt es allenfalls von einer Maus oder sonst einem nächtlichen Nager, der sich dem wohlzubereiteten Mahle hinzu schart.

Immer wieder hat man sich überlegt, ob man für den dritten Teil der Nacht ein ausdrückliches Schlafverbot aufstellen solle. Allein, was nützen gut gemeinte Vorschriften, wenn sie über die Kraft des Einzelnen hinausgehen? Wiewohl gewiss keiner daran denkt, sich irgendwo niederzulegen, sind Anlässe nicht zu vermeiden, wo dem Wachtmann, wenn auch nur für ein paar Augenblicke, die Augendeckel zufallen. Erließe man eine solche Vorschrift, so hätte das nur zur Folge, dass man sich mühte, ihn zu einer heroischen Unterdrückung seiner Natur anzuhalten, was zu nichts Gutem führte. Im Übrigen ist das Schlafverbot im Begriff des Nachtdienstes mitenthalten. Offiziell heißt es: "Im dritten Teil der Nacht bedarf der Wachthabende keiner speziellen Vorschriften mehr." Man setzt also ganz auf die persönliche Eigenart und auf den Erfindungsgeist, den jeweils besten Weg durch die Nacht zu finden.

Manche erheben an dieser Stelle die Frage, warum ein Beamter die ganze Nacht über Dienst tun müsse. Ob es nicht besser wäre, für den Nachtdienst frische Leute zu rekrutieren oder doch zumindest mit Beginn des zweiten oder dritten Teils den Diensthabenden durch einen frisch ausgeruhten, neuen Mann zu ersetzen. Vertreter einer solchen Änderung der Dienstordnung werfen der Behörde vor, wenn sie auch auf uralte Bräuche verwiese, so geschähe dies doch nur aus Einspargründen und nicht im Glauben an den Sinn der Tradition. Im Übrigen müsse man "dort droben" endlich zur Kenntnis nehmen, dass wir in einer neuen Zeit angekommen seien, wo ein Beamter seinen Beruf als einen strikt definierten und befristeten Job versteht und nicht als eine zu jedem Opfer verpflichtende Berufung. Ein Wachthabender sei eben auch nur ein Beamter. Der Vorschlag, neue Leute in den Dienst zu bringen hat nun zwar durchaus etwas für sich, doch sollte man nicht vergessen, dass einem Neuen das Gespür dafür abgeht, was hier und jetzt gerade in Gang ist, unerachtet der kritischen Phase, die der Wachthabende auslöst, wenn er seinem Nachfolger den Lagebericht erstattet. Könnte dies nicht ins Kalkül von Ausreißern passen, eben diese Zeit zu nutzen und sie zu einem Fluchtversuch zu ermutigen?

Was mich betrifft, so habe ich den dritten Teil der Nacht stets unter der Kuppel begonnen. Von der uns zustehenden Möglichkeit, den Hund nach dem Imbiss zu wechseln, habe ich nie Gebrauch gemacht. Die Wahl des rechten Wachthundes ist der halbe Dienst, heißt es zwar in den Dienstbestimmungen, doch hieß das für mich niemals, ihn ständig auf seine Brauchbarkeit hin mustern zu sollen, um ihn, wo möglich, schnell zu wechseln. In einem Beiheft zur rechten Behandlung unserer Hunde kann man nachlesen, was man zu tun hat, wenn ein Hund müde wird. Es gibt da mancherlei Ratschläge, die man durchaus als erprobt beherzigen mag. Es gibt dort aber auch einen Hinweis, was zu tun ist, wenn einem der Hund nach dem Imbiss die weitere Zusammenarbeit versagt. Wenn nichts mehr fruchtet und du keinen Hund zum Auswechseln in der Nähe hast, so bedienst du eine Vorrichtung, die dicht neben der Fressstelle angebracht ist. Es ist eine Art Druckknopf, den du mit dem Fuß leicht zu drücken vermagst. Beinahe schon eine Berührung genügt zur Auslösung, dann saust der Hund mitsamt dem Fresstrog lautlos in die Tiefe. Es hat wohl schon Fälle gegeben, wo ein Hund auf diese Weise verendet ist, doch spricht man hierüber nicht. Es ist eine schaurige Vorstellung. Was mich betrifft, so wäre eine Auslösung oder gar Auslöschung nie in Frage gekommen. In meinem System war der Hund stets Teil eines Ganzen, sodass eine solche Maßnahme auch für den Wachthabenden das Ende bedeutet hätte. Nur zusammen mit meinem Hund war ich stark. War ich der Herr meines Hundes, so war der Hund seinerseits der Herr meines Gewissens. Nicht nur, dass er um alles Bescheid wusste, ich war mir stets auch sicher, dass er, selbst wenn ich die ganze Nacht verschliefe, doch für mich wachte und dass mein Dienst insofern fast etwas Verschwenderisches und Überflüssiges an sich hatte. Wenn es nun auch zu etwas Schrecklichem gekommen ist und ich mich selber gegen mein System vergangen habe, so trifft ihn keine Schuld. Gleichwohl wird er keinen Dienst mehr tun; das ist eine der Regeln, an denen man noch immer festhält und an der man wohl noch so lange festhalten wird, solange es Hunde im Dienst gibt.

Ja, mein Wolf! Welches Wesen hat jemals so viel Verständnis für meine Schwächen und Unzulänglichkeiten aufgebracht und mir gleichwohl gedient und an mich geglaubt, als wäre ich ein überragender Wächter? Wer jemals hat so mit mir gelebt, geatmet, korrespondiert? Wenn er mir ins Auge schaute, traf mich stets sein um einen Dienst verlangender, forschender Blick. Fern von aller Besserwisserei und Rechthaberei war dieser Blick, fern von aller Eitelkeit, gespeist nur von der Erwartung, meine Weisungen entgegen zu nehmen. Und wenn er einmal auf Erschöpfung und Müdigkeit seines Herrn stieß, was ja nur allzu oft geschah, schien er sie stets als eigenes Versagen auszulegen; ja, ich bin mir ganz sicher, dass er es geduldig ertragen hätte, hätte ich ihn dafür bestraft. Er wusste nicht nur, dass auch bei mir ein gelegentlicher kleiner Erholungsaufenthalt nötig war, er machte ihn mir auch möglich, indem er stets wachsam war und, wann immer er eine solche Not bemerkte, sich an mich drückte, als wollte er sagen: wenn du eine Erholung brauchst, vergiss nicht, dass ich da bin und dass du dich auf mich verlassen kannst.

Was doch dieses Tier alles geleistet hat! Dass ihm das Licht der Scheinwerfer nichts ausgemacht hat, war das Allergeringste. Diese Fähigkeit war ihm dadurch zugekommen, dass er sich bereits in jungen Jahren hatte angelegen sein lassen, das Licht, wider seine eigene Natur, wie einen Behagen stiftenden, warmen Regen auf sich niederströmen zu lassen. Bei Routineuntersuchungen, die allmonatlich an unseren Hunden vorgenommen werden, bestätigte er immer wieder seine Einmaligkeit: sei es, dass er die Skala der abgestuften Lichtwerte besser unterschied als jeder andere Hund, sei es in seiner Beweglichkeit, in der Ausdauer oder in seiner raschen Auffassungsgabe in schwierigen Situationen. Gerade bei den Aufgaben, wo es auf ein besonderes Einfühlungsvermögen ankommt, war er unschlagbar. Nur in der Schnelligkeit, im Gebrauch der Füße wurde er mit zunehmendem Alter von den jüngeren Hunden übertroffen. Nein, es war für mich gewiss nie von Nachteil, wenn ich den hauptsächlichen Dienst im dritten Teil der Nacht meinem Wolf überließ. Und gewiss wäre es auch besser gewesen wäre, ich hätte mir weniger zugetraut in jener Nacht, als die Katastrophe über mich hereinbrach.

Wie immer, so hatte ich auch zu Beginn jener Nacht meinem Wolf eingeschärft, mich nur ja nicht zu schonen, wenn ich schlapp machen sollte. Beiß mich, wenn es sein muss, und sei es auch in die Wade, hatte ich noch zu ihm halb schäkernd gesagt, eh wir zusammen loszogen. Ohne den geringsten Zwischenfall waren bereits die beiden ersten Teile der Nacht vorüber gegangen und nun stand uns also der Beginn der dritten Nachtwache bevor. Ich hatte meinem Wolf eben seinen Imbiss zuerteilt und war schon dabei, mit ihm die Kuppel hinaufzueilen, um von dort droben aus, dem Ende der Wache entgegenzusehen, als er plötzlich, etwa auf der Mitte der Treppe, stehen bleibt. Die Haare gesträubt, die Ohren gespitzt, die Augen voll unruhig flackernder Blicke stand er da und schaute in die große Halle hinab, mit dem Schwanz die höchste Erregung verratend. Obgleich ich seinen Blicken zu folgen suchte, konnte ich keine Gefahr erkennen. "Komm! Es ist nichts", sage ich und versuche, ihn sanft vom Geländer weg zu ziehen. Da begann er leise zu jaulen und zu winseln, wie ich es noch nie bei ihm gehört hatte. "Was hast du nur? Du zitterst ja!" sagte ich und strich ihm fürsorglich über den Rücken. Dann zog ich ihn, ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen Verhalten, mit mir hinauf. Oben angekommen drückte ich ihn abermals an mich, da ich sah, wie er noch immer verstört und verängstigt um sich schaute. "Du musst dich deines Alters wegen nicht schämen", sagte ich zu ihm. "Mögen auch die Augen etwas sehen, wo nichts zu sehen ist, und mögen einem die Ohren ihren eigenen Aufruhr vorgaukeln: alles das lässt sich immer noch ertragen im Verein mit einem uns vertrauten Wesen. Wir gehören doch zusammen, du und ich!" Und das Tier an mich drückend war ich froh, es fast schon wieder beruhigt zu haben. Jedenfalls deutete ich alles so oder redete es mir ein. Wie ich aber nach unten schaute, da war mir, als sähe ich den Herrn Direktor Dogmer, den Gefängnisdirektor. In unmittelbarer Nähe zum Treppenaufgang, dort, wo die fünf Trakte des Gefängnisses strahlenförmig aufeinander zusammenkommen, schien er zu uns die Treppe hinauf zu schauen. Dem Blick ausweichend, als hätte ich mir etwas zuschulden kommen lassen, habe ich die Augen niedergeschlagen, doch als ich abermals hinabschaute, denn ich war ja verpflichtet, die Übersicht zu behalten, sah ich ihn wieder, den Blick unverändert auf mich gerichtet.

Ein Versehen wurde immer unwahrscheinlicher. Wenn es auch nicht oft vorkommt, dass wir den Direktor zu Gesicht bekommen - abgeschieden vom Strafvollzug lebt er in seinem goldenen Büro -, so kennen wir sein Bild. Streng und groß, aufrecht und selbstbewusst, bereit zum Handeln, so steht er uns nun schon seit vielen Jahren vor Augen. Nicht nur im Eingang zum Gefängnis, in jeder Halle, in jedem Versammlungsraum ist sein Bild zu sehen. Auch jetzt glaubte ich etwas in seiner Gestalt und Haltung wiederzufinden, dass ich nicht umhin konnte, mich zu ihm hinab auf den Weg zu begeben. Im Widerspruch dazu hieß mich zugleich aber auch etwas zögern, weil mir war, als ob ich es wäre, dem hier in der Halle das Handeln zukommen müsste. Natürlich war ich verwirrt. Wenn es auch meinen Vorstellungen von unserem Direktor entsprach, dass er, wenn er etwas Regelwidriges entdeckt haben sollte, Zeit hatte und nicht alle Welt gleich in Alarm versetzte, so drängte sich mir auch der Gedanke auf, einen Gefangenen vor mir zu haben. Doch war das nicht absurd? Das Herr Direktor als ein Gefangener? Dass der Herr Direktor gekommen sein sollte, sich von mir, dem kleinen Beamten und Wachtmann die Entlassung aus dem Gefängnis zu erbitten? Wen hatte ich denn vor mir? Den mächtigsten Mann des Hauses oder einen Kriminellen, der, ausgebrochen war aus seiner Zelle, um mich mit dem Gesicht unsres Direktors zu narren? Wenn aber der Mann da drunten der Herr Direktor war, so wog die Frage, was er hier suchte. Er, der über jegliche Art von Technik verfügt, so dass er überall zu sein vermag, ohne leibhaft und wirklich da zu sein, was hatte ihn hergetrieben, jetzt zu nachtschlafender Zeit? Bislang stellte ich mir immer vor, dass der Herr Direktor, selbst wenn er des Nachts im Bett liegt, Monitoren um sich herum stehen hat, die ihn in alle von ihm gewünschten Räumlichkeiten tragen, er muss nur daran denken, schon ist er an dem gewünschten Ort. Und nun stand er da drunten, verängstigt und mutterseelenallein?

Wie ich nun also dabei bin, die Treppe hinunterzusteigen, sehe ich plötzlich eine Schar von Leuten aus dem Dunkel hervorkommen. Es sind Gefangene, ihre gestreiften Hosen und Hemde verraten sie als solche, auch wenn ich nicht weiß, wie sie hierher gelangt sind. Natürlich stehen sie nicht im Dienst des Direktors. Der schmale Abstand, den sie zwischen sich und ihm lassen, zeigt es. Und doch weht es mich kalt an. Eine ungeheuerliche Vorstellung beginnt sich in mir Bahn zu brechen: Wie, wenn der Herr Direktor Dogmer ihnen die Türen geöffnet hat, um mich in meinem Dienst zu überprüfen? Passte das nicht auch zum Verhalten meines Wolfs? Indes, hier war verbotenes Terrain, hier durfte ich nicht weiterdenken. Und so verschloss ich mir den Weg der ungebührlichen und ungeheuerlichen Gedanken, indem ich mir klar machte, dass um meinetwillen, um der Prüfung eines altgewordenen, kurz vor der Pensionierung stehenden Wachmannes willen, kein solcher Aufwand nötig war. Das konnte nicht sein.

"Holla, altes Haus!" rief ich meinem Wolf zu und packte ihn an der Leine. "Was hast du? Sind wir als zwei Feiglinge bekannt, denen man Beine machen muss? Auf geht's! Hinab!" Es gab für mich jetzt keinen Zweifel mehr, dass wir den Herrn Direktor aus der Schar der Häftlinge zu befreien hatten. Um mir zusätzlich noch Mut zu machen, bedauerte ich, dass ich allein war. Hätte ich wenigstens Gelegenheit, von vielen gesehen zu werden, so dachte ich noch, so könnten sich jetzt alle, denen man nichts zu sagen braucht, weil sie alles besser wissen, selber überzeugen, was es heißt, ein guter Wachthabender zu sein. Ohne von einer Dienstwaffe Gebrauch zu machen - ich hatte schon lange keine mehr bei mir, - würde ich den Herrn Direktor befreien, um dann die Häftlinge dorthin zurückzubringen, wohin sie gehörten, nämlich in ihre Zellen.

"Was haben Sie? Sie zittern ja!" sagte der Direktor zu mir, als ich nun neben ihm stand. Es war, als wollte er mich fragen, ob er mir nicht eine hinreichende Probe seiner Macht gegeben habe.

Auf dem Weg die Treppe hinab, hatte ich nämlich noch, gleichsam wie nebenbei, den Alarmschalter auszulösen mir vorgenommen, was er mir aber durch einen Wink untersagt hatte, woraufhin er mit einer Handbewegung die Gefangenen verscheucht hatte, zurück in ihre Zellen, als handelte es sich um eine Schar Insekten, woraufhin sie sich in die verschiedenen Gänge verteilten.

Da ich nicht wusste, ob er mich beruhigen oder mich auf die Probe stellen wollte, ergriff ich das Wort und sagte: "Mein Herr! Muss nicht jeder Diensthabende aller Gefahren gewärtig sein? Wenn also ein Wachtmann wie ich Gefangene vor sich sieht, die unerlaubt aus ihren Zellen heraus kommen und die nun auch noch dabei sind, den Direktor höchstpersönlich zu bedrohen, muss er ihnen dann nicht entgegen treten und sie an ihrem Tun hindern?" So sprach ich und sah mich um, bereit, auch ohne Hund, die Gänge hinaus zu eilen, bis ich auch den Letzten dieser Meuterer wieder hinter Schloss und Riegel hätte. Die Demonstration meiner Dienstbereitschaft hatte aber nicht den beabsichtigten Erfolg. Noch während ich dem Direktor versicherte, dass mich nichts an der Ausübung meiner Pflicht hinderte, wurden seine Blicke missbilligend und streng. "Wenn ein Gefangener aus seiner Zelle ausbricht", versetzte er, "so sagen wir, er hat etwas Unrechtes tut. Und wir sagen da nichts Falsches. Wenn wir dann aber gleich an Unbotmäßigkeit und Rebellion denken, der man mit den härtesten Strafen begegnen müsse, vergessen wir, dass wir selber es waren, die sich das Recht zugeschanzt haben, uns über die anderen zu erheben. Wir sprechen von Gerechtigkeit, doch wo ist sie, wenn wir immer nur nach dem Recht gesucht haben, uns das Leben leichter zu machen?"

In mir rumorte es gewaltig. Eben hatte ich noch geglaubt, diesen Mann unbedingt für den Direktor halten zu müssen, jetzt stand mir jemand gegenüber, der die Hausordnung sabotierte und der mich, indem er sich gegen Recht und Gerechtigkeit aussprach, aus meinem System heraus drängte. War dieser Mann wirklich der von uns allen so gefürchtete Direktor Dogmer, oder stand mir doch nur ein Aufrührer gegenüber, der sich geschickt in des Direktors Gestalt und Kleidung versteckt hatte? Zumal auch die Häftlinge, die bereits wieder bis zu uns vorgedrungen waren und die jedes Wort mitanhören konnten, bestärkten mich in der dunkeltrüben Annahme. Ich höre noch, wie er sagte: "Reiß er sich zusammen und tu er seinen Dienst, geduldig, standhaft, auch in der Bedrängnis!" Dann, mit einem Mal, war er verschwunden.

"Jawohl, es gibt Nächte, in denen alles ganz anders ist", sagte ein Häftling, der jetzt ungefähr dort stand, wo der Direktor eben noch gestanden. Es war Kamakim, ein Häftling, der noch nie etwas von Kooperation hatte wissen wollen und der mir bislang nur durch seine missbilligenden und lauernden Blicke aufgefallen war. Wie alle anderen trug auch er die einförmige Gefängniskleidung; doch auch wenn er schwieg und nichts weiter tat, wusste er sich durch seinen schwarzen Schnurrbart von den anderen abzuheben. Während er jetzt zu reden begann, merkte ich gleich, dass er etwas Besonderes im Schild hatte. Die Worte, die er durch mancherlei Bewegungen seiner Augen verstärkte, waren berechnend und klar, so dass er mich augenblicklich in seinen Bannkreis zog. Der nun, während die Blicke der übrigen Gefangenen allesamt auf mich gerichtet waren, versuchte mir klarzumachen, dass ich gegen sie in dieser Nacht keine Chance hätte. "Dass er es also nur weiß", sagte er, " und es nicht vergisst, in solch einer Nacht ist jeder Befehl umsonst und jedes Gesetz verliert seine Gültigkeit. Für einen Wachtmann aber wäre es das beste, er wäre in solch einer Nacht zu Haus geblieben, damit er nicht mitansehen muss, was geschieht."

Mit seinen prahlerisch anmaßenden Worten war er allerdings bei mir an den Falschen geraten. "Was soll das heißen!" rief ich aus. "Marsch ab, in eure Zellen! Wollen doch sehen, wer hier die Gewalt hat!" - Was mich neben seinen Worten besonders empörte war die Art und Weise, wie er sie vorgebracht hatte, vornehmlich die zur Schau gestellte, liebedienerisch geduckte Stellung, in der er sich mir dabei genähert hatte. Zugleich hatte er sie noch dazu benutzt, hinter dem Rücken seine Genossen herbeizuwinken, was sie auch taten. Einige von ihnen hatten bereits damit begonnen, mir an meinen Rockschößen herum zu zupfen. "Marsch ab, in eure Zellen!" rief ich abermals. Doch ließ ich es damit nicht bewenden. Nur zu gut lag mir in Erinnerung, wie sie sich zuvor auf den Wink des Direktors zurückgezogen hatten, um dann beinahe im Nu wieder zurückzukehren.

"Wie doch so ferne allem Geschehen ein Direktor ist!" dachte ich, während ich sie zu ihren Zellen zurücktrieb. Was ich nur an Machtmittel besaß, Selbstbewusstsein, Würde, Unerschrockenheit bis in den Tod: alles das warf ich in die Waagschale. Da glauben die Großen, das Spiel zu gewinnen, aber die Kleinen sind es, welche am Ende die Großen entlarven, weil die Großen nur über eine ihnen verliehene Macht verfügen. Da sitzen sie in ihren Direktorenzimmern, glauben alles zu sehen und zu hören und sehen und hören doch nichts. Mögen sie auch eine Ahnung haben von Paragrafen und Formalitäten und mögen sie auch über alles und jedes in wohltönenden Worten zu reden verstehen, wenn es einmal darauf ankommt, eine kritische Situation zu bewältigen, wissen sie noch nicht einmal, wo sich die Alarmknöpfe befinden. Sie kommen und gehen, wann immer es ihnen gefällt, ja, sie lassen sich durchs Leben tragen, als wären sie nur zu Besuch. Wenn aber wirklich einmal etwas passiert und niemand ist da, ihnen zu helfen, dann gute Nacht. Nicht lang würde es dauern, dann hätten die Gefangenen dem Direktor eine Gefängnisjacke übergestreift und ihn in eine der frei gewordenen Zellen gesperrt. Und ich schämte mich meines Vorgesetzten, da er den Einsatz zur Tat verpasst hatte.

Allen meinen Anstrengungen war indessen kein Erfolg beschieden. Es gab da zu viele Gänge und in den Gängen zu viele Zimmer und in den Zimmern zu viele Gefangene, als dass ich alles auf einen Streich hätte besorgen können. Denn hatte ich den einen wieder in seiner Zelle, so kam ein anderer von anderswo schon wieder aus seiner Zelle heraus. Es nutzten mir nichts all die Schlüssel. Und so dauerte es nicht lange, da waren bereits alle Häftlinge wieder um mich herum.

"Meine Herren!" versetzte ich, "es wird Zeit, dass wir diesem Spiel ein Ende bereiten." Nach diesen Worten machte die paar Schritte, die bis zum Schalter zu gehen waren. Meine Befürchtung bewahrheitete sich aber nicht. Denn ohne dass jemand versuchte, mich davon abzuhalten, gelangte ich dorthin und drückte ihn. In wenigen Minuten, so dachte ich, würden die Hilfskräfte da sein. Dann sollte sich alles klären!

Jetzt aber löste sich einer von ihnen, ein törichter Alter, der sich nur noch mühsam auf den Füßen halten konnte, und trat auf mich zu. Es war der alte Josef, wie sie ihn nannten. Er war mit Abstand der Älteste und am längsten Eingesessene. Niemals hatte ich besonders auf ihn Acht gegeben. Im Gefängnis war er alt geworden, ohne dass ich mir jemals darüber den Kopf zerbrochen hatte. Nirgends war er mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und was die Disziplin angeht, so suchte er ihr gerecht zu werden, so gut er konnte. Am liebsten saß er allein in seiner Zelle. Selbst zu den Spaziergängen über den Gefängnisplatz musste man ihn aus der Zelle heraus prügeln. Hätte man auch die Tür offen stehen lassen, es wäre ihm nie eingefallen, die Zelle zu verlassen. Dieser Josef war wirklich nicht der Mann, den man für eine Rebellion gebrauchen konnte. Erst jüngst, im heiteren Kreis der Gefängnisaufseher, waren wir darauf zu sprechen gekommen, ob der alte Josef wohl schon sein goldenes Gefangenenjubiläum gefeiert hätte, worauf sich eine Debatte anschloss, weshalb er überhaupt bei uns einsitze und seit wann. Keiner wusste es so genau. Aber selbst wenn er zu Recht bei uns eingesperrt war, musste seine Haftzeit längst vorbei sein. So plädierten die Einen. Die anderen aber, unter denen auch ich mich befand, plädierten dafür, der Sache nicht nachzugehen. Alles war gut so, wie es war. Wenn für den alten Josef irgendwo die Freiheit zu finden war, so hier im Gefängnis. Mit Gewalt müssten wir ihn aus dem Gefängnis stoßen. Und dann würde er vor dem Gefängnis sitzen wie ein ausgestoßener Hund und um Einlass betteln. Dieser Mann war es also, der vor mich hintrat. In unendlicher Demut, die noch durch die Hinfälligkeit seines Alters unterstützt wurde, war er vor mir stehen geblieben und wartete auf die Erlaubnis, sprechen zu dürfen. "Was willst du?" herrschte ich ihn an, ziemlich sicher, dass man ihn gegen seinen Willen angestiftet hatte.

"Er will nach Hause", sagte Kamakim, noch bevor Josef überhaupt die Frage verstanden hatte. Von fern hatte er zugeschaut und kam jetzt auf mich zu. Dicht vor mir, beinahe mich provozierend, blieb er stehen. Und während die Nächststehenden Josef bei der Hand fassten, gleichsam als ob er ohne ihre Hilfe tot umfallen müsste, sagte Kamakim: "Tun Sie ein gutes Werk! Sagen Sie unserem Josef, wo er zu Hause ist! Oder ist es nicht so, dass wir dahin zurückkehren müssen, woher wir gekommen sind?" Und auf des alten Josefs Sträflingskittel deutend zeigte er auf die Stelle, wo zu lesen stand: "Gefangener auf Lebenszeit!" Dabei ist er unschuldig! Wenn jemand auf der Welt unschuldig ist, so er!"

Voll Wut über das dreiste Verhalten, noch aber geistesgegenwärtig genug, um mich nicht zu etwas Widersetzlichem reizen zu lassen, erwiderte ich: "Ihr seid krank, allesamt krank. Hättet ihr eure Freizeit besser genutzt, statt euch der Krankheit des Aufruhrs zu ergeben, ihr wüsstet, was sich gehört!"

"Wir sind nicht krank", versetzte Kamakim, "auch wenn es Euch so vorkommen mag."

"Dann geht in eure Zelle und legt euch zu Bett!" wiederholte ich. Und morgen sehen wir weiter!"

"Sie täuschen sich, wenn Sie meinen, unsere Zelle sei unser Zuhause und dort stünde unser Bett!", entgegnete Kamakim. "Eigentlich müssten Sie als Wachtmann etwas darüber wissen, wo ein Mensch sein Zuhause hat. Oder ist eine Zelle nicht etwa ein öder und mutterseelenleerer Raum, in dem niemand auch nur für ein paar Stündchen auszuruhen vermag? Josef aber sucht nach einem Bett, in das er sich für immer hineinlegen kann. Wenn aber der Herr Wachthauptmann es nicht weiß und es ihm nicht sagen kann, wo dieses sein Bett zu finden ist, dann halte er ihn wenigstens nicht länger auf! Dann tue er, was ihm zu tun ansteht und lasse ihn frei!"

Der unüberhörbar fordernde Ton brachte mich nun vollends in Rage. Das war zu viel! "Ihr Heuchler und Betrüger!" schrie ich ihn an. "Ginge es nach euch, so hätten eure Zellen weite und freie Schiebetüren nach außen. Ein hübscher Balkon würde das Ensemble eurer Appartements nach außen hin abrunden, möglichst noch mit einer Freitreppe in einen idyllischen Garten. Da könnte man euch dann an schönen Sommertagen das Essen hinauftragen und euch servieren; und in den Sommernächten bei Mondschein könntet ihr euch hinab begeben zu einer Promenade in den Garten. - Doch nun verschwindet!"

Keiner aber verschwand. Sie alle, auch der Alte vor mir, blieben wie angewurzelt stehen und starrten mich an.

Da packte ich den Alten mit beiden Händen an seiner Schulter, indem ich ihn anschrie: "Wo bist du zu Haus? Sag es ihnen!"

"Bei der Mutter!" entgegnete er erschrocken, um dann leise hinzuzufügen. "Aber ich bin noch nicht bei ihr."

Ich hatte ihn nicht recht verstanden und wollte es noch einmal wissen.

"Er ist müde geworden und alt", schaltete sich Kamakim dazwischen. "Herr, lass ihn gehen!"

"Mein Herr, schlägst du mich jetzt nieder?" fragte der Alte, ohne dass er Anstalten machte, sich davon zu begeben.

"Simulanten! Hier wird keine Komödie gespielt!" schrie ich, weil man mich anstarrte, als hätte ich bereits den alten Josef niedergeschlagen. Kaum aber hatte mich der Gedanke erfasst, da lag der Alte vor mir in seinem Blut. Wie es geschehen war, weiß ich nicht. Nur dass es durch meine Hand geschehen sein musste, da ich ihm der Nächste war, lag nahe. Gleichwohl hätte ich schwören können, keine Hand bewegt und keinen Finger gekrümmt zu haben. Die Kameraden aber, ohne dass ich sie davon abhielt, eilten ihm zu Hilfe. Und während die einen ihn in die Höhe hielten und ihn anzusprechen versuchten, versuchten andere, ihm das Blut zu stillen und es abzuwischen, während wieder andere sich nach einer Trage umsahen.

Da ergriff Kamakim abermals das Wort. "Seht doch den Menschen!" sagte er und beugte sich mir zu, als begänne er ein vertrauliches Gespräch. "Glaubt Macht zu haben und Herrschaft demonstrieren zu müssen, wie einer, der seine Gegner im Blut versenkt, und offenbart doch nur seine Ohnmacht! Tage- und nächtelang haben wir geschwiegen und Mühsal und Elend ertragen, weil wir sicher waren, dass der Tag der Befreiung kommt. Schweigend und in Geduld haben wir einen Tag nach dem anderen verbracht, bis wir sicher waren, dass er da war. Heute ist der Tag gekommen. Heute ist er da. Heute werden wir nach Haus gehen, der alte kranke Josef zuerst und dann auch wir. Und wolltest du ihm den Heimgang verwehren, ja hättest du ihn so niedergeschlagen, dass er jetzt tot vor uns läge, es nützte dir nichts. Denn wenn er auch tot wäre, wir erweckten ihn zum Leben."

Hier hatte er eine Pause gemacht, vielleicht um mir für eine Replik Zeit zu geben. Doch ich schwieg und wunderte mich, dass die von mir angeforderten Hilfskräfte noch immer nicht zur Stelle waren.

Den Kamakim aber hatte die Begeisterung ergriffen. "Hättet ihr ihm die Tore eures Gefängnisses weit gemacht" sagte er, "und hättet ihm freigestellt, nach Haus zu gehen, er wäre nie gegangen. Ihn verlangte ja nicht, in die Einöde eurer Städte zurückzukehren, aus der ihr ihn vor über einem halben Jahrhundert verbannt habt. Jetzt aber, wo sich ihm die Tore geöffnet haben, die nicht von Menschenhand gemacht sind, jetzt habt den Mut und wenn nicht den Mut, so doch wenigstens die Klugheit, ihm nicht in den Weg zu treten. Aber ihr wisst ja nicht, was ihr tut, noch auch, was ihr getan habt. Euren Dienst nennt ihr das, was ihr tut und wofür man euch bezahlt. Was mich angeht, so mag alles seine Richtigkeit haben. Mich habt ihr eingesperrt wegen eines kleinen Diebstahls (er hatte an einem Banküberfall teilgenommen und war dabei erwischt worden) und so wurde beglichen, was zu begleichen war. Unsereins hat nichts zu erwarten, als dass er durchs Labyrinth der Welt geschoben wird, bis er von der Hand des Scharfrichters fällt. Dieser aber, was hat er getan? Wie er uns sagte, hat er seine Mutter umgebracht und hat dafür die Strafe für Mörder erhalten.

Aber das stimmt ja nicht. Das habt ihr ihm eingeredet, um etwas zu haben, wofür ihr ihn einsperren konntet, und der Narr hat es euch geglaubt. Mag sein, dass die Mutter bei seiner Geburt gestorben ist. Aber das ist etwas anderes. Jedenfalls ist das kein Grund, ihn dafür lebenslänglich einzusperren. Doch ich will euch sagen, weshalb ihr ihn eingesperrt habt! Man muss ihn sich ja nur genauer ansehen, so kann einem nicht entgehen, dass dieser Mensch in seiner Einfalt und Beschränktheit dazu wie geschaffen war, das Elend der Welt in sich aufzunehmen. Deshalb, und da ihr stets viele Verbrechen zu ahnden habt, deren Urheber ihr aber zu schonen trachtet, habt ihr ihn euch als einen bequemen Stellvertreter ausersehen. Die Tatsache, dass ihm die Mutter bei seiner Geburt starb, habt ihr ihm dergestalt erklärt, als hätte er ihr das Licht des Lebens ausgelöscht. Aber das stimmt ja nicht. In Wahrheit aber habt ihr ihn eingesperrt, um euch nicht selber einsperren zu müssen. Mit seinem Leben sollte er für euer Leben bezahlen Heute aber geht seine Strafzeit zu Ende. Heute geht er heim, zu seiner Mutter, sein Herz vor ihr auszuschütten und sie um Vergebung zu bitten."

Was er gesagt hatte, hatte zwar mein äußeres Ohr erreicht, doch war mir kein Wort ins Innere gedrungen. In Erwartung meiner Hilfskräfte war ich vollauf damit beschäftigt, die Häftlinge zu überwachen, die sich an dem alten Manne, der auf dem Boden lag, zu schaffen machten, wie auch das Brausen und Hämmern in meinem Kopf zu beschwichtigen, dass ich mit alledem nichts zu tun hätte, als abermals einer der Häftlinge auf mich zukam. Er hatte mit seinem Taschentuch die Blutlache wegzuputzen versucht, schien sich aber bei dem noch immer strömenden Blut von der Sinnlosigkeit des Unterfangens überzeugt zu haben. Der nun kam auf mich zu und rief, meine Beine umklammernd: "Vergebung, tausendmal Vergebung! Und Tränen wie schimmernde Kügelchen liefen ihm dabei über die Wangen. "Das ganze Leben hindurch haben wir uns gewehrt, im Wachthabenden unseren Feind zu sehen bis auf den heutigen Tag. Selbst noch im Tiefschlaf haben wir uns danach gesehnt, uns nach dem Takt eurer Anordnungen zu bewegen, so sehr waren wir davon beherrscht, euch zu gefallen. Dabei haben wir uns nur deshalb so geduldig verhalten, weil wir fest davon überzeugt waren, einmal in die Freiheit entlassen zu werden. Lassen Sie nicht zu, mein Herr, dass wir uns getäuscht haben! Bedenken Sie, auch wenn ihr uns mit euren Hunden auflauert und uns niederschlagt, so meint ihr es ja nicht böse." Um seine Worte zu prüfen, wandte ich mich an die Umstehenden und fragte sie, ob sie Reue empfänden über ihre Missetat. Ohne weiteres gestanden sie es zu. "Nun dann", versetzte ich, "dann verfügt euch in eure Zellen, und zwar ein jeder, und bleibt dort, bis der Tag graut!"

