{ Geschichte einer großen Liebe }

Literatur von Martin Ganter

Inhalt

1. Im Zeichen der Liebe

2. Irritationen

3. Zeit der Erprobungen

4. Reifezeit

5. Im Zeichen der Erwartung

6. Hochzeitsvorbereitungen

7. Die Hochzeit

8. Im Garten der Liebe

9. Lieder aus dem Garten der Liebe

 

Geschichte einer großen Liebe - Aufzeichnungen von 1965-1970

Nachdem mir Ende August 2012 mein Mütterchen nach 40-jähriger Krankheit und nach Tagen schrecklicher Passion heimgegangen, habe ich mich hingesetzt und, während mir die lästige und hässliche bürokratische Arbeit von unserer Tochter Annette abgenommen wurde, das unten stehende Lied der Liebe geschrieben. Dann habe ich mich hingesetzt und habe unsere gemeinsamen Dokumente und Hinterlassenschaften gesichtet, vor allem aber "unser gemeinsames Buch" durchgelesen, wo mir neben der Überfülle lieber Zärtlichkeit vornehmlich auch das Selbstvergessen der Liebsten aufgefallen ist. Und ich dachte bei mir: Wie lieb doch die Liebste in Lieb sich vergisst, wenn des Liebsten Wert überreich sie ermisst! Endlich, als ich das Buch gelesen und überdacht hatte - nachts im Traum hatte ich mich wiedergesehen in meinem Zimmer im Institut als Physikkandidat, der uns in den Zeiten der Not so oft zur Zufluchtsstätte geworden -, da kam mir die Idee, es sorgfältig abzuschreiben und es so auch für die Nachkommen zu richten: als Zeichen und Denkmal einer so außergewöhnlichen wunderbaren Liebe, der Liebe meiner Frau, meiner lieben Frau, der ich, wie jeder sehen mag, der das Büchlein aufmerksam durchliest, alles, was an Gutem aus mir geworden, verdanke. Und wenn es mir auch nicht gelungen ist, in der Welt ein Aufsehen zu erregen, ja auch wenn ich mit meiner Literatur unbeachtet bleiben sollte, so stört mich das wenig. Wenn ich im Rückblick auf das Leben Grund habe, mich zu rühmen, so ist es Liebchen, die mir ihre Liebe geschenkt hat. In keinem Fach hab ich´s so weit gebracht, wie im Fach der Liebe, wobei mir mein Schätzchen so lieb geholfen hat, meine Liebste. Und mag die Liebe uns auch viel gekostet haben, vor allem meine Liebste: sie wurde uns zu unserem Schicksal, zu unserem Leben. Die Liebste war ja unsere Liebe; sie war das sehr große und einzigartige Geschenk; sie war es, die schenkte "überreich und ohne nach Verdienst zu fragen." Ja, mag auch Arete von Alkinoos geliebt worden sein wie nie sonst eine Frau auf Erden; von meinem Juttchen, das weiß ich gewiss, bin ich, einzigartig und doch ganz unverdient, geliebt worden wie wohl noch keiner der Männer auf Erden.

 

Lied der Liebe

 

Ist denn schon Heimgangs Zeit,

alles zum Gehn bereit,

gehn schon dem Ende entgegen die Zeiten?

Mütterchen, reich die Hand,

Liebste, die mich erkannt,

die du bestanden im großen Examen der Leiden.

 

Du, die mich Liebe gelehrt,

Liebste, des Lebens wert,

selbst noch durch Finsternis Gutes gesehen,

Du, die gesungen im Lied,

das zur Feier der Schöpfung erblüht,

Morgens zur Stund´ nach dem Andrang der nächtlichen Wehen.

 

Dass doch ein Schöpfer sei,

ruf ich den Herrn herbei,

der in den Garten der Schöpfung den Weg gewiesen,

dass als sein Siegel beglückt

dich an sein Herz er drückt,

all deiner Wehen befreit von den Engeln gepriesen.

 

Lilie, weiß und schön,

leuchtend auf Himmels Höhn,

elender Bürde und Ängste entladen!

Bitt dich, bei mir zu sein,

lass nicht dein Kerlchen allein!

Ave, die du bist voller Gnaden.

 

1. Im Zeichen der Liebe

Im Sommer 1963 war es zur ersten persönlichen Begegnung zwischen uns gekommen. Zwei Briefe tauschten die Bahn: ein erster aus Freiburg nach Meersburg, wo Jutta (19 Jahre) famulierte, sie hatte sich nach dem Abitur für das Studium der Medizin entschieden, und eine Antwort aus Meersburg, die mich (20 Jahre) überglücklich machte. In diesem, bei weitem schönsten, mir Liebe versprechenden, Brief meines Lebens, begann eigentlich schon das Buch unserer Liebe, wenn wir auch weiterhin noch nichts schriftlich austauschten. In diesen Brief hatte Jutta ein Zitat aus dem Kleinen Prinzen eingefügt und eingelassen, der in poetischen Bildern nicht von der Zähmung einer oder eines Widerspenstigen spricht, sondern von der wechselseitigen Zähmung der Liebenden. In den beiden nun folgenden Jahren ging nun, Gott Lob, die Beziehung nicht zu Ende, doch waren wir viel zu viel, vor allem ich, auf uns allein gestellt. Vielleicht vermag es die Frau besser, in sich zu ruhen und geduldig abzuwarten. Jutta wenigstens hatte damals immer an unserer Liebe festgehalten, auch wenn ich sie über Monate hinweg nur beim Sonntagsgottesdienst sah und auch dort ihr nicht näher kommen konnte. Ich aber brauchte Zeichen der Gegenwart, sehnte mich an die Seite einer Liebsten, meiner Liebsten, und warf ihr bisweilen gar Kälte und Gleichgültigkeit vor. Aber schon damals waren die Widerstände, vornehmlich durch das Vaterhaus meiner Liebsten alles andere als günstig für unsere Liebe. Um meiner Liebsten näher zu kommen - was für ein Unfug! -, begann ich damals, das war etwa ein Jahr vor dem Beginn dieser Aufzeichnungen im Jahr 1965 selber noch zu meinen Studienfächern Mathematik und Physik Medizin in Angriff zu nehmen. Damals famulierte dann auch ich in Meersburg, dem Städtchen der Droste, wo wir uns auch begegneten und um unsere Liebe rangen. Dabei war ich bereits in der Physik avanciert, wo ich ganz oben im Hochhaus des theoretischen Instituts ein Zimmer hatte und an meiner Staatsarbeit schrieb. Dieses Studium hab ich auch nie aufgegeben, ein Glück, so dass ich es dann später noch zu einem Professorenstühlchen brachte. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Gedichtsversuche aus "Salamis", eines "Ende August" betitelt, als hätte ich schon damals, als ich noch nicht einmal den Namen der Liebsten auszusprechen mich für befugt fand, um all das auf uns zukommende Leben und Leiden gewusst. Natürlich habe ich mir damals, zumal neben meiner Liebhaberei in Literatur, eine Überlast aufgebürdet, die ich dann nicht bewältigen konnte und die zu einigen Irritationen führte. - Ein Gutes indessen ist alledem doch nicht abzusprechen: dass fortan die Begegnung mit der Droste wie auch der Name unseres ersten Kindes in einem engen biografischen Zusammenhang stehen.

 

15.12.65

O Jutta, lass dich noch sehen heute Nacht, bevor ich mich zu Bett begebe. O Jutta, ich habe dein Herz weinen sehen; aber du musst nicht weinen. Sieh, "wir wollen uns versöhnen die Nacht, wenn wir uns herzen, sterben wir nicht." Wir wollen uns wieder verstehen, wollen uns wieder lieben, wollen wieder aneinander glauben wie in den Tagen des Sommers, heute und morgen und immer. Sieh, wir werden wieder zusammen finden. Mit welch feinem Gespür hast du nicht unseren Stern aufgespürt, den Stern des kleinen Prinzen. Es ist die Bekanntschaft mit dem Fuchs. "Si nous nous apprivoisons, nous aurons besoin l´un de l´autre. Tu serais pour moi unique au monde Je serais pour toi unique au monde.? O Jutta, verbannen wir nur allen Vorwurf aus unseren Herzen! Denn sieh: erst die Probe des Feuers bestätigt das Gold und erst das Übermaß an Glauben offenbart die Liebe.

 

24.12.65

Weihnachten zu Haus gefeiert; es war schön und gemütlich und alle haben sich gefreut; aber ich warte noch auf dich, warte noch auf Jutta. O Du, all meiner Gedanken Stern, so nah, o so nahe! Und habe das Weihnachtsgeschenk verbotenerweise schon am 23. abends aufgemacht. Allein schon, wie schön und liebevoll du es verpackt hast mit den Goldschnürchen und dem blaubesternten Weihnachtspapier! Das Büchlein an Jussuf (Jutta klingt da ein wenig mit), die zwei Gedichte und vor allem der liebe Weihnachtsgruß. Dann aber habe ich alles ganz vorsichtig und sorgfältig wieder verpackt und erst heute abend erneut geöffnet. Weihnacht 1965 hast du vorn hereingeschrieben. Wie mannigfach, wie eindeutig!

 

1.1.66

Mit viel Regen und Sturm das neue Jahr begonnen. Bin am Fenster gestanden und habe den Leuchtkugeln und den Sprühraketen nachgeschaut. Dann aber habe ich mich in Gedanken aufs Rad geschwungen und bin zu dir gefahren. Du warst im Bett gelegen. Ich hatte es geahnt, dass du noch nicht genesen sein würdest. Ich habe mich zu dir ans Bett gesetzt und dann haben wir ein wenig vorwärts gedacht; aber nicht in Worten und fest umrissenen Gedanken. Und es ist sehr leise um uns geworden; und ich habe dein Haar durch meine Hände gleiten lassen. Es war sehr weich. Du hast gelächelt. Du lächelst immer, wenn ich etwas von dir zu erfahren beginne. Der Vater hat dann das Fenster geöffnet und es hat heftig ins Zimmer geblasen und Regenspritzer hereingeweht. Uns aber war, als gingen wir durch einen taufrischen Park, wo kleine rötliche Morgenwolken einen neuen Tag verkünden.

 

13.1.66

Juttachen, wohin nur die Zeit so schnell eilt! Ich sehe dich so wenig, als fehlte mir die Kraft, recht fest an dich zu denken! Ah, es ist etwas Gewaltsames um dieses Dasein. "Eine Heimat wüsste ich uns beiden" Wohl die schönste aller Vorstellungen und allen Hoffens. Was für eine Ahnung, was für eine Vision: das Vertrauen auf eine bleibende Heimat, ohne alle Widrigkeit und Wechsel, ohne Hindernis und ohne alles Zeitmaß! Dass wir doch immer der Zukunft bedürfen, um uns der Gegenwart zu versichern! Wenn es ein wahres Glück gibt ? und darf ich nicht darauf vertrauen? -, dann ist es ohne Grenze, dann ist es überall und immer und bedarf nicht einmal mehr eines es tragenden Gedankens, weil es sich ja doch ganz sicher weiß. Wie gern ich mich doch in diesen labyrinthischen Gärten aufhalte!

 

14.1.66

Jutta, ich gehöre doch nur dir, weißt du das nicht? ? Wie sehr ich dich bewundere, wie du dich freuen kannst und jedem Ding seinen besonderen Wert geben! Ja, ich weiß, dass dir alles gehört, weil nur du es zu besitzen vermagst. Ich liebe dich.

 

16.1.66

In diese Nächte gräbt sich das Dunkel noch tiefer, hält die Kälte noch starrer ihre eisigen Finger in die Natur. Und überall herrscht grausam gespannte Stille. Ich muss immer an dich denken. Du.

 

21.1.66

Angst. Aber nur ein klein wenig. Aber du musst mir helfen! Wenn ich mir einredete, du dächtest nicht an mich, dann bliebe mir ja nur dieses Bild mit der davonfahrenden Straßenbahn. Weißt du nicht, dass du alle meine Ruhe mit dir trägst? Ja, wenn ich im Vertrauen an dich denke, dann umgibt mich eine große Ruhe. Und was soll ich denn sonst? O, all der ewigen Beweise! Ich weiß es doch.

 

***

 

23.1.66

Angst manchmal ? dann wieder Seligkeit und unendliches Glück. Welcher der mir möglichen Wege ist der mir vorherbestimmte? Die Gewissheit, bei dir zu sein, geborgen mit allen Sorgen, sich gegenseitig hinführen auf das eine große Ziel, das gemeinsame! Immer sehe ich dein Antlitz vor mir, den ernsten, forschenden, vertrauenden Blick. Wenn ich nur geboren wäre, an dir zu reifen, du an mir! Aber das alles lässt sich ja nicht in Worte fassen. Dich anschauen und vor Wonne den Blick senken müssen, erschauern vor Freude unter deiner liebkosenden Hand! Sie wird mich immer ganz sicher und fest halten. Mein Prinz!

Was für ein unverdientes Glück schenkst du mir! Ich freue mich schon auf die Faschingstage, wenn ich in deinen Armen ruhig über Tanzböden wirbeln und nur mühsam das Verlangen unterdrücken kann, mich einfach ganz fest von dir umschließen zu lassen, als gäbe es niemanden um uns her.

Weißt du, dass du meine innere Unruhe bist, die mich manchmal zwingt, ganz bewegungslos zu bleiben und den Atem anzuhalten, um dich zu erspüren durch den fernen Raum, und die mich dann wieder zwingt, bei ein paar Walzerklängen aufzuspringen und mitzutanzen, und die meine Gedanken unaufhörlich hierhin und dorthin lenkt, auf der Suche nach dir?

Jetzt muss ich schlafen. Ein Weilchen denke ich noch an dich. Ob ich dich morgen sehe?

 

***

 

24.1.66

Und habe am Morgen in der Frühe Jutta getroffen! Und dann diese liebe Überraschung! Ich glaube, wir werden einen schönen Weg gehen, weil wir uns einen schönen Weg bereiten.

 

28.1.66

Niemand wird jemals wissen, wie schön diese Woche war. Nur du und ich. O ich lasse dich gar nicht mehr los.

 

30.1.66

Jetzt ist es 23 Uhr. Ich bin schon zu Bett gegangen, kann nichts mehr lernen. Muss nur noch an dich denken und dich anschauen. Es ist etwas Unaussprechliches um dieses Wogen in der Seele. Und ich spüre, wie sich meine Seele mit der deinen anfüllt. O Juttachen! Wie stolz bin ich, dein Prinz sein zu dürfen!

 

5.2.66

Turbulenz draußen vor dem Fenster. Es muss fest geregnet haben heute Nacht. Wolkengeflecht, das im blaugrauen Horizont zerreißt. Darunter wie ein Mauerwerk starr und schwarz der Wald. Vorn nasskalte Sträucher und Äste mit ein wenig Laub noch vom alten Jahr.

Glücklicher Augenblick, wenn ich das Licht ausknipse und die Nacht zu mir ins Zimmer hereinbricht. Für diesen Augenblick habe ich meine ganze Inbrunst für dich aufgespart. Das Reich des Schlafs, wie schwerelos, wie zeitlos, wie anders geordnet! Wenn ich schlafe weiß ich mich ebenso fest bei dir, wie wenn wir ganz dicht nebeneinander sind. Ich atme bei dir, bin ganz in deiner Hut. O, ich habe ein unstillbares Verlangen nach dir. Es wird nichts planlos fallen.

 

6.2.66

Spaziergang von Ebnet aus über den Galgenberg nach St. Ottilien. Sehr schön die Formation der Nussbäume unter dem blauen Nachmittagshimmel. Die Anmut der Natur in ihrem Werden und Sein. Blick nach Littenweiler hinüber und auf die umliegenden Schwarzwaldberge. Jutta und ich. Eine Frau, die am Wegrand ihr Mittagsschläfchen macht, blickt auf, lächelt und schließt die Augen wieder. Das Leben ein Traum. Es ist warm und wir laufen leicht den Berg hinauf. Oben im Gras. Ich rede eine Menge dummes Zeug zusammen, aber du bist mir nicht böse. Jutta und ich. Und alles ist in Ordnung. Und selbst die fünfeinhalb Jahre, die wir noch warten müssen, zerrinnen wie ein einziger lustiger Tag vor unseren Augen.

 

13.2.66

Juttachen, wie gut du zu mir bist! Es ist ein Großes um Schenken und Beschenkt-Werden. Weil du so reich bist, schenkst du so viel und lässt dich auch so gerne beschenken. Goldener Überfluss, der in deinem Herzen sich bettet! Und ich sage Jutta, sage es immer wieder und kann es doch nie genug sagen! Des Abends Blau ist nicht so beruhigend wie der Blick deiner sanften Augen; und deine Stimme aber tönt mir süßer als der Hauch des Zephyr im silberblättrigen Hain; dein Mund aber ist weicher und wonniger als alle samtenen Blütenkelche in Salomons Garten; deine Lippen haften an meiner Seele. Wie reich du bist, wie schön, wie liebevoll verständig! Niemand kann so schön sprechen wie du, niemand so schön singen, niemand in der Stille so wundervolle Worte tauschen wie du.

 

19.2.66

Der Abend war wie das Spiel einer angezupften Saite zu Ende gegangen und mir war nur noch ein Zittern übrig geblieben, ohne allen Nachklang. Du weißt doch, wie sehr ich mich an dir festhalten muss. Aber auch du musst mich fest halten. Ist das Leben nicht wie eine Wendeltreppe voll unablässiger Metamorphosen? Alles Kranke wird absterben. Aber du wirst ewig leben.

 

22.2.66

Du liebst mich. Ich weiß es. Niemals hab ich Zweifel daran getragen. Nur manchmal geht etwas vorbei, das Dunkel sät. Doch es vermag nichts. Nur dass du meinetwegen Mühsal erträgst, macht mein Herz schwer. Sie wissen es ja nicht, dass es ein Geschick gibt, das sich nicht auslöschen lässt. Du lässt mich immer an deinem Herzen ruhn. Ich möchte ganz gut zu dir sein.

 

***

 

24.2.66

Zehn Minuten vor Mitternacht.

"Man darf den Blumen nicht zuhören. Man muss sie anschauen und einatmen. Ich habe das damals nicht verstehen können. Ich hätte sie nach ihrem Tun und nicht nach ihren Worten beurteilen sollen. Sie duftete und glühte für mich. Ich hätte niemals fliehen sollen. Ich hätte hinter all den armseligen Schlichen ihre Zärtlichkeit erraten sollen. Die Blumen sind so widerspruchsvoll. Aber ich war zu jung, um sie (ihn) lieben zu können. Es war eine so stolze Blume!"

Ein bisschen für dich, ein bisschen für mich, Martin! Du weißt, dass ich nur immer dich vor mir sehe. Kann ich mich verlieren? Hilf mir! Warum musst du um mich solche Schmerzen ertragen? Du sollst mich doch am Ende nicht vor lauter Warten und Qual anfangen zu hassen. O Gott, du allein kannst mein Herz lenken und ihm Festigkeit verleihen, damit es aus innerer Freiheit heraus mit seiner ganzen Glut, die du darin entfachen möchtest, den liebe, den du für mich erwählt hast. Lass mich deinen Weg finden, lass mich ihn finden!

Bin ich noch zu jung? Martin, du hast mir schon so viel Liebes geschenkt, soviel Vertrauen. Vielleicht glaubst du noch ein wenig an mich und übermittelst mir darin etwas von dir, das mir weiterhelfen kann. Du bist so lieb. Ich darf gar nichts von dir verlangen; aber du schenkst mir ja alles. Eines Tages, vielleicht, nehme ich alles an und schenke mich dir zurück. Ganz. Weil ich dann zu dir gefunden habe. Ob ich jemals dorthin komme? Lieber Martin! Deine Jutta.

Ich möchte noch nicht schlafen. Jetzt in deine Augen tauchen. Bete für mich, bitte.

 

***

 

28.2.66

Seit du fort bist, lese ich jeden Abend deinen Brief. Aber nicht, weil ich ihn nicht verstanden hätte, sondern weil ich ihn so gut zu verstehen glaube, dass ich mir fast ein wenig misstraue. Denn es gibt keinen Glauben, der nicht vom Unglauben bedroht wäre und keine Sehnsucht, die nicht an den Herzwurzeln risse und keine Liebe, die nicht von einem Stückchen Unachtsamkeit und Gleichgültigkeit vernichtet werden könnte. Oder ist es nicht gerade das Einmalige in uns, das so sehr bedroht ist, wenn es sich aussprechen muss und doch niemanden hat, sich auszusprechen? Aber ich bin sehr stolz auf dich, Jutta. Denn du lässt dein Herz nicht dahintreiben. Ich aber werde mein Herz lehren, dass es dein Herz begreift, doch freilich stets so, dass ich ihm dabei helfe, nach dir Ausschau zu halten. Glaube, Hoffnung und Liebe vergehen ja nicht, weil sie keinen Anfang haben. Es ist ein und derselbe Geist, der uns umfasst hält. Du bist Jutta, meine liebe Schwester. Wir gehören zusammen.

 

6.3.66

Ich habe solches Heimweh nach dir. Ohne dich mag ich der Natur keine Schönheit abgewinnen, nicht den Blumen und nicht den Vöglein, wenn sie sich jetzt im Mittag voller Geschäftigkeit putzen und schmücken. Was für eine Bitterkeit für den, der sein Haus alleine bewohnt! Wir müssen wohl noch weit reisen. O, ich habe solches Heimweh nach dir!

 

7.3.66

Um 22 Uhr aus dem Institut nach Hause aufgebrochen. Dabei den Mond bewundert mit seinem Doppelhof. Du hast ihn sicher auch gesehen. Vielleicht hat ein Bewohner von dort droben gelächelt, als er sah, wie sich unsere Blicke beim Hinaufschauen berührten und wir merkten es nicht. Und doch hat er längst nicht die volle Wahrheit begriffen. Ich stelle die glückliche Vermutung an, dass du meinen Brief schon bekommen hast. Juttachen. Abends, wenn ich schlafen gehe, stelle ich dein Bild neben mein Bett. Du bist mein guter Schutzengel.

 

11.3.66

Wenn ich einen Wunsch erfüllt bekäme, so wollte ich: du trügest meine Augen und ich dürfte deine Augen tragen. Immer würde ich dann meine Lider schließen. Und auch du würdest meine Augen schließen und sähst dann ganz weit hinten, im Raum des Urbilds einen Platz, der nur noch für dich da ist, wo du allein noch Platz hast und wo ich dich unermesslich liebe.

 

13.3.66

Es schneit. Ich stehe am Fenster und warte. Wie lange wohl noch?

 

14.3.66

Ich werde das Bildchen heute Abend nicht mehr anschauen; ich hab es ja auch nur geliehen. Und auch den Brief werde ich nicht mehr lesen; ich kenne jedes Wort darin; wie viele, die mich nicht einmal mehr erschüttern! Und dann schäme ich mich, dass ich angefangen habe, den Brief zu sezieren, schon auf dem Fahrrad, dann beim Nachtessen und später auf dem nächtlichen Spaziergang; dass ich den Poststempel nachgeschaut und den Klebefilz überprüft habe, den Absender, die zwei verschiedenen Schriftzüge, die einzelnen Sätze und die Wendungen in den Sätzen! Meine Schlechtigkeit stinkt nach allen Himmeln. Ich werde heute Abend nichts mehr schreiben, nur einmal noch durchs Fenster schauen nach den Plejaden.

Als ob der kleine Prinz nicht alles gewusst hätte! Aber er hat seine goldenen Locken hübsch artig vor jedem unbefugten Anschauen bewahrt. Seine Blume. Ich werde wohl rührselig und romantisch. Ich könnte ein Kinderlied singen: Wirst du heut traurig, so will ich heut lachen ?

Wenn du das liest, wirst du mich nicht mehr mögen. Ich genieße die Gegenwart mit den schwappenden Kiemen eines Schwertfisches. O wie hässlich ich bin. Ja, ich muss mich ordentlich schämen: Deinen Namen darf ich heute nicht mehr nennen, weil ich mich besudelt habe und unrein geworden bin. Vielleicht wäre es besser, du fändest den Weg weg von mir. Aber wenn ich einmal sterbe, werde ich zwei Namen brüllen und einer davon wird der letzte sein. Martin minor.

 

15.3.66

Hätte ich nur diese Einträge dem Komposthaufentagebuch einverleibt! Deiner Bitte gemäß habe ich den Brief verbrannt. Leider das "Küsschen Jutta" auch noch mit. Ich weiß auch, dass ich niemals an deiner scheinbaren Härte sterben werde. Für deinen letzten Brief, vor allem für den Schlusssatz vielen Dank.