Die Ersten, mir zunächst Stehenden begannen denn auch, den Weg zu ihren Zellen anzutreten. Es schien mir, als würden sie nicht wieder umkehren. Nun aber erschienen ein paar Häftlinge mit einer alten Trage. Unbenutzt hatte sie die letzten Jahre auf der Bühne herumgestanden, eigentlich fürs Winterholz zum Verfeuern gedacht. "Exzellenz" fragten sie, "dürfen wir auch den Josef mit uns nehmen in die Zelle oder soll er hier liegen bleiben?" - "Exzellenz", sagte darauf der Mann mit dem Taschentuch, während die Kameraden, als hätte ich ihnen die Erlaubnis dazu gegeben, den in seinem Blut liegenden Josef auf die Trage zu legen begannen, "auch wir haben schon bessere Tage gesehen. Ein jeder von uns erinnert sich daran, einmal in einem weichen Bett geruht zu haben. Glaubt nur nicht, wir hätten nicht Tag und Nacht davon geträumt, uns einmal in ein ordentliches Bett zu legen und uns von der Mutter in den Schlaf küssen zu lassen. Nur dass wir uns nicht getraut haben, vor eure Hoheit zu treten und es euch zu sagen. Widrige Umstände, die den Unglücklichen stets begleiten, waren es gewesen, die uns immerfort abgehalten haben. O, wie viel Vorwürfe haben wir uns nicht gemacht, haben uns Feiglinge genannt und Verräter, um dann, wenn wir uns den nächsten Termin gesetzt hatten, auch diesen wieder verstreichen zu lassen. Wenn Eure Exzellenz uns für gemein und niederträchtig hält, so hat sie ja Recht. Nur in der Gemeinheit und im Selbstbetrug haben wir es zur Meisterschaft gebracht. Heute aber, wenn Exzellenz es gestatten, soll damit ein Ende sein. Heute wollen wir uns in unsere Zellen verfügen und dort bleiben, bis der Tag graut. Möge es Exzellenz als einen Beweis des von uns verlangten Gehorsams nehmen, dass wir noch einmal zurückgekommen sind, weil wir nichts tun wollten, was nicht erlaubt ist."

Währenddessen war noch ein anderer Häftling dicht an mich herangetreten. Auch er war einer, der zu den Ältesten gehörte. Auch er schien nur noch ein Lufthauch zu sein und ein Lufthauch würde wohl auch bei ihm genügen, ihn neben seinen Kollegen zu Boden zu strecken. Dieser also war an mich herangetreten, suchte mein Ohr auf, als hätte er noch eine Erklärung für mich, und sagte: "Nicht die Mauern dieses Gefängnisses sind es, die uns den Blick ins Weite und Freie versperren und unsere Augen trübe machen, noch auch jene von Tod strotzenden Pfähle und Zäune, die man davor angebracht hat; es sind die Mauern, die unsere Schmerzen erbaut haben, und die Pfähle im Fleisch, an denen wir zu Grunde gehen. Jeden Tag und jede Stunde haben wir sie gezählt und nie ist uns einer verborgen geblieben. Eines Nachts aber, das wussten wir, würden wir sie nicht mehr zu zählen haben. Dann würden alle Leiden und Schmerzen ein Ende finden. In dieser Nacht würde uns niemand mehr den Weg in die Freiheit verwehren. Und wenn wir auch nie wussten, wann diese Nacht sein würde, jetzt wissen wir es."

Nun begannen alle, die Halle zu verlassen, alle schön geordnet zu Zweien, wie ich es befohlen hatte, die Leute mit der Trage aber in der Mitte. Den Schluss endlich bildete Kamakim. Und als wollte er mir seine Loyalität auf ganz besondere Art bezeugen, wandte er sich immer wieder nach mir um, der ich hinter ihnen einherging. Und sie begannen zu singen:

 

In solcher Nacht schuf Gott der Schöpfung Licht.

Und schuf die Himmel unaussprechlich groß

Und maß der Erde Größe und Gewicht

Und hub die Berge aus der Erde Schoß

 

In solcher Nacht sang er sodann hervor

der Tempelstädte Rund mit festen Mauern;

Die Steine türmten sich von selbst empor,

Dass sie der Feinde Angriff überdauern.

 

Was wachsen muss, wächst auf, wird stark und groß,

Treibt Blatt und Blüte, streut den Samen aus,

Was aber fallen muss, fällt namenlos,

und keinen hält der Zwingherrn leeres Haus.

 

"Ihr seid ja betrunken!" rief ich, indem ich voller Zweifel stehen blieb. Denn einerseits schienen sie willfährig alles zu tun, was ich von ihnen verlangte; andererseits aber war unüberhörbar, dass sie etwas vorhatten, was absolut nichts mit meinem System zu tun hatte und was mir meine Stelle kosten konnte. Mir war, als ob Kamakim mich, und nicht ich die Gefangen zurück in die Zellen führte. Und so blieb ich stehen und war froh, dass ich noch dazu in der Lage war, während sich der Zug der Gefangenen weiter bewegte. Dann, als sie meinen Blicken entschwunden waren, eilte ich noch einmal zum Alarmknopf, auf den ich wütend mehrere Male einschlug. Alle Mann, die für den Notfall vorrätig waren, sollte man wecken und sie zu mir in den Westtrakt schicken, auf dass keine Flucht von dort möglich wäre. Nur, dass ich auf keinen meiner Anrufe eine Antwort bekam.

Während ich mich noch ein letztes Mal um einen Anschluss bemühte, hörte ich nur noch meinen Wolf. Ganz oben auf der Treppe, dicht unter der Kuppel, duckte er sich noch immer und winselte, dass Gott erbarm. Ich rief ihm zu, zu mir herab zu kommen, doch er kam nicht. Nun gut. Mochte er droben sitzen bleiben. Ich brauchte ihn nicht mehr. Nachdem ich auch noch am daneben liegenden großen Lichtschalter gescheitert war, er hätte mir das gesamte Innere des Gefängnisses in blendendes Licht getaucht, hatte ich nichts mehr zu verlieren. Furchtlos machte ich mich auf den Weg. Nein, ich machte mich nicht auf den Weg, ich rannte, ich stürzte ihnen nach. Angst oder Verzweiflung kannte ich jetzt nicht mehr. Wenn mir jetzt einer entgegengekommen wäre, mich zu vernichten, ich hätte ihm meinen Kopf hingehalten und ihn nur ausgelacht.

Freilich war ich nicht schlecht erstaunt, als ich sah, was inzwischen geschehen war. Statt sich unauffindbar in den Weiten des Baus zu verteilen, waren sie allesamt in Josefs Zelle hineinmarschiert. Nur Kamakim stand noch unter der Türe, wie ein Schulbub, der Ausschau hält auf die Ankunft des Lehrers. Ein Leichtes wäre es mir da wohl gewesen, auch ihn noch in die Zelle zu stoßen und sie von außen zu verschließen. Mein Verlangen aber stand nicht danach. Einen Schlussstrich wollte ich ziehen, wollte endlich wissen, woran ich war, und wenn ich dabei vor die Hunde ging. Also zwängte und drängte nun auch ich mich hinein in die Zelle.

Als Erstes fiel mir auf, dass das Zellenfenster offen stand. Das Gitter war vom Fenster losgelöst. Zum Fenster hinauf, früher in unerreichbarer Höhe für die Gefangenen, führte eine Holzstiege, eine aus zwei Brettern bestehende, durch kleine Querleisten behelfsmäßig zusammengefügte Treppe, auf der die Leute unterwegs waren. Dabei hoben sich die Leute, die die Fensteröffnung bereits erreicht hatten, gespenstisch gegen das draußen anbrechende Morgenlicht ab, so dass mir war, als hätte ich mich in ein Schattentheater begeben. Da aber zupfte mich ein Mann am Ärmel und sagte: "Mein Herr, warum lässt du uns nicht in Frieden ziehen?" Jetzt erst ging mir ein Licht auf. Und nun sah ich auch, wie sie, einer nach dem andern aus dem Fenster heraus traten.

Mag sein, dass ich noch ein paar von ihnen hätte aufhalten können. Doch was hätte es mir gebracht? Der Auszug hatte ja längst begonnen. Der mich als Diensthabenden belastende Tatbestand war gegeben. Mindestens die Hälfte von ihnen war bereits durchs Fenster hinaus gestiegen und lag nun irgendwo drunten auf dem Pflaster des Gefängnishofs mit zerbrochenen Knochen. Was sonst konnte der Fall sein?

"Wenn ihr nicht wisst, dass wir hier im vierten Stock sind und dass der Hof mit Steinen gepflastert ist, ist das eure Sache." Meine Antwort hörte der Mann nicht mehr. Längst war er wieder im Gewühle untergetaucht. Niemand achtete mehr auf mich. Alle waren sie nur noch damit beschäftigt, den Aufstieg hinter sich zu bringen und zum Fenster hinaus zu steigen. Immerhin wunderte mich, dass ich aus dem Abgrund keinen Aufprall und keinen Aufschlag hörte. Wie genau ich auch horchte, alles vollzog sich lautlos, in tiefer Stille.

Wie ein Luftballon, wenn man ihn in die freie Luft hinaus stößt, ruhig sich seinen Weg sucht, so ruhig und schwindelfrei schwebten die Leute die Leiter empor, nur die Arme ein wenig zur Balance ausbreitend. Und auch oben hielten sie nicht inne, sondern schwebten oder schritten durchs Fenster hindurch, als gingen sie über festen Grund. Einer nach dem anderen stiegen sie empor, als trügen sie keine Beinketten unter ihren Sträflingsanzügen und kennten keine Gebrechen des Alters. Endlich, der Raum hatte sich schon ziemlich geleert, kamen die Leute mit dem blutüberströmten Alten. In einer Ecke hatten sie mit ihm gestanden und abgewartet, um nun auch ihn durchs Fenster hinauszutragen. Wie geübte Artisten stiegen sie lautlos die Treppe hinauf und verschwanden mit ihm durchs Fenster. Endlich war nur noch Kamakim mit mir zusammen im Raum. Und fast, als ob er mir noch eine Rechenschaft oder eine Antwort schuldig wäre, sagte er: "Das ist die Quintessenz unserer Anstrengungen, die Meisterschaft, zu der wir es gebracht haben, die Kunst unseres Lebens! Ja, mein Herr, hätten die Herrschaften an etwas anderes gedacht, als immer nur stumpfsinnig uns auszupeitschen, vielleicht wär ihnen das Wunder unseres Flügelkleids nicht entgangen." Dann sah ich, wie auch er die Treppe hinaufschwebte und verschwand.

Kaum war er aus meinem Gesichtsfeld, da stieg nun auch ich die Treppe hinauf. Allerdings nur bis zum Fenster. Da aber sah ich, wie falsch ich mir alles zu Recht gelegt hatte. Menschenleer lag der Gefängnishof unter mir, menschenleer schaute er zu mir herauf. Niemand lag drunten im Hof, zerschellt auf dem Pflaster. Über die Gefängnismauern hinweg aber führte eine Brücke ins Weite. Vom Fenster aus führte sie hinaus, in die Weiten eines hell beginnenden Morgens, ohne dass ein Ende abzusehen gewesen wäre. Auf der Brücke aber sah ich die Gefangenen dahinziehen, wie Seiltänzer, leicht und frei, als hätten sie sich auf nichts anderes ihr Lebtag lang vorbereitet: die zuletzt aus dem Fenster Getretenen noch zum Greifen nahe, mit Balancierstangen, die sie eher zum Ausweis ihrer Kunst mit sich trugen, als dass sie von ihnen einen echten Gebrauch machten. Die vorderen aber waren schon so klein geworden, dass an ein Herabfallen überhaupt nicht mehr zu denken war. So zogen sie dahin, ein gespenstischer Zug.

Wie lang ich am Fenster gestanden und ihnen nachgeschaut habe, weiß ich nicht mehr. Was war denn geschehen? Ein Leben lang hatte ich nichts anderes getan, als mir alle diese verbotenen Fälle auszuträumen und nun, wo sie Wirklichkeit geworden waren, befremdeten sie mich? Hatte ich nicht ordnungsgemäß meinen Dienst verrichtet und die vorgeschriebenen Gänge nicht zum rechten Zeitpunkt und auf die rechte Weise durchgeführt? Hatte ich nicht zu Beginn der dritten Nachtwache den Hund gefüttert und war zurückgekehrt unter die Kuppel, wie ich es schon immer getan hatte? Warum hatte ich nichts gemerkt von den Vorbereitungen, die im Gang waren? Enttäuscht stieg ich in die Zelle zurück. Dunkel war es in mir geworden. Die letzte Freude und Lebenslust waren verglommen. Mir war, als ob mich bereits alle Welt in meiner Schande erblickte, weil mein System versagt hatte.

Mit angespanntem Herzen habe ich der Stunde entgegengeharrt, in der ich zum Direktor bestellt war. Es war mir klar, dass ich Rechenschaft abzulegen hätte über den Nachtdienst. Soweit hatte man immerhin noch meine Würde respektiert, dass ich nicht in Haftschellen abgeführt wurde. Was mich aber besonders quälte, das war, dass ich auf meinem Weg zum Direktor meinen Wolf zu hören meinte. Ganz in der Nähe glaubte ich, ihn zu hören. Wie mir schien, suchte er nach mir, oder er hatte mich wahrgenommen und wollte zu mir. Wie gern hätte ich noch ein paar Worte mit ihm gewechselt, eh man ihn erschösse.

Der Untersuchungsraum, in dem ich mich einzufinden hatte, war ein erbärmlicher Raum, der selbst noch am hellen Tag vor Dunkelheit überquoll. Und wenn nicht der große und schwere Schreibtisch drin gestanden hätte mit dem Sessel, so hätte man ihn für eine Gefangenenzelle halten mögen. Ich hatte geklopft und war eingetreten, da hörte ich eine Stimme. Ich erkannte sie von gestern Nacht wieder; es war die Stimme des Direktors. Er fragte mich, ob ich der einbestellte Wachtmann sei, was ich bejahte. Noch einmal fragte er mich, während ich ihn am Schreibtisch erkennen konnte, ob ich der einbestellte Wachtmann sei. Mit dem Kopf hatte er auf der Tischfläche gelegen, die Arme wie zum Schutz drum herum gelegt. Jetzt arbeitete er sich empor. Ob ich wüsste, dass in der vergangenen Nacht Gefangene aus der Zelle des alten Josef ausgebrochen seien, wollte er wissen. Was für eine Frage! Und dass es in der großen Halle zu einem Blutvergießen gekommen war! Ich sagte alles, wie es sich mit meinem Wissen deckte. Auf alles aufs Genaueste zu antworten, ohne alle Beschönigung, hatte ich mir ja vorgenommen. Was auch bedeutete mir noch mein Leben? Mochte die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen. Mochte der Mann, der da hinter dem Schreibtisch saß, der sein, der mir in der gestrigen Nacht begegnet war, ja mochte er auch der Urheber all der katastrophalen Ereignisse gewesen sein: ich hatte mir vorgenommen, alles still und widerspruchslos hinzunehmen. Ist man entlassen, so sagte ich mir, dann muss man auch über den Vorfall nicht mehr nachdenken. Ein neuer Beamter wird eingestellt und die Sache hat ein Ende.

So begann ich denn, von den Geschehnissen in allen Einzelheiten zu berichten, beginnend mit dem Beginn des Nachtdienstes. Anfangs nickte der Direktor noch leise und sagte, fast wie zur Aufmunterung, das könne jedem einmal passieren. Nach und nach aber schien seine Aufmunterung zu erlahmen. Nur noch die Augen ruhten auf mir, während der Kopf wie in schneeweißen Haaren erblühte. Als ich auf den dritten und letzten Teil des Nachtdienstes zu sprechen kam und den Mann erwähnte, bei dessen Erscheinen mein Wolf so erschrocken reagiert hatte - denn dass das der Herr Direktor Dogmer selber war, das auszusprechen erlaubte ich mir nicht -, presste er nur die Lippen zusammen. Endlich fragte er mich, warum ich mich nicht des Alarmknopfs bedient und Verstärkung herbeigerufen hätte; dies wäre doch das einzig korrekte Verhalten gewesen, das mir mein System nahegelegt hätte. Ich antworte ihm, dass ich den Schalter und später auch des Telephons mich bedient hätte, leider aber ohne Erfolg, verschwieg ihm aber, dass doch er selber es war, der mir untersagt hatte, zum Schalter zu eilen und der wohl auch die Verbindungen gekappt hatte.

Jetzt aber schaute der Herr Direktor auf. Ich sei doch der Mann, der stets von seinem System gesprochen habe, sagte er. Er war aber gut beraten, keine Antwort von mir zu verlangen. Wie schön und trefflich sich doch reden lässt, dachte ich, wenn man weiter nichts zu tun hat, als seinen Schreibtisch zu hüten. Und nachdem er bald auf mich, bald nach dem Licht geschaut hatte, ergriff er abermals das Wort und begann von den Söhnen zu sprechen, die ein Anrecht darauf hätten, das Gefängnis in Würde zu verlassen. Zwar werde einem jeden seine Strafe zugemessen und manch einer werde zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt, doch entschieden die Gerichte nicht darüber und könnten auch niemals darüber entscheiden, wann einer genug gelitten habe. Auch der Muttermörder habe ein Recht darauf, zu seiner Mutter heimzukehren.

Alles das hatte der Herr Direktor gesagt, als ob er nur mit sich spräche. Ich aber, Groll im Herzen, dachte nur daran, dass er doch längst die Konsequenz aus seiner erbaulichen Rede hätte ziehen können. Jetzt aber schaute der Herr Direktor Dogmer auf und sagte, ich könne gehen.

Auf die einstweilige Suspension vom Dienst folgte die Entlassung. Ob der Herr Direktor Dogmer auch um seine Entlassung ersuchte? Ich glaube kaum. Er hatte vermutlich an einer kleinen, vorübergehenden Betroffenheit genug. Wäre er mein Vater gewesen oder zumindest ein väterlicher Freund, ich hätte ihn vielleicht verstanden. Aber uns einte nichts. Und wenn er auch die rechte Entscheidung getroffen hatte, indem er dem alten Josef den Heimgang freistellte, so war es doch ich, der dafür zu zahlen hatte. Mochten auch viele davon sprechen, dass wir alle Söhne unserer Mutter waren, das alles waren nur Worte. Man kann die Wahrheit sagen, auch wenn man sie mit der eigenen Praxis nicht beglaubigt. Mit dem Gefängnis habe ich nichts mehr zu tun. Immerhin sollen schon bald nach meiner Entlassungen sämtliche Dienstvorschriften revidiert worden sein.

13. Das Kriminalbuch meines Falles

Viermal hatte ich nun schon das Treppenhaus umrundet, als ich im obersten Stockwerk ankam. Jetzt aber befand ich mich im Wohnzimmer. Ich war zwar allein, doch merkte ich von meinem Allein-Sein nicht viel. Die von früher vertrauten Dinge waren gegenwärtig und schienen mir zu genügen. Zumal die langen, bis auf den Boden reichenden Gardinen aus weißem Store vor dem Fenster vermittelten den Eindruck, zu Haus zu sein, fast als hätte die Wohnung die vielen Jahre über nichts weiter getan, als auf mich zu warten. Jetzt aber hörte ich die Glocken vom städtischen Münster den Tag einläuten, was mich ein wenig erstaunte, da ich mich nicht erinnern konnte, vom elterlichen Wohnzimmer aus jemals die Münsterglocken läuten gehört zu haben. Dabei schallten sie so laut und so gut vernehmbar, dass das Münster mit dem Münsterturm und seinen Glockenstuben nicht weit entfernt sein konnte. Und so trat ich ans Fenster, als mir drunten, in der Straßenschlucht, ein Mann auffiel. Verdeckt, hinter einer vorgehaltenen Zeitung, saß er auf einer Wartebank der Straßenbahn und wäre mir gewiss verborgen geblieben, hätte er nicht die Angewohnheit gehabt, unaufhörlich hinter der Zeitung aufzutauchen und spähende Blicke über den Rand zu werfen. Als ich ihn nun so sah, dachte ich zuerst, er sehe sich nur um, ob nicht bald eine Straßenbahn käme, die ihn zu seiner morgendlichen Arbeit brächte, bis mir schien, als habe er etwas von einem Aufpasser an sich. Da ich solche Leute, die zu jeder Gesellschaft wie das Unkraut zu den Gärten dazugehört, noch nie hatte leiden mögen, so überkam mich das schalkhafte Bedürfnis, ihn von hier oben aus zum Besten zu haben. Es dauerte auch nicht lange, da hatte ich bereits seine Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Ein paar Schauspielereien mit den Fingern hinter dem Vorhang, wie sie die Mutter den Allerkleinsten vorgemacht hatte, wenn es galt, sie aus einer momentanen Verstimmung herauszuholen und abzulenken, genügten: da hatte mich der Mann auch schon entdeckt, der sich von nun an nur noch für mich Interesse zu haben schien.

"Vöglein, hab ich dich nun!", hätte ich am liebsten triumphierend gesungen und hatte eine diebische Freude, ihn an der Angel der Neugierde zu haben. Und so trieb ich es nun mit ihm fort: Wenn ich ihm für ein paar Augenblicke etwas vorgespielt hatte, zog ich mich ins Zimmer zurück, um dann abermals von irgendwoher am Fenster zu erscheinen. Wollte doch sehen, wie lange der Mensch sich so von mir narren ließ.

Unterdessen waren drunten auf der Straße Kinder erschienen, die sich mit ihren Schulranzen der Stadtmitte zu bewegten. Sie befanden sich auf dem Weg zur Schule, wobei sie ein Liedchen vor sich hin trällerten. Das eine Bein stets auf dem Gehweg, das andere auf der Straße aufsetzend, sangen sie: "Was häma für e Straßenbahn in unserer Freiburg-Stadt. E Kistle und vier Rädle dran, das ist die ganze Straßenbahn, hoho-hoho, in unserer Freiburg-Stadt". So konnte ich sie hören, ganz so, wie wir früher den kleinen Gassenhauer auch geträllert hatten, dass ich darüber beinahe den Mann an der Haltestelle vergessen hätte.

Nun aber brauste auch schon eine Straßenbahn heran, die mit höllischem Geläut die Kinder von der Straße weg zu scheuchen versuchte. Es war eine Bahn, wie sie damals, kurz nach dem Krieg, im Gebrauch war: der Wagenführer, wie eine Riesengestalt vorn auf dem Wagenstand, korrekt gekleidet in Dienstuniform und Dienstmütze, assistiert von einem Schaffner, der für die Fahrharten und das ordnungsgemäße Verhalten der Fahrgäste zuständig war. Selbstverständlich trug auch er eine weithin sichtbare Dienstkleidung. Von oben nur durch ein dünnes und durchsichtiges Schutzdach gegen die ärgsten Unbilden des Wetters geschützt fuhr die Straßenbahn durch Wind und Regen, werktags wie sonntags, wobei sie den gesamten Straßenverkehr um sich herum beherrschte. Wehe, einer der wenigen Automobilisten von damals oder einer der Radfahrer wäre ihr zu nahe gekommen. Eine solche Bahn war es, die jetzt wieder herankam, und zwar just in Richtung auf die Stadtmitte.

Da die Kinder auf der Straße keine Anzeichen machten, zur Seite auszuweichen, war plötzlich, wie aus dem Nichts ein großes Problem entstanden. Mit schrecklichem Gebimmel, der Schaffner war nur noch dabei, das Seil mit der Notglocke, die beim Wagenstand angebracht war, zu ziehen, und einem beinahe ebenso laut schimpfenden Fahrer brauste die Bahn heran. Jetzt sollte sich zeigen, ob sich die Männer durch kleine Schulbengel müssten aufhalten lassen, oder ob es ihnen nicht möglich war, sich freie Bahn zu verschaffen. Wenn dies alles allein schon für genug Aufregung und Empörung ausgereicht hätte, so kam noch hinzu, dass ein Schuljunge, ein Bürschchen in Hemd und Hose, der hier umsteigen musste, die Gelegenheit nutzte, vom Trittbrett zu springen, um dann, als wär das nicht genug, auch noch vor der noch immer nicht zum Halten gekommenen Straßenbahn die Straße zu kreuzen, was bei den Herren vom Dienstpersonal eine ungeheuerliche Erregung hervorrief. Und als wären sie Zeugen eines schrecklichen Unfalls geworden, blieb es nicht nur beim Schrei, vielmehr sprang nun auch noch der Schaffner nach draußen, auf ziemlich demselben Weg die nun zum Stehen gekommene Bahn zu umkreisen, und den Delinquenten einzufangen und zur Verantwortung zu ziehen. Ja, nicht eher wollte er von der Verfolgung ablassen, das tat er durchaus auf mancherlei Weise kund, als bis er den Bengel bei den Ohren hätte, um an ihm ein Exempel zu statuieren, wie es in der Geschichte der städtischen Straßenbahnen ihresgleichen suchte. Bei seiner Beleibtheit kam er indessen nicht sonderlich schnell voran. Bereits nach wenigen Schritten, kaum dass er die Bahngleise überquert hatte, musste er die Verfolgung einstellen. Atemlos sah man ihn dastehen und sich damit begnügen, dem Missetäter Äußerungen seines Unmuts hinterdrein zu schicken.

Alles das hatte ich nicht ohne ein gewisses Schmunzeln verfolgt. An so einem Knabenstreich mochte ja wohl auch ich damals, vor manch einem Jahrzehnt, beteiligt gewesen sein. Und waren sie nicht eben deshalb so erfrischend und unterhaltsam, weil alle Welt glaubte, mit guten Regeln und Ratschlägen, wenn nicht mit Strafpredigten und Strafen aller Art sich um die nachfolgende Generation verdient zu machen! Unterhaltungen und Freizeitgestaltungen für die Kleinen gab es nicht. Allein gelassen mit all den Ermahnungen, Warnungen und Geboten war es doch kein Wunder, dass es zu solchen Grenzüberschreitungen kam!

Natürlich hatte auch der Zeitungsleser alles mitbekommen. In nächster Nähe vor seinen Augen hatte sich ja das alles zugetragen. Gern hätte er den Schaffner mit einem Blickkontakt auf den Jungen aufmerksam gemacht, der mit seinem Schulranzen geflüchtet war und sich hinter einem Zaun versteckt hielt. Da er aber sah, dass dem Mann zu einer Fortsetzung der Verfolgung die Kräfte fehlten, begnügte er sich damit, abermals zu meinem Fenster hinauf zu schauen, als gäbe er ihm damit einen Tipp.

Plötzlich hörte ich aus der Ferne ein Polizeiauto. Noch sah ich es nicht, doch bezweifelte ich nicht, dass man die Polizei alarmiert hatte, den kleinen Verkehrssünder zu ergreifen, der sich aus mir unerfindlichen Gründen hinter einem Zaun, der eine benachbarte Baustelle einhegte, stehen geblieben war und von dort aus den weiteren Verlauf der Dinge abwartete. Warum lief er nicht weg? Er war doch verloren, wenn sie zu mehreren auf ihn Jagd machten. Im Verfolg kleiner Schulbuben war man schon immer tüchtig bei uns, dachte ich. Brauchte man Sündenböcke, so suchte man sie unter den Schwachen und Kleinen. Ich hatte schon den Vorhang bei Seite geschoben und das Fenster geöffnet und war drauf und dran, dem Jungen zuzuwinken, wenn nicht gar, ihm etwas zuzurufen, hätten mich nicht die Blicke der vielen Passanten, die jetzt da drunten herbeigeeilt waren, zurückgehalten. "Renn doch fort", dachte ich nur noch und schloss wieder das Fenster, um unbemerkt und unerkannt das weitere Geschehen zu verfolgen.

Jetzt aber sah ich das Polizeiauto, wie es mit Blaulicht in unsere Straße einbog. Die Sirene hatte man abgestellt. Da es sich um eine Einbahnstraße handelte, die der Dienstwagen von der Stadtmitte aus in verkehrter Richtung befuhr, war das Blaulicht unbedingt erforderlich, wie kurz oder lang die Wegstrecke auch sein mochte. Und ich sah eine Menge von Menschen, wie sie vor dem Auto eine Gasse bildete, das dicht vor der stehen gebliebenen Straßenbahn in unseren Hof einfuhr. Dann hörte ich das Bremsen von Rädern, das Zuschlagen von Autotüren und endlich Leute, die auf Befragung wild durcheinander redeten.

Was für ein Manöver, dachte ich noch, gegen die Stromrichtung einzubiegen, nur um eines Lausbuben habhaft zu werden. Denn ich zweifelte nicht, dass sie von hier aus ausschwärmten, den Jungen zu fassen. Bei alledem war mir nicht entgangen, dass es keinen Menschen mehr gab, der nicht immer einmal wieder zu mir hinauf geschaut hätte. Nicht nur der Schaffner und der Wagenführer, auch die Umstehenden, die den Vorfall von der Haltestelle aus miterlebt hatten, ja auch die Polizisten und Passanten, die neu hinzugekommen waren und die sich drunten vor dem Haus drängten, schienen sich immer von neuem zu vergewissern, dass ich mich hier oben hinter dem Fenster aufhielt. Das Letzte, was ich noch sah, ehe ich mich gänzlich ins Zimmer zurückzog, war der Zeitungsleser, der sich von seinem Sitz erhoben hatte und der jetzt neben den Beamten Miene machte, als wäre ich ein Vogel und säße auf dem Fensterbrett und sie könnten nicht schnell genug zu meinem Fenster hinaufkommen, um mich an einem Abflug zu hindern.

"Das ist ja lachhaft", sagte ich zu mir; doch war es eher ein Verlegenheitslachen, das jetzt einem geheimen Groll und Ärger die Tür öffnete, als dass mich das Ganze amüsiert hätte. Und da der Lärm an der Haustüre nicht verstummen wollte und alles in mir mächtig rebellierte, so hätte ich am liebsten das Fenster aufgerissen und die Frage in die Welt hinaus geschrien, ob es denn keine größere Wonne gebe, als auch noch den Unschuldigsten zum Geständnis zu bringen, dass er ein Schwerverbrecher sei: als ich ihre Stiefel die Treppenstufen zu mir hinauf poltern hörte. Jetzt aber begann mir zu dämmern, worauf sie es abgesehen hatten. Und während ich erwog, wie ich dem Zauberspuk Einhalt zu gebieten vermöchte, fiel mir ein Buch auf, das auf dem Tisch lag.

Bei meinem Eintritt hatte ich das Buch noch nicht dort liegen gesehen. Jetzt aber sah ich es und es schien mir dazuliegen, als hätten Ankläger meinen Fall darin aufgeschrieben, vollständig und mit allen Details. Doch freilich: was hatte ich verbrochen, was getan, dass mir jemand etwas vorzuwerfen hätte? Dieses Buch da etwa, konnte es etwas mich Belastendes enthalten? Überhaupt, wer hatte es hierhin gelegt? Dass es jemand erst vor kurzem, ja in meiner Anwesenheit, getan hatte, stand außer Frage. Trat man in das Zimmer ein, so stieß man ja förmlich auf den Tisch. Bei meinem Kommen hätte mir also das Buch auffallen müssen. War es aber bei meinem Kommen noch nicht da gelegen, so hatte es einer in meiner Gegenwart hierher gelegt und befand sich vermutlich noch mit mir im Raum. Und wenn ich ihn auch noch nicht entdeckt hatte, so war doch damit zu rechnen, dass er mich sah und dass er mich auch jetzt beobachtete. Mich mit dem Buch auf eine falsche Fährte zu locken, darauf zielte wohl sein Verlangen. "O plumpe List!" dachte ich, indem ich das Buch mit einem verächtlichen Blick streifte. So machen sie es wahrscheinlich bei jedem. Nachdem sie nicht mehr auf die von ihnen über die Jahrhunderte hinweg beliebte Folter zurückgreifen dürfen, um den Verfolgten zu einem Geständnis zu verleiten, setzen sie einem einen Spion in die Wohnung, um dann mit Martinshorn und Blaulicht gegen ihn auszurücken.

Ich war schon im Begriff, mich auf den Boden zu legen, um den gemeinen Mitspieler aus seinem Versteck ans Licht zu ziehen, als ich den Entschluss wieder aufgab. Schließlich war ich kein Schulbub mehr. Gab es jemanden, der Gefallen daran hatte, mich zu überwachen, so mochte er aus seinem Versteck hervorkommen, wann immer es ihm beliebte. Was ging das mich an? Gleichgültig gegenüber dem, was noch auf mich zukommen mochte, war ich keineswegs. Gerade dem Buch gegenüber zeigte es sich, dass mein Interesse daran durchaus wuchs. Immerhin konnte es Informationen enthalten, die, wenn sie auch keine erfreulichen sein mochten, mir nützlich werden konnten. Wäre auch mein Fall von A bis Z beschrieben, so musste ich nur die Seiten aufschlagen, die sich auf meine Lage bezogen. Und fände ich darin Worte oder Handlungen, so brauchte ich, wenn es nun gleich zu einer Begegnung käme, nur etwas zu sagen oder zu tun, was nicht in meiner Rolle stand: und schon hätte ich sämtliche Buchfreunde der Lüge überführt.

Indessen drängte die Zeit. Ich hörte ja schon, wie die Leute dabei waren, die letzten Treppenstufen hinter sich zu bringen. So nahm ich, nachdem ich noch schnell die Zimmertüre abgeschlossen hatte, das Buch zur Hand und schlug es auf. Ich brauchte nicht lange zu suchen. Mit dem ersten Griff hatte ich bereits die Gewissheit, dass es das Kriminalbuch meines Falles war. Just an der Stelle hatte ich es nämlich aufgeschlagen, wo die Rede davon war, was geschehen würde, nachdem zwei Polizisten zu mir ins Zimmer eingedrungen waren. "Mein Herr, Sie wissen, weshalb wir gekommen sind", las ich da. "Jeder, der sich schuldig gemacht hat, hat seine Schuld zu begleichen."

Das hatte ich eben gelesen, als ich hörte, wie die Leute den oberen Absatz des Treppenhauses erreicht hatten und nun auf meine Tür zueilten. In aller Eile wollte ich jetzt nur noch rasch zwei Dinge wissen: Erstens, wie sie ins Zimmer zu mir hereinkämen, ob sie anklopften oder ohne Anzuklopfen einzudringen versuchten; das würde ihnen dann allerdings misslingen. Und zweitens, wie die Geschichte endete. Da mir einige Regieanweisung die gewünschte Stelle verdeckte, schlug ich das Ende des Buches auf, wo ich geschrieben fand:: "Kommen Sie mit!" Da aber hörte ich auch schon, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Und während ich das Buch, rasch und beinahe wie etwas Verbotenes, auf den Tisch zurücklegte, sah ich, wie zwei Polizisten, beide in Uniform, ins Zimmer traten. Ihnen auf den Fersen folgte die alte Hausmeisterin mit dem Schlüsselbund. Beim Einfahren des Polizeiwagens in den Hof hatte ich sie schon gesehen, wie sie den Beamten diensteifrig behilflich gewesen. Sie war es nun also auch, die sie begleitet und ihnen die Türe zu mir aufgesperrt hatte.

"Mein Herr, Sie wissen, weshalb wir kommen", sagte da der zuerst eingetretene Polizist, indem er mir flüchtig einen Ausweis entgegenstreckte, während sein Kollege zum Fenster eilte und es öffnete. "Jeder, der sich schuldig gemacht hat, hat seine Schuld zu begleichen."

Ebendas hatte ich Wort für Wort gelesen. Genau so stand es im Buch. Nur schade, dachte ich, dass ich das Buch aus der Hand gegeben und auf den Tisch zurückgelegt hatte, statt weiter darin zu lesen. Und dann fragte ich mich, ob wohl auch das im Buch zu finden war, dass ich jetzt nach dem Buch zurück verlangte? Ja wie dumm war es, dass ich mich nicht einschlägig kundig gemacht oder das Buch offen in der Hand behalten hatte. Sonst hätte ich ihnen jetzt den Souffleur spielen können.

Der Kollege am Fenster hatte unterdessen, weit über das Fensterbrett gelehnt, die Umgegend erkundet. Vermutlich hatte ihm der Mann an der Haltestelle ein Zeichen gegeben, dass er den gesuchten Ort erreicht hatte. Jedenfalls kam er jetzt ins Zimmer zurück, indem er bedeutete, dass alles, was bislang geschehen war, korrekt und dem Auftrag gemäß erfolgt sei.

Da ich glaubte, mir das Verhalten nicht länger gefallen lassen zu müssen, "meine Herren!", sagte ich, "wenn Sie den Jungen suchen, der den Zwischenfall auf der Straße verursacht hat, so sind Sie hier, wie Sie wohl auch selber längst bemerkt haben, fehl am Platz. Überhaupt, was ist das für ein Benehmen" fuhr ich fort, Gaunern gleich in Privatwohnungen einzudringen? Sie wollen doch nicht behaupten, dass man Sie zu mir geschickt hat! Deshalb bitte ich Sie, das Zimmer auf der Stelle zu verlassen."

"Das ist es ja", sagte jetzt der Polizist vom Fenster, wobei er zwei drei Schritte auf mich zukam. In der Tat ist es so, dass man uns geschickt hat. Wir aber brauchen Ihre Mithilfe nicht mehr; wir sind jetzt fündig geworden."

Ich indessen, mit dem Brustton des rechtschaffenen Bürgers, als gehörte ich zu denen, die bislang noch keine schlechten Erfahrungen mit dem Staat gemacht hatten und die sich einbilden durften, Macht und Mittel genug zu besitzen, sich ihr Recht jederzeit zu erstreiten, fuhr sie so wütend an, dass ich sie anzeigen würde, sofern sie nicht auf der Stelle mein Zimmer verließen, dass ich gleich darauf gleichsam zur Beschwichtigung hinzufügte: "Jawohl, meine Herren, wenn ein Gemeinwesen funktionieren soll, muss sich vor allem der Beamte im Dienst mustergültig aufführen. Jederzeit hat er im Dienst Rechenschaft abzulegen, wer er ist und was er tut."

Die Hoffnung, die beiden Männer zum Weggang zu bewegen und damit den letzten Satz, den ich im Buch gelesen hatte, zu vereiteln, erfüllte sich allerdings nicht. Unschlüssig, mit ihren tölpelhaften Kindsgesichtern, die glücklich den ersten Bart überstanden haben mochten, standen sie da, als warteten sie noch auf etwas. Ob sie wohl wussten, was für einen lächerlichen Eindruck sie machten! Ob wohl auch darüber etwas in dem Buch stand?

Ich war schon drauf und dran, abermals meine Hand nach dem Buch auszustrecken, um darin ihr Verhalten als lächerliches Machwerk ad absurdum zu führen, als noch ein dritter Mann aus dem Hintergrund auftauchte. Im Unterschied zu den beiden ersten Männern kam er in Zivil, in einem dunkelblauen Anzug. Beinahe unbemerkt war er ins Zimmer eingetreten. Die Hausmeisterin, sie war die ganze Zeit über dicht bei der Türe stehen geblieben, hatte nämlich dafür gesorgt, dass die Türe nicht ins Schloss fiel. Kaum dass er ins Zimmer getreten war, schaute er sich kurz um und holte dann, nachdem er sich meiner Person vergewissert hatte, aus seinem schwarzen Jackett ein Büchlein und begann, einiges darin einzutragen. Mir schien, als ob er in seinem Büchlein befindliche Daten und Aufzeichnungen mit den hiesigen Gegebenheiten, insbesondere mit meiner Erscheinung und mit meinem Verhalten, abgliche, während ihm die beiden Polizisten in still ergebenem Abwarten zunickten. Auch die Hauswirtin konnte es nun nicht mehr lassen, sich in beifälligem Nicken zu ergehen, um dann, als sie einer meiner zornigen Blicke getroffen, innezuhalten und mir zu bedeuten, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen wäre, wo ich erkennen müsste, dass sie das Recht gehabt hätte zum Aufschließen meiner Wohnung. Ärgerlich darüber, dass der Mann noch immer nicht mit seinen Einträgen zu Ende kommen wollte, geschweige denn, dass er einen Grund seines Kommens angegeben hätte, hätte ich ihn am liebsten zur Türe herausgeworfen.

Eben war er dabei, als suche er nach einem markanten Erkennungsmerkmal oder sonst einer Missbeschaffenheit in meinem Gesicht, als sein in rotes Leder gebundenes Notizbüchlein eine Erinnerung in mir wach rief. Das war doch der Herr Gymnasialdirektor Dr. Mauk, so erinnerte ich mich jetzt, der uns als Kinder in unterrichtet hatte. Der hatte stets solch ein Notizbuch bei sich gehabt, sein über alles geliebte Notenbüchlein, in dem er nicht nur die vernichtenden Beurteilungen sammelte, wenn einer seine Vokabeln nicht konnte; auch für Aufzeichnungen über schlechtes Verhalten war es zuständig, damit nichts der Vergessenheit anheimfalle. Was seine äußere Erscheinung angeht, so war sie ebenso, wie ich sie jetzt wieder vor mir hatte: ein schlanker Mann mit gut gescheiteltem schwarzen Haar, der stets in seinem dunkelblauen Anzug daher kam, mit einer signalfarbigen roten Krawatte, wie es sich für einen Schulleiter gehört; alles so, wie bei dem vor mir befindlichen auch. Schon bei seinem Eintritt ins Zimmer war mir sein Verhalten bekannt vorgekommen, nur dass ich weiter nicht darauf Acht gegeben hatte. Wenn er einen ansah, mit leicht gewölbten Augenbrauen, geschah das stets auf eine Art, als sei man ein gefährliches Wesen, vor dem man sich in Acht nehmen müsste. Wir Schüler indessen hatten vor ihm gewiss einen nicht minder großen Respekt. Es gehörte nämlich zu seinen Angewohnheiten, auf einen, den er bei irgendeiner Störung als Missetäter ausfindig gemacht hatte, durch die Gänge der verstummenden Schülerschaft loszugehen, lautlos einen Fuß vor den anderen setzend, bis er den Missetäter erreicht hatte. Mitunter ließ er dann erst noch ein Sätzchen erschallen. Meist aber zog er den Missetäter wortlos an den Ohren aus der Bank, um ihn abzukanzeln nach Strich und Faden. Es war hypnotisierend, dass man förmlich erstarrte, wenn er sich so auf sein Opfer zu bewegte. Diese Art mochte er auf einem Exerzierplatz erlernt haben.

Jetzt erinnerte ich mich auch daran, dass ich ihn zuvor schon in der Straßenbahn gesehen hatte. Er war es gewesen, der dann als Dritter nach dem Jungen und nach dem Schaffner die Straßenbahn verlassen hatte. Er dürfte es dann auch gewesen sein, der dem überforderten Schaffner zu Hilfe gekommen war und ihn von einer weiteren Verfolgung abgehalten hatte. Wo er den Jungen kannte, es war ja einer seiner Schüler, musste man ihm ja nicht nachsetzen! Wofür auch hatte man die Polizei!

Mit meinen Recherchen so weit gekommen sagte ich in vergleichsweise mildem Ton: "Mein Herr, wenn Sie bei mir im Zimmer noch etwas zu suchen haben, so schließen Sie bitte die Türe, es sei denn, dass draußen noch weitere Herrschaften darauf warten. Lieber aber wäre mir, Sie ließen mich wieder allein!"

"O mein Herr", sagte der Schuldirektor, ohne etwas an der Türe zu verändern, "dass ich die Türe offen stehen gelassen habe, hat durchaus einen guten Grund. Gleich nämlich werden wir mit Ihnen das Zimmer verlassen. Und dann sollen Sie auch bald schon Ihren Wunsch erfüllt sehen, dass wir Sie allein lassen. Machen Sie nur keine Zicken! Denn in der Tat stehen draußen genug Leute, die dafür sorgen, dass alles in der schönsten Ordnung geschieht. Doch nur keine Sorge. Wenn vielleicht auch manches wider Ihren Willen geschehen mag, das liegt allein an Ihnen. Keiner hindert Sie, zu allem ihr Ja-wort zu geben. Ja, seien Sie froh, wenn wir Sie nun zur Rechenschaft ziehen. Denn nur gerechtfertigt ist es dem Menschen möglich, zufrieden aus dem Leben zu gehen."

"Und wofür, wenn ich fragen darf, soll ich zur Rechenschaft gezogen werden?" fragte ich, damit ich endlich wüsste, woran ich war. "Für alles!" sagte der Mann, indem er sein Notizbuch einsteckte. Die Arbeiten hatte er zu seiner Zufriedenheit hinter sich gebracht.

"Für alles?" wiederholte ich, fast als könnte ich durch die Wiederholung die Unmöglichkeit seiner Worte beweisen. "Steht das auch in dem Buch da?" Ich wies auf das Buch, das immer noch auf dem Tisch lag.

"Genug, mein Herr!" sagte der Mann. "Was geht das uns an, wenn Sie über den Umfang Ihrer Verantwortung nicht Bescheid wissen? Für alles sind Sie verantwortlich, wie sehr Sie sich auch dagegen verwehren."

"Also auch für die Natur der lieben und unschuldigen Vöglein?" rief ich aus.

"Auch noch für die mörderische Natur der Tiere", versetzte er, "und für die bösen Aspekte der Planeten, für das Sonnensystem und für das Weltall! Und wenn Sie noch an den lieben Gott glauben, dann sind Sie auch noch für die Schandtaten des lieben Gottes verantwortlich! Kommen Sie mit!" rief er mir zu und wandte sich zum Gehen. Und während ich mich mit den drei Männern aus dem Zimmer begab, sah ich, wie die Alte die Hände zum Himmel emporrang, ich konnte nicht entscheiden, ob sie mich bedauerte oder verwünschte. Wenn es zum Letzten kommt, dachte ich noch, hilft auch der Vorsatz, alle uns noch zur Verfügung stehenden Kräfte zusammen zu halten, nichts mehr.

5. Im Bannkreis der Ahnen

 

1. Versteck-Spielen

Es war damals, als wir noch klein waren. Wir hatten eben gelernt, dass man da sein konnte, ohne gesehen zu werden, so dass man nicht da zu sein schien, obgleich man doch da war. Das war ungeheuer aufregend. Und da wir uns alles nur verständlich zu machen vermochten, indem wir es spielten, so konnten wir nicht genug davon bekommen, immer wieder Verstecken zu spielen. Am schönsten war es freilich, wenn auch die Erwachsenen mit uns das Versteck-Spiel spielten. Damals lernten wir dann auch, dass es nicht genügt, dass alle sich verstecken, sondern dass es auch einen Sucher geben muss. Die Mutter war es denn auch, die, wenn sie sich Zeit nahm für unsere Spiele, uns immer wieder suchen musste. Im Garten stand sie dann am Feigenbaum, hielt die Augen verschlossen gegen den Stamm und zählte fleißig bis 20, um dann nach Beendigung des Sprüchleins mit dem Suchen zu beginnen. Damals waren wir noch zu klein, als dass wir das erweiterte Spiel gespielt hätten. Wir verstanden noch nichts vom Freischlagen. Uns genügte, uns ganz still in unserem Versteck zu verhalten, so dass, selbst wenn uns der Suchende sehen konnte und auch wir ihn sahen, es noch lange nicht gesagt war, dass er uns gefunden hatte. Erst wenn dann die Mutter sagte: "Da bist du ja, mein kleiner Schatz. Dabei habe ich so nach dir gesucht! Aber nun hab ich dich ja wieder!" Und wenn sie uns dann aufgriff und uns aus unserem Schlupfloch herausholte, wonach wir uns ebenso sehr sehnten, wie wir davor Angst hatten, war das Spiel zu Ende und konnte von neuem beginnen.

Viele Jahre später, im Traum, waren wir wieder mit der Mutter im Garten beim Versteck-spielen. Diesmal aber war es die Mutter, die sich versteckt hatte und die wir nun auffinden sollten. Also traten nun auch wir zum Feigenbaum, hielten uns die Hände vors Gesicht und begannen zu zählen. Und als wir gezählt und unser Sprüchlein aufgesagt hatten, ganz wie es sich gehört, begann wir mit der Suche. Das war aber gar nicht so leicht. Ja, guter Rat war da teuer. Zuerst nämlich sahen wir überhaupt nichts von der Mutter. Hinter keinem Busch oder Baum hatte sie sich versteckt, dass wir nun schon etwas unruhig und ungeduldig wurden, zumal uns die Mutter auch auf unsere Bitte "Pieps einmal!" keinen Hinweis schickte. Endlich durchkämmten wir das Gras auf der Wiese. Es mochte Anfang Mai gewesen sein, noch vor dem ersten Schnitt. Immerhin war das Gras schon kniehoch gewachsen, sodass man sich gut in ihm verstecken konnte. Da fand ich denn auch die Mutter im Gras, ganz in der Nähe des Fensters von meinem Zimmer, das dicht über der Erde lag. Geduckt wie eine Katze, von der man zuerst nur den Katzenbuckel wie einen kleinen Berg aufragen sieht, lag sie im Gras. "Aber da bist du ja, Mutter", sagte ich und eilte auf sie zu, glücklich, dass ich sie wiedergefunden hatte. Mutter aber sprang nicht auf und davon, wie ich vermutete und wie wir alle zu tun gewohnt waren. Als ich nun neben ihr stand und ich sie näher betrachtete, da sah ich, dass sie schon länger im Gras gelegen hatte. Bleich und reglos war ihr Gesicht, die Augenlider verschlossen, kein Blick, der mir zu verstehen gegeben hätte, dass wir uns wieder gefunden hätten. Stattdessen entdeckte ich eine dicke weiße Schleimspur auf der mir zugewandten Seite der Wangen, die Schleimspur einer Schnecke, die über Mutters Gesicht hinweggezogen war, dass ich froh war, als ich erwachte und ich mir sagen konnte, dass ja doch alles nur ein Traum war. Immerhin lebte Mutter damals noch. Heute aber ist es schon über 20 Jahre her, dass sie von uns gegangen.

 

2. Meine Ziege

Es geschah zu der Zeit, als die Eltern das elterliche Haus verkauft hatten, dass ich noch einmal an die Stätte unseres früheren Beisammenseins zurückkam. Ob es aber auch verkauft war und ich wusste, dass niemand von uns mehr darin wohnte, öffnete ich gleichwohl die Haustüre und stieg die Treppe hinauf zu meinem Zimmer. Als ich dann in mein Zimmer eintrat und mich umsah, erschien mir alles noch wie früher! Immer noch befand sich das Bett an derselben Stelle wie früher und der Kleiderschrank stand noch immer an der Wand wie früher und selbst der Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, mit dem Tisch vor dem Fenster: alles stand noch genauso da wie früher, mit der Aussicht nach Osten, auf die dort befindlichen Schwarzwaldberge. Nirgends war etwas, worüber ich mich hätte beunruhigen müssen. Alles sah so aus, als ob ich mich nur für ein paar Minuten wegbegeben hätte und die Tage sollten nun weiter ihren Lauf nehmen wie früher. Nur eine einzige, winzige Kleinigkeit hatte sich geändert, doch war sie kaum der Rede wert. Ehe ich weggegangen war, hatte ich nämlich eine Schale Wasser auf den Tisch gestellt, damit meine Ziege keinen Durst leiden müsse. Nun aber sah ich, dass die Schale leer war. Indessen war das noch lange kein Grund, sich Sorgen zu machen. Das Tierchen mochte seinen Durst gelöscht haben. Und doch, konnte es nicht auch sein, dass ihm das Wasser nicht ausgereicht hatte und dass es gar verdurstet war? Wo nur steckte das Tierchen?

Ich rief nach ihm. Wenn es aber auch nicht antwortete, so nahm ich das nicht als ein schlimmes Zeichen. Ich kannte ja mein Tierchen. Dass es noch am Leben war und sich irgendwo im Zimmer aufhielt, hielt ich für ausgemacht, auch wenn es mir bei meinem Kommen nicht entgegengesprungen war und mir keinen Freudenempfang bereitet hatte. Mochte es in irgendeiner Ecke schlafen oder vielleicht auch mir schmollen, weil ich es nicht mitgenommen hatte beim Auszug.

Zum Glück dauerte es nicht lange, da hatte ich meine Ziege wiedergefunden. Seitwärts vom Tisch, vom Vorhang des Fensters eingehüllt, hatte sie gestanden, ohne sich zu bewegen. "O du, Schlimme!" sagte ich und betätschelte ihr das Fell. "Wolltest mich wohl erschrecken? Aber du hast ja Recht, wo ich dich allein gelassen habe. Das aber soll jetzt nicht mehr vorkommen. Ich bin nämlich zurückgekommen, dich mit mir zu nehmen. Komm also!" So sprach ich zu ihr, indem ich fortfuhr, ihr die Stirn zu kraulen.

Meine Ziege indes schien nicht viel von meinem Vorschlag zu halten. Und wenn es sich früher auch gern von mir hatte kraulen lassen, so wandte sie sich jetzt von mir los, trat einen Schritt zur Seite, schüttelte ihr braunes Bärtchen und sah mich nur an mit einem skeptisch prüfenden Blick. Als führte ich etwas Böses im Schilde, hatte sie die Vorderbeine steif auf den Boden gesetzt, sich gegen jeden Abmarsch zu wehren.

"Böckchen!", sagte ich und versuchte es lachend auf dem gütlichen Weg, "du wirst mir doch nicht hier bleiben wollen! Müsstest ja verhungern und verdursten. Deshalb bin ich doch zurückgekommen, um dich mit mir in eine neue Heimat mitzunehmen!" Und wenn ich auch beim Eintritt ins Haus noch damit geliebäugelt hatte, dass alles wieder seinen Gang nehmen möchte wie früher, so war mir nun nichts klarer, als dass hier keine Bleibe mehr war, und dass ich gekommen war, Abschied zu nehmen für immer.

"Wir müssen fort", sagte ich. "So ist das nun eben einmal. Das alles aber ist gar nicht so schlimm, wie du denkst. Du glaubst ja nicht, wie schnell das geht, wenn du nur in eine andere, neue Wohnung kommst. Kaum bist du mit dem ersten Fuß aus dem Haus, so bist du es auch mit dem zweiten; und dann folgen auch schon die Hinterbeine und fort bist du für immer. Jawohl, so ist das: die Zeit bringt und die Zeit nimmt." Und indem ich die Hefte vom Tisch nahm und in meine Aktenmappe steckte, versuchte ich meiner Ziege klar zu machen, dass wir nun an einen Ort zögen, der noch hundert Mal schöner wäre als hier. So sie bezirzend zog ich nun sachte am Strick, mit ihr das Zimmer zu verlassen.

Zuerst glaubte ich, ich hätte nun meine Ziege so weit, dass sie mit mir ginge. Den Weg durchs Zimmer, sodann die Treppe hinab und der Haustüre zu lief sie denn auch recht gut; als wir dann aber aus dem Haus traten und uns dem Gartentor näherten, blieb sie stehen und wollte nicht weiter. Bockig drehte sie den Kopf zurück nach dem Haus und dem Fenster. Und ob ich auch wiederholte, wie schön es in der neuen Wohnung wäre und dass ich immer bei ihr bliebe, so war sie doch nicht mehr dazu zu bewegen, auch nur noch den kleinsten Schritt zu tun. Endlich, als ich einsah, dass alles nichts nützte, packte ich sie bei den Läufen, warf sie mir über die Schulter und zog mit ihr davon.

Freilich war mir nicht wohl dabei. Nicht nur, weil ich befürchtete, einen höchst lächerlichen Eindruck auf die Leute zu machen, vor allem auch, weil es die Ziege nicht fehlen ließ an Versuchen, sich zu befreien. Um sie den Eindruck roher Gewalt vergessen zu machen, versuchte ich, sie abzulenken, und begann, ihr von den früheren Tagen zu erzählen, als wir noch jung waren und übermütig und zu allerlei Streichen aufgelegt. Da aber bäumte sie sich erst recht auf, dass ich es endlich für das Beste hielt, auf jede Zwiesprache zu verzichten und weiter zu laufen, so schnell ich nur konnte.

Es ging schon gegen Abend. Die Straßen traten schon in den Schutz des Dämmers, da traf es sich, dass eine Frau aus der Tiefe auftauchte, die selber zwei Ziegen an der Hand hielt. Verbittert darüber, wie wenig mir meine Liebe vergolten worden, fragte ich die Frau, ob sie nicht noch eine Ziege brauche. "Drei Ziegen machen erst ein Kollegium", sagte ich und versuchte zu lächeln.

Fürs erste schien die Frau nicht abgeneigt. Als sie sich das Tier näher angesehen, ihm ins Maul geschaut und es mit ihren knöchrigen Fingern da und dort betastet hatte, erklärte sie, sie könne es nicht brauchen: sein Charakter sei zu störrisch, an Anpassungsfähigkeit sei überhaupt nicht zu denken, und was den Willen und die Fähigkeit zur Fortpflanzung betreffe, so seien diese Eigenschaften längst erloschen. Das Einzige, was ich noch tun könnte, das wäre, die Straße geradewegs weiterzugehen; am Ende derselben wohne ein Schinder; der schlachte solche Kreaturen, und schloss dann ihre Empfehlung mit der Erklärung: "Einer Kreatur, der man ansieht, wie heimatlos sie geworden, hilft nur noch das Messer!" - Empört wies ich diesen Vorschlag zurück. Sie aber: "Kein Wort mehr, mein Herr!" rief sie mit ihrer meckernden Stimme und war schon weitergegangen.

So kam es, dass ich, statt dem Tierchen meinen Willen aufzuzwingen, mich seinem Willen beugte, mit dem Erfolg, dass wir alsbald wieder dort anlangten, von wo wir gekommen waren. Wie störrisch und bockig es auch beim Weggang gewesen, so konnte es ihm auf dem Heimweg nicht schnell genug gehen. Erst als ich ihm das Gartentor geöffnet hatte, verflog alle Eile. Behaglich schritt es wieder in den Garten hinein, knabberte bald am Rasen, bald stand es stille und reckte den Kopf, als wäre alles nur ein böser Alptraum gewesen.

Auch ich nahm jetzt die Gelegenheit wahr, mich ein wenig umzuschauen. Ich stand eben vor der Veranda mit dem Anbau im Westen, den der Vater als Letztes noch hatte aufführen lassen: als mir die neue Hausbesitzerin entgegenkam. Sie fragte mich, was ich hier zu suchen hätte, worauf ich nicht wenig erschrak. Ich hatte sie noch nie gesehen, verwies nur auf die neben mir befindliche Ziege und sagte, sie abzuholen sei ich gekommen. Die Frau wollte nichts davon wissen. Als wäre weit und breit keine Ziege, bat sie mich, mit ihr ins Haus zu kommen, um mich davon zu überzeugen, dass mit ihrem Einzug eine ganz neue Ära begonnen habe. Auch meine Ziege wäre nur gar zu gern mit uns ins Haus gegangen, doch die Frau stieß sie mit einem Fußtritt nach draußen und verschloss die Türe. Darauf geleitete sie mich in unser früheres Wohnzimmer, wo sie mir nun in einer langen Rede von der Neueinrichtung des Hauses erzählte. "Nichts wird man wiedererkennen", schloss sie ihre Rede, die sie in einem einzigen Atemzug vorgebracht hatte. Ich aber hielt ihr entgegen, dass ich erst vor kurzem mein Zimmer betreten, dass ich alles wie früher vorgefunden und dass ich von dort auch meine Ziege herausgeholt hätte. Diese meine Mitteilung erklärte die Frau kurzweg für unmöglich. Ich müsse mich geirrt haben, sagte sie. Dieses Zimmer im Obergeschoss habe sich nämlich ihr Mann eigens als Studio eingerichtet und er habe es zu dessen Neueinrichtung weder an Zeit noch an Aufwand fehlen lassen.

"Junger Mann", versetzte sie, da ich schweigend auf meiner Darstellung beharrte, "wie viele Male bin ich nicht schon zu diesem Zimmer heraufgestiegen! Ich muss es doch wissen, wie es dort aussieht! Und da kommen Sie und meinen, mir eine Ziege weißmachen zu müssen? Glauben Sie wirklich, ich hätte das Tier nicht bemerkt, wäre es dagewesen? Eine Ziege ist schließlich kein artiges Tierlein, das man übersieht! Eine Ziege ist ein hässliches, eigensinniges Tier, das sich niemals zum Haustier eignet, noch nicht einmal für einen Vorgarten!"

Mit welchen Gefühlen ich der Frau die Treppe hinauf folgte, ist kaum zu sagen. Ein Triumphgefühl war es gewiss nicht, auch wenn ich mir sicher war, dass es sich nun zeigen würde, dass sich alles so verhielt, wie ich gesagt hatte. Indessen sollte es sich herausstellen, dass die Frau Recht hatte. Nirgends war mehr etwas zu sehen, was ich doch kurz zuvor noch gesehen hatte. Weder mein Bett war mehr da, noch mein Kleiderschrank, noch der Tisch mit dem Stuhl. "Nun, mein Herr!" sagte sie, es klang wie ein höhnisches Gemecker: "Geben Sie nun zu, dass sie sich getäuscht haben?"

Tief beschämt verließ ich das Haus. Die einzige Hoffnung war jetzt, dass mir meine Ziege wie ein gehorsames Hündchen folgen würde, da nun ja auch sie kein Bleiberecht mehr hier hatte. Wo aber war meine Ziege? Wo war sie? Überall im Garten war ich schon vorbeigekommen, unter jedem Baum und Strauch hatte ich nachgesehen und sie nicht gefunden. Nur die Pfingstrosen, in der Nähe der Haustüre, waren noch übrig. Dort entdeckte ich eine Hirschkuh. Mitten zwischen den Pfingstrosen lag sie, friedlich ausgestreckt, während sie zwei Kälbchen säugte. Kaum hatte ich sie entdeckt, als sich auch schon im Nachbargebüsch etwas regte. Und ich entdeckte einen Hirsch, der sich in stolzer Männlichkeit aufrichtete, sein Revier zu behaupten. Soweit sollte es aber nicht mehr kommen. Denn die Frau, die mir unbemerkt gefolgt war, sagte mit nunmehr unverhohlen drohendem Ton: "Begreifen Sie endlich, junger Mann, dass Sie in diesem Anwesen nichts mehr zu suchen haben. Sonst sehe ich mich gezwungen ..." Mehr vernahm ich nicht, denn jetzt hatte ich das Anwesen für immer verlassen.

Und meine Ziege? Vermutlich wollte sie lieber sterben als mit mir in die Fremde ziehen.

 

3. Hol´s der Geier

Der Tag war sehr lang gewesen und die Mitternacht war nahe. Und als ich nun noch einmal ins große Zimmer eintrat, um nachzusehen, ob ich nichts vergessen hätte, begann auch schon die Wanduhr zu schlagen. Nun war es also soweit, dass der letzte Tag anbrach, den wir hier noch zu verbringen hätten. Wenn ich mich auch schwer tat, zu begreifen, dass die Zeit vorbei war, geschweige denn mir vorzustellen, was nun kommen sollte, so war doch mit Händen zu greifen, dass alles seine Richtigkeit hatte. Die Papiere lagen ja auf der Kommode, für jedermann einsichtig, mitsamt dem Bescheid, dass das Haus bis zum Abend geräumt und geleert sein müsse. Und so begab ich mich zu meinem Platz am Tisch, die Zeit noch einmal vorbei gleiten zu lassen, die jetzt zu Ende gehen sollte. Jawohl, der Vater war die täglichen Unruhen und Störungen leid geworden. Er konnte nicht mehr. Kleinste Besorgungen selbst brachten ihn bis an den Rand der Erschöpfung, und wenn gar größere Arbeiten ins Haus standen, jammerte er, dass man ihm den Lebensabend vergällte. Ein Haus der Enttäuschungen war das Leben für ihn geworden, und so hatte er das elterliche Haus, ohne unser Mitwissen, beinahe von heute auf morgen, verkauft. Er hatte es sich nun einmal so in den Kopf gesetzt und als ich ihn daraufhin ansprach, war das Geschäft bereits unter Dach und Fach.

Da hatte ich nun also noch einmal dort Platz genommen, wo ich sonst immer gesessen hatte. Doch wenn ich mir auch vorgenommen hatte, die Zeit noch einmal vorbei gleiten zu lassen mit all den Erinnerungen, die sich gerade hier in den Jahren der Jugend angesammelt hatten, so saß ich doch nur da, ohne das Geringste in Bewegung zu bringen, während die Zeit zerrann, wozu das Perpendikel unaufhörlich den Takt schlug. Wie gelähmt war das Gedächtnis, wie versiegt die Kraft der Evokation, wie ausgelöscht alles Leben. Ja, hätte es sich auch im Haus zu regen begonnen, wären die Türen aufgegangen und die Geister der Vorfahren hätten sich erhoben, das Haus zu durcheilen, ich hätte keinen Trost daraus geschöpft.

Jetzt aber dröhnte eine Stimme durch das Radio. Mit einem Schwarm von Gänsegeiern sei zu rechnen, so hörte ich, die sich bereits auf der Rückkehr aus den Winterquartieren befänden; aufgrund des abermaligen Wintereinbruchs hätten sie den Flug zu ihren Nistquartieren unterbrochen und sich zu einer Landung in den hiesigen Gebieten entschlossen. Keiner brauche sich ihretwegen zu ängstigen, auch nicht, wenn sie in Scharen zur Landung ansetzten. Nur Winterkälte und Hunger seien es, die sie zur Landung zwängen.

Ich hatte die Nachricht kaum vernommen, da hörte ich schon ein Sausen durch die Luft. Und ich sah, unweit von mir, vor dem Nordfenster, einer der angekündigten Geier auf das Fensterbrett niederließ. Es war ein großer, schwer erschöpfter Geier, fahlbraun, mit weißer Halskrause, der sich wohl, durch das Licht im Zimmer verlockt, zu einer Landung entschlossen hatte. Wie sein blassgrauer Schnabel verriet, handelte es sich um einen Jungvogel, der die Verbindung mit dem Schwarm verloren hatte und der nun, auf Gut-Glück, sein Heil bei uns suchte. Kaum war er gelandet, da verließen ihn auch schon seine Kräfte. Einen Blick ins Zimmer versuchte er zwar noch, doch da fiel ihm das Augenlid zu und Kopf und Schnabel glitten seitwärts nieder, dass ich fürchtete, er könne vom Fensterbrett fallen. Schnell eilte ich in die Küche, eine Atzung zu bereiten. Als ich zurückkam, hob das Tier zwar noch den Kopf, doch fehlte ihm nun schon die Kraft, auch nur das Stückchen Brot zu ergreifen, um es zu verzehren. Und selbst, als ich ihm das Brot in die Milch eintunkte und es ihm in den Schnabel steckte, war es nicht mehr in der Lage, es herunterzuschlucken. Ratlos, was ich noch tun könnte, schloss ich wieder das Fenster und trat aus dem Haus, ob von draußen mehr zu erreichen wäre. Dort es war umsonst. Nichts weiter nämlich blieb mir zu tun übrig, als den Tod des Geiers festzustellen, der nun in sich zusammengekrümmt dalag.