 

18.3.66

Ich hätte dich ohne alle Grenzen geliebt. Und nun werde ich wieder vernünftig. Wie die Leute des Alltags, die Rechner und Krämer und die Einfältig-Gescheiten. Ich werde das Leben überdenken, dieses bisschen Moderdreck in einer staubigen Landschaft. Ach, dass deine Flügel abgebrochen sind, staubiger Holzwurm, dass du nun zum Kriechen verdammt bist. Das war eine merkwürdige Spezies, die du da auf deiner Odyssee kennen gelernt hast, diese unbeholfenen Zweibeiner. Du hättest wohl besser daran getan, in Scheria zu bleiben, bei den Phäaken.

 

19.3.66

Ich muss kämpfen, alle Welt stürzt auf mich ein. Ich muss ordnen. Ich muss meine Schwäche ohrfeigen. Morgens gelingt mir das am besten. Abends muss ich in einen Mastkorb klettern, um nur noch ein wenig Aussicht zu haben.

 

20.3.66

Ich bin wieder der Alte. Heute Nacht, vor dem Schlafengehen, werde ich das Bildchen wieder an mein Herz drücken.

 

1.5.66

Allen Blumen und Bäumen, allen Blüten und Blättern werde ich es sagen: Jutta liebt mich. Jedem Morgen und jedem Abend werde ich es zurufen. Und zu den Sternen in der Nacht und zu der Sonne am Tag werde ich dein Bildnis heben, dass sie es mit mir bewundern.

Für immer darf ich dich in meinem Herzen bewahren, denn du liebst mich. Du wirst mich nie im Stich lassen und ich werde dich nie im Stich lassen. Deine Sorgen wirst du mir anvertrauen und meine Sorgen werde ich dir anvertrauen. Wie lieb du bist!

 

3.5.66

Die Liebe ist deshalb so erhaben, weil sie nicht nach Verdienst austeilt, sondern aus dem Überfluss ihrer Quellen schöpft. Wenn ich dich doch nur immer recht verstände!

 

15.5.66

Ich weiß, dass ich ganz glücklich mit dir sein werde. Du bist es ja, die das Leben erst lebenswert macht.

 

19.5.66

Mit Jutta, Gisela und Pit auf der Messe. Alle waren wir recht fröhlich, besonders Jutta. Zuerst sind wir Achterbahn gefahren, dann Schiffschaukel; dann hab ich sogar mal mein Glück im Schießen versucht und hab für Jutta eine rote Rose getroffen. Ich war recht stolz, hatte mir doch Jutta zuvor gezeigt, wie ich es machen müsse. Einen Handschnitt, der uns beide festhält, brachte ich auch vom Messplatz mit nach Haus. Nur leider ist Jutta nicht ganz so glücklich getroffen. Stirne, Näschen und Augenpartie sind doch noch schöner, als es der Herr Scherenkünstler fertig gebracht hat. Dennoch freut mich das Bildchen, weil es ein Andenken ist, das uns zusammen festhält. Heute Nacht werde ich gut schlafen.

 

22.5.66

Mit Jutta über den Rosskopf hinaus Richtung Streckereck gewandert. Es war so warm, dass Jutta selbst noch in ihrem leichten Sommerkleid heiß hatte. Oben dann, auf dem Rosskopfturm haben wir Ausschau gehalten, so kühn und stolz, als gehörte uns alles das Land. Ich bin so froh mit Jutta und so soll es immer bleiben.

 

26.5.66

Auf einer Klinikerexkursion nach Karlsruhe. Wenn wir nur alles allein uns hätten anschauen können! Zumal im Gewächshaus. Wie gern hätte ich Jutta eine der großen weißen Kelchblüten der Königin der Nacht ins Haar gesteckt! Wie gut du meinen Thümos zu besänftigen verstehst! Ja, wir verstehen uns schon sehr gut. Nur dass es immer wieder unsäglich viele Mühe macht, Adieu zu sagen.

 

18.6.66

Manche sagen, das Leben sei ein Geheimnis und sie haben ja Recht. Und andere sagen, es sei Vorsehung, und sie haben wohl auch Recht. Ich aber verstehe das Leben an deinem Herzen. Alles möchte ich wegwischen, was dich bedrückt.

 

23.6.66

Wie wünsche ich mir, dass du viel lachst, auch über mich manchmal.

 

26.6.66 Oberhalb des Waldsees einen Abendspaziergang mit Jutta gemacht. Dann den Weg zum Waldsee herunter geschritten und noch eine kleine Rast im Restaurant eingelegt bei einer Tasse Kaffee. Viel Lustiges zusammen geplaudert. Nebenbei hat Jutta von der Brautpuppe erzählt, die sie als Kind so hoch schätzte. Am liebsten hätte ich heute Nacht noch mit ihr Puppen gespielt. Immerhin hab ich den Vorsatz gefasst, bei Gelegenheit ein kleines Puppenspiel zu schreiben: die verlorene Brautpuppe. Ich hab schon einen Entwurf dazu.

 

29.6.66

Jutta- Maria

Im Blauen, über engbegrenztem Saal,

hoch in des Himmels unberührtem Reich

wohnst du Marie, dem Abendsterne gleich,

der steigt herab, wenn Nacht eindringt ins Tal.

 

Geht dann der Mond mit Windes Brausen wild

Durchs Astwerk drunten am Holunderhang,

Und schreit im Schlaf ein Vogel ängstlich bang,

Du sänftigest der wirren Träume Bild.

 

Und schützend hältst du deine weiten Hände

Über uns aus, die wir im Dunkel stehn,

Und ob auch Nächte schwer vorüberwehn,

bist du der Tage Rast und gutes Ende.

 

3.7.66

Sommernachtball in der Uni

Am schönsten ist es, wo wir ganz allein für uns sind. Tanz ist gemeinsam geteilte, einigende Gegenwart, ist Aufhebung der Schwere. Wie bei den Planeten, wo du das Zentrum bist, die Sonne, und ich die Erde, die dich umkreist.

 

***

 

11.7.66

Ein sehr schönes Wochenende haben wir gehabt, Martin, du Liebster. Die Party bei Herrn Jüngst in dem kleinen Traumhaus am Wald, dazu klarer Sternenhimmel, und dann Du! Du bist so rührend und liebevoll besorgt, dass mir nur nichts zustoße, dass ich mich wohlfühle. Du bist so lieb. Immer sind wir beisammen, aber manchmal auf ganz besondere Weise, stets anders und neu.

Sonntag Abend. Spaziergang nach der Vesper oberhalb des Jägerhauses. Wie kostbar die wenigen Minuten, die wir gemeinsam haben dürfen. Immer erfüllst du mich mit einem großen Glück. Du sollst nie einsam sein; ich möchte dir immer beiseite stehen, ganz für dich da sein.

Wie viel sagst du mir in einer einfachen Geste, wenn du mich auf dem Rad vorfahren lässt, wenn du neben mir fährst und unsere Hände sich begegnen. O und mit dir tanzen! Und dir dabei immerzu in die Augen sehen, in dich hineintauchen und deinen Blick in mir ruhen spüren! Den Kopf gegen dich lehnen, deinen Atem auf mir fühlen.

Was ist Seligkeit, was Himmel, was Paradies? Aufgehoben sein in ein anderes Ich, verdichtetes Sein? Du bist mir´s Martin! Lass dich in die Arme schließen, Dir einen Kuss schenken von Deiner Jutta.

Die Margeriten von Dir strahlen mich an und flüstern mir leise deinen lieben Worte zu. Wir werden nie aufhören, miteinander zu tanzen.

 

16.7.66 Samstagabend

Eine innerlich turbulente Woche klingt friedlich aus. Du verstehst so gut, mich in meinem Unmut zu besänftigen!

Mittwoch Exkursion Singen, Radolfzell. Am Fuß des Hohentwiel ein Stündchen verbracht, für uns allein. Immerzu Deinen Atem spüren, Deine Lippen, Dich! Dein Name ist in meine rechte Hand eingeschrieben: M

Jetzt regnet es draußen ein bisschen; morgen wird es wieder schön werden; dann ist ja auch Sonntag. Du magst es gern, dem Regen zu lauschen; ich horche in die Dunkelheit.

Manchmal dürfte ich Dir nicht so viel erzählen; das bedrückt Dich und gibt Dir eine falsche Vorstellung von meinem Daheim, weil du die Harmonie am Abend nach dem Gewitter am Mittag nicht miterlebst. Warum bin ich auch gleich so niedergeschlagen und so leicht trotzig gegen Vorwürfe, die, soweit unberechtigt, an mir herunterlaufen müssten wie Wasser, soweit berechtigt aber hingenommen werden müssen? Ich will mir vornehmen, Dich nicht mehr mit solch dummen Reden zu belasten. Unser Glück bleibt ja bei allem unangetastet. Und ist uns auch von Herzen gegönnt. Darf ich Dir hier einen Kuss geben und Dich bitten, alles zu vergessen? Ich weiß, dass du das kannst. Wir werden sehr glücklich sein. Küsschen Jutta

 

17.7 Sonntagnachmittag

In einem ruhigen Stünden habe ich unsere Platte aufgelegt.

Du bist mîn, ich bin dîn

Des sollt du gewiss sîn.

Du bist beslossen

In minem Herzen,

verloren ist das Slüsselin,

nun musst du immer

drinnen sin

 

Du bist meine Lust und Freude,

du bist meine Seligkeit,

bleibst mein goldenes Herz für immer,

ja, ich liebe dich allezeit.

 

Schönster Schatz, gelt, du bist mein.

Ich bin dein, du bist mein,

ach was kann denn schöner sein.

Jetzt ist 18 Uhr. In eineinhalb Stunden Abendandacht. Dazu das Lied:

Blaubeeren leuchten im Garten so schön,

Komm Herzensfreund.

Willst du, so werden wir zwei uns dort sehn ?

 

Wie Recht hast Du gehabt, dass man nicht jahrelang unentschlossen verstreichen lassen darf. Wie reich ist jetzt jede Minute, wie kostbar! Alles Tun und Denken findet Resonanz und kommt im Geliebten zum Mitschwingen, wie zwei harmonisch aufeinander gestimmte Saiten, die in einem Klang ertönen.

Es tut mir weh, dass Du um mich so viel leiden musstest. Ich möchte Dir mit meiner Liebe alles tausendmal wieder gutmachen. Martin! Jutta

 

***

 

22.7.66

Zwei Käfer, die eben über mein Rechenblatt krabbeln, wie ich ins Zimmer trete. Ich weiß es gleich: Du hast sie hierher fliegen lassen. Nach der Deutsch-Stunde heute Nachmittag haben wir die Tierchen aufgegessen, ohne Mitleid. Nun, sie waren ja auch aus Marzipan.

 

24.7.66

Erinnerung an das Vergangene, Erwägen des Kommenden. Die Schönheit des Augenblicks, die in der Leichtigkeit des Verstehens liegt. Es ist sicher nicht gut, alles ausloten zu wollen, was auf uns lastet. Unsere Zukunft muss das Ergebnis unserer Zusammengehörigkeit sein und nicht der Kalkül eines Dritten.

Es ist sehr spät in der Nacht. Du schläfst jetzt wohl schon. Wenn ich Atem habe, dich zu lieben, möchte ich dich lieben. Wenn ich Arme habe, dich zu umfangen, möchte ich Dich umfangen. Wenn ich eine lichte Seele in mir trage, möchte ich sie Dir schenken. Liebe! Lass meine Hand auf Deine Hand legen! Lass Deine Augen stille mich ansehen. Lass Deine Haare wehen! Dann möchte ich schlafen, sanft an Deinem Haar.

 

25.7.66

Morgens mit Dir für ein Viertelstündchen im Botanischen Garten. Wir feiern Jahrestag. Am Abend fahren wir zusammen nach Haus. Liebes Juttchen, wie sehr ich mich immer freue auf Dich! Wenn ich mich nur noch besser in die Gewalt bekomme.

 

31.7.66

Große Wanderung mit Jutta, Inge und Gisela. Vom Bärental aus über den Feldberg das Zastlertal hinab und dann über Oberried nach Kirchzarten. Dazwischen eine Vesperpause mit einem kleinen Wurstfeuer. Am Abend sind wir alle fußmüde. Die Beine sind bleischwer geworden. Zum Schluss noch eine kleine Kaffeepause. Alles war heiter und entspannt, auch noch der Abschied.

 

3.8.66

Heute zur Beerensuche mit den Rädern zum Toten Mann. Wolfgang darf mit uns; er ist überaus ausgelassen, so dass er um ein Haar einmal gegen eine Mauer rast, ein anderes Mal in ein Auto. Der "Luxushahn" weiß auch ein Liedchen von ihm zu singen. Aber wir finden dort droben nicht genug. Zum Glück wartet vor Kirchzarten noch ein Brombeergestrüpp mit vielen reifen Beeren auf uns und die Ehre ist gerettet. Wolfgang, unserem Bewacher, schlagen wir ein Schnippchen. Da müssen wir beide lachen.

 

5.8.66

Es ist spät in der Nacht. Ein Uhr. Heute Abend habe ich Dich nicht mehr angetroffen. Wie schade. Nun werde ich warten müssen bis 9.30 Uhr. Aber ich bin immer bei Dir. Jutta, meine liebe Jutta.

 

10.8.66

Morgen Abend möchte ich mit Dir über den Hirzberg zum Kanonenplatz spazieren. Anschließend in den Goldenen Engel und dann mit der Straßenbahn nach Hause.

 

14.8.66

Ich muss noch einmal das Licht anmachen, bevor ich nun wirklich mich Schlafen lege. Ich möchte Dir nämlich morgen das Buch geben, damit Du es hast, solange ich weg bin. Und nun drängt es mich, noch etwas Schönes hereinzuschreiben. Ich weiß nur, dass Du nicht traurig sein sollst, wenn ich weggehe (mit einer Jugendgruppe der Kirchengemeinde, wo auch Jutta eine Gruppe betreut, in die Davoser Alpen). Ich bin ja bald wieder zurück. O Du, wenn wir erst einmal ganz für uns in Ferien gehen!

 

Kleine Wanderung vom Schauinsland über das Rappeneck nach Kappel. Wie wir mit dem Schwebebähnchen zum Schauinsland hochschweben, sind noch viele Nebel und Wolken um uns. Dann aber wird das Wetter prächtig. Vom Rappeneck haben wir einen weiten Ausblick auf die im Süden gelegenen Berge des Schwarzwalds. Vorhin sind wir nun in Kappel angekommen, ein wenig müde, dafür aber sehr durstig. ?

***(hier schreibt Jutta weiter)

Aber eine Apfelsaftschorle weckt unsere Lebensgeister wieder aufs Neue und wir haben noch ein paar schöne gemeinsame Stunden vor uns. Martin, du fährst weg für 14 Tage, aber wir sind dennoch beisammen; du bist ja mein Prinz. Dein bin ich immer, ganz Deine Jutta

 

15.8.66

Jetzt ist 14 Uhr mittags. Heute morgen 9.29 Uhr bist du abgefahren. Bei meinen Messungen schaue ich auf die Uhr: Punkt ½ 10 Uhr. Vom Himmel gießt es Tränen herab, aber Du kommst ja bald wieder; gegen Mittag wird es auch schon heller. Ihr sollt ja eine schöne Fahrt haben und euch gut erholen. Für die Zeit, in der Du nicht da bist, hast Du mir Deine Gedichte dagelassen. Ich werde jetzt eines lesen und Dich ganz nah wissen. Martin, Geliebter!

Halb elf abends; soeben ins Bett gestiegen. Ob Du schon schläfst nach dem anstrengenden Tag? Hoffentlich seid ihr nicht zu nass geworden. Morgen soll es wieder schön sein.

Heute morgen bin ich übrigens haargenau auf den einzigen Pfosten aufgefahren, der in der Umgebung stand, während ich Dir nachsah, ganz zielsicher. Jetzt habe ich eine kleine Schramme am Fuß, zum Zeichen, dass ich ein bisschen traurig bin, solange Du so weit weg bist. Warum habe ich mir kein Haar von Dir schenken lassen. Martin, ich habe Dich ganz lieb. Ich sende Dir ein ganz herzliches Küsschen. Deine Jutta. Mich jetzt anschmiegen an Deine Brust und sanft in Deinen liebenden Armen einschlummern.

 

16./17.8.66

Zehn nach zwölf. Ob ihr gut angekommen seid? Martin, ich sehe Dich immer vor und bei mir. Da kommt man über den dümmsten Ärger hinweg. Jetzt darf ich ein Gedicht von Dir lesen; sicher spricht es aus Deinem tiefsten Herzen. Gute Nacht dann, und träume etwas Schönes von uns beiden. Küsschen Jutta.

 

17.8.66

½ 12. Heute geht?s früh zu Bett. Mein lieber Martin! Zuerst bekommst Du einen ganz lieben Kuss!

Wie reich ich bin, ich muss nie mehr allein sein. Dein lieber Brief, als ich heute Mittag abgehetzt nach Hause kam. Schade, dass ihr so nass geworden seid, aber gewiss wird es jetzt schöner werden.

Ich muss auch immerzu an Dich denken, und ich kann mir gar nichts mehr vorstellen ohne eine Verbindung oder einen Zusammenhang mit Dir. Ich glaube, wir haben uns einen sehr schönen gemeinsamen Bereich gebildet, in dem wir uns leben, so dass nichts geschehen kann völlig losgelöst vom andern. Ich bin so unendlich froh um Dich, der Sonntag war so heiter und Du bist so wunderbar schön, lieb, zärtlich. Ich bin so stolz auf Dich. Du erschließt mir mit Deinen Gedanken, was hinter den Äußerlichkeiten verborgen liegt. O Martin, jetzt auf Dich langsam zugehen ? aber ich müsste ja fliegen, so wie wenn ich Dir den Berg hinunter in die Arme laufe. Ich möchte Dich immer sehr glücklich machen.

 

21.8.66

Sonntagabend

Geliebter, heute hatte ich solche Sehnsucht nach Dir. Ich war ein bisschen traurig; aber das darf ich nicht sein; es soll Dir in den Bergen ja gut gehen. Und bald bist Du wieder ganz zurück. Ich möchte Dich immer ganz lieb haben. Hand in Hand mit Dir Berge erklimmen. O Martin, mein Prinz, ich möchte den Kopf an Deiner Schulter bergen, von Deinen Armen umfangen werden, ganz sacht.

 

22.8.66

Ob Du meinen Brief erhalten hast? Dann hältst Du ihn vielleicht gerade in den Händen. Was für eine Bedeutung kann doch ein einfaches Stück Papier bekommen! Aber auch ohne Brief weißt Du ganz fest, dass ich immer an Dich denke, solange ich Gedanken habe. Und dass ich zu Dir gehöre, Martin.

 

25.8.66

Noch zwei Tage bis Samstag, bis 5 Uhr noch 42 Stunden. Heute seid ihr sicher wieder tüchtig geklettert; man darf es sich nur nicht zu genau vorstellen. Aber Du wirst heil zurückkommen, mein lieber, wettertrotzender, felsenbezwingender, Alpen besiegender, stolzer Lausbub! Lieber Martin, Du bekommst einen ganz festen Gutenachtkuss.

 

26.8.66

Ein feuriger Ball taucht die Sonne unter den Horizont. Er grüßt mich auf der Heimfahrt und kündet Dein nahes Kommen großartig an. Dann blickt der erste Stern ? der erste seitdem Du weg bist. Der Himmel klar, weit und breit kein Wölkchen ? heitere Stimmung. Noch 16 Stunden, dann darf ich Deine Augen wiedersehen, meine Hände in Deine legen.

 

27.8.66

Du bist wieder da, Martin. Du mein Lieber!

 

2. Irritationen

Nun aber kamen schwere Zeiten auf uns zu. Einmal die dumme Prüfung in Zoologie, für die ich natürlich nicht viel getan hatte. Hatte mich da, der Ökonomie der mir zur Verfügung stehenden Zeit mich anpassend, aufs Grundsätzliche, das tierliche Leben betreffend, beschränkt und mich nicht darauf spezialisiert, mir die 1000 Klassen von Schnecken und sonstigem Krust und Wust ins Gehirn zu stopfen. Was für eine Überforderung für mein Mädchen, was für eine Zerreißprobe für unsere Liebe, wenn ich in jenen Tagen überarbeitet erschien, unausgeglichen, unbeherrscht und unsicher. Und dann der Misserfolg! Und mit allem dem überschüttete ich auch noch mein Mädchen! Wie viele Anklagen, wie viele ungerechtfertigte ohnmächtige und böse Vorwürfe hab ich da nicht losgelassen auf mein Mädchen. Aber sie hat, wie jene Priesterin des Osiris, nie geklagt, hat nie sich beklagt über meine Gemeinheit! Hinzu kam ein immer stärker im Hintergrund anwachsender Widerstand meines künftigen Schwiegerpapas. Er musste von mir überhaupt nichts wissen und wusste auch nichts von mir. Ihm genügte, zu wissen, dass es mich nicht geben durfte oder doch, dass ich in seinem Umkreis, und dazu gehörte Jutta, nicht das Geringste zu suchen hatte. Es war sein liebes Kind und Töchterchen, sein eigen, das er, wie schon Euripides den Agamemnon in der aulischen Iphigenie sagen lässt, "mühevoll erzog." Irritationen waren die Folge, das Wachstum und das Leben der Liebe erschien immer mehr im Licht roter Ampeln. Preis meinem Mädchen, das mich nie aufgab. Sie verfügte nicht über das Wissen, wie Schückings spätere Frau nach einem Brief der Droste vom 23.4.1845, dass sie so beneidenswert schön und talentvoll war, sie hielt sich zurück und machte sich klein; sie glaubte an mich und sie glaubte an unsere Liebe auch in den düstersten Stunden; und sie war immerfort bereit, wann es von ihr verlangt würde, auch "zum Gletscher ernster Treue" zu steigen.

 

1.9.66

Trauriger Abend. Die Gewohnheit macht den schönsten Palast zu einem Gefängnis. Warum nehmen wir Rücksicht darauf? Wahrlich, es ist eine große Aufgabe und aller Mühe wert, die Sinne so zu üben, dass sie nie den alltäglichen Reizen erliegen; um wie viel mehr noch, dass wir uns immer das gelten, was wir doch füreinander sind. Ein Geheimnis wahren kann man doch nur, wenn man seinen Inhalt nie in Zweifel zieht. Und so unser Geheimnis. O Jutta: selbst das Widersprüchlichste vermag den Kern nicht zu treffen, dass ich immer Dir gehöre.

Ich werde noch etwas in Grillparzers Hero und Leander lesen, dann nochmals ganz fest an Dich denken und einschlafen. Es ist jetzt 2 Uhr.

 

4.9.66

Jutta, welches Glück, mit Dir glücklich sein zu dürfen!

Nachmittags zum Neubau marschiert. Wolfgang war auch dabei. Alles ist schon bald fertig. Es ist schön, ein neues Haus zu beziehen. Man muss nur recht vorsichtig sein, dass einem nicht nur das Haus gehört, sondern dass man auch dem Haus und zum Haus gehört

 

8.9.66

Liebe, Schönheit, Glaube: wie bilden wir solche Begriffe? Nicht etwa aufgrund unserer menschlichen Erfahrung? Ich habe sie in Dir erfahren. Dass sie mir doch immer in Dir erhalten bleiben!

 

10.9.66

Wieder ganz froh.

 

11.9.66

Heute die schöne Wanderung gemacht vom Wilhelmstal aus. Nur der Aufstieg war etwas beschwerlich; alpin, über Stock und Stein, an alten wuchtigen Felsblöcken vorbei; dann durch ein Farnfeld. Oben war heiße Sonne.

 

15.9.66

Kurzer Nachmittagsspaziergang mit drei Gedichten von Rilke. Dann beim Kaffee mit Inge zusammen im Sternenatlas geblättert. Vielleicht, dass wir bald einmal abends auf der Franzosenschanze anhand des Buchs die einzelnen Sternbilder verfolgen. Heute Morgen kurzes Zusammensein am Deicheleweiher. Mittags etwas wissenschaftlich gearbeitet. Abends Aischylos: die Schutzflehenden. Draußen viel Regen.

Ein schöner Satz, den ich in den Briefen van Goghs gefunden habe. Es ist die Inschrift auf einer alten Grabstele in Carpentras: Thebe, Tochter der Thelni, Priesterin des Osiris, die sich nie über jemanden beklagt hat.

 

17.9.66

Vielleicht hätten wir es doch anders einrichten sollen. Du hättest den Blumenstrauß nicht bei bedecktem Himmel ans Fenster stellen sollen, wie wir verabredet haben, sondern bei heiterem Himmel. So habe ich ganz verwundert die armen selbstlosen Blumen in der Vase angeschaut. Das Stündchen haben wir aber dann dennoch gemütlich zugebracht.

 

19.9.66

Nach dem Abendessen trat ich aus dem Haus, um noch einen kleinen Spaziergang zu machen. Die kleinen Brüder spielten im Garten an einem Herbstfeuer, das ihnen der Vater entzündet hatte. Wie ich zu ihnen hinunterschaute, sah ich den Abendhimmel durch die Rauchwolken hindurch in allerlei Nuancen. Mir zur Seite die Rosenhecken, die immer noch reiche Blütenzweige treiben. Ich dachte daran, Dir ein paar abzuschneiden, da Du sie so gerne hast und ich Dir schon lange keine mehr gebracht habe. Dann erwog ich, Dir heute Nacht ein paar Zweige auf den Fenstersims zu legen. Ja und dann hatte ich Dein Briefchen im Briefkasten entdeckt, wo sich dieser Gedanke so lustig mit dem Deinen überschnitt, Dir mittels eines Briefchens auf den Sims Mitteilung zu machen. Nun bin ich glücklich, beides verbinden zu können: dass ich mich freue, morgen mit Dir zum Schluchsee zu fahren und heute Dir noch einen Rosenzweig zu bringen. Ich wollte, Eichendorff könnte mir zuschauen, wie ich heute Nacht noch alles ganz heimlich, so recht wie ein Liebesdieb, ausführe.

 

22.9.66

Liebe ist Unendlichkeitsglaube.

 

23.9.66

Der Glanz der Schönheit wird bewahrt durch ihr Fern-Sein vom Trubel der Welt; die Schönheit der Liebe durch ihr Unbekümmert-Sein von den Meinungen des Tages. Soll das, was Hofmannsthal in der Erzählung Lucidor über die Frau sagt, allgemeine Gültigkeit haben: dass "für den, der liebt, die Frau, die er liebt, immer ein unberechenbares Wesen ist"? Weil sie ihm nicht restlos zugehören will, weil sie gegenüber jedem anderen in gleicher, weiblich freundschaftlicher Weise auftreten möchte; weil sie keinen andauernden Einfluss, der von einem festen Partner käme, verspüren möchte, weil sie sich nicht in die Lage eines Liebhabers versetzen kann! ? Wie töricht das alles.

 

Die beiden Bildchen, die Du mir gegeben hast, habe ich nebeneinander gehalten, wusste aber nicht, welchem ich den Vorzug geben sollte: dieses, als Du ein 14jähriges Mädchen warst oder das, welches du mir jetzt geschenkt hast. Beide blicken mich so lieb an und in beiden erkenne ich meine liebe Jutta. Ich freue mich schon auf morgen früh. Wenn uns das gelingt, uns vor der Welt zu verschließen, dann bin ich mir sicher, dass wir sehr glücklich sein werden.

"Selig, wer sich vor der Welt

Ohne Hass verschließt.

Einen Freund am Busen hält

und mit dem genießt,

was von Menschen nicht gewusst

oder nicht bedacht

durch das Labyrinth der Brust

wandelt durch die Nacht."

Schlaf gut! Ich bin ganz bei Dir!

 

29.9.66

Zwischen Ironie und Ernst liegt oft nur eine hauchdünne Wand. Heiterkeit wäre vielleicht eine bessere Weise, sich verständlich zu machen. Aber dann dürfte es keine Probleme geben in unserer Brust. Oder, wenn schon Probleme, dann ein ruhiges längeres Verweilen-Können bei ihnen. Aber die Zeit drängt uns den Wechsel auf. Die Zeit macht, dass wir nicht genug Zeit haben. Es scheint kein gemeinsames Maß zu geben für ein Verstehen von tieferen Problemen und der Zeit.

 

30.9.66

Heute Nachmittag ein wenig bei Dir. Dann, abends, noch etwas im Divan gelesen.

 

3.10.66

Sehr warmer Tag. Mittags in der alten Wohnung mit Gisela zusammen Kaffee getrunken, heiter, ja fast ein wenig übermütig.

 

6.10.66

Sehr lustig gestern die Begegnung auf der Straße. Wie schnell der Weg an der Dreisam bei unserer fröhlichen Unterhaltung zurückgelegt war!

 

8.10.66

Wie wir alles und jedes weggeben, uns selbst berauben, um ganz arm geworden uns alles neu schenken zu lassen. Jeder Zuflucht, jedes noch so geheimen Herzenswinkels muss da entsagt werden, um mit einer Leidenschaft sondergleichen und gänzlich verlassen alles auf den einen Augenblick hin auszurichten. Aber das ist nicht gut. Man darf nicht alles aufs Spiel setzen. Alles verzerrt sich einem, was man doch an Beständigem, Tragendem, Konstantem braucht. Ich möchte Dir nie weh tun.

 

9.10.66

Heute Sonnabend kleiner Bummel durch die Stadt. Der Zufall will es, dass wir Deine Eltern, Papa und Mutti Schlickewei bei Oberlinden antreffen. Natürlich wussten wir, dass sie gleichfalls in der Stadt sind. Aber die Wahrscheinlichkeit, sich zu begegnen, war doch eigentlich denkbar gering. Nun denn. Die Situation war bemerkenswert: Wir, kaum dass wir sie wahrnehmen, gehen Hand in Hand auf sie zu. Ich, nicht ohne großen Respekt, begrüße sogleich ehrerbietig und zuallererst das Familienoberhaupt, das erste Mal, ehe ich dann auch seiner Frau meinen schuldigen Respekt übermittle, was mir sogleich als faux pas zum Bewusstsein kommt. Herr S. mit bemerkenswertem Schmunzeln hinter seinem Zwicker meistert die Situation. Mutti erzählt dann noch etwas von einem roten Kleid, das sie sich in einer modischen Auslage angesehen haben, worauf Papa die Wirkung desselben sachverständig mit dem dort benachbarten roten Ampellicht vergleicht. Besonders muss mich wohl sein großes wuchtiges Haupt fasziniert haben, das, von wenig Haaren umstanden, etwas nach hinten ansteigt. Der Abend war dann übrigens noch sehr gemütlich zugebracht, in einem hübschen Lokal, bei einer Portion Kaffee und Schokolade, wobei wir feststellten, dass wir uns noch viel häufiger treffen müssten, um uns alles zu erzählen, was wir füreinander an Erzählenswertem haben.

 

10.10.66

In den letzten Tagen viel zu oft vom schmerzlichen Verlangen gequält, dich zu sehen. Nicht weil ich beunruhigt wäre, du bist ja so gut zu mir, sondern weil ich dich vermisse, da Du so gut zu mir bist. Ich muss mich aber unbedingt zurechtrücken. Ich darf Dich nicht belästigen, Dir nicht mit meiner Müdigkeit zur Last fallen. Vielleicht bin ich aber auch ein wenig überarbeitet.

 

11.10.66

Jutta, mein Schatz, wenn ich Dich nicht hätte! Ich schreibe auf dieses Papier, wie wenn ich auf Deine Hand schreibe. Ich muss schön sanft schreiben, damit es Dir nicht wehe tut.

 

12.10.66

Heute Abend ist Dein lieber Brief zu mir gekommen. Was uns nur manchmal bedrückt, ohne dass es etwas Spezielles wäre! Es ist wie ein steiler Berg, der sich uns in die Aussicht stellt und uns den Blick in die Ferne verbaut.

 

***

 

13.10.66

Martin! Heute Morgen ein kurzer Besuch im Institut, dann gemeinsam das Rad nach Hause geschoben. Du bist völlig überlastet und überfordert und darum etwas unwillig wegen all dem, was vor Dir liegt. Morgen Prüfung in Zoologie. Ich etwas ratlos und bestürzt, wie ich Dich wohl beruhigen soll. Nachmittags um 15 Uhr schaue ich bei Dir vorbei. Du bist wieder gefasst und wirst alles schon gut vorüberbringen. Die Postkarten hast Du hübsch über dem Bett angeordnet. Dann noch ein kleiner Spaziergang bei dem herrlichen Herbsttag oberhalb vom Waldsee. Ich war nicht ganz gelöst, eher noch etwas benommen von heute Morgen her. Hoffentlich bedrückt es Dich nicht. Aber Du machst es mir wirklich nicht immer ganz einfach. Ich muss noch viel für Dich lernen, vor allem, wie ich Dir helfen kann. Bald sollst Du Dich gut für Morgen ausschlafen und munter zu dieser Zoologieprüfung gehen. Ich denke ganz fest an Dich.

 

15.10.66

O Martin! Weißt Du nicht, dass ich immer auf Dich warte? Spürst Du nicht meinen Herzschlag zwischen dem Deinen? Was besagt ein Lächeln als harmlose Maske der Welt gegenüber aufgesetzt? Dass Du mich so sehen kannst! Warum zerstören wir immer wieder? Um besser und tiefer und echter zu beginnen? Mitnichten. Zumindest ist das um Vieles schwerer als das Bestehende zu bestärken. O, mein Prinz, vielleicht versteht man die Blumen nie ganz, weil sie zu bunt sind oder weil sie zu einfach sind. Aber du hast es begonnen, mich zu zähmen. Martin. Du willst doch nicht zerstören; wenn Du das aber zu oft betonst, zu oft Rückversicherung suchst ? o ich habe mich vielleicht manchmal noch zu sehr verschlossen. Aber ich weiß gar nicht, wie anders ich mich öffnen kann.

 

16.10.66

Sonntagmorgen.

Ich bin in der Kirche an Dir vorüber gegangen, ohne Dich zu erkennen? Wahrscheinlich hatten wir, jeder in der Bank für sich, ganz ähnliche Empfindungen. Warum kommt der andere nicht?

Heute ist Beginn der Herbstmesse. Auf der Frühjahrsmesse hast Du mir die erste rote Rose geschossen. Seit dem hast Du mir schon so oft Rosen geschenkt. Du, mein Rosenkavalier.

Du lieber Engel, lass Dich umarmen und küssen und bleib immer bei mir. Und wir wollen uns auch nie mehr verwirren. Am Abend holst Du mich ab zur Andacht. Wie wunderbar Du bist, mein Prinz! Du möchtest immer bei mir, ich darf immer bei Dir sein.

 

17.10.66

Lieber Martin! Nur ein kleiner Gruß, so wie heute Morgen das kurze Treffen in der Poliklinik und heute Mittag im physikalischen Hochhaus. Wie reich wir sind! Ich hab Dich so lieb, mein Prinz.

 

18.10.66

Bin so spät gekommen. Du hast gewartet und kamst mir etwas abgespannt auf der Treppe entgegen. Auch ich war ein bisschen durcheinander. Nachher noch ein paar schöne Minuten im Hochhaus in Deinem Zimmer. Abends um neun noch mit Wolfgang auf den Messplatz gegangen. Wir treffen uns auf dem Weg, essen Mohrenköpfe, fahren Kettenkarussell und begegnen am Schluss auch noch Vinzenz.

Ich weiß nicht warum, aber manchmal legt sich etwas so Drückendes auf meine Seele, wie wohl alles werden wird mit uns. Manchmal könnte ich dann völlig mutlos werden; aber dazu besteht ja kein Grund. Und Du wirst mir ja schon helfen und zu mir halten; und ich möchte versuchen, Dir eine gute Gefährtin zu werden. Immer. Und dann wird alles gut werden. Schlafe gut in dieser Nacht; vielleicht träumst Du etwas Schönes von uns.

 

20.10.66

Lieber Martin! Gestern ein Tässchen Mocca zusammen getrunken und ein Weilchen geplaudert. Du hast mir wunderschöne Röschen mitgebracht. Wie zart Du bist, wie gut und stark. Was für ein strahlender Sonnentag heute ist! Ich erwarte Dich auf dem Weg zum Institut und entführe Dich zum Deicheleweiher, wo wir den herrlichen Tag beginnen und sehr glücklich sind. Du bekommst einen ganz herzlichen Kuss. O du bist so lieb, du Lausbub als Rosenkavalier, mal im Scherz, dann sehr ernst. Ich möchte Dir immer Ruhe und Freude bringen, wenn Du zu mir kommst.

 

23.10.66

Mein Prinz.

Ich möchte nur eines:

Dir eine Rose schenken

Jutta

 

***

 

24.10.66

Wie gut, dass ich wenigstens Dein Bildchen habe. Nicht zum Anschauen. Ich sehe so schön tief drinnen in mir, schöner als es jede poetische Form vermöchte, schöner als jeder noch so gute Spiegel dich mir zeigen könnte. Ich brauche das Bildchen, weil ich etwas brauche, das ich in der Hand haben kann und an dem ich mich festhalte, etwas zur Besänftigung meiner Sinne, um Dich zu streicheln und zu küssen, weil alles sich dir entgegenstreckt, weil ich so unendliches Verlangen nach Dir habe. Du bist so lieb. Du meine Rose, meine Jutta.

 

25.10.66

Nach den drei Tagen in Wyhlen, wo wir so schön beisammen waren, nun dieser Sonntag, dieser verfluchte Sonntag. Ach es ist grausam, wenn man merkt, wie man selbst zu liebenden Gedanken unfähig wird. Wenn ich nur in Wyhlen gestorben wäre. Alles ist so sinnlos unter des Tyrannen Pfeife.

"Warte nur Laios, warte nur, alter Tyrann!" Da wird die Erde wieder wüst und leer wie vor dem Anbeginn. Ich gebe ja zu, dass Du nicht anders kannst, vielleicht auch nicht anders sollst, wenn es auch überaus lächerlich ist, dass ich Dich nicht mehr abholen soll, weil Du ja "auch allein die Hansjakobstraße unter der Beleuchtung gehen kannst." Alles klingt so grotesk. Sag doch, dass er gesagt hat, er wolle mich nicht mehr im Haus sehen. Müssen wir also die Tage und Wochen wieder so durchschleichen, wie früher, als wir uns noch nicht kannten, nur, weil es ihm so gut dünkt, diesem Tyrannen?

 

1.11.66

Am Abend auf dem Sofa ein knappes Stündchen gemütlich beisammen. Vorher etwas Klaviermusik von Beethoven von Dir gespielt. Später noch ein Spaziergängchen durchs Kalte, träumen dabei von Glühwein und ein paar schönen Stunden allein im Zimmer und sind ganz vergnügt dabei, auch wenn sich nichts davon durchführen lässt. O es muss Unendlichkeiten geben, damit wir immer zusammen glücklich sein können. - Jetzt freue ich mich aufs Schlafen. Du bist ja immer bei mir. Jetzt aber ganz besonders.

 

9.11.66

Jetzt bin ich wieder ganz ruhig. Morgen werde ich dich schon ganz früh am Friedrich-Ebert-Platz treffen. Darauf freue ich mich.

Ein gutes Nacht-Küssle von mir. Ich würde Dir ja zu gern ein wenig beim Packen helfen. Aber es soll wohl so sein, dass ich Dich nur aus der Ferne sehe und ich die leblosen Dinge um die Gunst beneide, von dir berührt und angefasst und liebevoll verpackt zu werden, ähnlich wie es Probstein in "Wie es euch gefällt" (II.4) sagt.

 

11.11.66

Aber das ist nicht lustig, von sich selber so gehalten werden. Wenn ich kein Feigling wäre, würde ich reiß-aus nehmen, als Vagabund nach Afrika oder als Kohlentrimmer nach Südamerika oder nach Alaska, um mit den Wölfen zu heulen.

Ja, wenn ich meiner Seele schmutziges Kleid wasche, dann sehe ich auch, was meine Liebe ist: ein Vulkan, der erlischt, weil ich mich nicht getraue, in ihn hineinzuspringen; ein unendlicher Hunger, den ich nicht zu verzehren vermag; ein sinkendes Schiff, das steuerlos unter einem grauen Atlantikhimmel dahintreibt; ein kleines Kind, dessen sich keiner annimmt; ein Schrei, dem ich nacheile, ohne je ein Echo zu erlangen; ein erschlaffendes Herz unter ewigen Frösten.

Ich brauche Dich zehnfach, hundertfach; nichts sonst in der Welt, was ich so brauche, wonach ich mich so sehne, was ich so nötig habe, so vermisse. Immer denke ich an Dich. Aber Du brauchst mich nur zur Hälfte, mit dem Blick auf die Uhr, auf den Möbelwagen, auf der Erde Kleinkram und Geschmeiß. Aber wenn Du bei mir bist, die spärlichen drei Minuten am Tag, denkst Du schon weiter. Du bist gerne bei mir, wärest gerne bei mir, wenn Du nur Zeit hättest. Dann stehe ich da und die Straßenbahn trägt Dich wieder fort. Du lächelst und ich lächle und winke Dir nach, um dann gleich aufzuweinen, wenn Du verschwunden bist. Eva-Maria: wer ist das? Muss sie immer bei mir die Ersatzstelle ennehmen, bis Du einmal richtig zu mir gefunden hast?

Alles habe ich weggegeben, um nur noch bei Dir zu sein. Aber ich kann ja gar nicht zu Dir, weil Du Dich mir nicht entgegenstreckst; weil ich im Dunkel an der Laterne warten muss, um dann gleich wieder zu gehen. Alles habe ich weggegeben, um so jetzt ganz allein zu sein. Ja, jede Tasse, die Du spülst, beneide ich, und möchte sie, eifersüchtig, wie ich bin, da sie Dich so ruhig und selbstverständlich zu fordern versteht, unter meinem Fuß zertreten. Mir bleibt nur übrig, mich, wenn es dunkelt, in den Wald zu werfen, um mich dort in der Nacht wieder aufzusammeln; mich ins Institut zu werfen, um mich mit Arbeit zu überhäufen und zu betäuben; und mich schließlich todmüde ins Bett zu werfen. Mich verstehen aber heißt doch, mir Zeichen zu geben und nicht mich meinem Gutdünken zu überlassen. Ach dass wir so viel aneinander leiden, statt glücklich zu sein!

 

12.11.67

Doch verzeih mir, Jutta. Ich bitte Dich darum. Du kannst ja nicht wissen, wie sehr ich Dich brauche. Zutiefst müssen wir wohl allein mit uns selber fertig werden.

Die Mauern draußen vor dem Haus,

Im alten Laub des Herbstgewindes

Das lange Rascheln eines Windes,

 

vielleicht wirft er noch Träume aus,

die leichten Träume noch hinaus,

die bilderbunten eines Kindes.

 

vielleicht schon Hindernisse, Enge.

Unwegsam ist das Land, Gedränge

Von allem, was zur Erde fällt.

 

Hernieder bricht ein dumpfes Heute.

Die Nacht braucht lang wie eine Meute

Von Hunden, die ein Tier umstellt.

 

3. Zeit der Erprobungen

Damals standen wir mitten drin und konnten ja nicht wissen, was uns alles noch widerfahren und wie sich unsere Wege weiter gestalten sollten. Erst im nachhinein, jetzt, wo alles wie ein offenes Buch vor uns liegt und man alles überschaut, kann man sagen, dass uns eine Zeit der Reife bevorstand. Vor allem mir - und meinem Schätzchen dadurch, dass sie sich auf mich, ihren Lausbub und Prinzen eingelassen hatte. Ich schäme mich, wenn ich sehe, wie wenig ich damals der großen Liebe entsprach. Denn die Liebe glaubt ja doch alles, duldet alles, entschuldigt alles. Dabei hätte ich doch wissen müssen, dass sie auch mit den Eltern zu Hause zurecht kommen musste. ... Ja, solch ein Lehrstoff war damals noch zu hoch für mich. Mein Mädchen aber, meine Liebste, meilenweit mir voraus, glaubte unerschütterlich an uns und nahm alles für uns auf sich; sie hatte sich für unsere gemeinsame Liebe entschieden und sie hatte sich auch dafür entschieden, den Preis zu entrichten.

 

13.11.66

Mittags beisammen. An Deinem Herzen. Ein solches Glück ist unsagbar. Aller Schmerz dagegen ist nur ein Kleines und ist nicht der Erwähnung wert. Nur am Abend, als ich nach Haus fuhr, und ich Deinen Vater hörte, wie er laut vernehmlich durch den Gang sagte, für so etwas habe er kein Verständnis, war mir weh ums Herz. Meine Jutta, meine Königin, schlafe gut heute Nacht. Dein Prinz ist bei Dir!

 

14.11.66

Lass mich Dein Kind sein, Jutta!

 

15.11.66

Über Mittag oben im Hochhaus. Kaffee getrunken. Jetzt brauchen wir nur noch ein Paar Tässchen mit Zubehör. Dann haben wir schon eine kleine Küchenausrüstung beisammen. Schade, dass Du schon ½ 4 Uhr gehen musstest. Es war so gemütlich im Zimmer, wo wir beide einträchtig beisammen saßen und studierten. Leider habe ich das Bild noch nicht vergrößert erhalten; sonst hätte ich es schon heute Abend zu mir gestellt. So muss ich eben noch bis Freitag warten. Sei vielmals gegrüßt von mir.

 

19.11.66 Sonntag

Schade, dass wir heute Mittag nicht beisammen sein können. Wie notwendig es doch für uns ist, beieinander zu sein.

19.30 Uhr

Es war mir unmöglich, mich noch länger anzuhalten und da hab mich nun doch kurz entschlossen zum Rad gestürzt und mich drauf geschwungen und bin in die Eggstraße gefahren. Ungeschickt war nur, dass Papa noch zu Hause war. Zur Vorsicht hatte ich zwar zuerst noch an Dein Fenster geklopft, doch war es Mama nicht entgangen. Endlich, als Papa zum Kirchgang aufgebrochen und verschwunden war, Mutti hatte mir nur noch eine kleine Philippika unter der Haustüre zu halten, öffneten sich mir die Tore und wir saßen gemütlich in Deinem Zimmer. Alsbald dann gab es Abendbrot. Wolfgang, der gern ein paar Faxen macht, und Gisela und Mutti saßen schon am Tisch. Uns freilich hätte die Liebe satt genug gemacht; doch Mutti fand es wohl besser, "die Herrschaften" zu Tisch zu bitten. Da waren wir besser aufgehoben. Lustig war es aber auch dort. Schließlich bin ich um 21 Uhr wieder gegangen. Papa war noch immer in der Maria-Hilf-Kirche beim Pfarrer Hausch. Schade, dass der Gottesdienst dort so schnell herum ist. Aber Pfarrer Hausch ist schwerhörig; und vermutlich übersieht er auch der Gemeindesünder sämtliche Sünden.

 

26.11.66

Morgen Sonntag. Es wird schön werden. Heute Abend hol ich noch aus dem Möslepark ein paar Zweige für Dich.

 

29.11.66

Am Abend beim Möbeltransport von der Eggstraße zur Sickingenstraße mitgeholfen. Alle waren guter Dinge, wenn sich auch das abgesteckte Programm nicht ganz als durchführbar erwies. Lustig, wie wir die Schränke durch die Fenster hoben. Papa und Mutti und Gisel und Wölfchen und vor allem Du gaben anschließend bei kühlem Wein ein fideles Bild ab.

 

1.12.66

Wie dumm. Oder gibt es einen dümmeren Menschen als mich? Wo ich doch wusste, dass Du kommen würdest. Dabei wollte ich warten, und ob. Aber die Leute, die aus der Kirche strömten; da musste auch ich, obwohl ich nie, niemals wollte, ja da musste auch ich mich entfernen. Wie es mich doch bekümmert, dass Du so allein da warst! Wenn ich es Dir nur gleich sagen könnte. Hoffentlich ist bald Morgen, wann ich Dich wieder sehen darf. Mein Juttchen. Ein Küsschen von mir.

 

4.12.66

Geistliche Abendmusik in der Universitätskirche. Vorher noch zusammen im Zimmer mit Kaffee und Lebkuchen. Später beim Nach-Hause-Fahren - auch Gisela und Inge sind dabei ? kommt es auf der steilen Treppe zu eurer Haustüre zu einem bemerkenswerten Abschiedskuss. Gisela und Inge, die vor uns hinauf stiegen, lachten über meinen Übermut, da ich mich bezüglich der Rückkehr durch die schneidende Kälte mit dem Rad mit einem Missionar verglichen hatte.

 

5.12.66

Ich warte immer auf Dich und weiß Dich immer ganz nah. Und so wachsen Verlangen und Erfüllung in einem.

 

6.12.66

Beim Ballett einer Tänzerin aus Venezuela:

Wie wir mittanzen. Dieser Gott enthüllt sich nur den Verzückten, die sich auch noch in der Seligkeit der Verzückung zu beherrschen verstehen.

 

13.12.66

Jutta, mein Schatz, meine Königin! Wie sehr ich bei Dir bin und Du dicht bei mir, als säßest Du bei mir auf dem Bett und mein Kopf schlummerte in Deinem Schoß. Wenn man durch den grauen Vorraum geschritten ist, wird es auf einmal licht.