Nun aber befand sich in der Nähe noch ein Nest von Grünlingen, das ich vor kurzem im Efeu an der Hauswand entdeckt und durch einen Karton abgesichert hatte. Als ich festgestellt hatte, dass sich der junge Geier nicht mehr regte, drängte es mich, nachzusehen, wie es um die Grünlinge bestellt sei. Im Licht einer Taschenlampe hatte ich kaum ein paar Äste bei Seite geschoben, da löste sich der Karton aus dem Geäst und fiel zu Boden, geradewegs mir zu Füßen. Die Jungvögel schauten mich ratlos an. Sie trugen ein feines Flaumkleid, mussten also bereits vor ein paar Tagen geschlüpft sein. Von den Altvögeln aber war keiner unter ihnen. Immerhin hatten sie den Sturz in dem Karton überlebt; und so war ich schon auf dem Sprung ins Haus, um wenigstens ihnen mit etwas Futter aufzuhelfen, als die Jungen auch schon auf mich zukamen. Ehe mich aber das erste von ihnen erreichte, brach es tot zusammen. Nicht besser erging es den nachfolgenden. Eines nach dem anderen brach zusammen, bis alle tot vor mir lagen. Ich aber wandte den Blick hinauf zum Gewölk, ob nicht von irgendwoher noch ein paar Geier kämen, auf dass das Aas doch wenigstens noch zu etwas gut wäre. Es ließen sich aber keine Geier mehr sehen, nicht einmal einer.

 

4. Das Strafsofa

Auf einem alten, mit Plüsch überzogenen Sofa hatte Oma Platz genommen, die Hände in den Schoß gelegt, den Blick vor sich hin gerichtet, ohne dass ein besonderes Ziel zu sehen gewesen wäre. Wie es die Gewohnheit manch alter Leute ist, zumal in ruhigen Zonen, still auf einer Bank im Garten oder auf einem Stuhl vor dem Haus zu sitzen, und sich durch den Lebensabend tragen zu lassen, während das Leben an ihnen vorüberzieht. Dabei sah sie keineswegs alt aus; und auch von Einsamkeit war nichts an ihr zu entdecken, wenngleich sie allein auf dem Sofa saß und links neben ihr durchaus noch eine zweite Person Sitzgelegenheit gehabt hätte.

Hübsch gekleidet saß sie da, Mund und Lippen entspannt, mit einem ruhigen, unerschütterlichen Blick, wie er sich einzustellen pflegt, wenn man nach manch einer Sorge und Mühe das Pensum des Lebens erfolgreich hinter sich gebracht hat, das Gesicht aber umrahmt von einem, in ein zartes Dunkel getauchten, Schleier. Im Hintergrund des Sofas aber, wo zuvor noch eine Wand zu sehen gewesen war, mit dem Bild voller Klatschmohn, auf das die Soldaten nach dem letzten Krieg geschossen, kamen, wie aus einer dämmrigen Nische, Leute zum Vorschein, hochbetagte Männer und Frauen. Und wie sie nun so dastanden, zusammengedrängt und aufmerksam, ja fast ein wenig neugierig, und auf mich schauten, der ich gekommen war, Oma meine Braut vorzustellen, erinnerten sie mich an alle die Kranken und Geschädigten, die der Einladung des Sultans nicht mehr hatten Folge leisten und sich nicht mehr zum Hochzeitsmahl seiner Tochter hatten begeben können.

Erstaunlicherweise aber war Oma über ihre Gegenwart nicht beunruhigt. Als ob sie immer in ihrer Gesellschaft weilten, schien sie sie überhaupt nicht zu bemerken. "Man schmäht gern das Alter", so begann sie, nachdem ich ihr meine Braut vorgestellt hatte, "weil es nichts mehr zu tun hat mit der Gegenwart. In Wahrheit aber ist es doch so, dass erst das Alter die Gegenwart erkennt, indem es sieht, wie die Geschichte in ihr weiterlebt. Erst das Alter erkennt die Hand, die die Gegenwart erschaffen hat und durch die alles entsteht." Dann, beinahe etwas lebenslustig, fragte sie mich, ob ich sie schon einmal auf diesem Sofa hätte sitzen sehen. Ich konnte mich nicht daran erinnern. Sie aber, indem sie ihren Schleier etwas zur Seite rückte und sich aufrichtete, bis sie kerzengerade dasaß, eine junge Turnerin hätte nicht gerader dasitzen können, begann sie zu erzählen, wie sie mit dem Opa hier auf dem Sofa gesessen hätte. Vornehmlich, wenn sie sich nicht ganz verstanden hätten, hätten sie hier Platz genommen. "Damals", so sagte sie, "ist mir das Sofa immer mal wieder wie ein Strafsofa vorgekommen; und nicht selten hatte ich die Lust verspürt, es in tausend Fetzen zu zerreißen. Erst nach und nach habe ich gelernt, auf bessere Weise darüber zu denken. Das war damals, als ich erkannte, dass nicht ich es war, über die er sich beschwerte, sondern dass es die Sorgen waren, die er auf diese Weise loszuwerden versuchte. Und so lernte ich denn, ihn gewähren zu lassen, bis er sich alles aus dem Herzen geschüttet hatte, was ihn bedrückte. Wenn er sich dann aber ausgesprochen hatte und ihm manches von seinen Worten selber Leid tat, zog ich ihn an mich und küsste ihn. Wahrlich, eine süße Zeit war das damals. Hier sind wir gesessen, bis alles Ärgernis abgetragen war. Später dann geschah es immer öfter, dass wir uns nur noch hierher zu begeben und hinzusetzen brauchten, ohne auch nur ein Wörtchen zu sprechen. Es genügte, wenn wir, die Hände wechselseitig gefasst, vor uns hinschauten. Wie auch immer wir aber nebeneinander saßen und wohin auch immer unser Blick ging, nie war mir unwohl zu Mute. Denn mochte Opa eben auch nicht gut mit mir sein, so war er es mit sich selber noch weniger. Ich musste ja nur ein wenig abwarten, bis er wieder soweit war. So war das damals, als noch Leben war hier im Haus. Jetzt aber ist die Reihe an euch, das Leben einzurichten! Besorgt es so, dass ihr euch nicht über Gebühr beklagen müsst, wenn es einmal vorbei ist.

5. Mutters letzte Fahrt

Alles war ihr vorzüglich von der Hand gegangen, die Arbeiten in Haus und Hof wie auch die sonstigen Besorgungen, die zu tun waren im Garten und auf den Feldern, denn sie war fleißig und brauchte nicht viel für sich, wären da nicht die beiden Hühnchen gewesen. Genauer gesagt war es nur das schwarze Hühnchen, das nie das wollte, was Mutter gerne gehabt hätte, und das dann durch sein Verhalten auch sein Geschwister, das weiße Hühnchen in Mitleidenschaft zog. War nämlich das Verhältnis des weißen Hühnchens, des Erstgeborenen, zur Mutter durch bedingungsloses Zutrauen geprägt, so hielt das schwarze Hühnchen stets auf Abstand, dass man hätte meinen können, es hätte in Mutters Hand immer nur ein blankgezogenes Messer gesehen. Das aber hatte sich nicht erst im Verlauf der Tage so ergeben. Von Geburt an hatte es sich als widerspenstig und misstrauisch gezeigt. Sich von Mutter betreuen zu lassen, überhaupt etwas Liebes von ihr entgegenzunehmen: das schien nicht in seinen Kopf zu passen. Und kam Mutter in den Hof hinab, nach den beiden Hühnchen zu schauen, so kam zwar stets das weiße Hühnchen auf sie zugelaufen, dem schwarzen aber kam nie in den Sinn, die Mutter zu begrüßen. Rief ihm die Mutter auch eigens zu, doch auch zu ihr zu kommen, so machte es sich aus dem Staub und verkroch sich. Auch wenn Mutter mit Futter kam oder wenn sie einmal ein besonderes Häppchen bei sich hatte, war das nicht anders. Immer war es das weiße Hühnchen, das auf sie zugeeilt kam und das ihr aus der Hand fraß, während sich das schwarze Hühnchen aus dem Staub machte. Erst wenn die Mutter wieder weg war, änderte sich die Szene. Dann freilich gab es für niemanden sonst mehr etwas zum Picken. Gewalttätig und gierig beanspruchte das schwarze Hühnchen das übrig gebliebene Futter für sich allein; und sollte es nicht reichlich genug davon finden, weil, wie es glaubte, das weiße Hühnchen es übervorteilt hatte, kam es zu üblen Rangeleien. O wie hässlich das doch war, wenn das schwarze Hühnchen seine messerscharfen Sporen gegen das ältere Geschwister ausfuhr! Mutter aber, obgleich sie um alles das wusste, hörte nicht auf, den beiden Hühnchen mit der gleichen Liebe zu begegnen. Denn, so sagte sie immer wieder, meine beiden Hühnchen habe ich gleich lieb und keines soll mir einmal zum Vorwurf machen, als hätte ich mich nicht von Herzen um es gekümmert.

Indes, was immer sie sich einfallen ließ, das schwarze Hühnchen hatte nun einmal etwas gegen ein friedliches Beisammensein. Und so waren denn eines Tages Mutters Kräfte erschöpft, die Reserven aufgebraucht; sie konnte nicht mehr. Unfähig, so weiterzumachen wie bisher, hatte sie sich auf den Weg gemacht. Früh schon am Morgen war es gewesen. Von einer alten Nachbarin, der sie sich in ihrem Leid anvertraut hatte, hatte sie von einem Heilkraut vernommen, das alles Leid linderte und behöbe. Hinter den großen Seen wäre es zu finden. Wenn man von hier aus losginge und sich nirgends aufhielte, könnte man sie in drei Tagen erreichen. Dort dann würde sie auf den Fährmann treffen, der sie übersetzte. Nachdem sie ihr alles gesagt hatte, was zu wissen Not tat, machte sich die Mutter auf den Weg.

Entschlossen, nicht eher nach Haus zu kehren, ehe sie nicht dieses Heilkraut in Händen hätte, marschierte sie los und gelangte, nachdem sie Tag und Nacht unaufhaltsam weitermarschiert war, am dritten Tag zum See. Ein Bootsmann saß dort, den Kopf auf die Hand gestützt und sah ihr entgegen. Sie brauchte ihm ihr Anliegen nicht lang zu schildern. Als hätte man ihn über Mutters Ankunft benachrichtigt, schien er um alles zu wissen. Und doch war es nicht so, dass er ihren Wunsch gern ausgefüllt hätte. Nur wie unter Vorbehalt bestieg er das Boot, nachdem er der Mutter ihren Platz darin angewiesen hatte. Dann setzte er es in Bewegung.

In der Tat war es nur ein altes, wenig vertrauenswürdiges Boot, das ungepflegt wohl schon viele Jahre hier draußen im Freien gelegen hatte, dass man sich wundern mochte, dass es noch nicht ausgemustert war. Der Mutter aber war alles Recht. War dies der Weg, der ihr bevorstand, dann sollte es eben so sein. In alles wollte sie sich schicken, wenn es nur zum Guten führte. War bislang alles gut gegangen, so würde auch das gute Ende nicht auf sich warten lassen. Davon war sie fest überzeugt.

Erst als der Bootsmann das Boot ein Stück weit auf den See hinausgerudert hatte und das Ufer in die Ferne rückte, Mutter hatte nun nichts mehr zu tun, begannen sich die Sorgen, die sie keineswegs an Land zurückgelassen hatte, von neuem zu regen. Es war aber nicht die Beschaffenheit des Bootes, die ihr zu schaffen machte, es waren die beiden Hühnchen zu Hause, die sie bekümmerten. Kein Ruderschlag verging, ohne dass sie sich nicht ausmalte, wie sich die beiden Hühnchen in ihrer Abwesenheit stritten; ja nur immer schlimmer sah sie, wie sich die beiden bekriegten, dass sie Zweifel überkamen, ob sie nicht doch besser zu Hause geblieben wäre. Und ein Dunkel begann sich in ihrer Seele breit zu machen und sie mit Trauer zu erfüllen.

Währenddessen geschah es, dass sich auch der Himmel verdunkelte. Und Wolken verdeckten die Sonne und Sturmböen zogen auf und erregten das Wasser, das sie zu immer höheren Wellen aufpeitschten, sodass vom gegenüberliegenden Ufer nichts mehr zu sehen war. Und die Schleusen des Himmels öffneten sich und Regen fiel in Strömen herab. Jetzt aber beendete der Bootsmann sein einsilbiges Wesen, indem er zu der Mutter sprach: "Es hat keinen Zweck weiterzufahren. Wir müssen ans Ufer zurück. Ich habe es ja gesagt, dass aus dieser Fahrt nichts wird." Zuvor freilich hatte er davon noch nicht gesprochen. Nur die Mutter hatte er immer wieder beobachtet.

Überströmt vom Regen, und ausgesetzt den immer heftiger werdenden Sturmböen, die dabei waren, die ersten Wassermassen über den Bootsrand zu treiben, versuchte er, das Boot zu wenden und Kurs zu nehmen zurück ans Ufer. In diesem Augenblick brauste am Uferdamm ein Zug vorüber.

Trotz der Ferne und trotz des sichtraubenden Regens glaubte die Mutter, den Lokführer zu erkennen, wie er ins Fenster gelehnt, zu ihnen herüber sah. Das war der Vater, ihr Vater, wie sie ihn einst als kleines Mädchen erlebt hatte. Als Bahnführer hatte er sämtliche Züge in alle Welt hinaus gefahren. Ob an schlechten Tagen bei Regen und Sturm, wie jetzt hier der Fall war, oder in den heißen Tagen des Sommers, wenn kein Mensch sich aus dem Haus auf die heiße Straße hinaus traute, immer hatte er die Züge dem Fahrplan gemäß in die Städte hinein und wieder heraus geleitet. Und selbst jetzt fuhr er noch in die Welt hinaus? - Doch freilich, was hatte sie schon von der Welt verstanden! Sein Dummerchen hatte er sie immer genannt und hatte ihr geraten, nicht auf dem Land zu bleiben, weil sie zum Landleben nicht tauge. Dann aber war sie doch auf dem Land geblieben. All das fiel der Mutter jetzt wieder ein, während sie den Lokführer sah. Sie wollte ihm noch zurufen, doch da war der Zug auch schon vorüber. Pfeilschnell, wie er aufgetaucht war, war er wieder verschwunden.

Währenddessen war der Mutter nicht entgangen, wie der Bootsmann die Hand gehoben und dem Lokführer zugewinkt hatte. "Kennst du den Mann?" fragte sie den Bootsmann, der das Boot gewendet hatte und wieder am Rudern war. "Wie sollte ich ihn nicht kennen!" sagte der, ohne beim Rudern innezuhalten. Er sprach von ihm wie von einem alten Schulkameraden. "Nichts geschieht hier, was mir fremd ist." - "So wusstest du auch, dass ich hier vorbeikäme?" Es ist ja dein Boot, in welchem wir fahren", sagte der Mann und nickte. - "Und du kennst meine Geschichte mit den beiden Hühnchen?" "Wie auch sollte ich sie nicht kennen!", sagte er und nickte abermals. - "Dann hast du auch gesehen, wie mich das weiße Hühnchen hat begleiten wollen, als ich aufbrach?" - "Gewiss hab ich es gesehen, aber du siehst ja, wohin du damit gekommen bist. Liebe, Güte, Treue, Anhänglichkeit, Ausdauer: was nützen sie, wenn danach kein Bedarf ist? Den Erstgeborenen als Erstgeborenen zu lieben, den Zweitgeborenen aber als Zweitgeborenen! Das hättest du bedenken sollen. Jetzt aber ist es zu spät. Sieh dich doch nur um!"

Der Bootsmann hatte zu rudern aufgehört. Er erhob sich, abzuschätzen, wie viel Arbeit noch vor ihm lag, das unruhig schaukelnde Boot wieder zum Ufer zu bringen. Dann beugte er sich zu den Planken am Boden, eben dahin, wohin jetzt auch Mutters Blick fiel, und sagte: "Da, sieh nur die lecken Stellen!" Und indem er mit der Hand über die Planken des Bodens streifte, zeigten sich Löcher, aus denen das Wasser strömte. "Diese Löcher kommen von den Sporen, mit denen sich deine Hühnchen bekriegen."

Er hatte das kaum gesagt, da war auch schon so viel Wasser ins Boot gedrungen, dass es nur noch eine Frage von Augenblicken zu sein schien, bis es untergehen würde. Den Bootsmann aber schien das nicht weiter anzufechten. Wiederum hatte er sich aufgerichtet und stand jetzt da, unerschütterlich und unbeugsam, als stünde er auch noch da, wenn das Boot untergegangen und dem Spuk ein Ende gemacht wäre. Die Mutter aber, die verstanden hatte, dass die Fahrt hier zu Ende ging, nahm sich vor, alles geduldig auf sich zu nehmen, was nur immer auf sie zukommen möchte. Nur daran wollte sie festhalten, dass sie alles, was ihr jetzt noch widerführe, als die Möglichkeit zu einer Wiedergutmachung zu erdulden hätte, weil es ihr nicht gelungen war, die beiden Hühnchen mit mütterlicher Sorge zu umhegen.

 

6. Vaters neue Wohnung

In eine andere Gegend war ich gezogen, hinaus in die Fremde, dass ich den Vater darüber aus dem Gedächtnis verloren hatte. Dann aber bekam ich ein Schreiben, in dem man mir mitteilte, dass sich sein Gesundheitszustand so verschlechtert hätte, dass man ihn in die Klinik gebracht habe. Diese Nachricht erschreckte mich. Gleichwohl wartete ich noch eine Weile. Als mir dann aber keine Zeichen einer Besserung zukamen, brach ich auf und machte mich auf den Weg.

Wie sich doch in der Zwischenzeit die Stadt verändert hatte, seit ich die Vaterstadt verlassen hatte! Nein, das war die Stadt nicht mehr, in der ich einst als Kind gelebt hatte und groß geworden war. Eine mir unbekannte, fremde Stadt war aus ihr geworden. Riesige Autostraßen, die nur noch von ferne an jene, mir vertrauten Straßen erinnerten, durchschnitten das Stadtbild und Häuserfronten erhoben sich überall, die ich noch nie gesehen hatte. Während ich so des Weges dahinging, dem Strom der Fußgänger folgend, als trüge mich dieser hinunter zu den Kliniken, gelangte ich an einen Verkehrsknotenpunkt, wo mehrere Straßen aufeinander zuliefen. Auf einem massiv gebauten, gut überdachten Podest stand dort im Zentrum ein Polizist, der den Verkehr leitete. In unfehlbarer Manier, und doch so unzeitgemäß, bewegten sich seine Arme, die Bahnen frei gebend, dann wieder sie sperrend; und alle folgten ihm wie am Schnürchen. Ganz in der Nähe war ein Straßenkoch, der eigentlich auch nicht ins Stadtbild passte. Auf dem Bürgersteig hatte er sich ein Podest errichtet, von wo er mit Speisen hantierte, um dieselben zu verkaufen. Trotz der vielen Leute, die um ihn herum standen, hatte er mein Kommen längst bemerkt. "Signore", rief er mir zu, indem er mit seiner Schöpfkelle hantierte, "il cibo meraviglioso! Venite! Ja, kommen nur auch Sie hier her und überzeugen Sie sich von der einzigartigen Qualität meiner Speise!" Laut über die Häupter der Leute hinweg rief er mir zu mit seinem südländischen Akzent, und winkte mir zu kommen. Und er holte mit seiner Kelle einige heiß gekochte Kastanien aus einem vor ihm befindlichen Kessel, rotbraune Früchte, und hielt sie in die Höhe. Der Mann indessen schien mir nicht unbekannt. Wenn wir als Kinder mit der Mutter um Allerseelen herum das Grab der Schwester besuchten, war er vor dem Friedhofsgatter gestanden und hatte geröstete Esskastanien feilgeboten. Als ich nun weiterging, ohne seiner Einladung Beachtung zu schenken, merkte ich, dass ich mich nicht mehr im Strom der Menschen befand, woraus ich schloss, dass ich mich auf einem falschen Weg befand. Zum Glück dauerte es nicht lange, da kam mir auf der anderen Seite, gleichfalls als Einzelgänger, unsere Nachbarin von früher entgegen, deren Mann vor kurzem in die Klinik eingewiesen worden und dort verstorben war. Ich musste mich ihr nicht lang erklären. Sie wies auf eine, senkrecht zu unserer Straße verlaufende mehrspurige Autobahn, wo sich auf der anderen Straßenseite die Klinik befände.

Doch wie konnte ich dorthin gelangen? Zwei Autostraßen, jeweils zweispurig, hatte ich zu überqueren, ohne dass eine Brücke oder eine Unterführung für Fußgänger vorgesehen gewesen wäre. Leitplanken und Zäune deuteten vielmehr darauf hin, dass an ein Überqueren an dieser Stelle überhaupt nicht gedacht war, ja dass man dies auf jede nur mögliche Weise zu verhindern trachtete. Nun hatte ich aber nicht nötig, eine Strategie ausfindig zu machen, denn plötzlich und beinahe ahnungslos stand ich auch schon drüben, in unmittelbarer Nähe des Klinikgebäudes, in dem der Vater untergebracht war. Vor dem Gebäude aber patrouillierten zwei Polizisten in weißen Mänteln, wie man sie noch auf Großstadtfotos Ende des 19. Jahrhunderts sehen kann. Sie waren mit Arbeitern beschäftigt, denen sie Anweisungen gaben, die auf dem Gehweg befindlichen Gruben und Löcher auszufüllen und mit Teer zu bedecken. Da man früher dort befindliche alte Ahornbäume gefällt, das Wurzelwerk aber noch nicht ausgegraben und beseitigt hatte, waren die Arbeiten jetzt nötig geworden. Da ich jedoch für möglich hielt, dass sie diese Aufsicht nur vorschützten, um Verkehrssünder wie mich herauszufischen, so beeilte ich mich, von ihnen unentdeckt zu bleiben, wie wir es schon als Kinder gemacht hatten. Schließlich kam ich von der anderen Seite, hatte also die Straße überquert, die ich nicht hätte überqueren sollen, und wenn es zuerst auch nur in Gedanken des Wünschens geschehen war, so war ihnen das Werk gefolgt, wenn ich auch nicht wusste, auf welche Weise. Und so eilte ich jetzt dahin, geduckt hinter den frisch belaubten Storzeln der abgehauenen Bäume, bis ich mit ein paar kühnen Sprüngen über die Treppen ins Innere des Gebäudes gelangt war.

Vertrauenerweckend sah es in diesem Gebäude allerdings nicht aus. Schon beim Heraneilen war zu sehen, dass das Haus auf eine trübe Vergangenheit herabblickte. Früher einmal war es wohl als eine frei für sich stehende Einheit erbaut worden, war dann aber im Zuge eines neuen Bebauungsplanes, zu welchem wohl auch die Schnellstraßen gehörten, auf dieses Maß reduziert worden, um seitdem dem Verfall ausgesetzt dem Ende entgegen zu warten. Zu diesem Gesamteindruck der Verwahrlosung trug auch das über dem Eingang befindliche Regendach bei, bei dem man nicht wissen konnte, ob es nicht beim nächsten Unwetter herabstürzte. Vornehmlich aber an der mehrstöckigen, aus roten Backsteinen gebauten Fassade war zu erkennen, wie die Zeit nur noch am allmählichen Abbruch und Zerfall arbeitete. Da und dort fehlten Reihen von Backsteinen, als hätte sie ein Unwetter herausgeschlagen. Passend dazu sah es im Innern aus. Eine Pforte und einen Pförtner gab es da nicht. Überhaupt war der Eingangsbereich menschenleer. Weder ein Kommen, noch auch ein Gehen, weder von Ärzten noch von Patienten oder Besuchern, war zu bemerken. Dass man das Gebäude im Innern ansatzweise renoviert hatte, wie der Geruch frisch aufgetragener Farbe nahelegen mochte, war wohl nur dem Aufzug zu verdanken, den man jüngst erst eingebaut oder renoviert hatte. Man hatte sich bei der Ausführung der Arbeiten so auf das Notwendigste beschränkt, dass es aussah, als hätten die Maurer und Poliere die unzähligen Risse und Spalten, die an den Wänden und Decken der Gänge zu sehen waren, einfach stehen lassen, weil die Arbeitszeit schon herum war. Da aber kam auch schon der Aufzug von oben herab. Ohne dass ich ihn angefordert hatte, kam er herbei und trug mich zu Vaters neuer Wohnung. Wie viele Stockwerke es waren, habe ich nicht mitgezählt. Im Vergleich zum äußeren Prospekt, das ich noch in Erinnerung hatte, müssen es aber viel mehr Stockwerke gewesen sein, fast als ob das Gebäude mit der Auffahrt über sich hinaus gewachsen wäre.

Vater indessen war nicht in seinem Zimmer. Nur der mir vertraute Geruch seiner Zigaretten kam mir aus dem vorerst stockdunklen Raum entgegen. Und wären da nicht die vielen Bücher, die, mir aus seinem Bücherzimmer von zu Hause vertraut, mit einer dicken Rußschicht überzogen gewesen, ich hätte wohl glauben mögen, mich zu Haus zu befinden. Auch das Sofa kam im jetzt aufdämmernden Raum zum Vorschein, ein Erbstück von Vaters Vater, das in der Zwischenzeit jegliche Farbe und jeglichen Glanz verloren hatte. Wenn auch das Zimmer insgesamt einen dürftigen Eindruck auf mich machte, so wollte ich alles das außer Acht lassen, wenn nur Vater sich wohlfühlte. Doch fühlte er sich wohl?

Vornehmlich von den Büchern ging etwas unsagbar Beunruhigendes aus. Gewiss, hier war der Ort, wohin Vater sich zurückgezogen hatte, wo er gleichsam zu Hause war, wenn er es nirgends sonst mehr auszuhalten vermochte. Nie aber hatte ich den Eindruck gehabt, dass die Lektüre ihn für das Leben zurückgewonnen hätte. Wie ein Labyrinth war sie mir erschienen, das den Einsam-Gewordenen zum Nachdenken und Grübeln verlockte. Und war es der Mutter einmal gelungen, ihn ins Leben zurückzuholen, so befand er sich spätestens gegen Abend wieder bei seinen Büchern.

So stand ich da, enttäuscht, dass Vater nichts Besseres gefunden hatte, da bemerkte ich eine Tür. Einen Spalt breit stand sie offen, dass der Wind die Vorhänge bauschte. Ich nahm es als Zeichen, dass Vater sich draußen aufhielt. Als eingefleischter Raucher, der er war, hatte er wohl eine Rauchpause eingelegt und war nach draußen getreten. Also ging auf die Türe zu und trat aus dem Zimmer. Statt aber auf einen Balkon zu gelangen, gelangte ich zu einer von einem angenehmen Lüftchen durchwehten Dachgartenanlage.

Zuerst war von Vater nichts zu sehen. Erst als ich weiter umher blickte, entdeckte ich auch den Vater. Gut geschützt von einer grünen Hecke saß er auf einer Bank und war am Rauchen. Er erkannte mich gleich, zerdrückte die Zigarette und kam mir entgegen. Mir war fast, als hätte er mich erwartet; jedenfalls war die Begrüßung nicht anders als sonst, wenn wir uns eine Weile nicht mehr gesehen hatten. Dann lud er mich ein, mit ihm die Gartenanlage zu beschauen. Ins Zimmer könnten wir dann schon noch früh genug zurück. Bei dieser Erkundigung stellte sich heraus, dass sich hier ein weitläufiger Dachgarten befand, wie man ihn von der Straße aus überhaupt nicht für möglich gehalten hätte. Durchzogen von weißschimmernden Kieswegen, eingehüllt in das schattenspendende Laub exotischer Büsche und Bäume, erinnerte er eher an einen Garten am Euphrat oder am Nil als an eine Enklave inmitten einer von Lärm und Abgasen durchsetzten Stadt. Während drunten unterdessen ein heißer Frühsommertag der Stadt zu schaffen machen mochte, herrschte hier oben eine angenehme Kühle.

Noch immer waren wir lautlos nebeneinander gegangen. Ich hatte es Vater überlassen, ob er mir etwas mitteilen wollte, was offenbar nicht der Fall war. Wenn er sich nur wohlfühlte und alles gut war! Und doch war ich nicht ruhig, während wie so dahingingen. Bei all der üppigen Fülle, die uns hier oben umgab und die mit der Herrlichkeit eines Paradieses wetteifern mochte, schien mir doch der Friede zu fehlen. Mochte man ihn vergessen haben, in die Anlage einzubauen, mochte ihn Vaters Friedlosigkeit vertrieben haben. Endlich gelangten wir zu einem Rondell, wo wir Platz nahmen. Die Fläche war mit scharlachroten Krokussen bepflanzt, in deren Mitte ein kleiner Springbrunnen plätscherte. Neben dem Springbrunnen aber befand sich ein Kohlenbecken, über dem ein Topf stand, aus dem rötliche Dämpfe quollen. Eben sah ich Eidechsen von den heißen Steinen der Umfassungsmauer ins Dunkel streben, als der Vater mir ein Zeichen gab. Erschreckt dachte ich, dass nun der Zeitpunkt gekommen wäre, wo er mit etwas Unangenehmem herausrücken würde. Er bat mich aber nur, nun doch lieber mit ihm ins Zimmer zurück zu kehren. Es sei inzwischen doch auch hier oben sehr heiß geworden. Er hatte sich bereits erhoben, als ich im Schatten eines Baumes ein paar Tiere liegen sah. Zuerst dachte ich noch an ein Elternpaar, das sich mit ihren Jungen zu einer Rast niedergelegt hätte, als ich entdeckte, dass sich die Tiere im Todeskampf wälzten. Eines hatte eben frisches Blut gespuckt, zwei weitere aber öffneten nur noch ein wenig die Lider und zuckten mit den Augen. Da der Vater mir winkte, er stand bereits unter der Türe, ihm rasch zu folgen, ging ich an ihnen vorüber. Natürlich fragte ich nichts wegen dieser Vorgänge hier droben. Scheu habe ich allezeit vor dem Vater bewahrt, auch wenn mich eine Frage bewegte und sie mir eine Antwort wert gewesen wäre. Nur ein Bangen beengte und beklemmte mich. Doch nahm ich mir vor, mir nichts anmerken zu lassen, als hätte ich nichts gesehen und alles wäre in schönster Ordnung.

7. Das letzte Buch

Genug, dass es sich in einem verlassenen Winkel befindet, unbeachtet und unbemerkt, allenfalls dass die Kinder einen scheuen Blick darauf werfen, wenn sie beim Versteck-Spielen daran vorbei kommen. Im Übrigen aber besteht kaum Bedarf danach. Erst wenn die letzten Tage des Lebens anbrechen, wenn man weiß, dass nun alles besorgt ist, was noch zur Besorgung angestanden, holt man es hervor und beginnt mit der Lektüre. Die Rede ist von dem letzten Buch, das den Mitgliedern unserer Familie für diese Zeit des Lebensrestes bereit steht.

Noch sehe ich die Schwiegermutter, wie man sie nach zwei schweren Operationen zu uns ins Haus brachte. Den Lesestuhl hatten wir ihr ans Fenster gerückt und ins Licht der Sonne gestellt, wo sie dann auch mit der Lektüre begann. Wie vor der Lektüre, so war sie auch gefasst, als sie die Lektüre beendet hatte. Als hätte sie nur noch einmal in ihr Leben geblickt, um da und dort vielleicht noch eine Anmerkung anzubringen oder eine kleine Korrektur vorzunehmen, war sie im Einverständnis mit sich selbst.

Nach ihr kam der Vater an die Reihe. Mehrere Male zuvor hatte er schon angedeutet, dass es mit ihm zu Ende gehe. Es stand ja wahrlich auch sehr schlecht um ihn. Nicht einmal der Wein wollte ihm mehr schmecken, noch auch der Tabak. Gleichwohl nahmen wir seine Reden nie ganz ernst. Selbst als er mich in sein Zimmer geführt und dort in die Arme genommen hatte, mir erklärend, wir hätten nun Abschied zu nehmen für immer, glaubte ich ihm noch nicht. Erst als auch er nach dem Buch griff und zu lesen begann, wusste ich, dass nun auch seine Stunde auf ihn zukam.

Nach dem Vater war es dann die Mutter, die sich ans Lesen machte. Noch sehe ich sie, wie sie innehielt und sich nach uns umsah, als wollte sie nachsehen, ob wir noch alle da wären, wenn sie nun bald nicht mehr da war. Etwas Unerschrockenes leuchtete dabei aus ihren Augen.

Vor einem Jahr nun kam meine Frau an die Reihe. Schon als sie sich auf den Weg zum Buch machte, war mir elend zu Mute; und als sie mit dem Lesen zu Ende kam, da hatte ich verstanden, dass nun eine Zeit auf mich zukäme, die nichts mehr übrig ließe von dem, was einmal die Freude meines Lebens gewesen. Seit dem warte ich darauf, dass auch ich an die Reihe komme. Nicht dass es mich zu dem Buch zöge. Es stößt mich aber auch nicht von sich. Zu oft habe ich schon darüber nachgedacht, als dass ich davon ausgehe, dort noch eine bedeutende Erfahrung zu machen oder sonst einen Gewinn zu haben. Es kommt mir eher so vor, als ob die Lektüre so zu unserem Leben gehört wie der Name und wie das Familiengrab, in das man die sterblichen Überreste versenkt. Freilich werde auch ich das Buch sorgfältig durchlesen, wie es die Lieben vor mir getan haben, selbst wenn mir jeder Satz bekannt sein sollte. Sollte am Schluss des Buchs aber geschrieben stehen, dass mir nun noch gestattet wäre, einen letzten Wunsch zu tun, dann freilich weiß ich schon, was ich mir wünsche. Dann wünsche ich, von dort, wo jetzt der Friedhof ist, wo sich früher weite Wiesen ausgedehnt haben, an denen ich als kleiner Junge auf dem Weg zur Schule vorbei zu gehen hatte, mich zu erheben, mit meinem Schätzchen auf dem Rücken, um hinüber zu fliegen in ein Land, wo alle Zeit und aller Raum aufgehoben ist und wo es kein Leiden mehr gibt und keine Krankheit und keinen Tod.

 

8. Die Galerie der Bilder

Ihr seid mir doch die Allerliebsten,

weil ihr mit mir mein Liebchen preist

im Schall der Harfen, Zithern, Zimbeln,

in Gottes Liebe und im heiligen Geist.