 

Gestern im Traum: Du und ich und meine Eltern um den Tisch im Wohnzimmer versammelt. Du warst ganz vergnügt und heiter; schaukeltest auf einem Stuhl, wo ich Dich immer wieder von hinten auffing. Meine Eltern schauten lächelnd drein.

 

15.12.66

Heute vor einem Jahr dieses Buch begonnen, das Buch unserer Liebe, es wird nie enden: Jutta

 

17.12.66

Ob ich Dich so unendlich lieben kann, wie ich Dich lieben möchte? Das verlangt wohl eine ganz leise, leise gewordenen Leidenschaft, wo man sich selber gar nicht mehr wahrnimmt. Es ist ja Dein Glück, das ich in mir und mit mir trage. Ja, das Leben ist ein wunderbares Mysterium zwischen zwei Unendlichkeiten. Und ist es nicht der schönste Lobpreis auf den Ewigen, wenn wir unsere Liebe als seine Liebe, als das von ihm gewollte und gewordene Werk bewundern?

 

19.12.66

Habe Dein Bildnis wiedergefunden. In einem Lehrbuch über Funktionentheorie lag es versteckt.

 

22.12.66

Deinen Namenstag gefeiert, freilich ohne es zu wissen, bis Du es mir am Abend beim Brötchen-Backen verraten hast.

 

24.12.66, 20 Uhr

In zwei Stunden ? dann werden wir zusammen Weihnacht feiern. Ich werde schon etwas früher kommen, da sich meine Eltern schon zu Bett begeben haben.

 

29.12.66

Auf dem Feldberg beim Ski-Fahren. Aber es war zu nass, sodass wir bald wieder herunter fuhren. Dann im Zimmer bei mir uns noch etwas aufgewärmt. Robert Geppert war noch mit dabei. Als ich dann für uns oben in der Küche alleine den Tee richtete, kam plötzlich eine hässliche Eifersucht in mir auf. Ah. Dabei hat doch Robert sein Mäuschen im Hotzenwald. Sonst dann war es mit Robert ganz angenehm.

 

3.1.67

Wo Du bist, da ist alles gut.

 

4.1.67

Immer ersehnt und erwartet und dann doch wunderbar überrascht, wenn ein Brief von Dir ankommt. Bin dann gleich darauf zur Sickingenstraße hochgefahren, wo Du mich ganz herzlich empfangen hast.

 

9.1.67

Heute in der Frauenklinik: eine Welt des Noch-Nicht und des Schon-zu-Ende hinter den Glasküvetten. - Was für eine kleine Welt, die Welt des Lebens, eine sehr kleine Insel, irgendwo im Nirgendwo, umgeben vom Nichts oder, wie es die Alten und Shakespeare etwas freundlicher ausdrücken, umgeben vom Schlaf.

 

***

 

13.1.67

Wie immer freitags wieder zusammen Kaffee getrunken im Hochhaus und festlich zu Mittag gespeist. Du bist immer so lieb und bringst immer etwas besonders Gutes als Überraschung mit. Nachher noch Vorlesung bei Prof. Baumann über Werke Grillparzers. Ich hätte mich so gerne in Deine Arme legen wollen. Aber dann musstest Du wieder wegfahren auf dem Fahrrad und ich mit der Straßenbahn.

Wie wir mit jedem Tag enger einander entgegenwachsen; wie viel schmerzlicher das Adieu-Sagen wird von Tag zu Tag. Da hat man schon einige Mühe, vernünftig zu bleiben. Du bist ja immer bei mir.

Hier, in meinem Zimmer ringsum sind überall Deine lieben Gedanken um mich, die Bilder neben mir über dem Bett, die Bücher zur anderen Seite auf dem Nachttisch, die Postkarten an der Wand, die Bücher im Regal und die vielen Briefe im Schreibtisch: alles Zeichen Deiner Liebe.

Ich muss immer daran denken, wie wir nach dem Ausflug in den Kaiserstuhl noch bei Dir waren! Wie stark Dich meine Worte getroffen haben! War es das erste Mal, dass ich Dich so umarmte? Nein, aber Du verstehst es immer wieder, neu und doch mit allem Vorigen inbegriffen, mir Deine Liebe zu bezeugen und spürbar zu machen. Wie glücklich sind wir schon jetzt, wie selig werden wir sein?! Dir, mein Geliebter eine herzliche Umarmung und einen lieben Gutenachtkuss Deine Jutta

 

14.1.67

Heute Morgen holtest Du mich wieder in der Chirurgie ab. So hörst Du auch ein bisschen von meinem Fach. ? Heute Nachmittag muss ich immer nur an Dich denken - und versäume dabei, was ich mir zu lernen vorgenommen habe. Ob Du auch solche Sehnsucht hast? Dabei wollen wir ja doch morgen zusammen Ski-Laufen gehen. ? Unterdessen bist Du schon als Gast bei der Samstagsvorlesung bekannt. Das amüsiert mich.

Wenn Du mir etwas zeigst, was Du geschrieben hast, dann weiß ich nie, ob Du mit mir einverstanden bist. Vielleicht sage ich etwas Törichtes und verstehe Dich gar nicht. O nein, das darf nicht so kommen; Du erklärst mir auch immer Deine Gedankengänge so gut. Und doch bin ich immer so unsicher, wenn Du mir etwas zeigst. Nur sagen: es ist gut, ist zu nichtssagend. Aber bei mir dauert es länger, bis ich, soweit ich es vermag, den Gehalt einer Erzählung oder eines Stückes, so wie Du es gemeint hast, erfasst habe. Du wirst mich noch vieles lehren müssen. Aber ich möchte Dich und auch Deine Stücke ? sie gehören so eng zu Dir ? so gerne verstehen. Wenn mir das nicht gelänge, in wieweit hätten wir dann aneinander Anteil?

Heute Abend noch Glühwein getrunken und die Platte von Dir mit den Schubertliedern gehört.

 

15.1.67

Wir sind ganz herrlich zusammen Skigelaufen! Nachher beim Weg nach Hinterzarten hatte ich so schreckliche Angst, dass ich kaum vom Fleck kam und dauernd hinfiel. Du warst völlig erstaunt und sagtest: "Was bist auch Du für eine!" Nachher war die fahrt bei bestem Einverständnis wieder sehr schön ? und das etwas betrübliche Zwischenstück sollte wohl auch sein. In wie vielen Dingen müssen wir uns sehr kennen lernen und langsam einander verstehen beginnen, ehe wir uns gegenseitig helfen können. Ich muss vorsichtiger sein, wenn ich etwas zu Dir sage. Du musst auch etwas vorsichtiger sein, wenn Du beim Wandern, Skilaufen oder sonst feststellst, dass ich mich dumm anstelle. Aber Du vermagst so gut, alles wieder ins rechte Lot zu bringen. ? Der Abschluss mit Tee und Kognac und Orangen ? zuvor Salat von Dir zubereitet! ? war noch ganz herrlich und nun werde ich bestimmt sehr gut schlafen; zuvor sende ich Dir tausend Gutenachtküsse und schöne Träume Dein Juttchen

 

16.1.67

Montags ist immer ein besonderer Tag; da werden die Augen gespiegelt mit dem Augenhintergrund. Heute habe ich mit viel Mühe Deine Papille gezeichnet; und Du hast so lange herrlich still gehalten. Für Deine kleine Frau Doktor. Hoffentlich bist Du heute Abend noch ein wenig zu etwas gekommen, trotz Atropin und Lichtblendung.

Nächsten Freitag werden wir zum Pfarreifasching gehen. Wie ich mich darauf freue. Jetzt haben wir schon das zweite Jahr zum Feiern und können es immer besser.

Im Traum hast Du Deinen kleinen Sohn gesehen und Dich ganz als Vater gefühlt. Wie gut Dir das wohl stand! Du wirst mal ganz stolz auf ihn sein und wirst einige Mühe haben, ihn zu bändigen, weil es ja auch mein Sohn sein wird. Aber Du weißt auch, was es heißt, jemanden zähmen.

Jetzt träume wieder etwas Liebes von uns, ich möchte es auch versuchen, Martin, Du mein liebster Schatz! Deine Jutta

 

17.1.67

Martin! Du, mein Prinz!

Wie traurig ich beim Nachhauseweg war. Und Du hattest mich noch in der Stadt gesucht, ich aber fuhr gleich mit der ersten Bahn weg ? nicht einmal noch den letzten Abschiedsgruß am Abend beim Tierheim habe ich zugelassen. Wozu nur immer diese unnütze Angst vor einem Phantom. Ich muss mich viel mehr bei meiner Arbeit konzentrieren und auch Dich in Ruhe lassen, dann habe ich ein ruhigeres Gewissen. Ich muss meine Zeit viel besser ausnützen, dann ist auch das Verweilen bei Dir ein verdienter Ausgleich. Doch so darf ich gar nicht sagen, denn Du bist für mich Sein, ganz zu mir gehörig; und da darf das, was von mir kommt, doch nicht so unbestimmt, planlos und aufs Gerate-wohl sein. Du, an Dir kann ich mir ein Beispiel nehmen, immer hast Du Energie und den festen Willen, das Vorgenommene auch tatsächlich zu vollbringen.

Heute habe ich so ein schales Gefühl Dir gegenüber in mir. Verzeih, wenn ich Dir heute nicht das war und so war, wie ich sein möchte. Dein möchte ich immer ganz sein, ganz dicht an Deinem Herzen ruhen.

Du, mein Prinz, weißt Du auch, was Dein Sohn mir sein wird? - Mein Prinzchen. Und er wird ganz schwarze Haare haben wie Du, und so schöne dunkle Augen wie Du, und ich werde ihm beibringen, "Papa" zu sagen und Dir ein ganz liebes Küsschen zu geben, Martin, von mir.

 

19.1.67

Du, Liebster, ich bin schon ganz unruhig und probiere hin und her, wie ich mein Faschingskostüm wohl ändern soll. Ich will mich für Dich hübsch machen. Wie freue ich mich auf die vielen Tänze, die wir zusammen machen werden! Du verstehst so gut, jeden Tag, wenn wir uns begegnen, zu etwas Besonderem zu machen. Ein Tag ohne Dich? Nicht mehr zu denken. Und wenn ich mir vorstelle, wie man früher aneinander vorbeiging. Ich wollte Dich eigentlich immer gern sehen ? und bekam dann heftiges Herzklopfen, wie ein kleines Mädchen, das nicht weiß, was es tun soll und am liebsten weglaufen würde. Wohin wohl? ? Ganz geradeaus in Deine offenen Arme.

 

22.1.67

Gestern Abend Tanzparty im Haus der Jugend. Zwei Tourniere, schön anzusehen, wie leicht und anmutig die Paare übers Parkett gleiten. Dann versuchen wir, ihnen ein wenig nachzueifern und es geht auch schon sehr gut. Ich bin nur noch etwas zu schwer und nicht ganz so beweglich und elastisch, wie es für sehr gutes Tanzen nötig wäre. Aber es macht uns großen Spaß, und wenn wir in den kommenden Tagen noch öfter weggehen, dann können wir auch noch einige Figuren dazulernen.

Heute ist es etwas verhangen grau, aber da es nicht regnet, wirst Du sicher um 17 Uhr zu einem kleinen Spaziergang kommen. Ich freue mich schon.

Jetzt ist es 21 Uhr. Ich bin noch etwas am Lernen; gleich werde ich an dem Püppchen weiterbasteln, das Du zum Geburtstag bekommen sollst. Hoffentlich wird es hübsch und gefällt Dir auch. Wenn Du nur da wärst! Du bist so weit weg, wenn Du dort in Deinem Zimmer sitzest und arbeitest, und ich bin hier, wenn wir auch in Gedanken beisammen sind. Ich sende Dir ein ganz liebes Küsschen, das Dich bei der Arbeit ermuntern soll und ein wenig ablenken; ich bin nämlich auch ein kleiner Schelm. Und wenn wir erst Fasching feiern werden!

Die Idee von einem Zimmer zu gemütlichem Zusammensein ist wunderbar, beinahe wie ein Traum. Aber bald brauchen wir das überhaupt nicht mehr; dann werden wir uns alles so einrichten, wie wir Lust haben.

Du, mein Martin, Du, mein Liebster, mein Prinz! Immer bin ich ganz Dein, deine Rose.

Ich möchte Dein Herz haben, damit ich es immer in mir pochen höre ? und Dir meines schenken, damit es ganz tief in Dir sei und wir so, jeder durch den anderen und im anderen leben.

Jetzt ganz langsam über Dein weiches Haar streichen, Dein Kopf an meine Brust gelehnt ? "Nur das ist gut, was endlos uns bewegt!"

 

23./24.1.67

Was für ein schöner Tag heute war. Das Testat fürs Augenspiegeln haben wir bekommen. Du warst ja auch so geduldig und hast mir so schön immer geholfen, die Pupille im Spiegel einzustellen! Was ich wohl ohne Dich gemacht hätte? Du siehst, wie dringend nötig Du für mich bist. Vielleicht fährst Du gerade jetzt, während ich schreibe, vom Institut nach Hause. Mitternacht.

Jede Minute gehört ganz uns. Alles ist völlig ruhig, der Schlaf hüllt ein und entführt für ein Weilchen in sein Reich. Da gehören wir uns ganz besonders eng an. Niemand kann uns jetzt stören. O Martin, warum bist Du nicht hier neben mir, damit ich meinen Kopf gegen Deine Wange drücken kann und Dich ganz fest umarmen und gar nicht mehr loslassen?

Ich lebe nur in Dir, gehöre Dir ganz an und Du hast Dich mir geschenkt. Wie unendlich reich ich bin, ganz Deine Jutta

 

24.1.67

Du sagst mir: Robert Geppert ist gestorben.

Merkwürdig, der Bereich des Todes. Was ist, wenn man tot ist? Schaut man dann Gott? Erweist sich dann Gott als Wirklichkeit? Was ist letztlich Seele, Sein? Wir sind beide erschreckt und ohne Verstehen diesem Geschehen gegenüber.

Vielleicht müsste man echte Antwort aus dem Glauben erhalten. Aber was ist Glaube? In wieweit ist das Kommen des Gottesreichs in uns lebendig, mit seinen Konsequenzen? Wie armselig wir sind. Wir müssen gerade in diesen entscheidenden Dingen einander helfen und miteinander Austausch halten.

 

27.1.67 Pfarreifasching

Wir sind einen Abend zusammen. Wir gehören ganz uns, auch jetzt, wo wir beide schlafen gehen. Nur noch eine räumliche Distanz trennt uns, und wir sind ganz glücklich um unser Beisammensein, ein wenig traurig, weil unsere Sehnsucht stets wächst. Du hast mich mit dem Rad nach Hause gefahren. Du, nur Du. Wir beide, Martin und Jutta.

 

29.1.67 Morgens 2 Uhr

Soeben ist Dein Püppchen so weit fertig gestellt, dass ich es Dir morgen überreichen kann, also heute Nachmittag, wenn wir Deinen Geburtstag feiern. Jetzt bist Du 24 Jahre alt; wie viele glückliche Jahre wir wohl gemeinsam haben werden? Wie nah sind wir uns, um wie vielmehr verstehen wir einander als vor einem Jahr.

Du, es ist so wunderbar, dass wir zueinander gefunden haben! Dass Du nun immer bei mir bist und ich immer bei Dir sein darf. Martin, mein Geliebter, mein Schatz, mein Prinz, mein Martin. Dir ein ganz liebes Gutenachtküsschen und schöne Träume Dein Juttchen

 

***

 

30.1.67

Mit Deinem Püppchen bin ich ganz glücklich. Es sitzt auf dem Bücherbrett neben meinem Bett, hält das eine schöne Mädchenbildnis von Dir in den Armen und lugt dabei schelmisch zu mir herab. Es weiß auch, dass es ganz stolz sein darf, weil es Deine lieben wundervollen goldenen Haare tragen darf. Nur vorsichtig muss es sein, dass es keines davon verliert. Deshalb gibt es sich ja auch Mühe, schön still zu sitzen.

 

31.1.67 Morgens ¼ 4 Uhr.

Zuerst trage ich das Grüßchen ein, das von meiner Jutta an unser Buch ergeht nach der Fastnacht in Kirchzarten. Und dann trage ich nach, dass Du mir nicht nachgetragen hast, dass ich mich wieder einmal so schlecht benommen habe. Dabei bist Du doch mein ein und alles. Aber da nörgelt er und krittelt er und weiß sich nicht schicklich zu benehmen. Warum nur das? Aus Müdigkeit, Unzulänglichkeit, Unbeherrschtheit, Besserwisserei, elender Tyrannei oder aus bloßer Perfektionslust? Verzeih mir, Liebste. Wenn wir wieder Wiener Walzer tanzen, dann sollst Du mal sehen, wie wir das ganz fein hinkriegen.

Abends 21 Uhr

Dein Röschen, ein wenig schräg in der Glasvase mit den geöffneten tiefroten Blütenblättern. Wie vieldeutig, dieses Blühen so mitten im Winter. Stilles geduldiges Sich-Hinneigen und Zuhören und Lauschen, ob es gefällt. Vertrauensvoll sich öffnend wie deine unerschöpflich große Liebe. Die Schönheit, die sich auch nicht auf die Blüte allein beschränken möchte. Zu den Blütenblättern gesellen sich die Kelchblätter, leicht nach unten sich wölbend, als sännen sie nach über das Gehörte, die Botschaft, die das So-sein bestätigt und trägt. Alles an Dir ist schön, meine Taube.

 

2.2.67

Fasching mit den Klinikern

Wir ganz für uns, aufeinander bezogen, ohne alles Bedürfnis glücklich. Gut, dass uns zufällig noch einer mit dem Auto nach Littenweiler bringt.

 

4.2.67

Jutta. In diesem Namen liegt so viel Glück: soviel Einverständnis, weil ich ihn aussprechen darf; so viel Mut, weil er mich mutig macht, weiter an mir zu arbeiten; so viel Vorrat, wenn er in der Stille der Nacht mich bestärkt, dass ich bin. ? Heute Mittag die schöne Überraschung, wie Du am Gartentörchen stehst und ich Dir rasch aufmache.

 

5.2.67

Immer diese Angst. Wenn wir auf der Straße zusammen gehen, hast Du Angst, er könne uns sehen. Dann wär Dir lieber, ich hätte Dich nicht begleitet. Ist es die uralte Angst vor den Leuten, die ihn treibt, wie sie schon im Schi-Djing steht, aus China, etwa zur Zeit des König David?

Bitte Dschung-dsi, steig mir nicht

In unser Dorfgeheg herüber!

Brich nicht unsere Weiden ab!

Meinst du, es wäre um die mir schade?

Aber ich fürchte Vater und Mutter.

Siehst du, Dschung, dich muss ich lieben,

und was Vater und Mutter sagen,

davor muss ich mich fürchten.

Warum sagst Du, wenn er Dich aus dem Haus stieße, würdest Du nicht zu mir kommen? Deutest Du damit an, dass auch ich als Dein Ausstoßer in Betracht komme? Sage doch lieber, dass Du dann zu mir kommst und dass wir dann fortziehen, weit fort, und uns eine eigene Wohnung nehmen. Dieser Unverstand!

 

10.2.67

Ein Traum.

Du gingst ins Bad und ich kam dann nach. Aber da kam dann auch schon einer, der uns störte: weil immer eine Störung nötig ist, damit sich das letzte glückliche vollkommene Beisammensein nicht bis zur Vollendung entwickeln kann. Dann war da nun also das große Bassin mit den langausgedehnten Treppenstufen, die von dunkelgrünem Wasser immer wieder überschwemmt und bedeckt wurden. Drinnen, im Schwimmbecken, aber waren Leute, die sich kaum zu bewegen verstanden, geschweige denn hübsch anmutig zu schwimmen. Da will ich Dir nun zeigen, wie wir es machen, und verstaue das Badetuch, das Du mir anvertraut hast, kurzer Hand unter meinem Hemd, springe die Stufen hinab mitsamt den Kleidern, die ich anhabe und winke Dir zu, worauf ich Dir zeige, wie leicht man vorankommt. Und ich rufe Dir zu, du möchtest doch nachkommen. Doch da bemerkst Du, dass Dir das Badetuch fehlt. Du rufst mir zu, ich möchte es Dir doch bringen, was ich augenblicks tue. Mittlerweile aber hat man auch einen Alten an Land gezogen, der fast ertrunken wäre. Doch der geht uns nichts an. Lächelnd reiche ich Dir das Tuch, während noch das Wasser um meine Füße schwappt. Das Tuch ist trocken, wie ich es Dir überreiche. Du aber bist recht vergnügt.

 

11.2.67

Heute wieder froh beisammen. Ein Blick über die Äcker, die noch vom Schnee bedeckt sind, aber schon bald wieder ihre grünen Halme zeigen. Am Mittag ist es ein wenig warm. Nur der Wind bringt noch die Raue des Winters. Aber wo man sich wohlfühlt, ist man immer zuhaus.

 

14.2.67

Nur in der Liebe, sagst Du, ist Maßlosigkeit das Maß. Ja, die Empfindlichkeit dieser Waage ist ungeheuerlich, wo ihre Fassungskraft alles übersteigt.

 

19.2.67

Heute hast Du wieder einen wundervollen Traum gehabt.

"Pass auf!" sagst Du, "jetzt beginnt gleich dieser Strauch da zu blühen!" Und legst das Geschirrtuch weg, mit dem Du gerade beschäftigt bist und trittst vor den Strauch. Da aber schieben sich auch schon zwischen den langen lilienglatten Blattfacetten zwei große Blüten empor: eine weiße, weit geöffnet, und eine leuchtend rote, wie eine Pfirsichblüte.

 

23.2.67

Immer bedürfen wir eines Vermächtnisses im Wort, damit uns das erhalten bleibt, was uns wert ist und teuer und kostbar - was sonst allein schon durch ein gedankenloses Infrage-Stellen zerstört werden kann. Und dazu gehört ganz zuerst und vor allen Dingen, dass ich Dich ganz lieb habe.

 

25.2.67

Und fragst Du mich, ob ich dich wiederfände

Auf hellen Wegen durch das grüne Land,

der Frühling leuchtend bei des Mittags Wende

und Himmelsbögen über uns gespannt?

 

Fern liegen Städte, große kaum geschaute

Mit Türmen schlank und Dächern golden schwer

Und Brücken tragen starke hochgebaute

Pfeiler hinab ins abendliche Meer.

 

Dort kommen Segel sonnig hoch erhoben

Und Wolken leise, abendlich erblaut,

Und schwere Düfte steigen auf nach oben

Und Welle bringt auf Welle ihren Laut.

 

Dann hält die Stille Einzug überm Spiegel

Die Tore öffnen sich und lassen ein

Und funkelnd steht der Abendstern am Hügel

Und weithin strahlen Sterne hell und rein.

***

 

1.3.67

Sonnabend waren wir im Rosenkavalier.

Gestern bekam ich die Mandeln heraus. Man hat Dich abgewiesen, ohne mir auch nur ein Wörtchen zu sagen! Dabei hättest Du bestimmt nichts gesprochen und nur meine Hand festgehalten. Inge, Gisela und Friederike waren schon da ? nur Du, Du allein fehlst mir. In zweieinhalb Stunden wirst Du da sein.

Wie lieb Du kamst, genau zum vereinbarten Termin. Wir haben noch sehr nett zusammen gesessen.

 

2.3.67

Du bist sicherlich schon wieder bei der Arbeit; jetzt stört Dich ja niemand mehr; da geht es gut voran. Bei mir geht es noch etwas schlecht mit dem Schlucken, da esse ich lieber nichts. Ich werde jetzt ein Weilchen aus dem Goethe-Band lesen, den Du mir mitgebracht hast. Und heute Abend wirst Du ja wieder hier sein.

 

3.3.67

Guten Morgen, mein Schatz! Hast Du auch recht gut ausgeschlafen? Heute ist ein so herrlicher Tag, da bekomme ich große Lust, mit Dir hoch auf die Berge zu klettern. Du wirst mir dabei viel zu erzählen wissen von allem, was Du gelesen hast: von griechischem Mythos und modernen Dichtungen. Wir werden uns ganz gemütlich an einem hübschen Platz eine Ruhepause gönnen, Du wirst mir Gedichte vortragen ? und ich werde Dir ganz einfach den Mund verschließen mit meinen Küssen und Dich ganz fest in meine Arme schließen. Dann wirst Du schmunzeln und mich gar nicht mehr aus Deinen lieben Armen frei kommen lassen. Wie schön das alles noch werden wird!

Vorerst sitzest Du allerdings fleißig über Deinen Lehrbüchern; und schließlich werde ich ja auch noch viel lernen müssen. Ich freue mich auch schon auf meinen Beruf ? nur dass man daran weniger denkt, wenn man zu Zweien denkt. Da freut man sich mehr auf das ganz Gemeinsame. Nun, Du wirst auch an meinem Beruf etwas Anteil haben und ich an Deinem Tun.

Ich freue mich einfach so, dass Du so lieb zu mir bist, dass wir uns so gern haben, und dass auch Du jetzt an mich denkst, auch wenn Du gerade eine kniffelige Mathe-Aufgabe zu lösen versuchst. Und vor allem, dass Du mich heute wieder besuchen kommst. Liebster Martin, Dir ein ganz sanftes Küsschen von Deiner Jutta.

Wenn ich Dir doch auch in einem Gedicht meine Zuneigung zusingen könnte.

O Du weißt nicht, was für ein fürchterliches Durcheinander oft in meinem Innern herrscht. Wenn Du dann ganz klar und gut den mir vorgezeichneten Weg zeigen möchtest, bin ich ganz niedergedrückt und weiß gar nicht mehr, wie ich es noch machen soll. Du bist so stark, fassest Pläne und hältst Dich fest daran, ich dagegen ? bin ich nicht eher das Gegenteil? Ein kleines Häufchen Durcheinander, das zwar schon das Rechte will, aber so wenig Kraft hat? Ich muss viel besser mich selbst in den Griff bekommen, dann brauche ich auch Dir nicht mehr ganz so seltsam zu begegnen wie bisweilen.

Und Du, mein Prinz, helfe mir! Auch wenn Du nicht verstehst, was mit mir los ist, dann nimm mich einfach liebevoll bei der Hand - und dann kann ja nichts mehr schief gehen. Ich möchte auch versuchen, Dich immer tiefer zu verstehen. Ob das gelingen wird, ist bestimmt Gnade, ebenso wie damals, als wir uns gefunden haben.

Vielleicht müssen wir auch wieder eine neue Form des Zueinander-Gehörens finden; jetzt, wo wir uns nicht mehr werden so häufig sehen können wie im Semester. O, es wird schon alles gut werden, mein Martin.

Was für ein wunderschöner Tag heute! Ganz klarer, blauer Himmel, die Berge in deutlichen Linien abgehoben vom Horizont, hier und dort in der Ferne vereinzelt noch ein Flecken Schnee. Davor die Häuser und Türmchen der Stadt, ein paar rauchende Kamine, das Getöse der Lastautos ?

Und Du entweder zu Hause beim Mittagsschlaf oder im Institut. Ich stelle mir vor, Du wärest für ein paar Minuten, nur für ein paar Minuten hier; aber das ist ja nicht möglich; ich ließe Dich ja nicht mehr weg. Du, hier, Deinen Arm um mich gelegt, ganz ruhig lägen wir zusammen, vielleicht würden wir ein Gedicht lesen oder auch nur hinausschauen und uns des Frühlings freuen. Wie oft träumt man von solchen Minuten seligen Beisammenseins und wie selten sind sie uns vergönnt.

Auch ist der Alltag anders, nicht so romantisch, aber doch so voller schöner Augenblicke, die wir wahrzunehmen und einander zu schenken imstande sind. Ich möchte Dir eine ganz verlässliche Gefährtin sein, auf die Du immer rechnen kannst. Nur Gott kann mir dabei helfen und Du. Und Du wirst auch für mich beten; Du merkst sicher, wie nötig ich die Gnade brauche.

Und dann sind wir glücklich ineinander. Ich gehöre schon immer ganz Dir, Du mein Prinz. Und Du pflegst und behütest mich so gut, auch wenn ich es manchmal nicht ganz wahrnehmen kann; später ist dann doch immer alles in Ordnung. Jetzt muss ich noch 4 Stunden warten. Heute ist es besonders lang, wollte ich doch schon heute Morgen an Deiner Hand losspazieren in die Welt hinein..

 

5.3.67 (Geburtstag von Juttas Vater)

Alles ausgeflogen zur Kirche, ich kann ganz allein mit Dir sprechen. Martin, Du, immer nur Du. Gestern nachmittag beinahe nicht auszuhaltender Schmerz nach Dir; ich hungere nach Dir, Du, mein Prinz; ich habe so unendliche Sehnsucht.

Ich höre mir immer wieder Schubertlieder an und das Forellenquintett.

Heute wirst Du mich hier besuchen kommen. Ich träume Unmögliches von späteren Zeiten; o Du bist auch jetzt schon immer bei mir; ich bin ganz fest in Deiner Hand. Ich möchte Dir nie Schmerz zufügen und bin doch so ungeschickt; verzeih. Mein Prinz, mein Geliebter, Liebster, Du mein Gebieter. Gestern morgen noch Seite an Seite, ganz nah bei Dir, im Bett in der Klinik.

Das Bild von Deinem Geburtstag, wir beiden ganz ineinander versenkt. Du ganz voller Liebe, ich ganz bei Dir geborgen. Und wohin könnte ich fliehen? Nur in Deine offenen Arme. In die nächste Nähe Deines Herzens. Martin, lieber Martin, ich hab Dich ganz unendlich lieb.

 

6.3.67

Dir ein liebes Küsschen mitten beim Mittagsschlaf Juttchen

 

9.3.67

Hast auch Du bisweilen Angst vor der Zukunft? Ein Leben ? was heißt das: Leben? ? zweier Menschen zusammen und was wird daraus erwachsen? Wie sorgfältig müssen wir miteinander umgehen, denn Wievieles und wie leicht kann man zerstören oder die Entfaltung von etwas Wertvollem verhindern. Alles, was noch vor uns liegt, alle Schwierigkeiten zwischen uns und in uns. Nur liebenden Verstehens bedarf es, und alles wird so gut werden, wie es möglich ist.

Martin. Wie manches Mal denke ich über Deine Worte nach, über das, was wir beim Spaziergang vor meinem Klinikaufenthalt gesprochen haben.

Die Frühlingszweige auf dem Schrank: gelbe Forsythienblüten, ganz dicht sitzen sie um den Stängel und immer noch wollen sich einige kleinere Blüten öffnen, um mir den Frühling ganz ins Zimmer zu zaubern. Wir werden uns immer sehr lieb haben. Heute Abend sende ich Dir besonders liebe Grüße und küsse Dich herzlichst Deine JuttaMartin.

Jetzt werde ich wieder in Deinem Tagebuch lesen; es ist so reichhaltig und ich bin Dir darin besonders nah

 

***

 

11.3.67

Wenn Du nur ruhig bleibst, mag auch Dein Papa manchmal ungehalten sein. Je weniger wir fordern, um so mehr verfügen wir über uns. Man sollte so sehr Herr sein über sein Ich, dass man nicht immer der Vorsicht und Umsicht bedürfte. Aber das gilt als Mahnung weniger für Dich als für mich.

 

Wenn man zu der Grenze gelangte, wo man von keiner zweiten Person mehr aus dem Gleichgewicht gebracht werden könnte. Gut, dann würde das Problem mit dem Papa ausgestanden sein. Und doch geht das ja nicht. Denn dann wäre ja auch keine Liebe mehr möglich. Die Größe besteht wohl auch nicht darin, nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden zu können, sondern darin, den Schmerz darüber zu verbergen und zu sublimieren.

 

12.3.67

Meine liebe Jutta! Wie gut Du es immer mit mir meinst. Und dass uns Gnade zusammengeführt hat, das denke ich auch; und dieser will ich mich auch wert und würdig erweisen. Das war ja auch schon den Alten klar, z.B. dem Homer in der Telemachie, dass Mann und Frau, die sich in Liebe vereinen, einer besonderen Hilfe bei der Findung, aber dann auch eines besonderen Schutzes bei ihrer Lebenshaltung und Lebensgestaltung bedürfen. Aber wir werden es schaffen, mit Gottes Hilfe, Du und ich.

Den Anfang aller weitgefügten Zeiten,

der großen Wagen rollenden Gesang,

da er anhub und festlich in die Weiten

der Götter freier leichter Fuß hindrang!

 

Den Anfang aller weitgeschwellten Winde,

der Wolken Kämme über Berges Grat:

das alles schaue heiter du und künde

von deinem hohen selbstgebauten Pfad!

 

4. Reifezeit

Ich schäme mich über meine Unbeherrschtheit, die, wie ich heute sehe, aus purem Egoismus herausquoll. Vornehmlich an Sonntagen und Feiertagen, wenn andere den Tag genossen und ich nicht zu Liebchen konnte, wuchs in mir eine grenzenlose Wut. Ah wie hab ich damals doch mein Mädchen strapaziert, statt ihm eine feste Hand zu sein, wie sie immer sagte, dass ich eine hätte. War ich so wenig Mann, für mein liebes Mädchen auch mal ein wenig zu verzichten? Jawohl, an Liebe fehlte es mir, sonst hätte ich gesehen, wie sie nicht minder litt und hätte sie getröstet. Verachtenswert war ich da, nicht liebenswert. Und sie! Statt mich in die Schranken und zu Recht zu weisen, klagt sich selber an! "Verzeih, wenn meine Liebe kleinlich, eng, egoistisch ist!" Sie konnte ja gar nicht anders, als unter den Zwängen zu leben. Ich aber hätte es gekonnt, ein wenig zurückstecken ihr zu Lieb. Aber ich sah das Problem eben nicht so. Ich sah es barbarisch-männlich, als Männersache, als Kampf, der auszutragen war, zwischen dem Herrn Papa und mir. Schade, dass ich damals nicht schon genug in die Lehre gegangen bin bei meinem Liebchen. Heute, wahrlich, würde ich das besser zu machen versuchen.

 

29.3.67

Ich weiß gar nicht, was ich schreiben soll. So ein elender Tag, so ein erbärmlicher Tag, so ein Tag voller Vorwürfe! Dass ich zurücktreten muss. Dass es nur noch flüchtige drei Minuten am Tag für mich gibt. Immer dieses teuflische Muss! Du kommst mir nicht entgegen; du läufst mir ja immer weg. Diese Verzweiflung. Als ob man tiefer bei sich daheim sein sollte, unempfänglich und unempfindsam für die Liebe. Es ist ein Irrsinn in mir, den ich nicht aufhalten, nicht meistern kann. Vielleicht ist es auch einerlei, welches Ende wir alle nehmen.

Wollen wir uns nicht tiefer verstehen lernen als nur so oberflächlich, wo das Schöne in der Oberfläche auch noch Kälte im Untergrund zulässt? Wann denn sollen wir uns verstehen? Wenn es zu spät ist? Können wir nicht handeln aus eigenem Wollen heraus? Antworte darauf! Antworte doch endlich einmal darauf! Auf jeden Satz, auf jeden Gedankenstrich! Du liebst mich, das ist gewiss. Aber vielleicht nur so, wie die Rose den kleinen Prinzen: wenn er einmal nicht mehr bei ihr sein wird, beweint sie ihn.

 

4.4.67

Herr S., dieses lächerliche Gespenst. Wir konversieren in der Gespenstersprache. Lupft er den Hut, so ziehe ich eine Grimasse. Kommt er mit der Straßenbahn angebraust, so verdrücke ich mich; fängt er aber an zu schnauben, so verwandle ich mich in einen Maikäfer und surre und schnurre mit einem "brrr!" davon.

Warum quäle ich Dich, wenn ich Dich aufwiegle, zu rebellieren und selbständig zu werden? Darf die junge Frau nicht auch das "Bedecke deinen Himmel Zeus" aussprechen? Muss sie immer kuschen?

 

5.4.67

Von der Hochzeit gesprochen, von unserer Hochzeit, leicht und fröhlich, als ob sie morgen stattfände.

 

8.4.67

Diese unwahrscheinliche Farce, welche ich zu spielen beginne, weil ich wohl nicht mehr über eure Hausschwelle eintreten werde, bis dass ich wieder zu Dir ins Zimmer darf.

Hätte Achilles dem Agamemnon nicht gegrollt, er hätte seine Freiheit verkauft. Aber er hat sich nicht unter seinem Wert verkauft. Ein jeder zeigt ja in seinem Tun den Wert seiner selbst.

 

9.4.67

Von Wasenweiler aus entlang an sonnig warmen Löswänden mitten durch die Rebberge. Dann hinunter geschaut über Ihringen nach Breisach, dann den Tuniberg entlang bis nach Gottenheim, alles überstrahlt von warmer Sonne.

 

11.4.67

Ich will Dir ja nicht weh tun. Ich würde Dir ja helfen, wenn ich es nur könnte. Aber wo bleibt das Vermögen, wenn die Seele sich wie ein Kreisel um sich selber dreht?

 

13.4.67

Jutta, ob Du wohl schon schläfst? Ich möchte Dich in meinen Armen halten. Wie schön das war, als du heute Morgen kamst. Ich war beinahe noch am Schlafen.

 

***

 

14.4.67 Früher Abend

Heute Nachmittag kurzer Spaziergang. Warum diese unerträgliche Spannung. Wo Du alles für mich, ich alles für Dich tun will. Unser Suchen muss wieder neu Begegnung werden.

Martin, wenn ich bei Dir sein könnte, Deinen Kopf in meinen Händen halten und mich ganz fest an Dich drücken könnte. Weshalb Missverständnisse, wenn wir so sehr eins sind.

Martin! Ich küsse Dich ganz sanft und kann es kaum erwarten, wirklich wieder bei Dir zu sein. Ob ich Dich vielleicht morgen überraschen kann?

Verzeih mir Lieber, dass ich Dir das Leben so schwer mache. Verzeih, wenn meine Liebe kleinlich, eng, egoistisch ist! Sieh, ich möchte immer Deine Jutta sein ? und da hab ich noch einige Stufen emporzusteigen und noch einen längeren Weg zu gehen, bis ich in Deinen Armen für immer geborgen sein darf.

3 Uhr nachts Aufgewacht und kann nicht wieder einschlafen. Ob Du wohl schläfst oder auch wach liegst? Nur das: jetzt bei Dir, in Deinen Armen ruhen.

4 Uhr Kein Schlafen möglich. Du, Martin. Die Schönheit der Liebe liegt in ihrem Unbekümmert-Sein hast Du vorn ins Buch geschrieben. Wir werden wieder wie Kinder beisammen sein. O mein Prinz! Ich will Dich verstehen, will Dir entgegengehen ? mit Dir gehen.

 

16.4.67 Morgens vor Tagesanbruch

O Martin! Martin, Du, Martin! Martin-Jutta

 

17.4.67

Unsere erste gemeinsame Feier an diesem Tag. Es sollen noch viele folgen.

So glücklich und froh in Deinen Armen. Herrlich der Nachmittag am Hirzberg; sehr nett beisammen bei Waldmeisterbowle ? und anschließend Geburtstagskaffee bei uns. So ein glücklicher Tag mit Dir, lieber Martin.

 

20.4.67

Wie gut Du bist. Und wie lieb. Es macht mich manchmal traurig, dass Du so wenig an mir haben kannst, so viel Unerfreuliches. Ich muss mir Mühe geben im "Fröhlicher-Sein."

Wunderbar der Spaziergang am Abend an der Dreisam. Du schenkst mir so großes Glück, so viel Liebe. Dir möchte ich jetzt einen lieben Kuss geben, Martin.

Die Liebe ist etwas sehr Großes und Schönes; sie schenkt überreich ohne nach Verdienst zu fragen. Sie teilt einfach aus und mit, aus innerem Reichtum und unendlicher Freude.

 

21.4.67

Kleines Missverständnis, hervorgerufen durch ein Frühjahrsgewitter. Du bist weg, als ich mittags ankomme. ? Diese Kleinlichkeit, wie tief sie in mir steckt. Aber es wird schon alles gut. Am schwierigsten ist bisweilen das ständige liebevolle Vertrauen gerade in Alltäglichem.

Wenn ich Dir jetzt vor dem Zubettgehen noch eine herzliche Umarmung und ein liebes Küsschen schenke: wie erreicht es Dich dann? O, Du müsstest jetzt hier sein, Martin.

Du bist ganz wunderschön, immer wieder wenn ich Dich beim Erzählen ansehe und Du ganz konzentriert einen Gedanken entwickelst, bin ich neu überrascht und begeistert, welches Feuer in Dir lodert. Herrlich, wie Du Dich für das Edle so begeistern kannst, sei es nun das Edle an einem Gedanken, einer Idee oder in Deiner Umgebung, bei den Tieren und Bäumen und Blüten; wie Dich das schlichte Bild eines brütenden Vogels oder der Eidechsen in der Sonne gleich zu interessanten Überlegungen anregt und Deine Phantasie weckt.

Martin! Vorerst darf ich noch Dein Goldtöchterchen sein. Du bist so sehr lieb, mein Prinz, schlafe jetzt gut, vielleicht träumst Du etwas Schönes von Deinem Juttchen. Dir ein liebes Gutenachtküsschen

 

22.4.67

So traurig und so einsam. Was hat noch Sinn.

Ein Pflänzchen, ausgerissen und in der prallen Sonne liegen gelassen. Vielleicht war es einmal ganz hübsch, so dass ein vorüberlaufendes Kind sich daran erfreute. ? Spürst Du das, wenn mein Herz weint.

 

23.4.67

Wir fahren nach Breisach und studieren die Fresken im Münster. Sehr eindrucksvoll. Dann netter Besuch bei Deiner Oma Zeiser; Tulpen von ihr grüßen mich aus der Vase.

 

24.4.67

Herrlich die Tulpen in ihrem leuchtenden Rot, draußen Abenddämmerung und Vogelgezwitscher ? o wie Du mir fehlst! Martin, mein Schatz, wie ich Dich küssen und herzen möchte und mit Dir tanzen und einfach froh und lustig sein, heiter das Köpfchen an Deine Brust lehnen und Dich plötzlich ganz fest an mich drücken und Dir einen lieben Kuss auf den Mund geben möchte. Das ist etwas Wunderbares: wenn ich mir vorstelle, dass Du beim Denken an mich in Dir so einen Widerhall verspürst wie ich, wenn ich an Dich denke, so ein inneres Beim-andern-geborgen-sein. Du, Martin, ich bin so glücklich, dass ich an Dich denken kann, und wenn ich mir vorstelle, wir wären beisammen ? aber das wird noch kommen. Manchmal wird man eben doch ungeduldig. Du mein lieber Schatz

 

***

 

25.4.67

Diese Paradoxien. Jetzt, wo wir so fest ineinander wachsen, empfinden wir immer stärker das Alleine-sein. Wir müssen uns immerfort unser Glück sagen, bisweilen es auch ausweinen. Dann geschieht es immer wieder wundervoll von Neuem.

 

1.5.67

Ja, es gibt die Liebe in ihrer großen Mannigfaltigkeit: heiter, beschwichtigend, besänftigend, ruhend; sicher, unerschütterlich, fest, gebend, empfangend, mitteilend, ausströmend, sich verschenkend, geduldig; aber auch klagend, weinend, trauernd ? Sollten wir nicht, reicher geworden, jede Krise hinter uns lassen?

 

4.5.67

Wir müssen allen Dingen ihren Sinn geben, vor allem aber uns selbst. Komm, meine liebste Jutta!

 

7.5.67

Der Mensch als Schöpfung: ruhend und verstehbar und zugleich unruhig und unergründlich.

 

11.5.67

O Lider, müde Lider,

fallt ihr schon zu?

Wo ist der Engel, der herniederkommt

Und wo bist Du?

 

Wie hätt ich Lust, ganz leise zu verweilen

Grad wie ein Stern.

Die Stunden aber sinken und enteilen,

Alles rückt fern.

13.5.67

Pfingstsonntag

Wanderung von Kirchzarten auf den Hinterwaldkopf. Viel Sonne vom Firmament, aber auch viel Sonne im Herzen als Glück des wechselseitig erfahrbaren Vertrauens.

 

23.5.67

Bevor ich sterbe, nimm mich in deine Arme und verzeih mir, weil ich vieles anders und besser hätte machen sollen und ja auch besser hatte machen wollen, als es geschehen ist.

 

25.5.67

Wo wäre Freiheit, wenn wir nur müssten und wo eine Hoffnung, wenn alles sinnlos und aussichtslos wäre?

 

28.5.67

Wo nur noch Du bei mir bist: da will ich Halt machen. Liebste! Schlafe fein!

 

29.5.67

Wie oft geht der Weg erst durch ein ungewisses Dunkel, durch ein anhaltendes Zittern und Warten, durch ein angstvoll-bedrängtes Horchen.

 

30.5.67

Im Traum ging ich die Straßen entlang und suchte Dich. Fast wie im Hohen Lied.

 

***

 

5.6.67

Gestern wie Kinder zusammen im Kanu durch den Urwald langsam und sacht auf den Wellen geschaukelt. Woher nimmst Du nur diesen wunderbaren Reichtum, Du, mein verschwenderisch herrlicher Geliebter.

Das Radfahren in warmer Mittagssonne oder in sanfter Abendsonne. Wir verstehen uns wieder neu, anders, jung, beglückend und zugleich ernster stimmend ? Glück

 

6.6.67

Immer nur wir beide Martin-Jutta

Wie gut wir schon verstehen, uns die Bälle zuzuspielen, ein wahrer Spaß. Wir werden viel Freude zusammen haben.

Martin, Schlafe fein und fest und lass Dich küssen zur Nacht und wieder küssen zum Morgen, wenn Du wieder den neuen Tag beginnst. - Und bleibe ruhig schlafend in meinen Armen, ganz an meinem Herzen bis ich Dich ganz sacht wieder auf Deine lieben Lippen küsse und vor Wonne gar nicht mehr lassen kann.

Liebe ist etwas sehr Seltsames, Wunderbares. Neben der höchsten Entrückung wie dicht die Traurigkeit. Weil wir das volle Glück nicht so ertragen können.

O schönstes Wort: Martin

O liebster Martin!

 

7.6.67

Immer warte ich auf Dich. Heute Abend besonders, wo ich hätte weggehen können. Aber ich darf Dich jetzt nicht stören, Du brauchst Ruhe und Beschäftigung mit der Mathematik. Wie es wohl Dienstag geht. Dann hast Du schon den ersten Teil Deines Staatsexamens hinter Dir, also einen Teil Deines Student-Seins absolviert. Studenten werden wir aber wohl immer bleiben. Das wird unendlich schön sein.

Schlafe gut, mein lieber Schatz, lass Dich zuvor fest umarmen und ganz lieb und herzlich küssen. Morgen früh darf ich Dich dann wecken.

 

9.6.67

Martin, du mein lieber Bub, mein Goldschatz.

 

10.6.67

Wenn ich Dir nur besser helfen könnte; aber die Prüfung wird schon gut vorbeigehen. Jetzt noch das Krank-sein, morgen früh vielleicht bist Du wieder frisch und munter.

Ich würde so gerne bei Dir sein, Martin, Du.

Wie schön heute im Institut; Du bist noch nicht da, ich hinterlasse Dir eine Botschaft und mache mich auf zur Klinik. Eben überlege ich, wie ich wohl aus dem Institut wieder herauskomme und dass ich auf den Ersten warten müsste, der käme: da kommst Du als der Erste und wir sind beide glücklich, uns so anzutreffen. Jetzt Dir eine erholsame Nacht mit einem lieben Kuss von Deinem Juttchen

 

11.6.67 Sonntagmorgen

O diese Missverständnisse. Die Rosen, die Du mir schenken wolltest, um die ich Dich nicht gefragt habe ? Inkongruenz zwischen uns beiden? Und alles Schöne, Harmonische nur Trug, Wahrheiten von Minuten, sonst nichts? Nein! Niemals! Was immer auch geschehen mag: unsere Liebe wollen wir unangetastet halten. Die Liebe besteht über allem anderen hinweg. Ist. Martin-Jutta

Die Schwierigkeiten sind ja nicht dazu da, daran zu scheitern, sondern überwunden zu werden. Nur mit Deiner liebevollen Hilfe werde ich es schaffen.

 

12.6.67

Noch 12 Stunden, dann hast Du die Prüfung hinter Dir. Martin! Wie gern ich Dir helfen möchte. Ich darf Dich gar nicht stören, aber an Dich denken und Dir alles Liebe wünschen und Dir einen herzlichen Kuss auf Dein Mündchen drücken, da kannst Du nichts gegen haben. So, nun darf ich Dich nicht weiter ablenken, bis morgen darfst Du nur noch Mathematik denken.

Mein liebster Prinz. Ich werde ganz bei Dir sein.

 

14.6.67

Gestern herrlich Examen gefeiert. Gemütlich abends in der Küche das Hähnchenschmausen.

Du hast Dein Matheexamen gemacht! Wie stolz ich auf Dich bin! Mein lieber Schatz. Wir werden immer eins sein, Du und ich, Martin und Jutta. Schlaf gut, mein Prinz, und träume vom Paradies. Ich werde im Traum Dir entgegengehen und einen bunten Blumenkranz Dir umlegen. Und in die Hand werde ich Dir eine dunkelrote Rose geben ? und einen lieben Kuss auf Stirn und Mund.