 

Mitunter glaubst du, noch etwas Schönes hervorbringen zu sollen. Aber es ist ein Irrtum. Denn wo könnte noch etwas Schönes gedeihen, um dann als ein Schönes aufzuleuchten, wenn es kein Liebes, Gutes und Schönes mehr gibt, dem es geweiht ist? Muss nicht alles Wohldurchdachte und Wohlgeformte zu etwas Traurig-Schönem werden, wenn keiner mehr da ist, dem du es widmest? Ja, schrecklich ist der Gedanke, noch etwas Schönes zu schreiben, wo du doch weißt, dass du es deinem Schätzchen nicht mehr wirst zeigen können.

"Kind!" so drängt dich ein geheimer Zwang, auszurufen, wenn du dich umsiehst und niemand ist mehr bei dir, "Kind, was hab ich dir getan, dass du nicht mehr da bist?" Nur in der Ferne siehst du noch das Bild deiner Liebsten; und wie du auch hinschaust, ob du ihr zulächelst oder zuweinst, so begreifst du doch nur dies, dass sie dich nicht mehr erkennt und dass du von nun an allein bleibst. Was immer du tun magst, es ist einerlei, weil keine Begegnung mehr auf dich wartet. Dabei ist der Mensch doch zu wundervollem Austausch erschaffen. Haben wir nicht miteinander die Lieder der Liebe gesungen und haben uns Treue zugeschworen für alle Zeit? Und jetzt hätten wir Abschied genommen für immer? Mag sein, dass ich jetzt weniger unglücklich wäre, wenn wir uns weniger geliebt hätten. Doch was sag ich da? Was sind das für abwegige Gedanken? Letztes Jahr pflegte und verehrte ich dich noch; damals, als dein Blick noch auf mir ruhte. Und wenn ich dann annahm, freilich eine grundlose und immerfort falsche Annahme, dass dich keine allzu schlimmen Schmerzen peinigten, sprach ich noch leise zu mir: "Hast du nicht alles? Oder was fehlt dir denn, wenn du nur dein Mütterchen hast?" Ja, damals suchten uns noch unsere Lippen und manch ein Küsschen konnte ich dir noch geben, das besser schmeckte als Honig und Honigseim. Jetzt aber bin ich in einen Lebensabschnitt geraten, der mich wie ein Zauberwald umgibt, ohne Hoffnung, dass jemals ein Pfad daraus heraus führt. Hier sitze ich und schaue mich um; und nur ein paar Fotos, armseliger Ersatz eines einstmaligen Glücks, schauen mich an.

"Kind, was hab ich dir angetan, dass du nicht mehr da bist?" So drängt es mich auszurufen, wenn ich mich im leergewordenen Zimmer umschaue und mein Blick hinübergleitet zu den Regalen, wohin ich die Fotos gestellt habe, die dich mir zeigen.

Gewiss, schon immer befand sich eine Galerie von Fotos vor den Bücherregalen im Wohnzimmer. Wie auf einer Zeitleiste waren die Generationen vor uns schon immer dort versammelt: ein paar Vertreter der Urgroßeltern, die Paare der Großeltern und seit etwa 30 bis 20 Jahren auch die beiden Elternpaare. Waren die Urgroßeltern und auch die Großeltern schon immer liebenswerte Bekannte, Freunde gleichsam, die zu uns gehörten und die bei uns ein Bleiberecht hatten, so hatte ich mich unterdessen auch an die Bilder der Eltern gewöhnt, deren Fern-Sein einst zu den ungeheuerlichsten und unausdenkbarsten Dingen zählte. Doch nun, wo auch du bei ihnen stehst, Liebste, und mir nichts anderes mehr möglich ist, als dich zu verehren, versuche nur niemand, mir über meinen Jammer hinwegzuhelfen!

Was für ein Abschied allabendlich vor dem Zubettgehen, wenn ich so dastehe und die Bilder durchgehe, die dich mir zeigen, beginnend mit der Schar der Kinder- und Jugendbilder, bis hin zu den Bildern, die dich mir als meine Braut zeigen, und ich mit mir nicht einig werden kann, welches Bild ich mit hinauf nehmen soll in unsere Kammer, weil ich ja doch am liebsten alle Bilder mitnähme! Versuche nur niemand, mir Sprüchlein aus einer wohlfeilen Sonntagspredigt einzuflößen! "Du hast gut reden, kurzatmiger Prediger, dir fehlt nichts! Du spulst dein Sprüchlein vor mir ab, um dich schon in der nächsten Stunde wieder den Freuden des Lebens zu überlassen."

Mir aber ist elend zumut, wenn ich bedenke, dass ich nun auch mein Schätzchen, das Liebste, was ich hab, zu den Vorfahren zählen soll, mithin zu allen den Leuten, über deren Tod man schon immer als etwas ganz Selbstverständliches geredet hat, weil ja doch der Tod über alles Leben verhängt ist. Aber mein Liebchen ist doch damit nicht zu vergleichen! Mein Liebchen und ich sind doch eins! Wenn also ich noch lebe, warum lebt dann mein Liebchen nicht mehr? Wenn aber mein Liebchen nicht mehr lebt, was habe dann ich noch auf dieser Erde zu suchen? Oder dachte ich etwa damals daran, als wir jene Fotos machten, dass sie gemacht wären für diese freudlose und leergewordene Zeit? Hatte ich es mir nicht stets strikt verboten, gerade auch damals, als dir die Tage deines Leidens immer unerträglicher zusetzten, auch nur den leisesten Gedanken an die Zeit danach zu verschwenden. Verdammt mag ich sein, so sagte ich mir damals, wenn etwas in der Lage ist, mir den Glauben an das Leben zu zerschlagen. Jetzt aber bleibt mir nur, das Schreckliche zu erdulden, wobei ich ahne, wie verloren ich wäre, wenn es mir gelingen sollte, mir klar zu machen, dass ich nie mehr in der Lage sein werde, mit meiner Liebsten auch nur noch ein Wörtchen zu tauschen.

Nun gäbe es vielleicht etwas, was mir hinweghelfen und mich trösten könnte, wenn ich nur Ohren kennte, die mir zuzuhören verständen, Ohren, die nie ermüdeten, wie sehr man sie auch anfüllt, Ohren, die unermüdlich und begierig offen stünden beim Preis meiner Liebsten! Doch wer, wer hat mir jemals so hingebungsvoll und aufmerksam zugehört, wer mich so inspiriert, wie meine Liebste! Ich liebe und verehre die Frauen, die ihren Männern anhaften, einerlei, ob die Männer Helden sind oder nicht, so wie auch unsere Mütter ihren Männern in Treue verbunden waren. Freilich liebe ich auch die Männer, die es sich nicht nehmen lassen, in der Umgebung liebenswerter Frauen sich zu heldenmütigen Männern weiter zu entwickeln. Es bedarf unendlich viel und zugleich unendlich wenig, um ein Paar zu werden, erprobt für immer. Es genügt, dass man sich für den anderen verantwortlich weiß und sich einsetzt, dass einem dessen Wohl ebenso wichtig ist wie das eigene, dass man sich nicht freuen mag, wenn der Partner sich nicht freut, und dass man es unverzeihlich findet, seinen Liebling dem Leiden und Sterben ausgeliefert zu sehen, während einem selber nichts fehlt.

Freilich: Unter Dornen und Disteln gedeiht die Liebe ganz entschieden besser, als dort, wo nur Reichtum und Überfluss das Leben begleiten. Wenn nur die Armseligkeit der Armut nicht wäre, so gediehe in den Hütten der Sklaven die Pflanze der Liebe bedeutend besser als in den hochherrschaftlichen Palästen. Für die Armut gibt es nur einen einzigen kostbaren Schatz, der ihrer Hut anvertraut ist: die Liebe. Reichtum, Macht und Herrschaft indessen neigen zur Vergottung des Ich, zur Unterdrückung des Du und zur Vergewaltigung und Zerstörung der Liebe.

Gnade uns Gott, wenn uns unsere liebe Frau, die wir einmal in der Jugend auf Händen getragen, alt und gebrechlich vorkommt, dass wir sie in ein Pflegeheim stecken, auch wenn wir sie selber zu Hause pflegen könnten. Ich sage das nicht, als ob ich mich erhaben fühlte über andere, ich sage das nur, um mir klar zu machen, wie schwierig es ist, wenn du nach einem suchst, der dir zuhört beim Preis auf deine Liebste. Selbst unter der Schar der Kinder deiner Mutter suchst du oft vergebens. Wie auch könntest du einem von deinen Brüdern von den Geheimnissen der Liebe vorschwärmen, wenn nie von seinen Lippen das Geflüster kam: "Mein Mütterchen bist du!" Und er im Gegenzug dann vernahm: "Und mein Väterchen sollst du sein, für immer!" Wie also soll sich einer bereit machen, dich zu vernehmen und zu verstehen, wo er selber nie eine Liebe gefunden hat, die ihn verwandelt hätte?

Wende ich mich denn an die Kleinen und Kleinsten, dass sie einstimmen in den Preis auf meine Liebste! Müssen wir auch im drangvollen Gang durch die Zeiten den Glauben an das Reich Gottes und an seine Liebe verlieren, so mögen sie uns zurück auf den rechten Weg verhelfen!

Ich habe nie gewusst, in was für einer Welt ich zu Hause bin; es gab für mich aber auch keine Not, es zu wissen. Zumal, als ich Liebchen noch hatte, an Liebchens Seite lebte ich heiter und zufrieden wie ein Kind. Fast als lebten wir bereits ein ewiges Leben, fern allem Tod. Und war mir Liebchen nicht Bürgin, dass das Leben gut war? Selbst als sie in ihrem über dreißig Jahre dauernden Leiden nicht mehr gehen und stehen, dann nichts mehr selber essen und endlich, zwei Jahre vor ihrem Tod, auch nichts mehr sprechen konnte, und sie ganz auf meine Hilfe angewiesen war, war sie noch immer umstrahlt vom Glanz der himmlischen Liebe. Jetzt aber, während mir der eigene Körper fremd wird und es mich aus ihm herauszieht, wie aus einem Haus, das einzustürzen droht, schau ich aus, ob uns irgendwo nach unserer Wanderschaft ein unvergängliches Haus erwartet. Ich weiß es nicht mehr, ob es nach dem Einschlafen noch ein Erwachen gibt. Ich hab es vergessen. Liebchen fehlt mir, dass wir es uns als unsere gemeinsame Bestimmung ins Gedächtnis zurückrufen könnten. Die Erfahrungen mit den Menschen haben mich skeptisch gemacht. Freilich vertraue ich auf die Kraft der Liebe: dass ein Himmel auf uns wartet, wo ich meine Liebste wiederfinde, gesund, der Füße und der Sprache mächtig, und dass ich sie an mich drücken kann, ohne Spießrutenlauf durch die Säle der Ärzte und der mit ihnen verbundenen Institutionen.

Freilich gehöre auch ich zu denen, die viel zu lange darauf aus waren, sich mit Selbstherrlichkeit zu umkränzen, und die dieses Streben vielleicht nur deshalb aufgegeben haben, weil ihnen der erwünschte Erfolg versagt blieb. Bei meinem Liebchen war das ganz anders. Ihr genügte der Beifall des Liebsten. Und was die mit der Zufriedenheit verwandte Geduld angeht, so kann ich mir niemanden vorstellen, der länger und geduldiger sein Leid ertragen hätte als sie. "Es nützt doch nichts zu jammern", sagte sie, als sie noch sprechen konnte. Um mich auch nachts nicht in meiner Nachtruhe zu stören, gab sie auch da nie einen Ton von sich. Nur an dem unregelmäßig und gepresst ausgestoßenen Atem merkte ich, wenn sie Schmerzen quälten oder am Tag, wenn sich plötzlich die Brauen hoben und die Augen emporgerissen nach oben schauten, weil Attacken der Trigeminusneuralgie qualvoll über sie kamen. Wenn es aber für die Ärmsten der Armen eine Auferstehung gibt, dann auch für meine Liebste. Und dann darf auch ich hoffen, weil ich weiß, dass Liebchen nicht glücklich würde in einem Reich der Freuden und des Friedens ohne mich. Sollte es aber kein Erwachen mehr geben, sollte ich mir vergebens eingeredet haben, das Reich Gottes in meinem Liebchen gefunden zu haben (freilich, was für ein verstörender, alles vernichtender, mithin weit von uns weg zu weisender, wertloser, ja verachtenswerter Gedanke, wäre er auch tausendmal wahr!), ja, sollte alles vergehen, und alles Seiende wäre nur ein Spuk: dann wünschte ich mir, doch wenigstens noch einmal mein Liebchen zu sehen, und sei es auch nur in einem allerletzten bedeutenden Traum, ehe es Nacht wird und ich die Augen schließe für immer. Ja, dann wünschte ich mir, noch einmal mein Liebchen zu sehen, wie wir aufeinander zugehen, wie am Tag unserer Hochzeit. Noch einmal würde sie mir dann die Hand reichen und zu mir sagen:

 

"Komm mein König zu deinem Gelage,

süßen Duft meiner Narden ich trage,

Ruhe, mein Liebster, ein Myrrhenstrauß,

zwischen den Brüsten, du Liebster, mir aus!"

 

Und alle Kreatur würde mit uns Hochzeit feiern, bis endlich auch noch der letzte Atem verhauchte und das letzte Licht versiegte.

 

9. Der Vater als Pflüger

 

Die ihr einst Bergäcker wart und nun Totenäcker seid,

Wohin auch der Blick reicht, hinaus in die kommende Zeit:

Fassen musst du, ob auch im Geiste ergrimmt:

Zum Kommen und Gehen sind wir alle bestimmt.

 

Jahre waren vergangen nach dem Auszug aus dem elterlichen Haus, ohne dass ich etwas von den Eltern gehört hatte, bis ich mich eines Tages entschloss, einen Besuch bei ihnen zu machen. Zwar hatte ich schon öfters daran gedacht, hatte das Vorhaben dann aber herausgeschoben, teils weil ich noch mit einigen Arbeiten überhäuft war, teils aber auch, weil ich mich schämte, von den Leuten als ein so gewissenloser und schlechter Sohn meines Vaters erkannt zu werden. Jetzt aber, wo sich meine Stellung gefestigt hatte und ich im Begriff war, es zu Rang und Ansehen zu bringen, glaubte ich, darüber wegsehen zu können. Und da eben einige von den Tagen angebrochen waren, die so heiß bei uns sind, dass man keinen Schritt ins Freie tun kann, so hatte ich mir gedacht, den Weg nach Haus auf nächtlichen Pfaden über das Gebirge zurückzulegen. Morgens in aller Frühe, wenn dann die Gebirge hinter mir lägen, gedachte ich, zu ihnen ins Zimmer zu treten und mich mit ihnen an den Frühstückstisch zu setzen, fast als wären die Jahre niemals dahingegangen und ich wohnte noch immer zu Hause. So jedenfalls hatte ich es mir vorgenommen.

Nun also war ich aufgebrochen und losmarschiert und alles, bis ins Kleinste, war nach Plan gegangen, bis nun auch die letzte Etappe fast hinter mir lag. Ja, mein Plan schien aufzugehen. Durch Wälder voll schattenspendendem Laub und unter Tannen von überströmend-duftendem Harz war ich geschritten, als ich mich kurz vor Morgengrauen oben auf dem Gebirgskamm befand, von wo aus ich nichts weiter mehr zu tun hatte, als mich den Berghang hinabtragen zu lassen. Und als auch dies bewerkstelligt war und ich unter dem Jubelgesang der morgenfrohen Vögel aus dem Wald trat, da war mir wie einem, der endlich nach langer Reise wieder in die Heimat zurückkehrt. Hoch über dem Kandel und den vor ihm liegenden Flaunserbergen stieg die Sonne strahlend empor, dass ich alles wieder erkannte: das Tal, durchzogen mit den fruchtbaren Feldern und Wiesen und sorgsam beschützt von den rings sie umgebenden Häuptern der Berge, wo ich einst als Bub zur Schule gegangen. Jetzt musste ich nur noch die wenigen Meter den Wiesenhang hinab, dann galt es nur noch, ein kurzes Stück Weges, vorbei an den Bergäckern, dann war ich zu Hause.

Eben hatte ich den Fuß ins Tal gesetzt, als mir auffiel, dass man in der Zwischenzeit die Nussbäume auf dem Wiesenrain gefällt hatte. Hier war keine Nuss mehr aufzulesen wie früher. Aber auch in der Ebene waren einige Veränderungen zu bemerken. Wo früher weite, kaum überschaubare Getreidefelder gestanden hatten, überraschten jetzt Zypressen und Pinien, zwischen denen sich eine Menge von Feldkreuzen erhob.

Als ich mir meine Wanderschuhe ansah, bemerkte ich, dass sie mit einer dicken Schmutzschicht überzogen waren. Rasch zog ich sie aus; schließlich wollte ich mit sauberen Schuhen nach Haus zurückkommen. Grasbüschel zur Reinigung zu verwenden genügte da nämlich nicht einmal, sie vom gröbsten Schmutz zu befreien. Erst als ich die Schuhe ausgezogen hatte und damit begann, die Sohlen gegeneinander zu schlagen, hatte ich mehr Erfolg. Während dieser Arbeit nun geschah es, dass Staubwolken emporstiegen, die sich über das gesamte Tal legten. Je stärker ich zuschlug, desto größere und dichtere Staubwolken stiegen empor. Endlich, als auch der kleinste Schmutz vergangen war, hatte sich das Tal so mit Staubwolken erfüllt, dass weder mehr etwas vom Himmel, noch auch ein Flecken Erde zu sehen waren. Jetzt galt es zu warten, bis das Tal wieder hervortrat. Doch das dauerte nicht lange. Kaum, dass ich abermals hingesehen hatte, waren die Staubwolken verschwunden und das Tal lag wieder vor mir, nur dass es jetzt wie von einem schmutzig grauen Leintuch überzogen war. Da erfasste ich einen Zipfel des Tuchs und zog es zur Seite.

Als ich das Tuch zur Seite gezogen hatte, war nichts mehr von einem Friedhof zu sehen. Stattdessen erschien ein Pflüger aus der Tiefe des Raumes, das Feld zu bestellen. Barhäuptig und ruhigen Schrittes führte er ein Pferd an der Hand, das einen Pflug zog. Während ich ihm zuschaute, kamen zwei Schlangen aus dem Wald. Sie richteten sich neben mir auf, gleichfalls mit mir das Geschehen zu verfolgen. Zu ihnen gesellten sich noch ein paar Greifvögel und ein Wolfspaar, die nun auch bis zum Rand des Ackers herankamen, dass wir wie in einer Reihe standen. Da also standen wir nun und schauten zu, wie der Mann Furche um Furche schnitt, in die er den Samen aus seiner Samentasche auswarf. Der Mann aber, der hier bei der Arbeit war, hatte für nichts Augen als für seinen Acker. Und während wir so dastanden und ihm zuschauten, wie er mit seinem Pflug das Erdreich aufwarf und den Samen streute, dämmerte mir, dass es der Vater war, der hier bei der Arbeit war. Und ich glaubte zu begreifen, dass er die Aufgabe gefunden hatte, nach der ihn schon immer verlangt hatte und die ihn nun für immer erfüllte.

 

10. Gleichgewicht

Abend war es geworden und aus grauem, wolkenverhangenem Himmel begann es zu regnen. Und weil ich die Eltern nicht mehr angetroffen hatte, hatte ich mich auf den Weg gemacht, noch mit dem letzten Zug nach Haus zurück zu fahren. Da es aber noch Zeit hatte bis zum nächsten Zug, hatte ich mich in der Stadtmitte unter die Arkaden gestellt, die Zeit bis zum Fahrtbeginn abzuwarten.

Da stand ich nun also wie ein Pfeiler in der Strömung. Denn es war die Zeit des Arbeits- und Geschäftsschlusses und alles, was nur immer gehen konnte oder ein Auto besaß, strömte nach Hause. Auch ich war ja nach Hause geeilt, war nun aber hier gestrandet. Was als Kind einmal für mich das Bekannteste und Vertrauteste war, war mir plötzlich zum Unerklärbarsten und Rätselhaftesten geworden. Zumal in den Jahren des zunehmenden Alters war mir das mehr und mehr offenbar geworden. Aus dem elterlichen Haus waren sie ausgezogen und hatten beinahe nur noch das Leben eines Hans im Glück geführt, bis auch sie kaum mehr in den Händen hielten als einen gewöhnlichen Feldstein. Gewiss, auch ihnen war einmal das Glück nahe gekommen, das Glück der werdenden Eltern, doch hatten sie dieses Glück nicht festzuhalten vermocht. Immer wieder war etwas dazwischengekommen, teils von höherer Macht verhängt, teils durch Unbedachtsamkeit und eigenes Verschulden verursacht. Sorgen um das Wohl der heranwachsenden Söhne hatten sie mitgenommen, Hoffnungen auf Beförderung und Ansehen unter den Menschen in Atem gehalten, Auseinandersetzungen mit anderen Menschen gedemütigt, üble Misshandlung vonseiten der Amtsgewalt, von Schulen, öffentlichen Einrichtungen und Ämtern so aufgezehrt, dass sie schließlich den Hausstand aufgegeben und das Haus verlassen hatten. Statt, am eigenen Herd zufrieden dem Lebensabend entgegen zu sehen, waren sie noch einmal durch die Welt geirrt, einer ungewissen Zukunft entgegen.

Der ärgste Regen hatte unterdessen etwas nachgelassen und die Dämmerung schon fast die Nacht erreicht, sodass jetzt auf der nassen Straße die Lichtreflexe der noch immer vorbeifahrenden Autos gut zu sehen waren, als ich plötzlich eine Stimme hörte: "Sieh dort, das Haus!"

Als ich mich umsah, sah ich niemanden, der es mir zugerufen hätte. Zwischen den Häusern aber, in Richtung des Sonnenuntergangs, glaubte ich ein prachtvolles Gebäude zu erkennen, das ich noch nie dort gesehen hatte. Neben einer Reihe von Ulmen schien es so hoch und so hell und erhaben, dass ich nicht umhin konnte, es näher in Augenschein zu nehmen. Eben war ich dabei, die Straße zu überqueren, als ein paar junge Leute auf mich zukamen. Ihre Blicke waren teils auf mich gerichtet, als kennten sie mich von früher, teils rückwärts auf das Gebäude zu, als hätten sie meine Gedanken erraten und hätten auf mich gewartet. Ich aber, wie von einer höheren Macht ergriffen, sagte zu ihnen: "Dieses Haus habe ich nicht gebaut!"

Unterdessen waren sie dabei, mich dorthin zu geleiten. Sie hatten mir kaum die Arme gereicht, da standen wir auch schon vor der Freitreppe, die zum Portal hinaufführte. Kinder in Festtagskleidern spielten dort, Mädchen und Jungen: die Mädchen mit Kränzen im Haar, die Jungen mit Fähnchen in den Händen. Sprangen die Einen die Treppe hinauf, so sprangen die Anderen hinunter. Mit so viel Anmut bewegten sie sich, dass sich nicht leicht ein schönerer Reigen hätte ausdenken lassen. Kaum dass sie den Hauptweg frei gemacht hatten, tat sich auch schon das Portal vor uns auf, dass sich ein Licht von drinnen nach draußen ergoss, wie ich es noch nie so herrlich gesehen hatte. Und eine Unsicherheit und ein Schwindelgefühl bemächtigten sich meiner. Und ich wäre wohl gar noch zu Boden gestürzt, hätten mich nicht meine Begleiter zur rechten Zeit aufgefangen. Dann trugen sie mich, die Füße voran, die Stufen empor, und betraten mit mir das Gebäude. Mir aber schien alles in Bewegung zu geraten. Des Bodens mitsamt den tragenden Pfeilern bedurfte es kaum mehr, um das Mauerwerk und das Deckengewölbe darüber zu tragen. Alles hielt sich wie von selbst in kreisender und schwebender Bewegung, dass mich ein Verlangen überkam, mir an die Brust zu schlagen, als hätte ich ein furchtbares Verbrechen begangen.

Da aber begann sich eine der Kassetten aus dem Deckengewölbe zu lösen und zu Boden zu fallen. Alle, die mit mir gekommen waren, schauten nun auf mich, was ich zu tun vorschlüge, als hinge der weitere Fortgang nur von mir ab, da löste sich bereits eine zweite Kassette und stürzte zu Boden, worauf sich bereits eine dritte zeigte, deren Fall kurz bevorstand. Jetzt aber dämmerte mir, dass es an mir lag, was weiter zu geschehen hatte. Als ob ich nur in die Hände zu klatschen hätte und alles wäre zur Stelle, dessen ich bedurfte, war auch schon alles da: Seile und Leitern und alle die Arbeitsgeräte und Materialien, um sich ans Werk zu machen. Und war ich zuvor noch scheu den Blicken meiner Begleiter ausgewichen, unfähig auf eigenen Füßen zu stehen, so teilte ich ihnen jetzt mit, was zu tun war. Gemäß meinen Weisungen stiegen sie auch gleich empor, die eingesammelten Kassetten an Ort und Stelle hinauf zu befördern und neu zu befestigen. Wie flink sie aber auch zu Werke gingen, so konnte ich doch nicht verhindern, dass sich weitere Kassetten aus dem Verbund lösten und vom Deckengewölbe herabfielen. Wo immer aber eine Kassette niederging, waren Leute zur Stelle, sie an ihren Ort zurück zu schaffen und sorgsam einzufügen. Ja, alles ging so reibungslos vonstatten, wie ich es mir nicht schöner hätte vorstellen können. Wie ein Jongleur, der Bälle in die Höhe wirft, während er zugleich auf die niederfallenden Bälle achtet, um sie gleichfalls wieder in den Kreislauf zu bringen, stand ich da und gab die Befehle, wobei ich zugleich das Geschehen bestaunte. Ja, ein so mächtiger Wille hatte mich gepackt, ein so hohes Vergnügen von mir Besitz ergriffen, dass ich alles und alle um mich herum in einer einzigartigen Begeisterung zusammenhielt. Ob auch Kassetten unaufhörlich zu Boden fielen und nicht abzusehen war, wann das jemals aufhören würde, so fand ich es doch herrlich, mit dabei zu sein und mitzuerleben, wie alles immer wieder seinen vollkommenen Anfang erreichte. "Los, los!" rief ich und klatschte in die Hände. Und die Leute rührten sich und arbeiteten wie in einem Rausch. Überall waren Augen, die überprüften, überall Hände, die zugriffen, überall eine Begeisterung, die machte, dass die Mühen zur Aufrechterhaltung des Ganzen und zum Erhalt des allgemeinen Glücks kaum mehr vorhanden zu sein schienen. Und während ich so klatschte und ihnen zurief, war mir, als sei alles gehalten in einem einzigartigen, andauernden Gleichgewicht.

 

6. Der Weg durch die Zeit

 

1. Die beiden Mädchen

Lange Zeit schien mir, als könne ich klar bezeichnen, wen ich meinte; jedenfalls traute ich mir zu, die beiden Mädchen zu unterscheiden, auch wenn andere dabei große Mühe hatten. Denn wenn sie sich auch bis aufs Haar glichen, ein lockenreiches, wie aus goldenem Garn gesponnenes, in Hyazinthen blühendes Haar, und sie darüber hinaus sich auch auf ähnliche Weise zurecht machten und sich in geselligem Kreis stets auch ähnlich verhielten, so war es bei mir doch nie zu einer Verwechslung gekommen. Das Eine war meine Liebste, für die ich ihr Liebster war, das andere aber mein Mütterchen, das uns unsere Kinder zur Welt gebracht hatte, das sie hegte und pflegte, und das auch mich stillte, wenn ich hin und wieder einmal von einer großen Unruhe geplagt war.

Dass aber die Leute, wenn ich ihnen von meinen beiden Mädchen sprach, mich wie ein dummes Kind anschauten, weil sie sie nicht auseinander zu halten vermochten oder vielleicht sogar, weil sie nur ein einziges Mädchen sahen, focht mich über lange Zeit nicht an. "Es ist eben ihre Art, nicht sehen zu können", sagte ich zu mir, und damit war die Sache für mich abgetan. Im Nachhinein freilich stellt sich die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich mich überhaupt nicht auf die Leute eingelassen hätte. Denn wenn mich anfangs auch nur ihr törichtes Verhalten in Erstaunen versetzte, so blieben doch manch ein Kopfschütteln und manch ein herablassend gesprochenes Wort nicht ohne Nachwirkung in mir zurück. Immer wieder geschah es, dass ich bei mir überlegte, ob sie unfähig waren oder ob sie sich nur weigerten, die Ereignisse zu beschauen. Wenn ich dann aber zum Vergleich erwog, woran denn nun ich die beiden Mädchen unterschied, so wurden mit der Zeit auch in mir Zweifel laut; und was zuvor so gut geklappt hatte, wurde mehr und mehr zum Gegenstand einer mich bedrängenden Frage. "Wenn du nicht genau zu sagen vermagst, wie du es fertig bringst, die beiden Mädchen zu unterscheiden", sagte ich zu mir, "dann kannst du auch nicht sicher sein, ob du dich nicht täuschst, und die beiden Mädchen hören nur deswegen so gut auf dich, weil sie es gelernt haben, sich deinem Stolz zu fügen."

Kurz, der anfangs noch so unbekümmerte Umgang unter uns Dreien wurde mit der Zeit immer problematischer und fragwürdiger. Eine der in diesem Zusammenhang neu auftauchenden Fragen war, auf welche Weise ich denn die beiden Mädchen kennen gelernt hatte: welches zuerst und welches hernach. Das erste, wonach man fragt, wenn man jemandem begegnet, ist der Name. Kennt man den Namen, so weiß man Bescheid und hält auseinander. In diesem Sinn wird es wohl Juttchen gewesen sein, die ich als Erste gesehen und schätzen gelernt habe, ehe dann Muttchen hinzukam. Unwiderlegbar aber ist es gewiss nicht. Vielleicht hatte ich auch nur ein Zugeständnis gemacht, um die Leute zufrieden zu stellen. Den Leuten genügt ja meist schon ein Wort als Antwort, um einen Fall abzuschließen. Hätte ich ihnen gesagt, dass ich zuerst Muttchen geliebt habe, weil mir ihr sanfter Blick so gut tat, so wären sie wohl auch damit zufrieden gewesen. Die Wahrheit aber ist, dass mir keine Begebenheit erinnerlich ist, die mir Juttchen als erste vor Augen gestellt hätte, ohne dass Muttchen mit dabei gewesen wäre; und achte ich auf Muttchen, so sehe ich immer, wie sie mit Juttchen zusammen auf mich zukommt. Juttchen mag zwar mitunter einen fröhlichen Schritt vor Muttchen voraus gehabt haben, weshalb man meinen könnte, ich hätte sie zuerst kennen gelernt, doch geschah kaum weniger oft, dass Juttchen sich zurückzog und sich hinter Muttchen versteckt hielt, wenn ich deren Gesellschaft bedurfte. Wenn ich mir die Bilder aus der Erinnerung herauf rufe, kann ich freilich nicht ganz ausschließen, dass sich spätere Gedanken und Überlegungen und vielleicht auch Ereignisse in sie hineingemischt haben, so dass ich beide Mädchen im Rückblick nur in einer bearbeiteten und veränderten Gestalt wahrnehme. Wenn die Mädchen ursprünglich und im ersten Augenblick noch eins gewesen sein sollten und später erst zwei geworden sind, dann kann die Aufgabe, sie zu erkennen, nur zum Ziel gelangen, wenn ich sie bei ihrer Scheidung erkenne.

Was aber ist das für ein Ansinnen, was für ein Unternehmen, was für ein Beginnen, den Prozess einer Scheidung zu analysieren! Nur die Zeit mit all ihren zerstörerischen Kräften, mit Alterung und Zerfall, Täuschung und Enttäuschung, mit Krankheit, Elend und Tod vermag solche Prozesse wie die einer Scheidung zu offenbaren.

Aus alledem ergibt sich, dass das, was ich bis jetzt über die beiden Mädchen gesagt habe, einstweilen nicht anders genommen werden darf als ein Versuch, überhaupt etwas auszusagen, auch wenn alle diese Aussagen noch das Rechte verfehlen. Und doch scheint mir dies der einzige Weg, vom Dasein der beiden Mädchen wie auch von meinem Verhältnis zu ihnen zu berichten. Aus dem Strom des gemeinsam verbrachten Lebens beschreibe ich mithin immer zugleich auch alle meine Neigungen und Erwartungen, meine Wünsche und Hoffnungen, meine Erfolge und Enttäuschungen, mithin alle meine Erlebnisse mit ihnen. In diesem Sinn gebe ich zu erwägen, dass Muttchen trotz ihres festen Auftretens eher einen sensiblen und labilen Charakter gehabt haben mag, bzw. dass ich, wie man verschiedene Freunde bei verschiedenen Anlässen ganz besonders schätzt und aufsucht, meinen eigenen schwankenden Charakter lieber mit Muttchen in Verbindung brachte, während ich alles, was mit jugendlicher Unbekümmertheit und Lebenslust, mit himmlischem Vergnügen und seliger Trunkenheit, mit Übermut und Ausgelassenheit zu tun hat, bei Juttchen fand. Wann immer mich etwas bedrückte oder ängstigte, wenn ich Zweifel hegte, ja mitunter mich selbst nicht mehr kannte, war es Muttchen, zu der es mich zog und bei der ich Schutz fand, während mich Juttchen im Tatendrang des Lebens begeisterte und vorwärts zog. Gleichwohl wäre verkehrt, zu behaupten, Muttchen hätte Tanz und Fröhlichkeit und geselliges Leben weniger geliebt als Juttchen. Beide Mädchen waren stets für alles Große und Schöne zu begeistern. Trübsinn und grämlicher Ernst war ihnen ebenso zuwider wie eitle Betriebsamkeit und geistloses Spiel. Und frage ich mich, wer von den beiden Mädchen damals, in der Morgenröte unserer Begegnung, die Frage getan, ob es denn Unvollkommenes und Fehlerhaftes und Widerwärtiges im Herzen der Menschen geben müsse, so möchte ich sagen, beide.