 

15.6.67

Warum so müde? Mein Herz, woher die Traurigkeit? Ist es das Übermaß des Glücks oder die unendliche Sehnsucht oder warum zitterst Du und beunruhigst Dich? Sieh, Du bist ja nicht allein. Und ein gewisses Maß an Einsamkeit musst Du immer haben, vielleicht um das Gemeinsame, die Resonanz des Partners, besser und wahrer spüren zu können.

Wie seltsam ist es, zu leben. Man hastet wegen diesem und jenem; wie viel Äußerlichkeiten. Wo bleibt der eigene, innere Raum, den man in seine Umwelt bringen sollte; wie findet man zu sich selbst? Wo findest Du mich, Martin? Wie gerne hätte ich Anteil an Deinen Tiefen, an Deinem Innern. Aber ich habe einen zu kleinen Kreis um mich, unsere Kreise sind zu ungleich und wie oft berühren sie sich nur, anstatt sich tief zu durchdringen.

Jetzt habe ich Dich wohl traurig gemacht, Du, der immer soweit mich herankommen lässt und versucht, mich in seinen Kreis mit hinein zu nehmen. Ich muss immer wieder versuchen, Dir zu folgen. Einen eigenen Kreis zu bilden, denn nur so kann ich eigene Person werden, und nur dann kann eine echte Vereinigung sich ereignen.

 

17.6.67

Wanderung. Feldberg ? Schauinsland über Kybfelsen nach Hause. So ein wunderschöner Tag. Martin, immer nur Du, mein Prinz. Schlafe und träume gut. Martin, Du bist mein Leben, meine Lebensaufgabe. Du wirst mir helfen, Geliebter. Nimm mich immer an Deiner Hand, ich möchte auch die Deine fest und lieb halten.

 

18.6.67

Heute haben wir einen sehr schönen Sonntagnachmittag gehabt. Hofmannsthal: Bergwerk von Falun, Gedichte von Trakl und andern. Und dann vor allem Dein schönes Gedicht von unserem Ausflug, das ich in unser Buch schreiben darf. Martin, Du machst mich ja so froh und so reich, weil Du so lieb bist. Weil Du es bist, dem ich gehöre. Weil ich Dich umarmen und herzen darf und liebkosen. Du lieber Junge. Du mein kleiner Prinz.

Im Haldengrund die Schattenbänke

die Sonne wiegt auf grünem Farn.

Dahinter Buchen, Bach und Tränke,

wo sich der Herden Tiere schar´n.

 

Ferner der Berge grüne Flächen,

auf ihren Rücken gipfelt Korn.

Und Buchen über Buchen brechen

Abwärts und schieben sich nach vorn.

 

Und ihre Blätter neigen sich

Dem Mittagswind, den weißen Wolken.

Und durch die Wälder eilt der Weg,

dem spät noch leise Träume folgen.

Diese leisen Träume werden uns jetzt zueinander führen, fern entrückt von allem Diesseitigen. Wie gern werden wir im sanften Reich der Träume schweben.

 

20.6.67

Morgen Sommeranfang, auch für uns. Heute, in aller Frühe, schön Tennis gespielt. Du trainierst mich ja. Du, mein Schatz, es wird alles gut werden. Und ich bin immer für Dich da, auch während ich meine Doktorarbeit mache. Weißt Du es nicht? O dass ich mich so leicht durcheinander bringen lasse!

 

22.6.67

Martin, Du mein lieber Freund. Wenn ich doch bei Dir sein könnte. Ich möchte ja nur mein Gesicht in Deine Hände legen ? o warum darf ich nicht?

 

23.6.67 Sommernacht

Du mein Schatz, ich möchte so gerne mit Dir einen Walzer tanzen ? so wie Du es heute Morgen schon wolltest ? dann mit Dir einsteigen ins Boot und ruhig über den See hingleiten. Hübsch wären dann die fernen Lichter der Häuser, die sich an der Uferböschung hinaufziehen, und ab und zu ein Boot mit Laterne, das in unsrer Nähe vorbeikommt, vielleicht mit lustigem Singen zu einer Gitarre; ja ich wäre gerne mit Dir gefahren. Aber das kommt ja noch. - Jetzt wirst Du Dich ein wenig allein erholen und Du dort, ich hier, wir werden beide Sehnsucht haben und etwas traurig sein, weil wir eben zueinander gehören. ? Ich darf Dich aber trotz Entfernung fest umarmen und Dir ein ganz liebes Küsschen geben. Ob Du wohl von uns träumst?

 

29.6.67 Sommerabend

Du hast mich nach Hause begleitet, nach einem kurzen Imbiss bei Euch zu Hause. Immer wieder dieses Adieu bis zum nächsten Morgen. Martin!

Martin. Mein lieber, allerliebster Martin ? und ich Deine Jutta. Wie ich mich freue auf Samstag Universitätsball. Du, Du und ich, wir beiden und sonst nichts um uns her ? und Walzerklänge.

Wir werden auch noch ein feines Plätzchen finden, an dem wir lesen und sprechen können. Dir ganz liebe Küsschen bis morgen

 

2.7.67

Gestern nacht, heute morgen Universitätsball. Wir glückliches Paar, ganz beisammen. Du suchst hübsche Kleider für mich aus, wir sind heiter und vergnügt und nachher rechtschaffen müde. ? Schön war auch die Heimfahrt auf dem Rad bei wunderbarem Sternenhimmel. Langsam und noch ganz unberührt kündet sich der neue Tag an durch die am Horizont aufsteigende Helligkeit. Wie herrlich, so jung zu sein an Deiner Seite.

 

***

 

2.7.67

O ja, Liebste. Der Ball war schön und auch die Heimfahrt morgens gegen 3 Uhr auf dem Rad. Und dann hab ich Dir das Liedchen von Hofmannsthal gesungen: "Im Grünen zu singen". Erinnerst Du Dich noch?

Hörtest du denn nicht hinein

Dass Musik das Haus umschlich?

Nacht war schwer und ohne Schein,

Doch der sanft auf hartem Stein

Lag und spielte, das war ich.

 

Was ich konnte, sprach ich aus:

"Liebste Du, mein alles Du!"

Östlich brach das Licht heraus,

schwerer Tag trieb mich nach Haus

und mein Mund ist wieder zu.

 

5.7.67

Der Gott, der lächelt, wenn er uns in unseren Verwirrungen sieht. Schlimm wird ja alles nur, wenn man nicht mehr anders kann, sei es durch eigene Unfähigkeit, sei es, dass einem von außen die Hände gebunden sind.

 

10.7.67

Vertraut miteinander wandern wir zusammen. Alles ist uns wie ein großes gemeinsames Atmen: ein Einatmen und ein Ausatmen und wieder ein Einatmen und wieder ein Ausatmen. - Du bist ganz leise bei mir. Immer. Bleibe immer da!

 

13.7.67

Dans mon âme je m´avance

Tout aile de confiance

?

Tes étoiles sur mon front

Bleues et rouges je les crois grandes

De ton âme, haleine profonde

Quelle m´attend, si tu m´attends.

(Valéry)

 

15.7.67

Immer möchte ich mit dir den schönen Dingen nachträumen und ihren Gehalt auskosten, aber auch um ihnen mit Dir ganz neue Gegenwart und neuen Gehalt zu geben.

 

18.7.67

Mittags ein Pfund Bananen gegessen, die wir günstig für 29 Pfennig erstanden haben. Nachmittags von 4-5 Uhr ein Schläfchen bei der Mensa. Abends Nachhauseweg, auf dem es immer noch sehr heiß ist.

 

20.7.67

Eine verletzbare Welt, ein verletzbares Ich, ein vorprogrammiertes Drama.

Vor dem Widerspruch zurückschrecken und doch daran wachsen?

Ruf mir doch! Es ist so still hier.

 

21.7.67

Die reichen Schätze, die für uns aufgespart sind. Und doch müssen wir ganz vorsichtig und ganz sparsam sein beim Begreifen und Zugreifen. Schon zwei Worte, selbst auch wenn sie unserer eigenen Seele angehören, mögen sich vielleicht nicht gut verstehen; stehen unverträglich nebeneinander. Da gilt es achtzuhaben. Jedem gilt es da nachzulauschen, bis es sich uns geoffenbart hat.

 

23.7.67

"Gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes" Warum schrecken wir da zurück. Gibt es etwas Schöneres als so zu blühen? Ruhig und sicher. Ein Vertrauen ruht schon in dieser Form und lebt und nimmt neu und selber Form an. Und ist unser Wollen nicht ebenso eingebettet in ein weiteres Wollen, umfassend und gut?

 

25.7.67

Wo will das nur alles hin, jetzt vor den Ferien, vor diesem langen Alleine-sein? Wie ich das nur aushalten werde?

 

Heimkehr 1967

Jetzt fahren schneller noch übers Geleis

Die langen Züge hin. Ihr weißer Schaum

Zieht nieder zu der Horizonte Saum

Und ihre Räder stampfen hart und heiß.

 

Und Blitz um Blitz aus hoher Wolken Stau

Aufzittert grell und gelb; und weit das Land

In Feldern, Wiesen dreht sich unterm Rand,

und von Zerstörung hallt des Himmels Bau

 

O Fest der Liebe, kommst Du so geschwind

Und ziehst du so vorbei im Sturmgebraus?

Unsre Gedanken eilen weit voraus

Wie Wogen drängend bald, bald leis und lind.

28.7.67

Was für eine Sehnsucht treibt mich an Dein Herz, Liebste!

 

***

 

28.7.67

Und mich an Deines, Liebster!

 

1.8.67

Du, was sich darin ausdrückt. Du, meine Welt. Martin, Dein bin ich.

 

4.8.67

Mein Prinz. Noch 4 Tage warten, dann Dich wieder in die Arme schließen, von Dir umfangen werden. Du bist lieb, Martin, ganz lieb. Heute bin ich so von Freude durch Dich erfüllt. Vielleicht ist Dir etwas besonders gut gelungen? Oder auch Du bist gerade in Gedanken bei mir; ja sicher; so wird es sein. Wie doch die Gewissheit des Glücks die Sehnsucht in uns weckt. Du Martin, mein lieber Bub.

 

Samstagabend

Es ist traurig hier, so allein ohne Dich. Auch Dein Gedicht hat mich etwas traurig gemacht, obwohl ich es sehr schön finde und nicht verstehe. O Martin, Du mein Prinz!

Ich brauche Dich so sehr. Du, so lieb. Dein Gesicht, Deine Hände, Deine Gedanken. Ich will ganz fest an Dich denken. Aber Sehnsucht, wenn sie zu stark wird, ist ihrer Süße fast ganz beraubt. Aber unsere Herzen schwingen in Einklang, wenn auch die beiden Hälften etwas voneinander entfernt schlagen.

"O glücklich ewig gleiche Herzen!"

Mein Prinz, ich möchte weinen, es ist so traurig so ohne Dich. Ein Trost nur: Die vielen tausend Sterne am Himmel heute Nacht. Siehst Du sie auch? Und Dein Bild, das ich ganz tief in mir trage.

 

Sonntag

Heute bin ich allein in die Andacht gegangen. Es ist ganz seltsam, so allein in der Bank, so unvollständig, leer und beinahe entblößt kniet man da. Morgen noch, übermorgen in Deinen lieben Armen. Wie selig ich sein werde! Martin, schlafe nun gut. Lass Dich umarmen Geliebter und sanft mitten auf den Mund küssen. Gute Nacht!

 

8.8.67

In einer Stunde, Martin! Welche Seligkeit!

 

9.8.67

Meine Seele ist von einer ruhigen Heiterkeit erfüllt. Etwas sehr Sanftes geht von Dir aus und strömt auf mich über; Du bist innerlich wie etwas verklärt, weiser geworden. Ganz ruhig lehne ich mich an Deine starke Brust und höre Dein Herz laut und kräftig pochen. Das bist Du, Martin. Mein Martin, Und ich gehöre ganz Dir. Wir

 

11.8.67

Traurigkeit, ganz weit und tief. Kaffeetrinken mit Oma. ? Einem Menschen eine liebe Geste versagt haben ? was das heißt. ? Martin, Sehnsucht nach Dir. Mein Herz ist wund. Warum Liebe mit bitteren Tränen verbunden ist? Du, Martin.

 

Sonntagmorgen

Abschiednehmen, Adieu-sagen. Martin, mein Prinz, Deine Jutta

 

***

 

13.8.67

Dinge kann und soll man durchaus neutral anschauen, als Objekte. Aber den Menschen kann und darf man so nicht sehen. Leider aber gibt es Menschen, die einen um das Bessere zu bringen suchen; sie wollen mich schlecht machen bei Dir. Ich wate wie durch einen Sumpf.

 

19./20.8.67 1. Wochenende in Säckingen

Im Erleben schöner Dinge beginnt unsere Seele, sich selber anzustaunen. Geschützt vom Buschwerk im Krankenhauspark begegnen wir uns. Dein Lachen steht im Mittelpunkt aller meiner Freude.

Beim Wandern dann zwischenhinein eine kleine Verirrung im Wald. Es geht schon gegen Abend und ich ängstige mich um deinetwillen. Aber tapfer steigst Du hinter mir her und so entwirren wir alle Rätsel des Waldes. Ein freundlicher Autofahrer bringt uns dann von oben herab wieder nach Säckingen zurück.

Am Sonntag mit Nervalstudium, Spaziergängen und Gesprächen schöne Stunden erlebt. Du bist nicht immer wohl auf, was mir große Sorgen bereitet. Aber die schönsten Blumen wachsen wohl nicht unter jedem Himmel. Man muss sie gut pflegen.

 

26./27.8.67 2. Wochenende in Säckingen

Wo wir alles Geschaffene beinahe nötigen, sich mit uns zu freuen, übersteigt das Glück schon alles Maß. Und die Höhen des Glücks sind so hoch wie die Tiefen des Leids tief sind. Lassen wir doch die, die da sagen: "Warte, ich werde dich noch klein kriegen!" Es ist nur die Sprache der Ohnmacht.

 

1.9.67

Wenn ich alles, was uns inzwischen gemeinsam gehört, über Dich geworfen sehe, wie ein geheimnisvoll köstliches Kleid: dann, Liebste, erahne ich etwas von der Sehnsucht, dieses Gut mitzuteilen. Schauder und Wonne zugleich erfassen mich vor solcher Begegnung. Und ich werde Zeuge einer unaussprechlichen, neu sich gebärenden Welt.

"Kuste er mich?

Wol tusentstunt:

Tandaradei

Seht wie rot mir ist

Der munt."

 

2./3.9.67 3. Wochenende in Säckingen

Viele Spaziergänge gemacht und fröhlich gewesen. Wie in einem Boot aus Nussschalenholz fahren wir über einen dunklen See. Man muss aufpassen. Denn schon dicht unter der Oberfläche sind viele Felsklippen und Riffe. Schon im Vorfeld muss man mit den Ruderstangen das Terrain gut sondieren, damit man gut drüber weg oder aber dran vorbei kommt.

Ein Edelstein zierlich gefasst

Zu allerfeinstem Kettlein passt

Doch ist das Kettlein noch so schön,

Vor Lieb will mir das Herz vergehn.

 

8.9.67 Ein Traum

Heute Nacht hatte ich einen Traum, der uns betrifft. Ich war gerade dabei, zu Besorgungen in die Stadt zu fahren, da kam mein älterer Bruder auf mich zu und rief: nun wär es aber an der Zeit, dass bald ein neuer Erdenbürger zur Welt käme. Drauf eile ich in den Garten, wo im hintersten Winkel ein Kinderwagen steht. Und als könnte es nicht anders sein, greife ich hinein und hole mein Kind heraus. Es ist ein Prachtskind, ein Bübchen, schon groß genug um mir beim Essen, das dann folgt, auf dem Schoß zu sitzen. Seine winzigen weichen Härchen streifen mich mitunter, dass mir ganz wohlig ist. Im Übrigen aber ist er durchaus nicht nur ganz ruhig und zahm. Er bewegt sich und strampelt hin und her, und wenn er auch nicht schreit, so hat man doch vollauf mit ihm zu tun. Alsbald schon, wie der Gott Hermes oder Apoll, klettert er um den Tisch zwischen den Stühlen herum. Manchmal muss ich noch helfen, wenn er etwa in seiner Unvorsicht sein Köpfchen irgendwo einklemmt. Alle aber lachen und freuen sich an ihm. Später dann gehe ich mit ihm zur großen Badewanne, ihn baden. Wasserscheu kennt er nicht; locker lässt er sich halten und platscht und strampelt, dass das Wasser über den Wannenrand schwappt. Dann kommt unser Strolch wieder in seinen Wagen.

Im Stillen aber denke ich jetzt, ob er wirklich von uns ist und nicht doch von Deinen Eltern? Und ich rechne auch den Tag aus. Es ist der 17. November. Auch an einen Namen kann ich mich nicht erinnern. Und Eltern benennen doch ihre Kinder, sobald sie zur Welt kommen. Ja, da beschleicht mich nun noch die Furcht, als wüsstest Du noch gar nichts von seiner Geburt. Meine Mutter lobt den Vorsatz, zu Dir zu fahren und flicht auch gleich dazu ein, dem Vater freundlich entgegenzukommen, zumal wo er eben so gut gelaunt ist. Da fahre ich nun also mit dem Rad die Möslestraße (!) entlang, vielleicht um auszukundschaften, ob die Gelegenheit gut ist, während mir Kindertanten mit einer Schar fröhlicher Kinder entgegenkommen.

 

Wo viele niedre Eichenwipfel waren

hin in die Nacht, da standen wir und lauschten

und Regen fiel durchs Dunkel, währenddessen

schon breite Wasser Felsgestein umrauschten.

 

Den steilen Stürmen kaum mehr untertan,

den reißenden, und nicht dem Sturz der Bäche

Und Blitz und Blitze brachen sich die Bahn,

hintreibend des Gewölkes weite Fläche.

 

Und warteten. Und Du und deine Träume

Lockten mich leichter, kaum dass ich es dächte,

Und standen da und sahn durch jene Bäume

Den blassen Umkreis regenschwerer Nächte.

 

9.9.67

Dastehen und empfangen und vom Empfangenen weitergeben, sich beschenken lassen und schenken und spüren, wie einen das Leben trägt. Meine liebe Jutta.

 

10./11.9.67 4. Wochenende in Säckingen

Diesmal mit viel Regen. Wir stehen am Fenster und schauen hinaus. Dann machen wir es uns gemütlich, derweil der Ölofen schnurrt. Lesen im Bergwerk von Falun weiter. Alles steht da so schön, so rührend im Ausweglosen und Dunkel.

 

15.9.67

Ich erinnere mich, irgendwo steht geschrieben, weh dem, der Ärgernis gibt. Ich verfluche Deine Eltern, die mich elend zu Grund richten. Ob sie es nicht auch bald schon geschafft haben, dich klein zu kriegen? Deine Briefe fangen an mit "Mein Geliebter" und hören auf mit einer Dosis Gift.

 

16.9.67

Wer sich nicht entscheiden kann, ist nicht wert, geliebt zu werden. Wo soll ich denn nur die viele Kraft hernehmen? Ich hab gar nicht gewusst, dass Liebe so brutal schwer fällt.

 

8 Gebote hab ich mir notiert für die Ferien in Wyhlen:

Streng Dich an, über Dich Herr zu bleiben.

Reiß dich zusammen, wenn jemand dich reizt

Schimpfe nicht

Mach keine Vorwürfe

Versuche lieb zu sein

Versuche lustig zu sein

Versuche zu lächeln

Sag immer Ja

 

18-21.9.67

Immer das Erlebnis der Angst. Aber schöne gemeinsame Tage in Wyhlen in ein Fremdes hinein, das uns verwandt ist.

O all des Werdenden aus Deinem Namen

Du Übermaß an Strömendem, o Du!

Du weißt die Wege auch, woher wir kamen

Und über allem Strömendem bist Du.

 

Da stehst Du noch und hörest voll Entzücken

Den ersten Anfang, der im Grunde schlief,

das Leben rollen über hohe Brücken

und unter ihren Brücken Wasser tief.

 

Du weißt die Wege auch und die Gelände,

durch die die ersten frühen Stunden drangen,

mächtigen Anrufs Klänge und die Hände

voll sanfter Finger, wo ich hingegangen.

23.9.67

Um 11.58 Uhr Dich nicht am Bahnhof angetroffen. Nun schon 4 Stunden in angespanntem Warten. Dazu ein Schwindelgefühl, das mich nicht verlässt. Ach, aber man darf nicht klagen. Ich klage auch nicht, wenn ich sterbe. Ich habe alles getan.

 

7.10.67

Deprimierend, wie verkrampft dieser Vater ist, unfähig, seine Zunge zu lösen. Ja, die Kluft, die einen vom andern trennt, muss gewaltig sein. Aber Du bist ganz lieb.

 

20.10.67

Wie ich doch so manches Mal so ungerecht und böse zu Dir bin: weil Du mir nicht gleich hilfst, weil Du mich auf mich selber losgehen lässt, ohne dazwischenzutreten und zu sagen: Martin, weißt Du denn nicht, dass ich immer zu Dir komme, wie sehr man es auch verbietet. Ach, ich Arger, dass ich immer so Dein liebes Gesicht kränken muss! Was mache ich nur! Was für ein Unvermögen! Hilf Du mir, wenn ich Dir so weh tu! Sieh, er macht alles neu. Den Stummen gibt er die Sprache wieder und den Tauben das Gehör. Drum achte nur auf meinen Glauben. Er wird es immer sein, der Dich liebt, nicht die stumm dahinstotternde Zunge. Habe ein wenig Geduld mit mir. Wohin sollen wir denn sonst gehen?

 

***

 

22.10.67

Martin. Du bist sehr sehr lieb. Bernhards Geburtstag. Wie schön wir den Tag uns gemacht haben. Sich einfach freuen aneinander froh und ausgelassen wie zwei Kinder. Martin. Du und ich.

 

29.10.67 Gestern Abend. Wie traurig hab ich Dich nur gemacht. Was ist nur mit mir.

Heute eine wunderschöne Herbstwanderung zum Lindenberg. So froh beisammen. Martin, Du mein ganz lieber Schatz.

 

1.11.67 Fest Allerheiligen

Geburtstag Deiner lieben Mutter. O Martin. Mein ganzes Herz sehnt sich mit Macht an Deines. Wie tief habe ich Dich betrübt, bis ins Innerste verwundet. Immer wieder auf andere Weise. O Du, Martin, warum muss ich mich immer tiefer in Schuld verstricken vor Dir, der so groß ist in seiner Liebe? Welche Unstetigkeit in meiner Seele. Welches Unvermögen. Dabei würde ich so gern alles richtig, schön machen für Dich. O und wie viel Unschönes ist mit mir verbunden, das sogar ? ich verzweifle mehr und mehr an mir selbst. Was hast Du überhaupt an mir? Vielleicht ein paar schöne Minuten, aber mit wie viel anderen musst Du sie bezahlen. Und wenn Du Schwierigkeiten hast, wie kann ich Dir helfen? Nichts vermag ich und so bin ich für Dich ein großes Hemmnis. Natürlich ? Du gibst das nicht zu. O Du mein Schatz, Du wirst mich auch nicht verlassen, Du wirst mir weiterhelfen, und schließlich kann alles noch gut werden. Du bist so lieb, Martin. Und auch Deine Familie ist so nett zu mir.

Man darf nicht schwach sein, nicht traurig. Ich möchte ja Deine Freude sein, Martin. Aber so. Aber es wird alles noch sehr gut werden. Du munterst mich immer wieder so nett auf. Wenn ich Dich jetzt vor dem Schlafengehen noch besuchen könnte! Ohne ein Wort ? einfach bei Dir sein. Aber unsere Gedanken ruhen beisammen in unseren Herzen. Du, Martin. Mein Schatz. Mein allerschlimmster, lieber Bub. Küsschen zum Einschlafen.

Bald machst Du Deine Prüfung. Dann bist Du schon fertig mit dem Studium. Und nächstes Jahr ?

"Welche Größe wir uns anlegen, mit dieser werden wir auch zugrunde gehen." Wie gut dieser Satz von Dir ist. Ich muss ihn mir ab jetzt immer wieder vorsagen, damit er ganz in mein Bewusstsein eingeht. Und dann gewinnen wir wieder 9/10 der Zeit meines Sprechens für uns. Ich bin nun wieder zuversichtlicher.