Mochte sich Juttchen auch etwas häufiger durch Heiterkeit und gesellige Lebensfreude und schickliches Selbstbewusstsein hervortun, wie für den Tag geschaffen, so konnte sie doch auch ganz überraschend still und besonnen werden, so wie Muttchen, die mir eher in sich gekehrt in Erinnerung ist, gleichsam als hätte sie ein Nestlein gebaut und dächte nun nach, was noch auf sie zu kommen mag, plötzlich auch durch ihren köstlichen Mutterwitz zu gefallen wusste. Im Nachhinein will mir scheinen, dass in solchen Fällen immer auch bei mir ein Wechsel stattgefunden hat. Wurde mir schalkhaft zumut und Muttchen war noch eben bei mir, dann war auch Juttchen zur Stelle; und wurde mir einmal müde und trüb ums Herz, so war auch Muttchen da, das erregte Gemüt zu besänftigen. Ich kann zwar nicht leugnen, dass in Muttchens Blicken immer wieder einmal etwas Unerklärlich-Schmerzliches aufglomm, doch war das auch bei Juttchen so, wenn auch nicht ganz so häufig, sodass das zu einer Unterscheidung der beiden Mädchen gewiss nicht hinreicht. So viel aber dürfte zutreffen, dass sich der heiter sinnenhafte Augenblick als Domäne von Juttchen entwickelte, während sich Muttchen mehr und mehr der stillen und sorgsamen Pflege unseres Beisammenseins annahm.

Nicht lange nach dem ersten Interesse der Öffentlichkeit an unserem Beisammensein begann ich, genauer über unser Verhältnis nachzudenken. Bald geschah es voller Ernst, bald aber auch so übermütig und jugendtrunken, dass ich mich - im letzteren Fall - nicht scheute, obendrein noch selbst kleinere Versuche anzustellen. So konnte es sein, dass ich Juttchen rief, obwohl ich Muttchen meinte und ähnliches mehr. Auch machte ich mir damals schon Gedanken darüber, was wohl aus ihnen geworden wäre, hätte ich mich ihnen gegenüber von Beginn an anders verhalten. Gesetzt, ich hätte Juttchen für Muttchen und Muttchen für Juttchen genommen: hätten sie dann auch ihre Rollen getauscht und alles hätte sich anders entwickelt oder wäre es bei einem bloßen Namenstausch geblieben? Damals spielte ich sogar mit dem Gedanken, mich mit den beiden Mädchen zusammenzusetzen und mich mit ihnen über diese Dinge zu unterhalten. Wiewohl wir alles zusammen teilten und frei und offen über alles redeten, weil wir der Meinung waren, dass wir für jedes uns betreffende wichtige Thema den rechten Ton finden, habe ich dann doch stets Abstand davon genommen.

"Was bist du doch für ein unruhiger Geselle!" sprach ich zu mir. "Ist nicht der Bund mit den beiden Mädchen schön und herrlich und hast du nicht alles, was du brauchst? Wonach sehnst du dich und was verlangst du denn? Musst du unbedingt unglücklich sein, nur weil dich die Welt nicht versteht? Und wenn dir selbst lieber wäre, ein sicheres Unglück dein eigen zu nennen, als ungewiss zwischen Glück und Unglück zu schwanken: hast du denn ein Recht darauf, mit deinem Rumoren die Harmonie und das Glück der beiden Mädchen zu gefährden?"

An einem Spätsommertag, um die Zeit, als die ersten Schwalben sich nach Süden auf den Weg machten, war es dann, dass plötzlich eine schreckliche Unruhe sich meiner bemächtigte. Uneins mit mir selber, was zu tun wäre und ob ich mich in die Arbeit stürzen sollte, die mich vom Nachgrübeln abhielt, geschah es, dass mich Muttchens Blick traf. Wiewohl ich fest davon überzeugt bin, dass ihre Augen ebenso auf mir ruhten wie früher, so war mir doch, als ob mich etwas Fremdes anschaute, und ich entdeckte, während Muttchen mit einem Schrei bei Seite wich, dass sich Juttchen hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte. Was sich damals im Einzelnen zugetragen hatte, vermag ich nicht mehr zu sagen. Nur dies ist mir in Erinnerung geblieben, dass mich der Gedanke durchzuckte, dass Juttchen mir bald genommen würde. Ja, daran erinnere ich mich noch sehr gut, zumal da ich die nächsten Tage fast unentwegt darüber nachdachte.

Von nun an sah ich es als meine vordringliche Aufgabe an, Juttchen meinen besonderen Schutz anzubieten. Ja, von nun an hatte ich fast nur noch Augen für Juttchen. Ihr galt mein besonderes Interesse, ihr meine besondere Fürsorge, über ihr Wohlbefinden wachte beständig mein Auge. Müsste ich Rechenschaft darüber ablegen, was Muttchen von da an tat und wo sie sich aufhielt, ich vermöchte es nicht. Juttchen war von nun an eindeutig das Mädchen, das sich in meinem Umkreis aufhielt; Muttchen indessen, wenn sie irgendwo auftauchte, so geschah es aus dem Hintergrund.

Dieser Rangordnung zum Trotz geschah damals fast so etwas wie ein Wunder. Ein gewisses, wenn auch sehr stilles Glück hielt damals bei uns Einzug und blieb uns auch für eine Weile erhalten. Alles schien nun geklärt, alles in die nötige, wohlüberschaubare Ordnung gekommen.

Unterdessen stand der Tag der Wintersonnwende bevor. Unwirtlich und kalt waren die Tage geworden, dass ich alle Hände voll zu tun hatte, das Haus einigermaßen warm zu halten. Schon einige Tage war ich so sehr mit der Heizung beschäftigt, dass ich selbst auf Juttchen kaum mehr als flüchtige Blicke hatte werfen können. Muttchen hatte ich fast gar nicht mehr gesehen. Erst eines Abends, es war der Abend vor Juttchens Namenstag, als ich eben wieder aus dem Heizkeller kam, um etwas aus der Küche zu holen, da geschah es, dass ich auf Muttchen traf. Am Herd beschäftigt, beim Zubereiten des Abendbrotes lächelte sie mir zu, als ich hereintrat. Auch ich lächelte ihr zu, vermutlich nicht ganz so entspannt, wie es früher einmal der Fall war. Jetzt aber wollte es das Geschick, dass auch Juttchen zu uns in die Küche kam. "Mütterchen!" rief sie aus, mit einem Schluchzen in der Stimme, das mir unbegreiflich erschien. Kaum aber, dass sie auf Muttchen zugeeilt war, zog sie Muttchen vom Herd und herzte sie und drückte sie an sich, dass es mir durch Seele und Leib ging. Da nun sah ich, dass das, was da in der Pfanne zubereitet lag, Muttchens Finger waren. Weil ihr sonst nichts geblieben war, mir ihre Verbundenheit zu zeigen, hatte sie sich die Finger abgeschnitten und sie zur Mahlzeit bereitet.

Seit jenem Tag haben sich unsere Beziehungen abermals, und vermutlich zum letzten Mal, entscheidend geändert. Wie früher sind wir nun wieder zu Dritt. Allein von dem Stolz, der einmal in den allerersten Zeiten mich getragen hatte, will sich nichts mehr einfinden. Überhaupt ist es den Mädchen lieber, wenn wir zu Haus bleiben, als dass wir uns in der Öffentlichkeit zeigen. Wenn wir uns aber in der Öffentlichkeit zeigen, so halten sie es für besser, wenn es nur noch zu zweit geschieht. Meist erhält Juttchen den Vorrang, zumal da Muttchen es so für viel besser findet. Gehe ich mit Juttchen aus, so bleibt sie, kaum dass wir das Haus verlassen haben, stehen und schaut zurück. Schaue dann auch ich zurück, so sehe ich Muttchen, wie sie am Fenster steht und ihre Blicke uns folgen. Gehe ich aber mit Muttchen aus, so ist sie es, die zurückschaut und die mich dann bittet, doch nur ja nicht Juttchen hinter den Fenstern alleine zu lassen. "Für wen auch", sagt sie, "soll sie sich schön machen, wenn du sie nicht bevorzugst?"

Ich, der ich einmal behauptet habe, die beiden Mädchen zu kennen und wohl zu unterscheiden, nähme jetzt freilich nur allzu gern den Standpunkt jener Leute ein, die in den beiden Mädchen nie etwas anderes gesehen haben als ein und dieselbe Person. Hab ich mich schuldig gemacht und bedrücken mich schon die Schatten des Alters? Juttchen vor allem scheint mir in der letzten Zeit bei all ihrer mädchenhaft blühenden Gestalt etwas geradezu Körperloses und Durchsichtiges angenommen zu haben. So viel Unsicherheit sich in mir aber auch eingenistet haben mag, in einem Punkt bin ich mir ganz sicher: Wenn einmal Muttchen etwas widerfahren sollte, wird dies auch auf Juttchen Auswirkung haben. Das Beste, was ich im Augenblick tun kann, das ist, dass ich mir allen Argwohn und alle Sorge verbiete. So verbiete ich mir strikt, Muttchen nach Anzeichen des Alters hin abzusuchen; und wenn ich auf Juttchen schaue, so tu ich das im Glauben, sie noch immer so fröhlich vorzufinden wie früher. Ja, auch wenn ich die untrüglichsten Beweise hätte, dass Muttchen inzwischen sehr viel älter geworden wäre und Juttchen an Fröhlichkeit eingebüßt hätte, so würde ich die Beweise entschieden als falsch von mir weisen. Und doch bringen alle diese Vorsätze dem Herzen nur wenig Beruhigung. Was mich angeht, so muss ich wohl lernen, mich radikal zu bescheiden. Den Tag aber werde ich kaum aufhalten, an dem ich Juttchen kummervoll an mein Herz drücke, während Muttchen sich mit leichtem Flügel von meinem Fenster erhebt. Und so bleibt mir nur die Hoffnung, dass mein Wunsch in Erfüllung geht und ich alledem zuvorkomme: dass Juttchen mich mit sanften Fingern in den Schlummer einwiegt, während mir die schwerelos gewordene Gestalt von Muttchen die Augen verschließt.

 

2. Die beiden Kinder

Der letzte Schnee im Garten ist geschmolzen, die Frühjahrssonne bescheint schon wieder die Erde, als die Mutter die Türe öffnet und über die alte Terrasse in den Garten hinab eilt. Hinter ihr drein kommt Mimi mit ihrer Puppe, ein vier- bis fünf Jahre altes Kind. Wiewohl es gut genährt ist, sieht es nicht sonderlich gesund aus. Vor allem das Gesichtchen wirkt alt und schlaff, als hätten sich Mund und Nase und Wangen beeilt, die ihnen vorgeschriebene Größe vorzeitig zu erreichen und das übrige Gesicht wäre darüber in Vergessenheit geraten. Kraftlos erscheint der stets leicht geöffnete Mund, hinter dem eine Zunge liegt, die nicht viel mit sich anzufangen weiß. Auch die Augen, als hätten sie immer nur durch Milchglas geschaut, schauen nicht auf das Allernächste und erkennen nichts. Nur die neuen Schuhe und das frisch gebügelte Kleidchen, das das Kind trägt, liegen ihm im Sinn, was jetzt alles von seiner Puppe beschaut und bestaunt werden muss. Mitunter bleibt es aber auch stehen und sagt "Minou, mein liebes Schätzchen!", als erinnerte es sich an eine lange Geschichte, um sich dann, nach einem unendlich vorsichtigen Tritt auf die nächstuntere Stufe, von neuem von der Puppe bestaunen zu lassen.

Unterdessen hat die Mutter bereits den Garten durchquert und hilft Mimi, als sie wieder zurückkommt, auf den Kiesweg hinab. Am unteren Ende des Gartens befindet sich ein Beet, über welches die Waldbäume ihre Äste strecken. Es ist etwa zwei Schritte breit und etwa doppelt so lang und glänzt von schwarzer Erde. Um das Beet herum aber läuft ein klaffender Spalt. Als Mimi mit der Mutter bei dem Beet ankommt, sagt sie "Minou?" und, indem sie zur Mutter aufsieht, fügt sie hinzu "mein liebes Schätzchen?" "Jawohl", sagt die Mutter, "hier ist es", um dann gleich an ein paar Stellen durch den Spalt zu tasten. Die Mutter hat ihr nämlich in den allerletzten Tagen viel von der Zwillingsschwester erzählt, die auf sie warte. Eigens ein Brustbild hat sie von der Kommode geholt und, das Bild mit Küssen bedeckend, Mimi gezeigt und immer wieder dazu gesagt: "Das ist mein liebes Schätzchen!"

"Minou!" ruft jetzt die Mutter, mehrere Male und dann immer lauter, denn die ersten Versuche haben nichts erbracht, "Minou! Hörst du mich?" Sie weiß, dass die Zeit, die ihr jetzt zerrinnt, ihr nachher fehlt. Auch Mimi, die Schwester, ist jetzt am Rufen, wenn freilich auch nur sehr schwach hörbar. Und wie die Mutter, so macht nun auch Mimi Versuche, die Schwester im Spalt zu ertasten. Während es ihr jetzt schon gelingt, den rechten Arm bis hinauf zur Schulter im Spalt verschwinden zu lassen, sagt die Mutter nicht wenig enttäuscht, als stünde jemand neben ihr, dem sie Rechenschaft abzulegen hätte: "Ist das nicht schrecklich! Den ganzen Winter über bin ich nun am Fenster gestanden und habe gewartet auf diesen Tag!" Dann aber, Mimi bei Seite stoßend, mit dem Mut einer Verzweifelnden, als hätte sie noch einmal eigens eine Zusicherung erhalten, gräbt sie sich mit beiden Armen in die Erde hinab und gibt erst Ruhe, bis sie Minou aus der Erde herausgezogen hat.

Benommen vom gewalttätigen Auszug liegt Minou regungslos auf dem Beet. Sie hat etwa dieselbe Größe wie Mimi, nur von lebensprühenden, roten Wangen wie überhaupt von Anzeichen des Lebens kann bei ihr nicht die Rede sein. Doch die Mutter lässt das nicht gelten. Schnell hebt sie Minou auf und drückt sie an sich, wobei sie ihm immer wieder seinen Namen vorspricht. Während Minou nun unter der Fürsorge der Mutter die Augen aufschlägt und erste Erkundigungen einzusammeln beginnt, wird es um Mimi immer stiller. Auf ihr Drängen hin hat Mimi der Schwester die Puppe gereicht; doch Minou, zu schwach noch, die Puppe zu halten, und unwissend, was damit gemeint ist, hat sie fallen gelassen. Immerhin beginnt Minou jetzt, ihren eigenen, ihr von der Mutter vorgesagten Namen nachzuplappern, als begänne sie, nach sich zu suchen. Abseits aber neben dem Beet kauert Mimi, wo sie in stumpfer Langeweile an den Fingern zu kauen beginnt. Die Mutter indessen hat nur noch Augen und Ohren für Minou. "Ist Minou nicht mein gutes und großes Kind", sagt sie, während sie prüft, ob sich ihr nicht endlich die Bäckchen röten. "Und kennt es mich nicht schon wieder und sagt mir seinen Namen? O, du mein Schätzchen, du mein liebes Kind! Als ob ich dich jemals vergessen könnte!"

Dann aber plötzlich ändert sich alles. Da die Zeit nämlich drängt, hat sie das Kind auf den Boden gestellt, damit es nun auch ein paar Schritte macht. Fortschritte will die Mutter sehen, an Fortschritten sich erfreuen, in Gedanken an weitere Fortschritte das weitere Leben verbringen. Doch vermag sie es nicht, dem Kind einen Halt zu geben. Wiewohl am Arm der Mutter sackt es in sich zusammen. Ohne einen Ton von sich zu geben, sackt das Kind zusammen, während die Mutter betroffen dasteht. Dann aber, indem sie das Kind abermals aufhebt, schreit die Mutter auf. "Das Leben ist zu kurz; man kann sich nicht freuen", ruft sie aus. "Oder ist es nicht schrecklich, wenn du weißt, dass du dein liebes Kind nur einmal im Jahr, einen Frühlingsnachmittag lang bei dir haben kannst? Ist es nicht so schrecklich, dass man es sich noch nicht einmal selber sagen darf. Ah, wie du dich doch schuldig machst, wenn du ihm in die Äuglein schaust, um in ihnen die Heiterkeit zu entzünden! Wie du dich schuldig machst mit deinem elenden, bösen Wissen!"

Unterdessen, als hätte sie sich beeilt, dem Schauspiel nicht länger zuschauen zu müssen, ist die Sonne über dem Wald zum Westen herabgesunken, wo sie jetzt wie eine blutrote Fackel abwartend steht. Und Minou mit beiden Armen noch einmal zu sich empor erhebend, drückt sie das Kind fest an sich, ehe sie es wieder in den Spalt hinabstößt. Das Kind aber lässt sich alles gefallen. Es weiß ja nicht, wie ihm geschieht. Dann aber reicht sie Mimi die Hand und eilt mit ihm zum Haus zurück. Unterwegs lallt Mimi immer wieder vor sich hin: "Minou, mein liebes Schätzchen", ohne dass die Mutter sie auch nur zu hören scheint. Wie eines Rätsels Lösung lallt sie den Namen der Schwester, ohne dass einer zu sagen vermöchte, was sich dabei ausdrückt.

 

3. Minos

Immer wieder einmal leide ich unter der Angst, etwas in der Erziehung falsch gemacht zu haben. Endlich aber, ausgerechnet an einem der nasskalten und verregneten Sommertage, die uns regelmäßig Jahr für Jahr heimsuchen, hatte uns die Nachricht erreicht, dass der Sohn die Braut für das Leben gefunden. In Rom hatten sie ihm die Götter gezeigt. Etwas von diesem Glück, das auch er in seiner Unvorhersehbarkeit und Plötzlichkeit kaum zu fassen vermochte, hatte er ebenso wahr wie zugleich scherzhaft seinem Schreiben anvertraut, in dem er bemerkte: "Da fährst du abends mit dem Zug von Rom ab bei über 30 Grad schwüler Hitze und kommst nachts in Deutschland an; und es empfängt dich ein Schneeschlackern, dass du dir sämtliche warme Sachen überwirfst, die du nur eben noch bei dir hast."

In einer Woche nun wollte er mit seiner Braut eintreffen und sie uns vorstellen. Und doch war ich noch immer nicht in der Lage, mir die Sorgen, die mich nun manch einen Tag begleitet hatten, aus dem Herzen zu schütteln. Den lieben langen Tag hatte ich mir Sorgen gemacht, fast als ob noch immer nicht klar wäre, ob ich mir das alles nicht nur eingebildet und ausgeträumt hatte.

Unterdessen war es draußen fast ganz dunkel geworden, als es mich in meiner Unruhe noch einmal am Küchenfenster vorbeitrieb, wo ich für einen Augenblick anhielt. Außer vereinzelten Autos, die näherkamen, um dann wieder zu verschwinden, war freilich weiter nichts zu sehen. Wer mich da hätte stehen sehen, hätte wohl gedacht, ich hätte mir vorgenommen, ausfindig zu machen, warum ich die Autolichter noch immer sah, auch wenn sie hinter der Garagenwand längst wieder verschwunden waren. Es waren aber nicht die Glaswände, die die Schutzhütte der Omnibus-Endhaltestelle umgaben und die das Licht derart raffiniert reflektierten, es war ein junger Mann, der in der Schutzhütte eben dabei war, sich ein Schlaflager zu Recht zu machen. Diese kleine, nach zwei Seiten offene Schutzhütte, kaum mehr als drei Schritte von unserem Anwesen entfernt, war im Zuge der Verkehrsanbindung nach der Eingemeindung vor einigen Jahren errichtet worden. Noch nie bis auf den heutigen Tag war es vorgekommen, dass sich jemand hier zum Schlafen niedergelegt hätte; jedenfalls hatte ich noch nie jemanden dabei beobachtet. Jetzt aber war da einer. Lag da nicht nahe, dass mir zusammen mit dem jungen Mann mein Sohn in Erinnerung kam? Als ich später noch einmal vor die Haustüre trat, erschreckte ich förmlich. Ich hatte ja nicht damit gerechnet, dass der junge Mann Ernst machte mit seinem Nachtasyl. Er war aber noch immer da. Und weil er die Türe gehört hatte, hatte er sich kurz erhoben, um dann auf seiner Bank weiter zu schlafen.

Auf meinem Nachtlager fand ich keinen Schlaf. Unruhig überließ ich mich den Gedanken, ob ich den jungen Mann nicht zu uns ins Haus hätte holen und bei uns schlafen lassen sollen? Oder ob ich ihm nicht wenigstens das leer stehende kleine Gartenhaus hätte anbieten sollen? Zweifel und Schuldgefühle meldeten sich durcheinander. Auf der einen Seite war da dieser junge Mann und Habenichts, auf der anderen Seite das Anwesen mit dem Garten und dem Haus mit den vielen Gemächern voller Bettstätten. Zumal das Kinderzimmer war, nachdem der Sohn das Haus verlassen hatte, für einen Besuch aufs Beste vorbereitet. O wie es mich von einer Lage in die andere drängte! Immer musste ich an den jungen Mann denken, der draußen unter seiner schmutziggrauen Decke lag. Endlich, als mich der Schlaf in Empfang genommen hatte, kam auch schon der Traumgott zu mir ans Lager. Unser Söhnchen an der Hand kommt er ins Zimmer herein, um es mir zu überlassen.

"Gleich!", sage ich zu meinem Sohn wie er auf mich zukommt mit der Bitte, zusammen mit ihm das Haus zu verlassen. Er mochte etwa 3 bis 4 Jahre alt gewesen sein, in eben dem Alter, als er bei uns noch der "Aberer" und der "Selberer" geheißen. "Ich muss nur noch einen Blick auf unser Mütterchen werfen"; bin dann aber nicht wenig erstaunt, als ich sie allein unter der Dusche stehend finde. Während ich mich der Gewohnheit gemäß anschicke, Acht zu haben, dass sie nicht niederstürzt, denn sie ist schwer krank und muss schon seit einiger Zeit rund um die Uhr gepflegt werden, geschweige, dass sie noch frei stehen könnte, teilt sie mir mit, dass sie sich aufgemacht habe, sich eigenhändig und gründlich zu waschen.

Meine Freude darüber währt indessen nicht lange; denn nun werden wir von einem Telefonat gestört. Ein ferner Bekannter lässt sich vernehmen. In seiner Eigenschaft als Hobbyarchäologe hat er sich, wie ich weiß, schon seit langem vornehmlich mit den Zeugnissen der Römer am Limes beschäftigt. Ob wir wüssten, dass bei den Römern auch die Unterweltgottheiten Altäre besessen und dass ihnen Opfer dargebracht worden wären? Vornehmlich ein Altar für den Dis Pater und seine Gemahlin Proserpina, hätten ihm da die Augen geöffnet. Damit sie den Toten ein günstiges Urteil sprächen und es ihnen an nichts fehle, habe man ihnen geopfert. Ja, die Steine würden sprechen, wenn sie nur erst sorgfältig gereinigt aus der Dunkelheit hervorträten.

Endlich aber ist auch das Telefonat zu Ende, das Haus ist verlassen und wir, mein Söhnchen und ich, befinden uns in einem anderen Stadtbezirk. Ich kenne diesen Stadtbezirk nicht, war noch nie dagewesen. Wenn ich nicht eben von Zuhause gekommen wäre und in der Ferne nicht noch den Münsterturm sehen könnte, wollte ich schwören, mich in einer fremden Stadt zu befinden. Dunkel ist es hier, was vom Regenwetter herrührt wie auch von den dicht nebeneinander stehenden uralten Platanen, die auch noch das letzte Tageslicht verschlingen. Auf einer Böschung stehen sie, von wo aus sie den Gehsteig überdecken wie auch einen Teil der Straße. Straßenlichter sind keine eingeschaltet noch auch ein elektrisches Licht. Dass man hier überhaupt etwas sieht, mag von dem Licht herrühren, das von der Beleuchtung der Straßentrasse, die unweit des Bezirks vorüberführt, zu uns herüberdringt. Die Häuser, abgesehen von einigen wenigen Zimmern, wo man Leute hin und her gehen sieht, liegen allesamt im Dunkel. Sie sind einfach gebaut. Bescheiden, ja fast ein wenig verschämt, stehen sie da, als wären sie eben ausgegraben worden und stünden zum Verkauf. Da und dort, dicht bei der Straße, stehen, von Sonnensegeln überspannt, Tische und Stühle, das Zubehör kleinerer Restaurants und Cafes. Was die Sonnensegel betrifft, so hat man wohl vergessen, sie wegzuräumen oder man lässt sie die Nacht über da für den nächsten Sonnenschein, auf den man freilich noch lange wird warten müssen. Während wir den Gehweg entlang gehen, kommen Jugendliche zum Vorschein, arbeitslose Gesellen, begleitet von ein paar Hunden. Verpackt in ihre Regenmäntel sitzen sie auf einer Gartenmauer und rauchen.

Endlich bleiben wir vor einem Geschäft stehen. Ein Ladenschild mit schwach leuchtenden Reklamebuchstaben ist eben über dem Eingang angebracht worden, das den Eingang mitsamt der Auslage erhellt. Zwei Männer, die es eben angebracht haben, sind schon wieder dabei, sich auf den Heimweg zu machen. Auf dem Ladenschild ist der Name "Minos" zu lesen, darunter, handschriftlich geschrieben und ohne künstliches Licht: "Handlung für Steine und Sandwaren aller Art". Das Geschäft hat einen rechteckigen Grundriss, mit einem Gang in der Mitte, der in die Tiefe führt, ohne dass man ein Ende ausfindig machen könnte. Der Eingang ist kaum breiter, als dass eine Person hindurchpasst; dafür aber ist er bis zur Decke empor gezogen. Neben der Türschwelle rechts und links befindet sich noch je ein schmales Fenster, das sich wie die Türe bis ganz nach oben erstreckt.

Unmittelbar vor der Tür haben wir Halt gemacht, sie steht offen und wir schauen in den Laden. Er ist dunkel und menschenleer. Vom Eingang aus zu beiden Seiten des Ganges sind Verkaufsartikel ausgestellt, die symmetrisch zum Gang angeordnet sind. Das Meiste ist auf dem Boden ausgebreitet. Nur einiges weniges ist auf Regalen zu sehen. Wenngleich alles nur in fahlem Licht zu sehen ist, so scheint der Laden doch alles feilzubieten, was mit Sand und Steinen zu tun hat. Direkt hinter dem Eingang - nur der Platz zum Drehen der Türe ist ausgespart - sind Haufen von Sand und Kies angebracht, die verschiedensten Sorten; ein Besen aus Reisigbündeln, als hätte ihn jemand in der Eile liegen lassen, liegt quer über dem Weg. Etwas Sand ist zur Seite gefegt; auch Schaufeln und Schubkarren sind zu sehen, darunter ganz zuvorderst auf einem der Regale ein Satz von Schäufelchen, nicht anders, als hätte man auch noch die Kinder als Kunden im Auge.

Wie mich der Junge an der Hand zieht! Dass der Sand mit den Kindersächelchen Eindruck auf ihn gemacht hat, ist nur allzu deutlich. Am liebsten ließe ich ihn gehen und ein wenig spielen. Was auch mag es schaden, was kann er dabei anstellen und sind die Kinderspielsachen nicht eigens dafür da? Allein die leichte Gereiztheit von Zeitgenossen, die sich nicht scheuen, sich an unschuldigen Kindern Luft zu verschaffen, ist schuld daran, dass ich ihn nicht von der Hand lasse. Dann aber, in einem unbedachten Augenblick, während ich eben dabei bin, die Blicke geruhsam über den hinter den Sand- und Steinbergen befindlichen Gesamtbestand gleiten zu lassen, gelingt es ihm, sich von meiner Hand loszumachen und über den Besen hinweg in den Laden zu eilen. Es sind nicht die Kinderspielsachen und auch nicht die Artikel des Sands und der Steine, wo er stehen bleibt. Auch bei den dahinter befindlichen Futterkrippen und Zubern und Bottichen und Trögen bleibt er nicht stehen. Weiter eilt er, immer weiter und tiefer, wo er meinen Augen entschwindet.

Wiewohl die Türe die ganze Zeit über offen gestanden hat, hat der Vorgang ein Klingelzeichen an der Türe ausgelöst, das nicht mehr aufhört. Nun würde gewiss gleich der Ladenbesitzer auftauchen, das Kind am Kragen gepackt wie einen Verbrecher zurück bringen und mich zur Rede stellen. Das Mindeste, was ich mir dann müsste vorwerfen lassen, wäre die Verletzung der Aufsichtspflicht. Vorerst aber kommt niemand, dass ich Hoffnung fasse, die Sache doch noch zu regeln. Vielleicht würde es ausreichen, wenn ich mich dafür entschuldigte, dass das Kind sich von mir losgemacht hat und in den Laden eingedrungen ist. Unangenehm ist mir nur, dass das Geklingel noch immer anhält; es ist zwar kein ohrenbetäubendes, aber doch ein unüberhörbares Geklingel, laut genug, dass ich mich scheue, dem Sohn nachzusetzen. Soll ich ihm rufen und ihn auffordern, zu mir zurück zu kommen? Aber auch das bringe ich nicht fertig. Mir ist, als wolle mir das Geklingel sagen, dass ich Rücksicht darauf zu nehmen hätte, dass das Dunkel hier nicht geweckt werden wolle.

So beschränke ich mich darauf, nur mit den Augen die Verfolgung aufzunehmen. Vielleicht, dass mir doch noch gelingt, ihn irgendwo in der Tiefe ausfindig zu machen. O wie schnell ich an den Artikeln vorbeieile! Schneller kann man nicht vorankommen, schneller nicht vordringen! Eben bin ich dabei, einen Wald von Säulen und Stelen zu durchforsten, in welchem ich einen Sarkophag erkennen zu können glaube, dann aber verirre ich mich. Es ist zu dunkel und die Dinge sind zu klein und zu dicht aneinandergerückt, als dass ich noch weiter vorankomme.

In dem Augenblick aber sehe ich den Sohn, wie er auf mich zukommt. Wenn ich auch nicht weiß, wo er sich aufgehalten hat, so bin ich doch froh, ihn wiederzusehen. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Warum aber nähert er sich so abwartend? Ich winke ihm zu, denn laut zu reden halte ich noch immer nicht für ratsam. Die ganze Sache still und schnell abzumachen und dann zu verschwinden, das allein ist meine Absicht.

Endlich, als er wieder bei mir ist und ich mir den Jungen ansehe, stelle ich fest, dass alles an ihm verdreckt ist. Schuhe, Hose und Hemd, selbst auch das Gesicht ist verdreckt. Der Junge befindet sich in einem erbärmlichen Zustand. Vor allem der Mund steht weit offen, wie ich jetzt sehe. Wie das Maul einer Maschine, in die man Sand und Steine hineingeschippt hat, steht er ihm offen, dass nichts mehr heraus noch herein kann. Vor Angst, er könne mir ersticken, packe ich ihn an den Beinen, hebe ihn nach oben und beginne, Steine und Sand aus ihm heraus zu klopfen. Wie viel ich aber auch aus ihm herausklopfe und bearbeitete: es nimmt kein Ende. Wann immer ich glaube, jetzt sei es geschafft, macht sich auch schon die nächste Ladung bemerkbar. Berge von Sand kommen zum Vorschein, worüber nun selbst die Klingel das Weiterläuten zu vergessen scheint. Wie ich wiederum einen Blick in den Laden werfe, schließlich habe ich eine böse Unordnung im Eingangsbereich des Ladens verbreitet, sehe ich aus der Tiefe einen Mann und eine Frau auf uns zukommen. Unbeweglich dicht nebeneinander, wie Statuen auf einem Prozessionswagen, von unsichtbaren Händen auf uns zu gezogen, sind ihre Blicke auf mich gerichtet. Ich aber versuche, den Jungen so dicht an mich heranzuziehen, damit er mir nicht abermals abhandenkommt. Er ist ja doch noch ein Kind, unser Kind, man kann ihn nicht belangen und ich muss mit ihm wieder nach Hause. - Aber wo ist er? Und ich merke, dass ich ihn zwar noch mit aller Gewalt in die Höhe ziehe, vom Schutt zu befreien, dass er aber nirgends mehr ist.

Da weckt mich ein Hustenanfall meines Schätzchens. Schnell springe ich vom Lager, um mit dem Sauggerät den angefallenen Schleim abzusaugen. "O du Liebling", sage ich dann und drücke ihr ein Küsschen auf den Mund, "hätten wir den Sohn nicht, wir würden ja bald noch vergessen, dass wir zusammen gehören."

 

4. Sohnschaft

Vaters größter Wunsch war es gewesen, dass ich einmal in der Welt groß würde und dass mein Ruhm auch den Rest seines Lebens überstrahlte. Vielleicht als Genugtuung und als Beweis all denen gegenüber, die glaubten, achtlos an ihm vorübergehen zu dürfen. Dieser Wunsch aber ist ihm nicht in Erfüllung gegangen. Auch ich bin ein ignotus, bin ein unbekanntes Blatt geblieben. Wenn einer vor mir den Hut zieht und mich ehrfurchtsvoll grüßt, so geschieht es nur deswegen, weil ich ein Hausbesitzer bin, mithin einer der betuchten Männer ringsum, nicht weil er mich um irgendwelcher Geistesgaben schätzte sowie ihm bedeutsam erscheinender Werke aus meiner Hand.

Der Vater indessen täuschte sich denn doch wohl in der Hoffnung auf Erfüllung seines Wunsches. Andererseits lässt sich freilich auch die Frage stellen, wo in der langen Zeit der Menschheitsgeschichte ein Fall zu finden wäre, wo ein Vater an der Seite seines berühmt gewordenen Sohnes ruhmvollen Anteil genommen hätte. Einen solchen Vater träfe allenfalls der Spott der Komödie. Ein Vater mag zwar auf seinen Sohn setzen (und das tut er freilich auch wie alle Väter, immerfort und unentwegt), in erster Linie aber muss er sich selber als Held erweisen, und zwar in seinem gesamten Leben, und wäre er auch so alt geworden wie der alte Nestor. Nur einem Vater-Gott bleibt es vorbehalten, da und dort sich in seinem Menschen-Sohn zu verherrlichen. Aber selbst in diesem letzten Falle ist es nicht so, dass der Sohn zu Ehren des Vaters Mühsale auf sich nähme oder gar in den Tod ginge, allenfalls, wie bei Kleobis und Biton und möglicherweise wie einmal einst bei Herakles, als er in die Unterwelt hinabstieg zu Ehren der Mutter.