 

5.11.67

Martin, dass ich Dir solchen Schmerz dauernd zufüge. Dabei kommt es nur darauf an, Dir zu leben. Für Dich zu denken und zu fühlen. O Martin. Wie oft noch muss ich Dich um Verzeihung bitten?! Diesmal ganz besonders. Dabei sind wir so schön beisammen. Du schenkst mir überreich das Glück unserer Liebe.

Lass mich immer Deine Rose sein, mein Prinz. Lass mich die hässlichen Stacheln abwerfen und Dir holden Duft spenden. O, wenn ich es doch vermöchte, in allem Dein zu sein, auch in meinen unüberlegten Gedanken, beim spontanen Erzählen. Sieh, ich bin noch immer jung und werde noch immer lernen können. Martin, sei immerzu geküsst und ganz lieb umarmt von Deiner Jutta. Habe auch Du, mein Schatz, Geduld mit mir.

Herbst. Du hast mir ein neues, sehr schönes Gedicht geschenkt. Wie anders nun die Stimmung, wenn wir altbekannte Wege durch den Wald gehen, hinaufschauen ins buntgefärbte Laub der Bäume, zusehen, wie die gestorbenen Blätter hochaufwirbeln im Wind. Draußen ist es kalt geworden. Freust Du Dich nicht auch noch immer auf unsere Zeit, unser ganzes gemeinsames Leben? O mein Prinz, wie stark mag wohl die Enttäuschung über mich sein. ? Wenn wir uns durch Gnade gefunden haben, so wird uns diese Kraft auch beistehen, unsere Schwierigkeiten, Schwächen und Fehler so zu bekämpfen, dass echtes sinnvolles Zusammenleben sich ereignen wird. Und auch das wird wiederum Gnade sein. Vor einem Jahr hast Du hier herein geschrieben: "Was so begonnen hat, hört nie mehr auf." Martin. Immer Du, mein lieber Prinz.

 

7.11.67

Unbedingtes Vertrauen, sonst müssten wir längst aneinander verzweifelt sein. Immer bist Du lieb zu mir ? aber die Worte vom Sonntag. Wie wenn Du wirklich erleichtert wärest ohne mein Dasein? Aber nein! Martin. Dann könntest Du mir nicht so viel Schönheit schenken. Du. Wie bisweilen unsere Herzen erzittern, wie Du leidest, körperliche Schmerzen ertragen musst ob der Engigkeit und Kleinheit, die Du in mir vorfindest. Wenn ich nur diesen Rahmen sprengen könnte!

 

Heute hast Du ein hübsches Spiel vorgeschlagen für dieses unser Buch, für uns beide. Dieses Mal darf ich beginnen. Du wirst die Bilder dazu gestalten. Bin schon gespannt, wie Du ergänzen wirst. Du mein Schatz! Küsschen

 

Musik verworrener Blick

Waldsaum Du erinnerst Dich kaum

Träume ihr seltenen Räume

Elfen könnten sie nur helfen

Nachtigall wie selten dein Schall

traurig wars gestern und schaurig

heiter geht?s heute weiter

Lausbub schaut aus der Grub

Prinz Ruf mir! Ich bins!

 

8.11.67

Martin, Prinz, mein Liebster! Wie fein ist es bei Dir, wie fein bist Du! Mondsichelküsschen für mich ? soll ich ins Buch schreiben.

Wie großartig und weit ist Deine Seele. Welche Heiterkeit strömt sie von innen aus. Dass ich Dir gehören darf! Deine Jutta bin ich, ganz fest. Und Du, mein Prinz. Ganz gutes Küsschen.

 

10.11.67 Die ersten Stellengesuche geschrieben und Du hast in 6 Tagen Dein Staatsexamen. Wie fein alles wird. Heute haben wir schon eifrig Pläne geschmiedet für unsere Wohnung. Martin, mein lieber Junge, lieber Bub. Wenn es Dir nur noch gut geht bis nächste Woche.

Ähnlich wie dieser Plan könnte unsere erste Wohnung sein. Oder auch der Grundriss des Häuschens, das wir uns einmal bauen möchten. Unten drunter oder oben drüber kann dann noch eine Etage sein, vielleicht auch nebendran als einstöckiges Haus?

Schlaf nun gut, mein Prinz. In 137 Stunden bist Du, mein Schätzchen schon ganz fertig mit Deinem Studium. Du, mein lieber Engel, eigentlich Erzengel, da steckt mehr Kraft darin und Du hilfst mir ja immer so gut beim Radfahren. Lass Dich fest liebhaben, Küsschen Deine Jutta.

 

11.11.67 St. Martin

Ein sehr glücklicher Namenstagabend

 

12.11.67

In der Stadt zusammen Schmuck angeschaut. Nachher ich so ohne Gewalt über mich. Wenn ich nur nicht so leicht zum Weinen käme! Und Du denkst daran, wie man seine Zeit sinnvoller leben sollte. Mein Prinz. Bald hast Du Dein Examen. Und dann kannst Du Dich endlich einmal so beschäftigen, wie es Dein Herzensanliegen ist. Mein lieber Martin, Du bist so sehr lieb, mein Schatz.

 

14.11.67

Du hattest heute Nacht einen hübschen Traum. Du bist in einem Krankenhaus und wartest vor einer Tür, hinter der ich entbunden werden soll. Komisch kommt Dir das nur vor oder unerklärlich, wie das mit Deinem Vatersein möglich ist.

So ein Traum zwei Tage vor Deinem Examen! Das freut mich besonders

 

Die herrlichen Herbsttage. Wir machen kleine Spaziergänge und sind unendlich froh miteinander. ? Wie gern würde ich Dir etwas von der Spannung abnehmen, Martin, mein Schätzchen. Noch 42 Stunden musst Du Geduld üben. Wie ich mich schon freue, Dein Examen mit Dir zu feiern. Und Sonntag werden wir eine feine Wanderung zusammen machen. O Martin, ich bin schon so ungeduldig wie ein Kind und freue mich schon so. Mein lieber Schatz. Küsschen, tausend liebe Küsschen meinem lieben Bub!

 

17.11.67

Tausend liebe Küsschen meinem lieben Prinz, Martin! Jetzt mein Studienreferendar.

Wie glücklich wir feiern.

Martin, Prinz, Schatz, wunderbar Du als Studienreferendar

Studiosus erst charmant

Ist er nun ein Doktorand,

der vertieft die Wissenschaft

mit sternenheller Geisteskraft.

Mein Prinz, Du lächelst heiter schon?

Küsschen meinem Musensohn!

Wie ich mich freue mit Dir auf Sonntag, wo wir eine herrliche Wanderung machen werden! Nun erst noch gute Nacht und träume recht fein von Deinem kleinen Schätzelein.

 

18.11.67

Mein Prinz, mein König, wie stolz ich auf Dich bin! Martin, du bist die Ursache meiner Freude, unsere Freude!

 

5. Im Zeichen der Erwartung

Ein großes Hindernis war nun also inexistent geworden, eine Erleichterung ohnegleichen. Der ewige Unkenruf zu Hause, dass Jutta nun bald mit einem Clochard unter einer Dreisambrücke hausen würde, musste nun verstummen. Sie sagte dazu zwar nie etwas; aber im nachhinein kann man es sich so ausmalen. Zum einen hatte sie zu studieren und sich nicht um Gammler und Wegelagerer zu kümmern. Zum andern wurde es als unmoralisch abqualifiziert, wie in einer wilden Ehe immer mit ein und demselben jungen Mann herumzuspazieren. Dieser Vorwurf blieb freilich bestehen und so war und blieb das elterliche Haus meiner Liebsten bis auf rätselhafte Ausnahmen verschlossen. Aus dem unendlichen Leiden meiner Liebsten hat sich unsre Liebe ernährt und ist groß geworden. Aus einem Brief an ihre Mutter, nach der Liebsten Tod, hab ich Einsicht erhalten, wie sie um die Liebe der Eltern gerungen hat, auch ihres Vaters. So war denn die Liebe meiner Eltern für sie gewiss sehr schön, aber doch immer wieder wie ein Dorn des Leidens, ein leiser, leidvoller Vorwurf: weil sie es doch auch zuhause gerne so schön gehabt hätte. Dessen ungeachtet wächst die Liebe noch immer. Oder kann ihr nicht Wort für Wort folgen, selbst bis in die Interjektionen und Satzzeichen hinein, wie sie für ihre Zärtlichkeit Wege der Liebe bahnt? Da schreibt sie z.B. nicht: "Ich möchte nur eines, Martin: bei Dir sein." Sie schreibt, hundert Mal feiner: "Ich möchte nur eines: Martin, bei Dir sein."

 

19.11.67 Sonntagswanderung

Von Altglashütten über den Zweiseenblick und den Feldberg zum Rinken und nach Himmelreich hinab.

Zuerst in kleinen Etappen vorangeschritten; auf einem sonnigen Bänkchen gerastet. Tee getrunken und Valery gelesen. Das Mittagsbänkchen herrlich gelegen am Feldberg, ganz für uns, mit der langen Alpenkette im Hintergrund. Am späten Nachmittag wird es fast noch etwas dramatisch, wie wir den Weg ins Höllental hinab nicht finden. Phantastisch gleichwohl das Wolkenmeer unter uns, welches die gesamte Bucht des Dreisamtals, das Höllental hinauf bis nach Posthalde, füllt. Später dann auf verwegen steilen "Pättchen" am Bahnhof Posthalde gegen 18 Uhr angekommen. Mit glühenden Ohren und gutem Appetit. Nur musstest Du leider gleich nach Hause.

 

22.11.67

Wie würden wir uns erfahren, wenn wir uns verwandeln könnten, wenn ich Du wäre und Du ich? Welches aber ist denn dann unser nicht austauschbares Ich und wo ist es zu Hause? Denkt man nicht drüber nach, scheint alles selbstverständlich, wo wir in Wahrheit uns doch auf ein großes Märchen einlassen, das wir auf gewisse Weise selber gestalten und das schön werden soll.

 

1.12.67

Entsetzliche Lähmungen, die uns immer wieder packen und die wir nicht begreifen. Hab ich Dich etwa nicht lieb oder ließest Du es an Liebe fehlen? Bin ich nicht Dein kleiner Prinz und Du meine kleine Prinzessin und steht nicht schon eine schöne Karosse vor der Türe bereit, uns in das Land zu bringen, wo "im dunklen Laub die Goldorangen glühn" und "wo ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht?" Du bist da und ich, dein Prinz, flüstere Dir ins Ohr: "Ich bins!"

Ach Du meine kleine Jutta, ich Dein dummer Knabe, weil ich so wenig begreife, worum es geht. Wie, wenn wir nur noch in der Sprache der Küsschen miteinander sprächen? Und immer müsstest Du ein Röschen, natürlich ein Röschen ohne Dornen, von mir annehmen und ich drückte es Dir ans Herz. Oder ich streichelte Dein Haar, derweil Du schon schliefest. Im Schlaf aber lächeltest Du mir zu, meine kleine Geliebte. Aber da zerfallen immer wieder meine schönen Vorsätze und ich sehe, wie blass und unwert ich dastehen. Doch davon soll ich jetzt nicht weitererzählen. Viel besser, wenn ich Dir sage, dass ich Dich trotz allem so unsäglich gern habe, so gerne, wie sonst nichts.

Du bist lieb. Du nimmst alles an. Ich weiß, dass Du auf mich wartest. Du sagst mir gute Nacht. Und ich sage Dir gut Nacht. Und wir werden eine gute Nacht haben, weil wir wissen, dass alles gut wird.

 

6.12.67

Was für ein ruhiges, ausgeglichenes Verweilen beisammen! Da ist es mir dann selber ein Rätsel, dass dazwischen doch immer noch etwas sich meldet, was sein Recht verlangt: etwas Stürmisch-Schreiendes, Verunsicherndes, Heimatlos-Machendes. Ob man das nicht auch noch zähmen kann, dass es nicht mehr hervorbricht, wann es will?

Weißt Du noch, wie gestern die Kerze so schön brannte und der Wachsduft zu uns emporstieg? Und wie uns war, als verjüngten wir uns andauern, vielleicht bis ins Stadium des Kindes zurück? Es ist wohlig, Dich als Kind neben mir zu wissen, ebenso wie es wunderbar ist, Dich als Mütterchen bei mir zu haben. Beides zugleich, je nachdem. Wenn Du hinter mir auf dem Rad, auf dem Gepäckträger sitzest und Deine Hände an mich drückst, oder wenn ich neben Dir sitze und ich Dich umarme und ich mich an Dich anlehnen kann.

 

9.12.69

Jutta, meine Jutta!

 

12.12.69

1 Uhr nachts. Ich war schon am Einschlafen. In Gedanken hatte ich mich noch ein bisschen zu Dir gestellt, da war mir, als hörte ich Deine Stimme. Wie vor 4 Jahren. Ich habe das Licht nochmals angeknipst, um es aufzuschreiben, wie wunderbar ich Dich allüberall erfahre. Auf wie viele Weisen Du doch bei mir gegenwärtig bist. Aber wir werden wachsen und dann wird der Tag kommen, wo ich das Schöne, was Du mir sagen wirst, gar nicht mehr aufschreibe, weil Du es mir direkt ins Herz sprichst. - Schlafe fein!

 

14.12.69 Traum

Mir war, als ob ich etwas Wirres geredet hätte. Etwas Unbestimmbar-Bedrückendes war in allem. Du hattest Dich verlaufen und deine Schritte hatten das Lächeln Deines Gesichts mit sich genommen. Und mir war, als ob nun auch noch alle Erinnerungen sich zu unseren Ungunsten verändern müssten. Und ich stöcherte umher auf dem Grund meiner Seele, das Glück eines unbedingten Vertrauens wieder zu entdecken. Aber es war zu spät. Zu lebhaft ging der Verkehr über die Straßen. Und ich ging dahin mit der Hoffnungen auf den nächsten Morgen, an dem ich Dich wiedersehen sollte.

 

16.12.69

Jutta, wenn Du nur da wärst! Ich habe so furchtbare Angst. So vieles, was an mir reißt, als ob alles in einem außerordentlichen Taumel inbegriffen wäre. Wie gern würde ich alles festhalten, was uns zusammen verbindet. Warum ich nur immer scheitere? Darf ich nicht ruhig hinschauen zu Dir? Die Welt gebiert sich täglich von neuem und stirbt wieder ab. Aber es ist nicht die ewig gleiche Wiederholung, die wir erleben. Die Welt scheint trotz ihrer Wiedererstehung immer weiter auseinander zu fallen. Wie wünsche ich doch, dass Du immer bei mir bist, wir in einem starken Bund. Wenn Du tot wärest, so wollte ich, ich könnte sofort sterben. Aber wir werden leben, mit der Kraft, die aus Dir kommt. O, ich bin so müde. Lass mich den Kopf an Dich lehnen! Bleib da!

 

20.12.69

Jutta, ein Wissen um Dich, das mich froh macht. Wir enttäuschen uns nicht. Du bist bei mir!

 

22.12.69

Morgen Dein Namenstag.

Dabei schaut es draußen schon so recht nach Winter aus und nachts muss ich mich nicht selten anstrengen, die Füße warm zu halten. Du auch?

 

22.12.69

Ja, Martin. Du und ich. Immer warten wir noch aufeinander und sind doch immer schon beisammen.

Du, wie mag ich es, wenn Du aus Deinen reichen Tiefen mir mitteilst. Oder wenn Du schweigst, manchmal lächelst.

Unendliches Glück, stets neu in der gegenwärtigen Erfahrung.

Dein Püppchen muss nur noch Augen bekommen, um recht zu sehen und Füße mit Schuhen, damit es den richtigen Weg einschlagen kann.

Mein Schatz! Wärme Deine kalten Füße an meinen; sie sind so warm für Dich, mein Prinz

 

4. Adventssonntag ? Heilig Abend

Heute Nacht - Weihnacht. Martin, mein allerliebster Schatz. Mein Prinz. Es kommt nur auf die Liebe in unseren Herzen an.

Ich freue mich, mit Dir in einigen Stunden zur Christmette zu gehen.

 

25.12.69 Weihnacht bei Euch

Wie viel Liebes kommt uns entgegen! Du, Martin, wunderbar in Deinem Reich, das immerzu unser Reich sein wird. Unser Goldreif. Küsschen, immerzu, Du herzenslieber, Du mein Prinz

 

27.12.67

Welche Traurigkeit schnürt mir die Brust zu. Warum der Hang zum Weinen? Unerklärlich. Ein Ausweichen? Wovor? Wohin? - Unendliches Bedürfnis, bei Dir zu sein, ganz. O, verstehst Du mein kleines Herz ? viel zu eng kommt es mir vor bei Dir. Du aber machst es immer etwas weiter. Lass mich ganz ruhig Dein Haupt umfassen, Dich anschauen. Was bedarf ich dann noch? Du ? ja Du denkst auch nach hier, in dieses Zimmer, zu mir. Martin.

Diese dunkelroten Rosen ? die ganz großen magst Du nicht, sie erinnern Dich an den Tod. Die geöffnete, blutrote Knospe.

Manchmal schaust Du mit einer Art transzendentem Blick auf die irdischen Dinge.

Wenn wir sterben, dass uns gleichzeitig gemeinsam, gleichsam als eins in der Tod gehen.

Wenn ich mich nun schlafen lege, bist Du bei mir, mein Geliebter. Du, allezeit Du. Dieses unfassbare, manchmal betäubende, verwandelnde, das mit uns vor sich geht. Mein Prinz, ich lege mich in Deine Arme ? sieh, unter Deinen sanften Liebkosungen bin ich eingeschlafen. Schlummere auch Du sanft an meinem Haar, mein Täubchen.

 

28.12.67

Martin, Du bist so lieb. Wir brauchen uns so sehr.

 

30.12.67

Vielleicht muss man gar nicht alles miteinander besprechen. Allein das So-Dasein, miteinander, zusammen, ist so unendlich viel. Welch tiefes Glück erlebe ich an Deinem Herzen, mein Bub. Du hast noch immer manchmal solches Herzklopfen und Sehnsucht nach mir wie früher ? lustig für mich; nein, nie darf es anders werden! Sonst würden wir entsetzlich alt.

Bist Du auch abends oft traurig? Dann denke ich an Dich, wie fein es wäre, bei Dir zu sein. Wenn wir einmal unser Heim einrichten, Du liebster Martin. Eigentlich dürften wir gar nicht so weit voneinander entfernt sein wie jetzt.

Dir liebe Gute-Nach-küsschen und morgen früh begegnen wir uns wieder auf dem Weg zur Kirche. ? Jetzt lese ich noch in Deinem Tagebuch. Schätzchen Du! Ganz Dein

 

5.1.68

Das Neue Jahr. Wie sich zu Beginn schon alles überstürzt.

Silvesterfeier bei Euch daheim, wie glücklich Deine Eltern und wir, Martin und ich. Unsere Liebe ist so festgegründet, dass auch ein gewaltig aufbrausender Sturm uns nur einander in die Arme blasen kann. Haben wir das nicht großartig erfahren?

Vielleicht übersehen wir momentan nicht gleich, wozu die Unwetter gut sind. Vielleicht wirklich zu tiefer Bestätigung? Als eine Art "Versuchung"?

O Du müsstest jetzt hier sein, mein Schätzchen, die noch immer frisch roten Röschen blühen sehen! Hier bei mir sein! Ich lausche hinaus in die Nacht ? aber Du bist jetzt bei Deinem Freund und liest etwas Schönes mit ihm.

Lass uns voneinander träumen! Ist das nicht der einzige Bereich, der ganz uns gehört und in dem wir ganz einander gehören?

Dir, mein Prinz, ganz liebe Küsschen. Heute bin ich schon wieder fast ganz gesund. Träume fein, mein Schatz

 

6.1.68 Mein lieber kleiner Prinz. Solche Sehnsucht nach Dir. Seltsam zauberhaft. Mir ist, als müsse ich Deine Gegenwart hier irgendwie erspüren können. Bist Du nicht überall ganz bei mir? Du, mein Prinz. Bisweilen wirst Du mir auch liebevoller Vater, in den ich mich ganz vertrauensvoll hineingeben kann. O Du, wie beglückend, dies alles so zu erfahren.

Martin. Du bist so unendlich lieb; wie geheimnisvoll bist Du gerade in Deiner Liebe. Wie sanft und stürmisch männlich und zugleich unendlich zart. Geliebter!

 

7.1.68 Sonntagnachmittag

Draußen wirbelnder Schneesturm vor meinem Fenster. Bald werden wir uns zur Andacht treffen. Wie ich mich freue auf Dich, Martin!

 

Ein Traum

Ich bin wieder in der Schule. Das Klassenzimmer ist zwar anders und unbekannt, aber die Mitschülerinnen und unsere Deutschlehrerin sind wie ehedem. Deutschabitur soll abgenommen werden. Im Klassenzimmer ist alles ganz normal, nur ein kleiner rundlicher Kommissar ist dabei. Wer fertig ist, geht hinaus. Schließlich sind nur noch drei im Klassenzimmer, ich bin jetzt an der Reihe. Ich stehe auf und gehe lachend vor den Tisch, an dem der Kommissar mit der Deutschlehrerin steht. "Welche Bedeutung hat der Frühling?" werde ich gefragt. Da sehe ich sogleich herrlich grüne und blühende Frühlingslandschaften vor mir und beginne aufzuzählen, was da alles wieder grün wird und wie es zu blühen beginnt: in den Blumengärten, auf den Feldern und in den Wäldern. Dann fahre ich fort, dass vor allem auch im Mai die Nachtigall wieder zu singen beginnt und dass man da schöne große Wanderungen machen kann, wo man sich abends bei einem Gläschen Wein noch herrlich über alles Schöne und Erlebte unterhält. ? "Und was ist die Hauptsache, die der Frühling bringt?" wollen sie noch wissen. ? Da aber kommt es wie eine große Erleuchtung über mich und ich sage: "Das Leben!" Und ich lächle, wie es so aus mir heraussprudelt, und erwache dann in einem glücklich erregten Zustand.

 

13.1.68

Martin! O Du! Ich liebe Dich, selbst wenn Du es manchmal nicht merken solltest. Immer. O Du weißt es. Wie sehr ich nach Dir Sehnsucht verspüre, als müsste ich Dich mit jedem Atemzug herbringen. Ach und dann eine solche Ohnmacht. Verrückt, etwas zu wollen, was von vornherein völlig unmöglich ist. Ja, es tut weh, nur so eingeschränkt zu lieben. Manchmal meint man, der Schmerz werde unerträglich.

Du, ich bin so aufgewühlt. Dein Bild und Deine Gedichte werde ich lesen und ganz an Dich denken; dann sind wir beieinander. ? Du, mein Schatz! Ganz langsam durch Dein gelocktes Haar streichen und in Deinen Augen untertauchen.

 

14.1.68

Was für einen herrlichen Traum Du mir da mitgeteilt hast, mein Liebling. Wirklich das Schönste, was man erträumen kann und was ich bislang gehört habe. Und meint er nicht gerade auch uns, dein herrlicher Traum, sodass er auch uns beiden gehört? Darf ich ein paar Worte sagen, nicht zur Lösung, die hast Du ja schon gegeben, sondern zu dem kleinen Missverständnis, das Wein-Trinken am Abend und das abendliche Weinfest betreffend?

Offenbar hatte der analysierende und kategorisierende Verstand des Kommissars damit ein wenig seine Probleme. "Welche Bedeutung hat der Frühling?" so heißt doch die erste Frage. Da beschreibst Du das Brausende des Frühlings: die Knospen und Blütenbildung, das Grünwerden und Buntwerden in der Natur. Du beschreibst also ein Spiegelbild der äußeren Natur, die Frühlingslandschaften als Gebilde der Sinne, in ihrem äußerlichen Aufscheinen. Wie im Rausch, wie im Übermaß, grünt es und blüht es und tönt es und zwitschert, überall und ohne Zahl. Dann aber, bei der abendlichen Rast, wenn es rundherum schon dämmert und dunkel wird, kommt es zu einer Verdichtung, die immer ein Werk des Geistes ist. Vom Einzelnen und Mannigfaltigen, von den Sinnesdaten führt der Weg hin zu einem Ganzen und Geistigen.

Wie herrlich geradlinig Du alles entwickelst? Oder wie es sich Dir im Traum entwickelt. Und so ist es gerade die abendliche Rast, wo sich bei einem Gläschen Wein endlich die gesamte Mannigfaltigkeit zu einem einzigen großen Erleben verdichtet: dem Erleben des Lebens. Zumal wenn man mit in die Betrachtung bringt, dass Du ja nicht alleine bist, weder bei deinen Erkundigungen bei Tag, noch auch am Abend ? und da darf ich mir doch ein wenig schmeicheln, dass ich es bin, der bei Dir sein und sich mit Dir unterhalten darf ?, da wird der Gedanke an das Leben auch noch von den beiden sich Unterhaltenden aus wach. Da ergibt sich diese Summe bzw. diese Abstraktion fast wie von selbst.