Im Übrigen trennt Vater und Sohn die Generationengrenze. Nichts ist einem Sohn unangenehmer, sobald er in das Alter kommt, wo er etwas auf sich gibt und von sich hält und etwas aus seinem Leben zu machen gedenkt, als von seinem Vater beaufsichtigt und kommandiert zu werden. Selbst auch nur Vollstrecker väterlicher Wünsche zu werden, zumal wenn sie nicht, wie in früheren Zeiten, auf dem Gebiet der Fehde und der Familienehre liegen, sondern etwa auf dem Gebiet der Kunst, der Kriegskunst oder der Wissenschaften, geht nicht an. Der Vater hat bestenfalls die Macht, den Sohn zu verfluchen oder totzuschlagen, wenn er ihm nicht zu Willen ist; im Übrigen soll der Sohn sich nicht des Vaters schämen, wie der Homer der Ilias sagt, wenn er sich nur Mühe gegeben hat, den höchsten aller Kampfpreise zu erringen.

Solche Gedanken bewegten und beschäftigten mich an einem der jüngst vergangenen Tagen, als mich in der drauf folgenden Nacht früh morgens gegen 5 Uhr der Traumgott mit einem dazu gehörenden Traum bedachte.

Männer standen da in zwei Halbkreisen. Einem der Halbkreise gehörte ich an; ich war noch ein kleiner Knabe, und sah nur wie ich mich neben vielen Hosenbeinen stehend am Hosenbein eines Mannes festhielt, der mein damals noch jugendlicher Vater gewesen sein muss. Auf der anderen Seite aber sah ich eine Reihe älterer Männer, deren letzten und äußersten ich für meinen Vater, meinen nun freilich älter gewordenen Vater, erkennen zu können vermeinte. Ein wenig stand er von den anderen Männern getrennt, dass mich danach verlangte, zu ihm hinüber zu gelangen. Der Junge nun, der sich am Hosenbein festhielt und der ich selber war, zappelte hin und her, bis ich ihn für einen Augenblick nicht mehr sah. Als er wieder zurückkam, waren die Männer auf der Gegenseite bereits dabei, sich zu entfernen. Die Rede, zu der sie sich versammelt hatten, war beendet. Der Vortragende, vielleicht ein Pfarrer, vielleicht aber auch ein Heerführer oder sonst ein Befehlsgeber, hatte sich zum Weggang aufgestellt und so hatten denn auch die Männer auf der Gegenseite, die am weitesten vom Redner entfernt standen, die Gelegenheit genutzt, sich zu entfernen, noch ehe die allerletzten Worte gefallen waren. Auch der Vater musste mit diesen Männern aufgebrochen sein; denn ich sah ihn nicht wieder. Als ich ihn unter den weggegangenen suchte, fiel es mir schwer, ihn wieder zu erkennen. Endlich ging ich auf einen zu, von dem ich glaubte, dass er mein Vater sei und fragte ihn, ob er mich nicht, so wie ich ihn als meinen Vater, als seinen Sohn wiedererkennen könne. Der aber wollte mich nicht erkennen; er bezweifelte vielmehr meine Sohnschaft. "Lass uns doch die Probe machen", sagte ich zu ihm. Denn ich setzte darauf, dass er mein Vater war und dass ihn nur des Lebens Sattheit und Müdigkeit daran hinderten, zu bestätigen, was mir lieb gewesen wäre. "Laufen wir beide nach Haus! Und wenn wir beide ins selbe Haus gelangen, dann gehören wir zusammen, wie ein Vater und ein Sohn zusammen gehören und nichts kann uns mehr trennen."

Kaum hatte ich den Vorschlag unterbreitet, da hatten wir auch schon das elterliche Haus erreicht. Als ich näher hinsah, zeigte sich aber, dass in der Zwischenzeit zwar die Straße noch in etwa dieselbe geblieben war, dass sich aber das Haus sehr verändert hatte. Mochte es auch in der Anordnung der Räume noch an früher erinnern, so war es in der Zwischenzeit doch so in sich zusammengeschrumpft, dass die lichte Höhe der Zimmer kaum mehr ein aufrechtes Stehen ermöglichte. Sodann hatte ich schon beim Herankommen gesehen, dass es von vielen Leuten, die diesen neuen Verhältnissen entsprachen, erfüllt war. Als ich mich dann dem Eingang näherte, die Haustüre stand offen, geschah es, dass die Garderobenstange im Eingangsbereich aus ihrer Deckenverankerung brach und mitsamt einer Menge von Mänteln zu Boden krachte. Und als nun Leute aus dem Haus strömten, vielleicht aus Angst, nun könnte auch noch das Dach über ihnen zusammenstürzen, und ich mich nach dem Vater umsah, hatte ich ihn aus den Augen verloren.

 

5. Der Heiratsantrag

Am 20.4.2018, drei Tage nach der Liebsten Geburtstag, sie wäre 74 Jahre alt geworden, schrieb ich in mein Tagesheft den Wunsch nach einer Begegnung mit der Liebsten, den ich freilich gleich als unrealisierbar von mir wies. Dass es mir widerführe und ich so dasäße, wie ich jetzt am Tisch saß zur späten Nachmittagsstunde und ich mich sehnte, wie eben jetzt nach meiner Liebsten, und dann ginge die Türe auf und die Liebste träte zu mir ins Zimmer und sagte zu mir: "Nun ist alles gut, Liebster! Alles ist nun ja gut! Du hast nun genug gelitten", das hielt ich einfach für unmöglich. Und ich bemerkte, dass in den Träumen die Liebste zwar oft, ja vielleicht sogar jede Nacht bei mir ist, dass es mir aber gar nicht zum Bewusstsein kommt, dies als etwas Besonderes zu erachten. Allenfalls, dass man nach dem Traum als Träumer zaudert, ob man etwas aktuell leibhaft und gegenwärtig erlebt hat oder ob man sich nur als Zuschauer eine längst bekannte Geschichte angeschaut hat. Insgesamt handelt es sich da um Träume, die in die Zeit zurückreichen, als die Liebste noch bei mir war, sei es, dass sie noch gesund war, was freilich bis in die Zeit der Jugend zurückreicht, sei es, dass sie schon von der Krankheit befallen war, so dass ich im Traum wiedererlebe, wie ich sie auf dem Rücken trage oder später dann im Rollstuhl schiebe, so dass es im Traum auch überhaupt keinen Grund gibt, sich wegen der Anwesenheit der Liebsten zu verwundern.

Es gibt aber auch Träume, wo die Jetztzeit dominiert, wo zugleich aber auch die damalige Zeit in die Jetztzeit eindringt und sich in ihr einen Platz zu verschaffen versucht, Träume, in denen das Nicht-mehr-dasein der Liebsten ein Problem darstellt. Und da der Traum nicht in der Lage ist, den Tod als einen Übergang ins Nichts zu begreifen, ihn vielmehr als einen Weggang oder eine Art Fern-sein versteht, so sehen wir uns teils von den Lieben getrennt, etwa durch Glaswände, Gebirge, Ströme, Meere etc., teils werden sie als eine Art Schatten oder ähnliches in unserer Gegenwart gegenwärtig. Und die Ahnung von einem Verhängnis beherrscht die Szene, derart dass sie verstörend auf die Gegenwart gewordenen Bilder der Vergangenheit einwirkt. Es war am 24.4.2018, da hatte ich einen solchen Traum.

Selbstverständlich war ich auch jetzt noch verheiratet, ich trug ja den Ehering mit dem Namen der Liebsten am Finger. Dass mich aber das feste Bewusstsein begleitet hätte, echt verheiratet zu sein und eine liebe Frau an meiner Seite zu haben, davon kann nicht die Rede sein. Meine Liebste war zwar noch immer da, sie lebte aber nur noch neben mir wie ein Schatten, der mich unauffällig und stumm begleitete. Mitunter überkam mich die Frage, ob ich mir denn alles nur ausgedacht hatte und alles nur in meiner Phantasie Bestand hatte? Hatte es nicht einmal eine Zeit gegeben, in der ich wirklich der Mann einer Frau, nämlich meiner Frau gewesen war? Ich besaß doch Beweisstücke: Briefe und Fotos und so manch ein vorzeigbares Erinnerungsstück. Und nun war alles so anders?

Da ging die Türe auf und die Liebste als ein junges, lebensfrohes Mädchen erschien bei mir im Wohnzimmer. Ich war sehr glücklich über dies Ereignis und über die Wiederkehr des Glücks, zugleich aber war ich auch etwas betroffen wegen dem braunen Mädchen, meiner kranken Frau, die ich ja doch, wenn ich mich jetzt dem Glück hingäbe, hinterging. Ein schlechtes Gewissen regte sich in mir, wenn ich mit der Werbung begänne. Und doch ahnte ich, dass ich dem jungen Mädchen helfen müsste beim ersten Schritt, mir die Hand zum Leben zu reichen. Denn wenn sie mich nun daraufhin fragte, was ich so sehr erhoffte, sollte sie auf keinen Fall befürchten, von mir einen ablehnenden Bescheid zu erhalten. "Wenn du mich heiraten würdest", sagte ich da ein wenig verklausuliert, "so würde ich freilich darauf verzichten, wenn es mir auch etwas schwer fiele." Ich meinte damit das braune Mädchen, auf das ich verzichten würde; im Herzen aber war mir bange wie einem Ehebrecher. Die Liebste jedoch erwiderte darauf nichts. Wir traten nun zusammen auf den Balkon hinaus, die Liebste mir voraus, auf einen großen weitläufigen Balkon, den von tief unter uns aufwachsende und sich über den Balkon hinauf erhebende Kastanienbäume mit ihrem Herbstlaub umschirmten, denn es war Herbst und ging gegen Abend. Wir redeten noch über dieses und jenes, wie es eben der Fall ist, wenn man plötzlich auf so besondere Weise beisammen ist und mir fiel auf, wie meine Liebste schwäbelte, was ich gern hatte. Sie hatte nämlich ihre Kindheit im Schwabenland verbracht und war da sehr glücklich gewesen. Später war ich dann allein beim Essen. Es waren fingerdicke weiße Nudeln, die in einer Schale zum Verzehr waren. Ich aß eilig, da ich erwartete, dass die Liebste gleich wiederkäme - und erwachte.

 

6. Der Kuss

An wie viel Träumen gehst du nicht achtlos vorbei und versuchst gar noch, sie zu vergessen, weil sie, wie du meinst, etwas Peinsames und Unerfreuliches in dir aufgedeckt und zurückgelassen haben! Dabei hast du nur versäumt, vom Traummaterial zur eigentlichen Traumbotschaft vorzustoßen! So erging es mir auch in der letzten Nacht. Als ich erwachte, hatte ich von dem, wie mir schien, sehr umfangreichen Traum kaum mehr als zwei Bilder in Erinnerung; und da sie mich beide verstörten, so war ich nicht gewillt, ihnen Beachtung zu schenken. Nur gut, dass ich noch rechtzeitig einsah, dass sie nicht verdrängt werden durften!

Dies nun sind die beiden Bilder der Erinnerung! Die Liebste war mir in ein benachbartes Zimmer vorausgegangen; ich aber war ihr gefolgt, hatte dann aber in einer Art Korridor oder Zwischenraum noch eine andere Frau geküsst, ehe ich ihr nacheilte. Versteht sich, dass ich froh war, als ich feststellte, dass sie von dem Kuss nichts bemerkt hatte.

Als ich tags darauf abermals über das Traummaterial nachdachte, wurde mir klar, dass dieser Kuss überhaupt nicht in einer erotischen Beziehung ausdeutbar war. Nichts dergleichen hatte sich ereignet, was mich sexuell stimuliert hätte. Hinzu kam, dass mir jetzt wieder einfiel, dass ich vor dem Kuss, als die Frau aus dem Dunkel des Zwischenraums heraus in Erscheinung trat, mir Gedanken gemacht hatte, wie und wohin ich sie küssen sollte. Denn dass ich sie zu küssen hatte, war mir vom ersten Augenblick an klar. Diese Frage aber, das fiel mir sogleich wieder ein, war für meine Liebste stets eine sehr wichtige Sache. Ein Kind, so hätte meine Liebste gesagt, magst du auf die Stirn oder auf die Wangen küssen; wenn es wohlerzogen ist, hält es dabei stille und wartet ab, bis du die Prozedur deiner Liebesbezeigung fertig gebracht hast. Die Liebste aber erwartet von dir keine Prozedur; sie erwartet das Siegel der Liebe auf den Mund.

Alles war nun etwa so abgelaufen. Nachdem die Liebste bereits das Nachbarzimmer erreicht hatte und nicht mehr zu sehen war, hatte sich eine Frau aus dem Hintergrund herausgelöst und war hervorgetreten, um dann dort stehen zu bleiben, wo ich eben vorbeikam. Es war eine ältere, in Halbdunkel gehüllte Gestalt, fast als hätte ich mich in einer Wirtschaft befunden und sie wäre die Wirtin gewesen, um mich als Gast in Augenschein zu nehmen. Kaum aber, dass die Frau stehen geblieben war, besann ich mich. Genauer gesagt, war es nicht ich, der sich besann, vielmehr war es eine höhere Macht, die meine Bewegungen lenkte. Und da ich schon einen oder zwei Schritte zu weit gegangen war, kehrte ich um und trat auf sie zu. Vielleicht dass im Hintergrund noch ein paar Leute standen und dem Ganzen zuschauten. Genau kann ich das nicht sagen, da ich mir in diesem Augenblick schon ganz sicher war, dass ich die Frau zu küssen hätte und mich die bereits oben erwähnte Frage umtrieb, wohin ich sie küssen sollte. Nachdem es dann zu dem Kuss auf den Mund gekommen war, eilte ich der Liebsten nach, die sich nun gleichfalls nach mir umkehrte, die aber, wie mir schien, nichts von dem Kuss bemerkt hatte. Im Traum bereits wie auch beim Erwachen war mir peinsam zu Mute, als hätte ich ihr etwas verhehlt. Wie mir beim Nachsinnen aufging, bestand die Peinlichkeit aber weniger im Wissen um einen Treuebruch und Liebesverrat, wenn freilich auch davon etwas gegenwärtig gewesen sein mochte - die Liebste haben sterben lassen ist ja schließlich nichts anderes als ein solches Verbrechen, auch wenn es sich nicht verhindern lassen mag - , sie bestand vielmehr darin, dass Liebchen nicht wissen durfte, dass ich eine andere Frau geküsst hatte. Bei Licht besehen war jedoch ich es, der nicht wusste, dass ich die Liebste nur mehr noch in der Gestalt einer aus dem Dunkel des Hintergrunds auftauchenden, fremden Person für mich zu haben vermochte.

 

Als wir noch das Erdenleben zusammen teilten, war ich fest davon überzeugt, immer würde ich die Liebste herausfinden, wenn ich sie auch unter einer Million Frauen heraussuchen müsste. Damals sah ich noch keine Probleme wegen eines Erkennungszeichens. Mit meinen irdischen Augen musste ich mich z.B. nur auf die Augenpaare einlassen und dann würden wir uns schon erkennen, wenn ich bei ihr anklopfte. Im Raum der Träume war das Problem so aber nicht zu lösen. Im Traum musste das Problem vielmehr durch eine äußerlich nachweisbare Handlung gelöst werden. Als eine solche aber stellte sich der Kuss heraus, der Kuss von Mund zu Mund.

Dazu passt auch ein anderer Traum aus jenen Tagen (30.9.17). Ich hatte tags zuvor arabische Kalligrafie bewundert und befand mich dann im Traum bei meinem alten Bekannten, dem Schriftgrafiker R., der, wie üblich, jedes Frühjahr zur Karnevalszeit ein Hausfest veranstaltete. Das war zurzeit, als ich noch mächtig um die Liebe meiner Liebsten kämpfte und als mir der Schriftgrafiker ein Liedlein in Schönschrift für die Liebste hatte abschreiben müssen. Eben war ich dabei, einen Kuchen aus der Küche ins Esszimmer zu tragen, als die Haustüre aufging und die Liebste hereintrat. Eine Hand hatte ich zwar nicht frei zur Begrüßung, wohl aber die Lippen, mit denen ich sie küsste, Lippen auf Lippen. Es war mir das Selbstverständlichste von der Welt. Erst nach dem Erwachen erfasste mich das Glück über diese Begegnung.

 

7. Fahrt durch die Wasser des Todes

Nein, für uns war kein Platz und mithin auch kein Gott in der Welt. "Es gibt keinen Gott!" Das hatte schon manch einer in biblischen Zeiten gesagt, wie uns der Psalter lehrt. Das aber waren Leute, die fern von den Zaddikim gemeinsame Sache mit den Besatzern machten. Diese Leute scherten sich einen Dreck darum, dass ihre Untaten aufgedeckt und sie zur Rechenschaft gerufen werden könnten. Bei unserem Held aber lag der Sachverhalt anders. Er hätte gern einen Gott über sich anerkannt, einen Helfer-Gott, der den Armen und Kranken zu Hilfe gekommen wäre. Damals war es, dass der letzte Rest des Glaubens an einen himmlischen Vater dahingeschwunden war. Die Botschaft war wunderbar und sehr schön; doch die Akteure, die für diese Botschaft standen, waren nimmer zu sehen. Was da geschehen war gegen seine Liebste, das war ja in Institutionen geschehen, die im Namen eben dieses himmlischen Vaters gegründet waren und auf ihn hin zu arbeiten sich vorgenommen hatten. Wenn es überhaupt noch einen Gott gab für unseren Helden, so nur noch einen einsamen, traurigen, einen ob all der Gemeinheit unter den Menschen verstörten und enttäuschten Gott, einen Gott, der, wie unser Held wohl ahnte, mit seiner Liebsten sterben würde.

Es war drei Jahre vor dem Heimgang der Liebsten (am 19.9.2009), als mir von einer Fahrt über die Wasser des Todes träumte. Nacht war´s. Mit meiner Liebsten zusammen war ich unterwegs, wohin, ich weiß es nicht. Fort jedenfalls aus den Tälern des Todes, hinüber in ein neues, unzerstörbares Land. Auch über das Boot und wie wir in das Boot gekommen sind, vermag ich nichts zu sagen. Mag es mit jener Argo verwandt gewesen sein, die als erste die breiten Flächen des Meeres überquerte und die mit solchen Fähigkeiten ausgestattet war, dass sie blind ihren Weg zu nehmen vermochte. Eng zusammengerückt saßen wir da und durchschnitten die Wogen, die hinter uns aufrauschten, als bräche feinstes Glas. Als ich mich umsah, entdeckte ich Vögel, flugkundige Schwalben, die das Schiff immer wieder umkreisten, um ihm dann in die Nacht voraus zu fliegen. Mir aber war, als zögen sie es übers nächtliche Meer, uns ans sichere Ufer zu bringen, dass ich immer zuversichtlicher wurde und dass ich es endlich mit einem letzten Blick bewenden zu lassen gedachte, ehe ich mich zusammen mit der Liebsten dem Schlaf anempfähle.

 

Welch eine Fahrt hab ich gemacht

mit dir heut Nacht im Traume!

Du, Liebste, saßest neben mir

in eines Schiffes Raume.

 

Aufbrausend, nächtlich ging die Fahrt

über des Meeres Flächen,

die hinter uns wie Eis und Glas,

zitterten im Zerbrechen.

 

Vom Himmel leuchtete kein Stern,

das Licht verbargen Wolken,

nah überm Wasser Schwalben nur

sah ich uns eifrig folgen.

 

Sie tauchten immer wieder auf,

umkreisten uns und flogen

die Bordwand streifend rasch vorbei,

eh dass sie weiterzogen.

 

Mir war, als zögen sie das Schiff

mit sich, mit starken Schwingen,

es vor dem unwägbaren Grund

in Sicherheit zu bringen.

 

Nur einmal noch hielt über Bord

ich Ausschau nach den Tiefen,

ob alles auch in Ordnung wär,

wenn beide wir nun schliefen.

 

 

8. Wie unser gemeinsamer Lebensweg zu Ende geht

Zumal als junger, gesunder Familienvater im Kreis lieber Kinder bist du gerne geneigt, dir einzureden, dass du nun angekommen bist am Ziel einer großen Reise. Ein Tag kommt und ein Tag geht wie in einer großen immerwährenden Wiederholung, und die liebe Frau und die lieben Kindlein sind um dich herum, als wärst du im Paradies, und der liebe Gott schaute voll Huld und Liebe auf euch und alle die Freuden sollten kein Ende nehmen. Doch das Leben geht weiter, unaufhaltsam, auch wenn du es nicht bemerkst, denn einen ewigen Aufenthalt gibt es nicht auf der Erde. Das zu erkennen ist nicht schwer. Man könnte das Leben geradezu erfinderisch nennen, mit welcher Fülle an Beispielen es dir dies beinahe an jedem Tag zu verstehen gibt. Wenn ein Kind krank wird oder wenn eine Krankheit von dir oder von deiner Liebsten dauernden Besitz ergriffen hat, kannst du dich der Einsicht nicht mehr verwehren, dass das Erdenleben alles andere ist als ein Aufenthalt im Paradies. Ist die Liebste unfähig geworden, auf eigenen Füßen zu stehen und kann sie dann auch nicht mehr sitzen, nicht einmal in einem Rollstuhl, dann magst du zwar sagen "Nun ist aber genug!" Doch was nützt dir die Rede! Jeden Tag kommt nur immer noch etwas Neues hinzu, was deinen Pflegling bedrängt und belästigt, jeden Tag hast du dich neu einzustellen, es gibt da keine Rast und Ruh, ehe nicht der letzte der Tage angebrochen ist. Und wehrst du dich und begehrst dagegen auf, so erreichst du nichts weiter, als dass du alles nur noch schlimmer machst! Still blühen, still verblühen! Und dann, wenn es so weit ist: Still bluten, still verbluten! Bändige so die dich umgebende Wirklichkeit und mach sie dir zu eigen! - Das sind die letzten großen Lernziele, die dir noch bevorstehen.

Die Außenwelt freilich merkt davon nichts. Wie geht's? fragt sie beinahe unverschämt, wo doch längst zu sehen ist, dass das Schlimmste an der Tagesordnung ist. Unsere Liebste sagte drum auch immer, solange sie noch der Sprache mächtig war: "Mir geht es gut!" Sie wusste, dass die Leute nichts anderes hören wollten. Gleichwohl berührt es dich schon, wenn dir da eine Schwägerin erzählt, sie sei nämlich auch jüngst im Rollstuhl gesessen. Sie war aber längst wieder gesundet und der Aufenthalt im Rollstuhl nichts als eine lästige Episode gewesen. Mochte sie also auch die Wahrheit gesagt haben, so war die Nachricht doch völlig unangemessen oder hätte zumindest eines beschwichtigenden Nachsatzes bedurft, wo ihre Schwägerin dazu verdammt war, im Rollstuhl zu sitzen, bis sie auch das nicht mehr könnte und man sie aufs Totenbett höbe zum endgültigen Verröcheln.

Nun legt die Gesellschaft zwar Wert darauf, dass ein Kranker von Angehörigen gepflegt wird, denn das ist kostengünstig und menschlich, doch gibt es da auch noch die Krankenhäuser und Ärzte zusammen mit den Hausärzten und Pflegediensten, die darauf schauen, dass ihnen nichts entgeht und dass sie alles im Griff und in der Abrechnung haben. Als unser Mütterchen nicht mehr schlucken konnte und man von nun an ein Gerät zum Absaugen des Schleims benötigte, hatte ein gewisser Chefarzt der Intensivstation, wo die Liebste damals lag, ein amateurhaftes, mechanisch zu betreibendes Gerät zur Hand, das er unserem Helden auch für 60 Euro hatte verkaufen wollen, doch als unser Held das nicht wollte, bewirkte er damit, dass man ihm kurzerhand die Befähigung zur Pflege absprach. Schon die Pflege der Zähne und des Mundraums der Patienten, hieß es dann, sei ja eine einzige Katastrophe gewesen. Und als dann ein Hausarzt, den man uns aufgedrungen, mit seinem Mitarbeiterstab ins Haus einzog, hatten wir jeden Tag Besuch von mehr oder minder unbrauchbaren Hilfskräften. Da kam z.B. eigens eine Dame, die für Schluckübungen abgeschickt worden war und die dann zuerst einmal so viele Fragen stellte und so viel Papier vollkritzelte, statt sich als Praktiker ein Bild zu machen und tätig zu werden, dass wir glücklich waren, als wir sie wieder aus dem Haus hatten. Unser Held hat sich von alledem aber nicht abschrecken lassen. Mit Hilfe der Krankenkasse, die teure Pflegedienste ohnehin gerne umgeht, bekam er eine professionelle Ausstattung zur Pflege, darunter auch ein elektrisches Schleim-Absauggerät (es hat etwas über 1000 Euro gekostet), was er dann die letzten drei Jahre im Leben der Liebsten Tag und Nacht gebrauchte. Auch die Leibesübungen, die früher noch von Krankengymnastinnen verrichtet worden waren, die aber unterdessen eingestellt worden waren, da sie nicht mehr effizient seien, hat dann unser Held selbständig durchgeführt. Fast bis zum Tag des tödlichen Komas hat er dies getan, ohne dass er es mit einem Decubitus zu tun bekommen hätte. In einem ausführlichen Brief an eine Bekannte hat er sich über die Übungen ausgelassen, die er als erstes am frühen Morgen durchführte und mit Gesang begleitete.

Freilich musste dann immer noch von Zeit zu Zeit attestiert werden, dass die Pflege gesichert sei; ohne ständige Kontrolle geht ja nichts in unserem lieben, bürokratisch geregelten Staat. (Es könnte ja ein Wunder passieren und dann würden der Staat und die Kasse Gelder auszahlen, die nicht ausgezahlt werden dürften.) Bei einer solchen Kontrolle kam es dann zu einem hässlichen Zwischenfall. Eine christliche Sozialstation, die unserem Helden die korrekte Pflege bereits einige Male bescheinigt hatte, hätte nun nämlich doch zu gerne die Pflege übernommen mitsamt dem dafür fälligen Pflegehonorar, und so kam denn eines Tages die Dame von der Sozialstation in der festen Absicht, diese Übernahme in die Wege zu leiten. Ob unser Held nicht überfordert sei mit der Pflege? Er sehe so kränklich und angeschlagen aus. Da unser Held keine Lust zeigte, sich mit der weiteren Pflege als überfordert zu erklären, so weigerte sich die Dame, die Bescheinigung auszustellen und verließ unverrichteter Dinge das Haus. Da war fürs erste guter Rat teuer. Zum Glück fand sich dann doch noch jemand, der kompetent und zufrieden damit war, die Bescheinigungen von nun an auszustellen.

Doch ersparen wir es uns, die vielen Schikanen durch Ämter und Menschen nachzuzeichnen, die damals das ohnehin schon schwere Leben zusätzlich noch erschwerten. Ich denke nur an das Vormundschaftsgericht, mit dem es unser Held dann auch noch zu tun bekam. Ein Chefarzt, ein ehemaliger ärztlicher Kollege der Liebsten, unter dem die Vorrichtungen für eine künstliche Ernährung in die Wege geleitet worden, hatte unserem Helden nach einigen hässlichen Zwischenfällen auch noch diesen Gang eingebrockt.

Sehen wir nun zu, wie der Rückzug aus der freien Natur in die Folterkammer des Todes erfolgte! Auch hier wollen wir nicht alle die vielen Nöte und Drangsale schildern, die nach und nach zu bestehen waren, sondern uns nur auf ein paar markante Episoden beschränken.

Da wäre z.B. von der letzten Fahrt nach Titisee und zum Titisee zu sprechen!

Mit dieser Fahrt sind keine guten Erinnerungen verbunden. In den Sommertagen früherer Jahre war das noch anders gewesen. Da konnten wir noch mit dem Rollstuhl längere Wege absolvieren, sodass uns Parkverbote und ähnliches nichts anhaben konnten. Wir liefen dann eben einen Kilometer mehr und fanden, was wir brauchten. Beim letzten Mal aber war Mütterchen bereits so schwach, dass selbst der Spaziergang im Rollstuhl für sie mit ungeheuren Anstrengungen verbunden war. Gewiss mag der Leser denken, dass es dann doch das Beste ist, zuhause zu bleiben. Und da hat er ja durchaus auch Recht. Aber wenn alle Welt in Ferien geht und die Sommersonne genießt, dann zuhause zu bleiben, und zwar nicht nur an einem Tag, sondern an allen Tagen und den ewig gleichen Gang durch den Tag zu erleben ohne die geringste Abwechslung: dazu gehört noch mehr als nur ein heroischer Entschluss. Mütterchen freilich hätte es gleichwohl vermocht, nicht aber ich. Nur für ein Stündchen, so hatte ich mir vorgenommen, nur für ein Stündchen wollte ich mich mit ihr am Ufer des 15 km entfernten Titisees ergehen, allenfalls mit einem kurzen Stopp an einem der Bänkchen, mit Aussicht auf den See, wo ich ihr dann ein Kapitel aus den Wahlverwandtschaften vorlesen wollte, wie wir es schon einmal vor Jahren getan hatten.

Ein schöner Sommernachmittag war es, als wir uns mit dem Auto auf den Weg machten. Außer dem Rollstuhl hatten wir nur noch die Wahlverwandtschaften mit dabei. Vorgesehen waren etwa ein bis maximal zwei Stündchen; für länger war Mütterchen damals ohnehin schon zu schwach. Ein oder zwei Stündchen, das konnte schon hingehen, wenn alles gut ging. Leider aber ging nicht alles gut. Das begann bereits oben bei der Einfahrt zum See, wo sich ein Auto ans andere drängte und nirgends eine Aussicht sich zeigte, einen Parkplatz zu bekommen. Endlich gelang es mir, über ein Stück Straße, die nur für Händler befahren werden durfte, mich auf einen Parkplatz zu stellen, der unmittelbar am See lag. Selbstverständlich machte ich dabei von unserem Schwerbehindertenausweis Gebrauch. Hätte es auch hier nur wenig Platz gegeben, so hätte ich wohl auf einen Gang zum See verzichtet. Hier war wirklich genug Platz, dass wir für ein bis zwei Stündchen niemandem zur Last fielen. Glücklich begannen wir also den Spaziergang und fanden wohl auch in der Nähe ein schattiges Plätzchen. Doch das Glück währte nicht lange. Noch ehe wir ans Ende des Kapitels gelangt waren, waren auch schon die Kräfte der Liebsten aufgebraucht. Mütterchen suchte mich zu beschwichtigen; heute war sie eben nicht gut drauf, wie sie sagte. Wir könnten ja zu Hause weiterlesen; und das nächste Mal, das versprach sie mir, würde sie es gewiss wieder besser machen. Unter solchen Gesprächen hatten wir die 200 oder 300 Meter bis zu unserem Auto zurückgelegt, wo uns dann ein frisch aufgeklebter Bußgeldbescheid wegen unerlaubten Parkens erwartete. Versteht sich, dass das die gedrückte Stimmung nicht zu mildern vermochte.

Vielleicht denkt hier der geneigte Leser, da hätte man doch nur sich telephonisch sollen an das Bürgermeisteramt wenden, dann wäre alles zur gegenseitigen Zufriedenheit geregelt worden. Ich aber sage, das beste wäre gewesen, die Gebühr stillschweigend und ohne Widerrede zu bezahlen und den Titisee zum Teufel zu wünschen. Eben dies nämlich hat unser Held getan, um dann zum Ratsschreiber verwiesen zu werden, mit dem Ergebnis, dass die Gebühr nicht erlassen wurde.

Ein paar Tage später, es war noch immer so heißes Sommerwetter, dass man es im Haus kaum aushalten konnte, schlug unser Held vor, zum nahegelegenen Waldsee hinüber zu fahren, und dort ein Stündchen zuzubringen: "Es muss ja nicht notwendig der Titisee sein. Lass uns doch zum Waldsee hinüber gehen. Auch dort ja gibt es Schilf mit Wasser und Wellen, wohin man von einer schattigen Bank vorzüglich ausblicken kann. Die Anfahrt dauert ein paar Minuten. Dort dann lass uns ein kleines Stück weiter lesen!"

Der Waldsee ist ein kleiner künstlicher See, etwas mehr als einen Kilometer entfernt, etwa 100 m lang und 30 m breit, den unser Held und seine Liebste noch aus den Tagen ihrer Jugend her kennen. Einmal waren sie dort auch auf einem Sommernachtsball gewesen.

Selbstverständlich war die Liebste nicht abgeneigt, dem Wunsch unseres Helden zu entsprechen. Zu allem fand sie sich bereit, was immer unserem Helden gefiel, auch wenn sie einmal lieber zuhause geblieben wäre. So fuhren sie also mit dem Auto zum See, wo es immerhin keine Probleme mit einem Parkplatz gibt. Auch eine freie Bank im Schatten der hohen Eichen war bald gefunden, sodass alles bereit zu sein schien für einen gelungenen Ausflug. Kaum aber hatten unsere Lieben mit dem Lesen begonnen, da zeigte es sich, dass die Liebste nicht in der Lage war, ihren Oberkörper aus eigener Kraft aufrecht zu halten, auch nicht, wenn sie ihn gegen die Lehne drückte. Vornehmlich den Kopf in der Höhe zu halten, schaffte sie nicht mehr. Immer wieder fiel er ihr auf die Brust.

"Es wird ja wieder besser", sagte die Liebste, als sie den See verlassen hatten und wieder nach Haus fuhren. "Dann holen wir den Tag nach!"

Wenn ich heute über 5 Jahre nach Mütterchens Hinscheiden die damals durch sein Unvermögen entstandene peinsame Lücke schließen soll, so schlage ich vor, unserem Helden die folgenden Worte in den Mund zu legen: "Wenn es einen Himmel gibt und einen Gott im Himmel, dann wird es auch einen Waldsee im Himmel geben. Und dann werden wir den Spaziergang dort nachholen; da bin ich mir ganz sicher."

In jenen Sommertagen war vorauszusehen, dass der Tag nicht mehr weit entfernt war, an dem die Liebste selbst das von ihr so fleißig benutzte Sätzchen nicht mehr würde aussprechen können, dass alles gut war. Und wenn ich es auch tausendmal nicht wahrhaben wollte und ich der Liebsten, um ihr Mut zu machen, versicherte, dass wir uns durch nichts verwirren ließen, so wurden die vielen kleinen und feinen Beobachtungen in jenen Tagen doch zu so unzerstörbaren Zeugnissen für das Gedächtnis, dass es die Vorkommnisse, unabhängig von allem Wünschen und Wollen, aufbewahrte, die sich nun, so viele Jahre danach, immer wieder einmal zu Wort melden. Eine von diesen Traum gewordenen Erinnerungen ist der Traum vom 20.4.17, dem ich den Titel gegeben habe: "Wie unser Lebensweg zu Ende geht."

Er besteht aus vier Szenen, die sich vor unserem Helden mehr oder minder willkürlich zu einem einzigen Traum zusammengefügt haben.

Die erste Szene beginnt beinahe ganz harmlos und unspektakulär in einer Bibliothek. Unser Held sitzt dort in einem der Lesesäle: da erreicht ihn die Durchsage, er möchte das Buch, in dem er eben las, dringend zurückgeben. Was für ein Buch es war und was darin geschrieben stand, weiß unser Held nicht mehr. Erst später, als ich über den Traum nachdachte, meine ich, mich an einen Band von Novalis zu erinnern, wo ich von Erneuerung (novum) und von Heilung für meine Liebste geschrieben fand. Ich hatte mir den Band bereits ausgeliehen, war aber noch in der Bibliothek geblieben, da ich mich mit Mütterchen, die noch Besorgungen in der Stadt machte, verabredet und noch einige Zeit hatte.

Kaum nun, dass mich die Durchsage per Lautsprecher erreicht hatte, war ich auch schon damit beschäftigt, der Aufforderung Folge zu leisten. Das Einzige, was mich beschäftigte, war die Art und Weise, wie ich das Buch am besten zurückgäbe. Die Regale standen in der Nähe. Ich konnte den Band selber hintragen und wieder in Reih und Glied stellen. Damit war dann zwar dem Aufruf Genüge getan; wer aber haftete dann für das Buch, wenn ein anderer es mit sich nahm? Ohne Zweifel würde man dann mich für das Fehlen verantwortlich machen. Es ins Regal zurückzutragen, war also nicht der richtige Weg. Besser war da, mit dem Buch zur Registratur zu gehen und sich die Abgabe bescheinigen zu lassen. Das freilich war ein zeitraubendes Geschäft. Als erstes musste ich mich um den Ort der Registratur kümmern und, wenn alles schlecht lief, konnte ich mich dort in einer Schlange von Wartenden einreihen, dessen Ende keiner vorherzusagen vermochte.

Was ich dann getan habe, weiß ich nicht mehr. Ins Regal habe ich das Buch jedenfalls nicht zurückgestellt, aber zur Registratur habe ich es auch nicht zurückgebracht. Was ich noch in Erinnerung habe, das ist, dass ich aus der Bibliothek in die Stadt geeilt bin, noch einige Besorgungen zu machen, und dass ich mich nun vollends in Eile befand.

Warum war ich in Eile? Vielleicht weil ich notorisch in Eile war? Ich weiß es nicht. Der Traumgott freilich wusste, weshalb ich in Eile war. Zum Thema des Traums hatte er das Ende unseres Lebenswegs gewählt und auf demselben war Eile geboten. Wiewohl ich als Träumer noch nichts davon wusste, so waren die damit verbundenen Erregungen bereits aktiviert.

Nun also war die zweite Szene angebrochen. Aus der Bibliothek ging es nahtlos in ein Geschäft der Stadt, wo ich mich nach Apparaten für meine Liebste umschaute. Auch hier weiß ich nur, dass ich mir viele Apparate anschaute und wohl auch mehrere davon zu mir nahm, die mir aber ohne einen besonderen Energieversorger nichts zu taugen schienen.

Auch hier ist mir erst im Nachhinein klar geworden, dass ich in dem Geschäft dabei war, Geräte zu besorgen, damit sie der Liebsten Heilung brächten, dass dabei aber das Problem war, dazu den richtigen Energiespender zu finden oder, anders ausgedrückt, sie in den richtigen, Gesundheit bringenden Gebrauchsmodus zu schalten.

Vollbepackt mit Apparaten irrte ich also in dem Geschäft umher, ohne der Lösung des Problems näher zu kommen. Unterdessen waren die Blicke des Geschäftsinhabers und seiner Angestellten auf mich gerichtet, als habe man es mit einem Dieb zu tun, den man bei nächster Gelegenheit packen müsse. Da ich mir bislang weiter nichts hatte zu Schulden kommen lassen, als dass ich voller Anspannung Ausschau gehalten hatte, und ich auch jetzt kaum mehr verriet, als dass ich nicht wusste, wie es weitergehen sollte, kam endlich eine Dame vom Geschäft auf mich zu und fragte mich nach meinem Begehr. Darauf war der Einkauf beendet.

Draußen auf der Straße, jetzt aber auf einer Straße vor der Stadt, traf ich auf die Liebste, als hätte sie auf mich gewartet. Von den Geräten und Apparaten, mit denen ich eben noch überhäuft war, war nichts mehr zu sehen. Kaum dass wir ein paar Schritte zusammen gemacht hatten, führte uns der Weg in tiefen Schnee. Nun entschloss ich mich, ein Stück vorauszugehen, um den bestmöglichsten Weg zu erkunden, die Liebste sollte mir dann auf meinen Wink hin folgen. Doch sie tat sich schwer auf dem Pfad, selbst auch noch, als ich ihn für sie ausgetrampelt hatte. Als ich mich abermals nach ihr umsah, sah ich, wie sie vom Weg abkam und stürzte. Ich eilte zu ihr zurück, sie zu ermuntern, musste aber erkennen, dass das nicht mehr möglich war. Mit ihren Kräften war sie am Ende. Das Beste, was mir noch einfiel, das war, dass auch ich mich in den Schnee legte, worauf ich die Liebste auf mich wälzte, damit ihr die Kälte von unten nicht zu nahe käme.

Vermutlich wäre unser gemeinsamer Lebensweg hier zu Ende gegangen, wäre da nicht noch die Hoffnung gewesen auf das ewige Leben. In dieser Hoffnung hatten wir ja immerhin einst die Hände zum Bund des Lebens zusammengelegt. "Von nun an bin ich deine liebe Frau und du bist mein lieber Mann!" hatte meine Liebste zu mir gesagt. Und ich hatte ihr zur Antwort gegeben: "Und du bist von nun an meine liebe Frau und ich für dich dein lieber Mann."

Nun also befanden wir uns noch in einer Kirche. Das Gotteshaus war mir nicht ganz unbekannt. Jedenfalls kam es mir so vor bei unserem Eintritt. Früher einmal in unserer Jugend hatten wir es regelmäßig besucht und hatten wohl auch die ersten Male hier nebeneinander gesessen. Das alles war in der Zwischenzeit in weite Ferne gerückt. Niemanden von den versammelten Leuten kannten wir wieder und auch diese kannten uns nicht. Ja, als ich mich umschaute, war auch von den früheren Bräuchen und Handlungen nichts mehr zu sehen. Stattdessen wurden jetzt mit einer Lichtbildkamera Bilder gezeigt, welche die Leute wie eine Schrift laut zu lesen hatten, woran nun auch wir uns beteiligen sollten. Da war nun ein Bild zu sehen, das eine Allee zeigte, schnurgerade, beiderseits von Bäumen bestanden, die immer kleiner werdend sich dem unendlich fernen Punkt näherten. Die Mitanwesenden, von einem Baum zum nächsten schreitend, bei dem sie jeweils wie in einer Litanei, eine Art Preisgesang ausstießen, waren noch nicht allzu weit gekommen, als ich in einer kühnen Satzbewegung nach Art der Mathematiker den zwar unendlichen, aber doch verschwindend kleinen Rest der Bäume in einen einzigen Nebensatz packte. Das jedoch war nicht erlaubt. Denn während die anderen weiterhin von einem Baum zum nächsten sich vorwärts bewegten und Zählung vornahmen, kamen drei Männer auf mich zu, die sich über meine Liebste hermachten, indem sie von ihr wissen wollten, wo wir zuhause wären. Statt es zu einer Antwort kommen zu lassen, fragte ich sie meinerseits, wer sie wären und zu welchem Zweck sie auf uns zugekommen seien. Sie aber ließen mich nur so viel wissen, dass hier ein schlimmer Fall vorliege, und dass sie geschickt seien, ihn aufzuklären. "Geschickt?" gab ich ihnen beinahe höhnisch zur Antwort zurück. Endlich, da sie nichts darauf erwiderten, fragte ich sie, ob sie von der Polizei kämen. Das dürften sie nicht sagen, erwiderten sie. "Ja, dann holt doch endlich die Polizei!" schrie ich, nun schon über alle Maßen ergrimmt, und wiederholte die Worte, indem ich auf meine Liebste wies: "Holt doch die Polizei, damit der Fall endlich aufgeklärt wird. Oder, noch besser, holt einen Krankenwagen. Ihr seht doch, dass wir nicht mehr weiter können!"

 

9. Schwager Herodias

Die ihr durchquert habt die Weiten der Welt

und erlebt habt die Wechselfälle der Zeit,

kommt nur und seht, ob das Haus euch gefällt,

das jetzt zum Einzug uns steht bereit.

 

Es ist Abend geworden. Nach dem tagelang anhaltenden Regenwetter bist du noch einmal zu den Äckern hinausgefahren, Abschied zu nehmen. Jetzt aber stehst du vor dem bereits verschlossenen Tor des Bergäckerfriedhofs, während dir die Sonne noch einmal ihr abendliches Spiegelbild aus den Straßenpfützen entgegenwirft. Und du hörst eine Stimme, die zu dir spricht: "Komm und schau!" Indes, während du dich umschaust, siehst du niemanden, der zu dir gesprochen haben könnte. Wie du dich aber ein zweites Mal umwendest, kommt ein Sargträger auf dich zu. Kaum hast du diesen gesichtet, kommt noch ein zweiter, dann noch ein dritter und ein vierter. Die vier Herren sind dir vom Aussehen her bekannt, wenn du sie im Einzelnen auch nicht auseinander zu halten vermagst; einer sieht dem anderen gleich, zumal wenn sie in ihrer Dienstkleidung erscheinen. Wenn Kleider Leute machen, so gilt das vornehmlich für sie. Zu wissen, wer hinter oder unter diesen Kleidern steckt, ist da ganz nebensächlich, wenn nicht gar unzulässig und störend. Tadellos und korrekt gekleidet, mit ihren schwarzen Zylinderhüten auf dem Haupt stellen sie sich vor dir auf und bitten dich nun, ihnen zu folgen. Vermutlich, so denkst du, hat man dir von der Friedhofsverwaltung mitzuteilen, dass man mit deiner Grabpflege nicht zufrieden ist. Was auch sonst könnte einer Verwaltung obliegen, als Unzufriedenheit zu artikulieren und mit Strafgebühren zu drohen. So würde man wohl bemängeln, dass du erstens nach fast einem Jahr noch immer kein Namensschild auf dem Grab deiner Frau aufgestellt hast. Zweitens, dass das Grab mit Margeriten, also mit schnell sich verbreitenden Wildblumen bepflanzt ist, was nicht erlaubt ist, drittens, dass du die Grabfläche nicht ordentlich abgegrenzt und sauber gehalten hast, ganz zu schweigen viertens von deinem eigenen Grab, das du als Grasfläche belassen und nicht in das Doppelgrab miteinbezogen hast.

O es sind düstere Erinnerungen, die bei mir wach werden, wenn ich daran denke, wie ich damals die Liebste hatte aus dem Haus geben müssen. Ende August war es und, wie ich wohl wusste, der letzte Tag ihres Lebens angebrochen. Und doch war mir keine andere Wahl geblieben, da ich über kein Medikament verfügte, das mir Schmerzfreiheit für meine Liebste garantiert hätte. Zwar lag sie in tiefem Koma, doch konnte ich wissen, dass alles, was jetzt noch geschah, sie nicht mehr erreichte? Da ich mir also unsicher war, ich als Nicht-Arzt niemals in irgendeiner Apotheke das benötigte Opiat bekommen hätte und da ich auch den Herrn Schwager, einen amtierenden Professor für Unfallchirurgie nicht darum bitten wollte, wohl wissend, dass er es mir niemals gegeben, sondern mich an den Notdienst verwiesen hätte, wandte ich mich den selber sogleich an denselben, um die Liebste zum Sterben in die Universitätsklinik zu schicken. Dabei hatte ich ausdrücklich verfügt, dem werten Herrn Schwager darüber keine Nachricht zukommen zu lassen, eine Schweigepflicht, der dann aber nicht nachgekommen wurde. Vermutlich hätte man mir, hätte ich die Sache vor Gericht gebracht, niemals Recht gegeben, sondern mich durch ein paar dem Schwager gefällige Mediziner als geistig unzurechnungsfähig abqualifiziert.

Unterdessen sind die vier Herren vom Bestattungsdienst vor dir her auf die Friedhofsmauer zugegangen, wo sie nun bei Seite treten, zwei zur Rechten und zwei zur Linken, und vor dir ein Spalier bilden. Und indem dich jetzt ihre langen schwarzen Haare in Beschlag nehmen, die in alle Richtungen davonfliegen, wetteifernd mit der scheidenden Sonne, fragst du dich, wozu dieses Vorspiel gut ist.

Da aber hat sich auch schon die Friedhofsmauer aufgetan, die eben noch wie ein unüberwindbares Bollwerk jedes Weiterkommen versperrte, und indem sie sich noch immer vergrößert und in die Höhe hinauf wölbt, kommt ein Eingangstor zum Vorschein mit einem so hohen Torbogen, dass selbst eine hochverdeckte Totenkutsche früherer Tage hindurchpassen würde. Unterdessen bist du bereits an den spalierbildenden, sich vor dir verbeugenden, ihre Zylinder in Händen haltenden Herren vorbeigegangen, durch den Torbogen hindurch, von wo du zu einem mit Sand bestreuten Vorplatz gelangst, der zu einem Geschäft führt.

Dass es sich bei dem Geschäft um eine Apotheke handelt, wird dir erst nach und nach deutlich. Wiewohl über der Ladentüre der Name der Apotheke mit großen schwarzen Druckbuchstaben angebracht ist, ist dein Blick vorerst so fest mit den Vorgängen am Eingang beschäftigt, dass du die Inschrift auf dem Schild überhaupt nicht bemerkst. Aus der Menge der Leute, die vor dem Laden stehen und sich in ihn hinein drängen und der Menge der mit Blumen bestückten Vasen und Amphoren, welche die weit geöffneten gläsernen Flügeltüren umstehen, ziehst du den Schluss, dass es sich um eine Friedhofsgärtnerei handelt, die Trauergästen Blumen feilbietet, wenn dich auch leise Zweifel überkommen und du dich fragst, wer wohl jetzt, zu so später Stunde noch beerdigt werden mag. Mit dem Nähertreten erst machen dich die Feld- Wald- und Wiesenblumen, die gewiss nicht zum Verkauf bestimmt sind, darauf aufmerksam, dass du vor keinem Blumengeschäft stehst, sondern vor eine Apotheke. Vor allem ein Strauß mit riesengroßen Walderdbeeren, deren schneeweiß schäumende Blütenblätter alle anderen Blumen überragen benehmen dir die letzten Zweifel.

Herrschte nun schon auf dem Vorhof ein riesiges Gedränge von Leuten, so drängt sich im Innern der Apotheke alles nur noch mehr auf eine Wand zu, wo der Verkauf statthat. Abgesehen von einem kleinen niedrigen Tor rechts, das zur Offizin führt, die man nur geduckt erreicht, erhebt sich die Wand dort glatt und zylinderförmig in die Höhe, wo sich in übereinander geordneten Reihen von Schubfächern gliedert die Arzneien befinden. Alles drängt zu der zur Wand konzentrisch angebrachten Theke, wo von den dicht aneinander gedrängten Kunden stets nur ein paar wenige das Glück haben, bedient zu werden. Wozu die Leuchter mit den Kerzen und Räucherstäbchen gut sind, die noch auf der Theke stehen, weißt du nicht. Vielleicht, um dem Wartenden anzuzeigen, dass hier der Ort ist, wo man in den Genuss einer Bedienung und damit der Gesundung kommt? Was immer auch gemeint sein mag, mit einem geduldigen Warten sind die Strapazen jedenfalls längst noch nicht vorüber. Ist nämlich einer erst so weit gekommen, dass er die Theke erreicht hat und keiner mehr vor ihm steht, so wird er von den Nachrückenden derart bedrängt, dass er, um nur etwas Luft zum Atmen zu bekommen, mit dem Oberkörper über die Theke zu liegen kommt, wo er wie ein an Land geworfener Fisch kaum mehr die Kraft hat, das Rezept abzugeben oder seinen Wunsch zu äußern. Und ist er dann doch endlich noch zu dem gewünschten Präparat gekommen, dann muss er sich einen Weg aus dem Geschäft hinaus bahnen, durch die hinter ihm Stehenden hindurch, von denen keiner auch nur einen Zentimeter von seinem Platz zu weichen gedenkt.

Dabei ist die Apotheke zur Bedienung wirklich so gut ausgerüstet, wie man es sich auf dem engen Raum kaum besser vorstellen kann. Insgesamt mag es sich um ein Dutzend Bedienstete handeln, die sich alle so rasch und gewandt beim Verkauf bewegen, als beherrschten sie nicht nur die Kunst, geschmeidig aneinander vorbeizugleiten, es scheint fast, als verstünden sie es auch, sich wie körperlose Wesen zu durchdringen. Kaum dass der Kunde einen Wunsch getan hat, eilt die Bedienung zu dem entsprechenden Fach, welches das Mittel enthält und bringt es in der gewünschten Dosis. Dabei steht ihr eine Leiter zur Verfügung, die auf einer Schiene hin und her bewegt werden kann, wenn sich das Mittel in einem der Schubzüge in den oberen Reihen befindet. Alles geht so schnell von Statten, dass man kaum die Leiter zu Gesicht bekommt. Unaufhörlich und mühelos steigen die Angestellten herauf und herab und bringen das gewünschte Präparat und ebenso unaufhörlich wie sie herauf und herabsteigen, klingeln die unter der Theke befindlichen Kassen. Einige Kunden aber, die kein Rezept bei sich haben, zeigen mit einem Stab auf das Fach, welches das Mittel enthält, das sie begehren. Ob es sich bei diesen Leuten um altvertraute Kunden handelt oder um bekannte Ärzte, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall bilden sie eine Klasse für sich und werden auch auf eine besondere Weise bedient.

Es ist nun freilich nicht so, dass dieser Klasse von Kunden auch eine besondere Abteilung von Bediensteten entspräche. Jede Bedienung ist für jeden Kunden zuständig, wie man leicht sehen kann. Auch ist es nicht so, dass es bei den Stab-Träger-Kunden stets zu einer raschen Abfertigung käme. Wenn die Bedienung bei diesen Kunden im Normalfall auch schneller von Statten geht als bei den anderen Kunden, so kommt es doch immer wieder zu kleineren, wie es scheint, absichtlichen Verzögerungen und Unterbrechungen. Statt mit der Leiter oder zu Fuß wird dann nämlich oftmals das Präparat im Flug oder mit einem besonders gewagten Sprung herbeigeholt, wenn es sein muss, von ganz oben, unterhalb der Decke, wo die besonders giftigen Präparate lagern. Aber selbst wenn das Mittel in der Höhe der Hand liegt, stehen die Bediensteten dabei nicht auf dem Boden, sondern schaffen das erwünschte Präparat herbei, als flögen sie wie schwerelose Artisten durch die Luft oder als glitten sie durch ein nur ihnen bekanntes und vertrautes Medium. Dabei hilft ihnen ein buschig brauner Schwanz, den sie unter ihrem Apothekerkittel hervorholen. Während sie nun das Regal emporspringen, das Schubfach öffnen und ihm das Medikament entnehmen, bewegen sich ihre Schwänze wie die Propeller eines Helikopters, und zwar dergestalt, dass sie wie zur Befriedigung einer unersättlichen Schaulust ein und dieselbe Besorgung wiederholen, sei es auf die gleiche Weise, sei es in spiegelsymmetrischen Variationen. Ob diese beiden Arten der Bedienung nur zur Unterhaltung und zur Beschwichtigung der Wartenden erdacht worden sind oder nur der Freude des bestens ausgebildeten Personals dienen, vermag keiner zu sagen. Es ist durchaus möglich, dass hier alle Regeln des Verkaufens und Kaufens ihre höchste Vollendung finden, ohne dass sie einer von den Vorübergehenden zu würdigen versteht. Fest steht auf jeden Fall, dass nichts, was auch immer in der Apotheke geschieht, ohne die Zustimmung des Apothekenbesitzers geschieht. Wenn er um seine Person auch kein Aufsehen macht, was ihm nicht weiter schwer fällt, da er unter seinen Bediensteten weitaus der Kleinste ist, so fehlt er doch nie. Meist hält er sich in den für die Käufer nicht zugelassenen Räumen auf; so sitzt er z.B. sehr gerne auf einem Schemel hinter dem Vorhang, der zur Offizin führt, von wo aus er die Regie führt. Ohne seine Zustimmung, wie gesagt, geschieht nichts. Meist aber genügt ein kurzes Nicken und schon ist das Präparat zur Stelle.

Im Übrigen scheint die Aufgabe des Apothekers nicht im Überwachen des Verkaufs aufzugehen. Es sieht eher so aus, als ob er hinter dieser Aufgabe noch viele andere Dinge zu bedenken hätte. Die Nachbestellung der Präparate macht ihm dabei wohl die geringste Mühe, da sie automatisch erfolgt und mithin nur einer gelegentlichen Überprüfung bedarf. Und wenn es auch so gut wie nie vorkommt, dass sein Nicken ausbleibt und ein Käufer unverrichteter Dinge wieder aus den Geschäft gehen muss, so scheint es doch so zu sein, als ob er sich insgeheim immer auch gegen unliebsame Heimsuchungen zu wappnen hätte. Zumal die unruhigen, besorgten Blicke, die er gerade heute von seinem Standort aus auf den Eingang des Ladens wirft, scheinen darauf hinzuweisen, dass er mit einer von außen kommenden Gefahr rechnet. Zumal in dem Gedränge des viel zu engen Raumes scheint ihm die weit aufgerissene Türe wie eine Einladung für alle nur erfindlichen Schrecklichkeiten. Dazu passte auch, dass es heute Abend, trotz einiger Stabträger, nur erst zu einer Sonderschau gekommen ist, die er aber, ganz gegen seine Gewohnheit, vorzeitig unterbunden hat. Mag sein, dass er froh wäre, wenn er die Betreuung des Geschäftes am heutigen Abend seiner Frau hätte überlassen können. Doch warum ruft er ihr nicht? Er könnte ja vorgeben, in der Offizin noch etwas besorgen zu müssen. Oder er würde ihr einfach die Aufsicht übertragen, weil er heute besonders erschöpft ist und sie, wie jedermann weiß, alles ebenso gut besorgt wie er.

Seit einiger Zeit ist ein fremder Mann im Geschäft, der meine ganze Aufmerksamkeit in Beschlag nimmt. Er hat bereits an der Theke gestanden und seinen Wunsch nach einem starken Palliativum geäußert, man hat ihm aber kein Gehör geschenkt. Indessen hat er sich, kaum dass er abgewiesen worden, ein weiteres Mal in die Schlange der Wartenden gestellt; und war er das erste Mal ohne einen Äskulap-Stab gewesen, so hält er jetzt einen solchen in die Höhe. Ein wenig ist sein Stab zwar kleiner als die anderen Stäbe, dafür aber reckt er ihn umso mehr in die Höhe. Langsam, in kleinen Schritten bewegt sich der Mann neuerlich auf die Theke zu, wobei er es so einrichtet, dass sein Stab über den Köpfen der ihn Umgebenden auf und ab zu tanzen scheint. Natürlich hat ihn der Chef-Apotheker nicht aus den Augen verloren; gleichwohl hat er sich bis jetzt noch nicht eingemischt. Als ob er den Mann noch nie gesehen und ihm nicht bereits eine Absage erteilt hätte, wartet er ab. Seine Taktik, ihn still zu übersehen und zu übergehen, damit er ein Einsehen bekomme und sich von allein aus dem Laden begebe, geht indessen nicht auf. Inzwischen, die Theke ist das zweite Mal erreicht und zum zweiten Mal hat ihn die Bedienung übergangen, beginnt der Mann mit seinem Stab auf die Theke zu hämmern, worauf der Stab immer länger wird, bis er so lang ist, dass er damit zu dem Fach hinaufreicht, wo sich das von ihm gewünschte Mittel befindet. Und war das Fach zuvor mit einem schlichten "O" bedruckt, so vervollständigt sich der Buchstabe "O" vermittels des unablässigen Schlagens zu dem Wort "Opiate", das jetzt in leuchtenden Lettern zum Vorschein. Eine weitere Bedienung, ein junger wohl noch unerfahrener Mann, der hier hospitiert, denkt bereits daran, ihm das Präparat herbeizuholen: da schreckt ihn ein lautes Geräusch zurück.

Zwei Autos sind vorfahren. Mit einem fürchterlichen, den Sand seitwärts schleudernden Bremsgeräusch sind sie vor der Apotheke zum Halten gekommen. Mittels zweier Spione, die den Blick auf den Innenhof freigeben, sieht der Apotheker jetzt, worauf er die ganze Zeit über bereits gewartet hat: Dr. Herodias, Professor der Unfallchirurgie, im Geleit mit dem Notarzt, wie sie auf den Laden zukommen. Ein flüchtiges Nicken mit dem Kopf, als wolle er sagen: "Ich hab es doch gesagt; nun ist es so weit!" deutet darauf hin, dass der Apotheker von der Ankunft der beiden Herren gewusst hat. Dann aber, nach seiner Frau rufend, drängt er zum Eingang, dem hohen Besuch seine Aufwartung zu machen. Und ein Geraune geht durch den Laden, das bis hinaus in den Vorhof dringt.

Während der Notarzt unter der Türe stehen bleibt, tritt Professor Herodias noch einmal zurück in den Hof, sich davon zu überzeugen, dass er auch am richtigen Ort angekommen ist. Oder beanstandet er etwa, dass man die gläsernen Flügeltüren nicht aus den Angeln genommen und bei Seite gestellt hat, um ihm den Eintritt zu erleichtern? Unterdessen, die Begrüßung geschieht in aller Eile, ist der Apotheker nur mehr noch damit beschäftigt, für seine beiden Gäste eine möglichst breite Gasse frei zu machen. Auch die Frau des Apothekers hat sich unterdessen zur Begrüßung eingefunden. Sie trägt ein Kind auf dem Arm, das seinerseits einen Käfig in der Hand hält. In dem Käfig aber befindet sich ein Tierchen mit einem Schwanz, der verblüffend den Schwänzen eines Eichhörnchens ähnelt. Mutter und Kind sind nun nahe bei Professor Herodias. Der aber hat jetzt keine Zeit für eine weitere Begrüßung, und schon gar nicht für das Kind mit dem Tierchen. Mit weit ausgreifenden Schritten folgt er dem Apotheker, der gebeugt vor ihm hergeht, jederzeit bereit, den Boden zu küssen. Da aber hat der Herr Professor auch schon das niedrige Tor durchschritten, das zur Offizin führt und ist dort verschwunden. Und eine Stille kehrt in den Raum ein, die sich in einer unermesslichen Tiefe zu verlieren scheint.

Jetzt aber, wie aus einem Tiefschlaf erwacht, regt sich in der Apotheke ein unerhörtes Leben. Wer auch immer sich bis jetzt jenseits der Schranke aufgehalten hat, versucht, durch das schmale, dem Personal vorbehaltene Gatter hindurch zur Kammer vorzudringen, in welche die beiden Ärzte gegangen. Natürlich darf das nicht sein. Der Apotheker weiß das. Weil aber auch er jetzt zu den Ärzten in die Kammer möchte, und sei es auch nur für ein paar Augenblicke, liegt es an seiner Frau, der Menge zu gebieten. Doch wie soll sie das tun? Die Gesichter zeigen, dass hier keiner willens ist, sich durch das Wort einer Frau aufhalten zu lassen. Nun aber kommt auch schon Professor Herodias wieder zurück, gefolgt vom Apotheker, der hinter ihm her schwänzelt. Die Angelegenheit scheint nicht so gelaufen zu sein, wie man es sich vorgestellt hat. Hat Professor Herodias noch so souverän bei seinem Kommen die Szene beherrscht, so schaut er jetzt so bärbeißig drein, dass die Menge vor ihm wie aufgescheuchtes Geflügel zurückweicht. Umso mehr Grund aber hat jetzt der Apotheker, zur Beschwichtigung des Doktors beizutragen, dass er ihn in einem fort liebedienerisch umschwänzelt. Auch seiner Frau ist daran gelegen. Dem Kind den Käfig aus der Hand nehmend ist sie sogar bereit, dem Professor das dem Kind Liebste zum Geschenk zu machen. Der freilich will nichts davon wissen. Nur der Notarzt, der Letzte in der Gruppe, nimmt den Käfig der Frau ab, weniger, weil er von dem Geschenk angetan ist, als vielmehr in der Hoffnung, dem inzwischen eingesetzten Geschrei des Kindes ein Ende zu bereiten. Unter der Türe bleibt Dr. Herodias noch einmal stehen und dreht sich um. "Mein Herr", sagt er zum Apotheker, der sich wie ein alter Gaul unter den Peitschenschlägen eines wütenden Kutschers krümmt, "wann einer tot ist und wann nicht, das hat niemand zu bestimmen außer mir!" Selbstverständlich nickt der Apotheker. Es gibt nichts, dem er in diesem Augenblick die Zustimmung verweigert hätte, und wäre es sein eigenes Todesurteil gewesen. Ein Tritt ist das Letzte, womit Prof. Herodias die beiden Eimer voll Efeu und Brennnesseln umstößt, die ein alter Ladendiener eben noch vor den Eingang gestellt hat, dann hat er den Laden verlassen. Auf dem Beifahrersitz seiner Limousine aber wartet eine Dame auf ihn. Lässig gekleidet in eine knallrote Lederjacke ist sie eben noch damit beschäftigt, sich die Lippen mit einem dazu passenden Rouge zu bemalen. Über den Rückspiegel ist ihr die zeitige Rückkehr des Professors nicht entgangen. Selbstverständlich lehnt sie den Käfig ab, den ihr der Notarzt zu übergeben versucht - wer auch ist sie, dass sie ein Kinderspielzeug benötigte! -, worauf ihn dann der Notarzt mit einem kühnen Wurf über die Friedhofsmauer schleudert.

Nun aber ist die Reihe an dir. Der Zeitpunkt ist gekommen, die Last, die dich schon so lange gequält hat, abzuladen und loszuwerden. Wie hattest du doch versagt an jenem Tag, dem schrecklichsten aller Tage, damals Ende August! Schon eine Woche zuvor hattest du ja gewusst, als der Darmverschluss eintrat, den du als Pfleger freilich nicht zu übersehen vermochtest, dass nun die Passion, die letzten Tage des gemeinsamen Erdenlebens gekommen waren. Du aber, ohne die Nachricht der Liebsten weiterzusagen, hast sie für dich behalten. Wahrscheinlich wusste sie selber am besten, falls sie damals nicht schon der Tod der Denkkraft beraubt und sie nur noch als des Leids und der Ängste fähige Kreatur zurückgelassen hatte, wie es um sie stand, wenn sie auch längst nicht mehr sprechen konnte. Nur mit der Sprache der Augen war damals noch eine Verständigung möglich, doch was für eine, und mit dem Siegel des Mundes. Wohl hast du das Wort ergriffen, indem du ihr zugeschworen hast, immer zusammen mit ihr zu bleiben, was auch immer geschähe. Aber das war ja nicht schwer. Das kostete nicht viel, jetzt, wo es um Leben und Tod ging. War das denn keine Verräterei, als du sie küsstest von Mund zu Mund, und warst doch bereits dabei, sie dem Tod auszuliefern! Hattest du nicht längst die stärksten dir zugänglichen Opiate besorgt, sie zu beruhigen und zu täuschen, soweit du das vermochtest! Und war es nicht vollends ein letzter, elender Verrat, als du sie noch am letzten Tag, wenn auch längst im tiefen Koma, in die Klinik ausgeliefert hast, weil du kein Medikament mehr hattest, und warst zu Haus geblieben, abwartend bis man dir von dort die Nachricht des Hinübergangs übersandte?

Nun also, ehe du selber aus dem Zeitlichen trittst, machst du dich auf den Weg, alle diese dich belastenden Erinnerungen abzuschütteln. Die Liebste selber, so hoffst du, soll dir vergeben. Und so machst du dich nun also auf den Weg zu ihr in die Kammer.

Da alle draußen stehen, um bei der Abfahrt des Professors mit dabei zu sein, hat niemand Acht auf dich, wie du auf die Kammer zugehst. Nicht einmal die Türe musst du öffnen, noch auch unter der Türwölbung dich hindurchbücken, schon stehst du neben deiner Liebsten. "Liebste!" sagst du, während sie die Augen aufschlägt und dich vom Krankenbett aus anschaut. "Lass uns beisammen ruhen! Auch wenn wir nie mehr ein Wort tauschen, so haben wir uns doch das Ja-wort gegeben für immer." Sie aber sagt: "Leg dich nur neben mich, Liebster! Es ist ja alles gut!" Dann, während von der Friedhofskapelle das Totenglöckchen ertönt, legst du dich neben sie und halb abwartend auf ein sanftes Rauschen, das dir bedeuten soll, dass du gleich in der Tiefe ankommst, halb schon im Schlummer versuchst du, die bereits geschlossenen Augen noch fester zu verschließen.