Im Mythos übrigens erscheint der Gott mit dem Wagen. Tiger ziehen seinen Frühlingswagen, den die reife Rebe ziert. Und alles, was Triebe erbringt, was treibt und erblüht, ist mit auf seinem Wagen dabei; also auch wir. Das alles hat zugleich mit Maß und Übermaß zu tun: Maß, das die Tiger zwingt, den Wagen sicher vorwärts zu bewegen und Leben aufzubauen, ordnungsgemäß, auf ein festes Ziel hin; und Übermaß im Hervorbringen des Einzelnen. Im Weinfest am Abend aber geschieht die Feier der Gesamtheit des Gewordenen in der Trunkenheit des zeitlosen Augenblicks unter dem Zeichen der Rebe. Daher ist es nur noch ein kleiner Schritt, diese Bewegung rückblickend und ergebnissichernd als Leben zu bezeichnen. Ja, ich möchte meinen, dass all das Werden ohne diesen Wein zu überhaupt keiner Bedeutung gelänge. Wein und Leben sind fast gar synonym. Der Frühling bringt den Wein und der Wein den Frühling. Wir können freilich auch sagen: Der Wein macht die Mühen auf das werdende Leben hin erträglich und das Leben kulminiert in der Freude des gesellig getrunkenen Weins. Das wissen wir doch alles. Nur dem denkenden, analysierenden und zensierenden Verstand scheint dies nicht klar und fasslich genug zu sein.

 

Samstag 23 Uhr

Heute zusammen in Offenburg gewesen und die Stelle in der Frauenklinik bekommen. Abends beim Nachhausefahren mit dem Bummelzug beginne ich zu jammern und rede von Dingen, die ich nie sagen dürfte. Warum zu ich Dir nur immer so weh! Ich versteh mich ja selber nicht recht. Dabei liebe ich Dich doch so. Das sollte einem doch nicht das Recht geben, sich immerfort auszujammern, sondern das Vorrecht, auch mal für den anderen etwas auf sich zu nehmen. O, da bist Du mir meilenweit voraus.

Zu zweit sein und doch allein: das ist keine Kunst, das ist Ohnmacht. Aber allein sein und doch zu zweit: das ist Tapferkeit und Kühnheit und gibt einem ein Anrecht auf den Himmel.

 

15.1.68

Jutta, immer wieder überdenke ich den Verlauf unserer Geschichte, die Geschichte unserer Liebe: wie aus einem Anfang alles sprießt und erwächst und sich erweitert und verknüpft. Immer wieder in neuer und umfassenderer Gestalt eins werden und die Einheit erfahren: eine solche Liebe beglückt über alle Maßen. Da darf man getrost alle Gefahren in Kauf nehmen, weil sie nichts dagegen bedeuten. Ja, Liebste! Die Liebe, die Du mir ins Herz flößest, sagt mir doch schon lange, dass der Glaube genügt.

 

18.1.68

Die Philosophie des Einatmens und des Ausatmens als die Philosophie des Lebens: immerwährende Sehnsucht nach Glück und glückliche Ruhe. Anders die Versuchung und Verlockung des Glücklosen. Er entweicht, sucht sich zu verstecken, zu verschanzen und verschließt sich so dem Glück. So etwa singt ihm der Chor der Sirenen oder der Mänaden vor:

Kriech hinein. Im Kern der Steine

Nimmer steigst du wunders aus.

Härte gibt dir Halt und eine

Bleibe und ein festes Haus.

Aber es ist eine Falle, eine Sackgasse.

 

26.1.68

Wie die Minuten, in denen wir zusammen sein dürfen, zu etwas außerordentlich Großem und Kostbarem anwachsen, wirklich kaum zu überschätzen! Und machen wir es richtig und nutzen wir die Zeit, so lernen wir, mitttels kleinster Vorgänge das größtmögliche Glück zu erfassen. Was für großartige Erlebnisse!

 

28.1.68

Manchmal sind wir ein wenig traurig, weil sich etwas über uns wälzt, was vom Allein-sein herrührt. Und dennoch bist Du da. Liebe. Nicht nur das Bildchen. Du solltest die Püppchen sehen, wie sie so ruhig bei mir sitzen! Was für herrliche Vorbilder! Sie lassen sich durch nichts stören.

 

30.1.68

Jutta, so wie Du möchte ich sein,

an jedem Gestern, in jedem Heute und an jedem Morgen

und ich kann es,

weil ja das Deinige auch mir zu eigen ist.

 

2.2.68

Oftmals frage ich mich, was die Liebe sei. Und es fragen mich deine Lippen, dein Haar und die Gestirne Deiner Augen, was sie wohl sei. O Du!

 

4.2.68

Mein Herz hängt an Dir, wie eine schwere Kette um Deinen Hals. Liebste. Und Dein Herz hängt an mir. Hol mich heim, Liebste!

 

9.2.68

Klinikerfasching

Wo wir beinahe den Termin verpasst hätten, finden wir uns alsbald nach kurzer, lustiger Vorbereitung zusammen. Du hast Dir ein Fastnachtskleid zusammengenäht aus zwei Badetüchern: vorn ein hellviolettes, hinten hellgrün, worauf Du ein paar Tier geheftet hast. Dann die hübsche Gesichtsbemalung, wobei ich Dir noch ein Weilchen zuschauen durfte, als ich Dich abholen kam; und endlich noch die beiden niedlichen Haarschwänzchen um die beiden Ohren herab; während ich mich in meiner hellen Hose und dem dunkelschillerdnen Hemd mit dem von Deiner Hand so kühn verfertigten jovialen Schnauzbärtchen so recht wie ein salopper Salonlöwe ausnahm.

Wir tanzten recht vergnügt und heiter zusammen; hatten auch ein Sitzplätzchen für uns, wo uns niemand stören konnte, und vergnügten uns mit einem Glas Gutedel und Burgunder, bis dass um 2 Uhr der Tanz zu Ende war. Es war unser erste Tanz dieses Jahr. Sicher gehen wir aber noch ein zweites Mal aus, Du und ich, wenn Du auch fürs Examen noch feste arbeiten musst. Wir freuen uns immer so zusammen: das ist das Allerschönste.

 

11.2.68 Sonntagabend 21 Uhr

Mit einer Gewalt ohnegleichen drängt es mich nach Dir. Wier weit wir doch auseinander sind. Aber Du musst ja auch dieser sanften Gewalt widerstehen, musst auch das Alleine-sein ertragen. ? Komm, leg Dein Köpfchen zu mir und schlummre ein wenig, dass ich über Dir Wache halte.

 

13.2.68

Das Schöne des Noch-nicht-Daseienden. So wie die morgendlichen Felder am Fuß des Schwarzwalds darauf warten, mit dem einzigartigen Licht der Sonne erfüllt zu werden, während sich die Schatten vermählen, so warten wir darauf, bis Du im Herbst Deine erste Praktikantenstelle als Ärztin in Baden-Baden antrittst. O es ist wunderbar dieses über uns aufsteigende Licht jetzt schon vorauszusehen und vorauszubeschreiben. Denn im Noch-nicht ist ja bereits das Ist gewiss und gegenwärtig, wie dramatisch der Prozess auch sein mag. Und drückst du mir mein Schwänzlein ein, so musst Du wohl mein Räuber sein.

 

18.2.68

Sonntag und viel Sonne. Wie das Jahr ansteigt. Es ist wunderbar, dieses erwachende Leben, diese Lebensschreie aus neugefühlten, neugefüllten Kehlen.

Um 14.30 Uhr werden wir einen schönen Spaziergang machen.

 

Ein paar Frühlingsliedchen

Die Sonne nach oben

zum Himmel droben

nimmt ihre Bahn.

Komm setz Dich nieder.

Wir singen Lieder und schauen uns an.

 

* * *

 

Deine Hand auf meine Hand,

das gibt das schönste Frühlingsband.

Unten ist das Vaterland,

oben ist das Mutterland.

Und Vaterland und Mutterland,

die sind sich beide wohlbekannt.

 

* * *

 

Hinein in das Jahr

Ohn alle Gefahr

Werden wir gehen

Und hinter uns lassen

Des Windes Wehn.

 

* * *

 

Wenn die wilden Hexen schrein,

schließen wir sie einfach ein.

Wenn sie aber zwicken und zwacken,

werden mit spitzen Fingern sie packen,

packen an wie eine Laus,

werfen zum offenen Fenster hinaus.

Du bist mein, ich bin Dein,

niemals soll es anders sein.

 

23.2.68

Ein ganz neues Gefüge bringt nun die semesterfreie Zeit mit sich: Du arbeitest fürs Examen und ich halte Schule. Aber dann bist Du wieder bei mir und wir schließen uns fest in die Arme und können auf einmal wieder beide fest lachen.

 

24.2.68

Glaube, Hoffnung und Liebe. Erleben wir sie nicht immer wieder neu? Zusammen weitergehen dürfen, wo schon ein Engel den Ankommenden mit dem Gottesschwert wehrt.

 

27.2.68

Du, nur Du.

Allein die Liebe lebt überreich und übermächtig.

 

Du hast den Purpurmantel Deiner Liebe über mich gegossen,

mich bei der Hand gefasst, nun führst Du mich,

in Deine Anmut, Deine Schönheit eingeschlossen

Und ganz für Dich.

 

29.2.68

Leben ? was ist das? Ob wir es je zu fassen bekommen? Vielleicht in manchen Augenblicken, wo sich alles in uns verdichtet und zugleich weitet. Wenn ich bei Dir sein darf. An Deiner Schulter lehnen, Dich anschauen und umfassen darf. ? Wie viel bin ich allein, in Gedanken aber bist Du immer bei mir. Du und ich. Wir. ? Und dennoch. O wie armselig ich bin. Oft wenn ich nicht recht arbeiten kann, nicht die Energie aufbringe, mir einen Ruck zu geben ? wie muss ich mich schämen vor Dir, der vor Energie sprüht und gar nicht alles unterbringen kann, was in ihn hinein und aus ihm heraus zu strömen sich drängt. ? Wie unnütz stehe ich oft herum, vertue die Zeit, und was ist strafbarer! ? Wie sehr verstehst Du, mich zu lehren: bewusst zu leben. Alles so zu tun, dass es sinnvoll, recht und der eigenen Person gemäß ist. Verzeih mir, Martin. Heute bin ich sehr unzufrieden mit mir. Morgen möchte ich mir mehr Mühe geben. Für Dich. Für uns. Letztlich für Gott.

Guten Kuss Dir zur Nacht. Deine Jutta

 

5.3.68 (Geburtstag von Juttas Vater)

Du bist die Welt für mich.

Ich liebe Dich, nur Dich.

Sag mir noch einmal:

Ich liebe Dich!

Mein Engel! Wie zieht es mich in Deine Arme! Du, mein Geliebter. Gute Nacht, mein Schatz.

Ich muss mein Herz noch immer verschlossen halten; wie lange noch? Du, nach Dir sehnt sich jede Faser meines Seins. Du, mein Prinz. Martin/Jutta

Ich umarme Dich und bin ganz mit Dir in Gedanken, die Nacht. - O mein Schatz! Martin. Tausend Küsse Dir!

 

7.3.68

Soeben hast Du angerufen. O Du, mein Schatz! Jetzt kann ich wieder ruhig weiterarbeiten, da ich weiß, dass es Dir gut geht. ? Schätzchen, mein lieber kleiner Prinz! Martin!

 

9.3.68 Samstagabend

Manchmal glaube ich, man muss sein Empfinden völlig abtöten ? zeitweise. Vielleicht macht auch die Materie dauernd steril.

O Du! Es macht mich ganz unglücklich, dass ich Dir nicht sein kann, was ich gerne wollte: ich bin zu sehr mit mir selbst beschäftigt zur Zeit. Ich hoffe so sehr, dass Du mich nicht als kühl empfindest.

O all des Versteckspiels! Wann ? Nein. Glaube immer, dass ich nur mein Ziel, mein einziges Glück und Wollen darin sehe: Dir mein Herz, mich zu schenken.

O es kann mich ganz trostlos machen, wenn ich denke, Du könntest das anders meinen. Vielleicht liegt es auch an den vielen moralischen Reden, wenn ich vielleicht "reserviert" erscheine. Aber auch wenn ich mich jetzt so sehr auf das Lernen konzentrieren muss, lass uns ganz fest beieinander sein, auch jetzt; ich glaube, dass ich Deines Schutzes nun erst ganz besonders bedarf. Du bist so unendlich lieb und verständnisvoll! Du, Martin! ? Du zeigst Dich so sehr als Mann, als meinen Mann, Martin.

Nachher lese ich noch Dein Theaterstück "M. Brutus"

Warum die Angst, Du könntest mich nicht immer ganz lieb haben, so wie auch ich Dich immer ganz lieb haben will. Küsschen

Siehst Du, manchmal möchte ich mich nur ganz fest, ruhig an Dich lehnen, mich in Dich versenken ? dann wieder bin ich ungeduldig oder nervös; verzeih mir, Schatz.

Für heute Schluss. Jetzt widme ich mich nur noch Dir. Du

Manchmal meine ich, ich müsste einfach weinen, weil Du so weg bist, so unerreichbar weg. O wie lange diese Sehnsucht , diese Glut löschen.

Du bist so stark. Du bringst alles mit virtus gut fertig.

Martin! Lass mich den Kopf an Deine Schulter lehnen und so bleiben ? lange, bis Du mich fest in Deine Arme schließt. ? Jetzt denkst Du wohl auch ein bisschen nach hier, mein Prinz? Dann lass uns zusammen in diese Nacht uns übergeben! Wenn es nichts gäbe, was höher steht als der Mensch, dann wären unsere Mühen sinnlos.

 

10.3.68 Sonntag

Du, Martin. Es wird alles gut gehen. Du bist so stark. Jetzt kann ich noch ein wenig in die Nacht hinaus lauschen; die Regentropfen fallen hören, den Sturm, der am Fensterladen zerrt und rüttelt. Wir sind ineinander geborgen, wir in Gott.

Heute Abend Psalmenpredigt: Der Herr ist mein Hirt; nichts wird mir fehlen. ? Die Wohnung, in der er uns für immer wohnen lassen wird und an der er uns schon jetzt Anteil haben lässt.

 

16.3.68 Samstagabend

Wie schön die Nachmittage in der Frauenklinik. Martin! ? Wie Du mir fehlst. Die Forsythienzweige sprechen zwar von Dir ? aber ich sehne mich nach Deinem lieben Gesicht, Deinem Blick, wenn Du mich anschaust, Deiner Hand, wenn sie die meine hält, nach Deinem Atem, Deinem Herz, Du!

O Martin! Allein sein müssen am Abend. Wie furchtbar lange dauert es bis morgen zur Kirche! Dann aber, morgen Abend, werden wir wieder ins Theater gehen! Schatz, darauf freue ich mich so sehr. Du mein lieber kleiner Prinz; ach ich muss eben bis morgen warten, und wenn es noch so weh tut. Schätzchen, tausend Grüße Dir und unendlich Küsschen! Martinjutta.

Dabei kann ich heute gar nicht arbeiten. Ich brauche Dich so sehr!

Diese kleinen Forsythienblüten erzählen immerzu von Dir. Denkst Du auch an Deine Jutta? Hast Du auch solches Heimweh?

 

18./19.3.68

Jetzt werde ich ? im Schlaf, im Traum? ? ganz bei Dir sein, o mein Geliebter. Hinauslauschen in das Stürmen und Regenprasseln, wie gestern Abend, als wir zusammen voller Glück und unendlich traurig-süßer Sehnsucht unter dem Dach an der Haustüre standen nach dem Theaterbesuch und dem feinen Abend im Goldenen Engel! ? Wie lieb Du Dir immer etwas Schönes für uns einfallen lässt! Du, Martin! Schätzchen!

Ich denke, auch Du lauschst hinaus in die Nacht, in den Wind; und so denken wir fest aneinander. Du-ich. Mein lieber Prinz!

Dann werden wir ineinander versunken vom Schlaf entführt - zueinander, in einen anderen Bereich.

 

19.3.68

Jutta, du bist lieb ? ich liebe Dich.

Auch mit dem Teil in mir,

den ich nicht verstehe,

auch mit dem Teil in mir,

der mir immer fremd bleiben wird,

sage ich dir in dein Ohr,

sag dirs in deine Augen,

sag Dirs in deine Hände:

Du bist lieb, Jutta ? ich liebe Dich;

auch mit dem Teil,

den ich noch nicht verstehe in Dir,

vertrauend immer auf Dich.

Du bist lieb, Jutta ? ich liebe Dich.

Armselig, Liebste, lass uns sein

Und wie die Kindlein lass uns freun.

 

20.3.68

Lauschen, wenn Dein Herz schlägt, Deine Hände um meinen Kopf spüren und mein Glück an Deiner Brust. Es ist schön, sich ein so Großes sein zu dürfen.

 

22.3.68

Von einer Hochzeitsreise im Wachen geträumt.

 

23.3.68

Abends, nach dem Abhören in der Examensgruppe, mit dem Rad von Herdern nach Hause gefahren. Es sollte einen nichts bedrücken, wenn man so beieinander sein möchte.

 

24.3.68

Immer möchte ich über Dich nachdenken, Jutta, und eine Sprache finden, die Deine Sprache mitträgt.

 

25.3.68

Wie schön heute Nachmittag an der Dreisam, mit dem Frühlingsrauschen im Ohr, dem Schnee auf den Bergen ringsum und der prallen Sonne im Gesicht.

Nun geht auch dieser Tag zur Ruhe.

Die Dämmerung kehrt stille ein.

Der Wanderer zieht aus die Schuhe

Und schließt sich in der Kammer ein.

 

27.3.68

Heute Morgen kam ein lieber Brief von Dir. Mutter brachte ihn mir herunter ans Bett. Ich war aber schon hellwach. Wahrscheinlich wolltest Du es so.

Deine Briefe sind so lieb. Sie halten das Gewordene fest, unser Gemeinsames. Heute ist es wieder so schön draußen. Ich freue mich schon auf Deine Stimme am Telefon, auf unsere Spaziergänge, auf Dich. Juttamartin.

Du, der uns seinen Namen genannt,

Du nimmst uns auf in deine Hände!

 

30.3.68

Deine Briefchen des Morgens im Briefkasten aufgefunden, sind in diesen Tagen wo wir uns nicht sehen, die schönste Überraschung.

Diesmal schreibst Du einiges zu Werfels Jakobowski, welchen wir beide ? allerdings an verschiedenen Orten ? uns angeschaut haben. Es fällt Dir gleich auf, wie Du Dir das Stück vom Schluss aus noch einmal anschaust, dass sich einiges ganz diametral zum Anfang hin verhält; und zwar nicht aufgrund einer detaillierten Entwicklung, als vielmehr in prätentiöser oder didaktischer Absicht so hin verschoben, insbesondere, was den Oberst angeht. Der Zuschauer hat zweifellos schon auf den tragischen Ausgang gewartet, er hat ihn schon sich auszumalen versucht, als Jakobowski ein zweites Mal auf die Toiletten emigrierte. Aber der Oberst, dieser zu Tode getroffene, entmenschlichte Mensch, wird wieder Mensch; kehrt zurück dorthin, woher er einmal kam, leider aber nur durch die Kunstfertigkeit des deus ex machina, seines Autors.

Im Übrigen zeigt sich im Oberst das expressionistische Glaubensbekenntnis an den Menschen. Dieser Oberst, chaplinsch, in eine ihm ungute und unheilvolle Atmosphäre geworfen, verteidigt auf beinah heitere Art die blanke Existenz mit dem Doppelgesicht, von denen eines gut ist, das andere böse. Nur dass es eben nicht in der Macht des Menschen steht, sich bald so, bald so zu entscheiden. Mag der Mensch auch grundsätzlich auf zwei verschiedene Pole hin programmiert sein, mit jedem Tag, mit jedem ihm vertrauten Lebensvollzug schränkt sich seine Wahlfreiheit immer mehr ein. Der Gute kann endlich nur noch gut sein, der Tapfere tapfer, der Weise weis und der Missetäter verroht und in sich unglücklich. Der Mensch des Expressionismus aber, wie ein Warnsignal und Fanal vor der Hitlerdiktatur, hat es vornehmlich mit den Dämonen des Bösen, des Hasses und des Kriegs etc. zu tun, denen sich kein Mensch zu entziehen und gegen die auch keiner sich zu wehren vermag. Das Gute erscheint als Schatten des Bösen, als Vorwurf gelegentlich, als Traum ?

Am stärksten hat mich die Szene berührt, wo Jakobowski - aus welchen Gründen auch immer; er selber meint, es sei ein Wunder; wahrscheinlich mag Werfel tiefere Begründungen seiner heroischen Entschlüsse nicht! ? wo er also bei jenem Bauernhaus dem Oberst und der Geliebten mitsamt dem Diener sein Auto übergibt und zu Fuß auf der Landstraße weiterzieht.

 

31.3.68

Mit dem Bähnchen zusammen in den Kaiserstuhl gefahren, bis Wasenweiler. Von dort die Rebhänge hinauf und gleich oben eine Rast eingelegt. Herrlich die Aussicht genossen hinüber auf die Schwarzwaldberge, die alle von der Höhe aus noch mit weißen Kappen und Mänteln auf uns herüber schauen. Uns aber zu Füßen unter heißem Sommerhimmel die in weißen Blüten schäumenden Kirschbäume. ? Abends bei Wein und Löwenzahnsalat lustig auf der Bank zusammen in der Küche.

 

2.4.68

Es ist gut und tief befriedigend, dass Du da bist. Solche ein Wissen bedarf keiner Worte; sie verfälschen oft nur.

 

3.4.68 Traum

Wir tranken zusammen an einer Theke eine Tasse Kaffee. Anschließend schob der Wirt einem jeden von uns noch eine zweite Tasse zu. Sie war nur halb mit Kaffee gefüllt und schwarz und ungezuckert. Wir präparierten uns den Kaffee nach unserem gusto. Und da einige Gäste an Tischchen saßen, so fragtest Du, ob wir uns mit dieser zweiten Tasse Kaffee nicht auch irgendwohin setzen könnten; was man uns gewährte.

 

4.4.68

Manchmal am Telefon sagst Du: "Ich gehe jetzt gleich einkaufen: Milch, Butter, Tee und Orangen!" Ich frage dann, ob Du noch 15 Min. wartest, bis ich es geschafft habe, aus der Stadt zu Dir herauf nach Littenweiler zu kommen. Klein ist ja jede Strecke, die mich zu Dir bringt. Deine Nähe macht mich heiter und froh. Du meine Liebe, meine Arme.

 

6.4.68

Jutta. Wo Du zu mir mit dem Fahrrad unterwegs bist und Dich ein Auto anfährt.

Schlafe fein! Ich bin ganz bei Dir!

 

14.4.68

Schöne Ostern erlebt. Verstehen setzt wohl ein Maß an Sicherheit voraus. Ich bin so stolz auf Dich.

 

17.4.68

Heute, an Deinem Geburtstag, mit Dir gewandert von Königsschaffhausen aus, vom Rand des westlichen Kaiserstuhls südwärts über Kiechlinsbergen, Oberrottweil nach Achkarren und von dort per Anhalter nach Ihringen und mit dem Zug nach Freiburg zurück. Später noch bei Dir zu Hause. Noch spät in der Nacht das Glühen des Nachmittags im Gesicht. Es war ein herrlicher Tag für uns.

 

20.4.68

Das größte Glück ist das Glück des Wiedersehens. Es ist von einer unergründlichen Art, eine Vergegenwärtigung des bereits erfahrenen Glücks im Austausch mit dem Glück des Jetzt, eine Erfahrung im gegenwärtigen Bewusstsein. Darum ist es ja auch gut, wenn wir uns bisweilen nicht sehen können, wenn wir ganz auf den Schatz unserer Erinnerungen angewiesen sind und von ihm zehren. Gleichwohl warte ich so auf Dich. Aber es ist längst kein aussichtsloses, kein stumpfes Warten mehr, sondern ein Erwarten. Ich wünsche mir, dass unser ganzes Leben ein solches Erwarten ist, auch wenn wir schon lange beisammen sind. Ja auch das expecto ressurectionem geschieht in solcher Erwartung und das ewige Leben wäre dann das unendlich währende Glück unseres Wiedersehens. Dieses Glück, wie oft es auch statthat und wir daran teilhaben, hat seinen Platz in der vita venturi saeculi.

Ich denke an Dich und drücke Dir in Gedanken ein Küsschen auf die Stirne. Liebe!

 

27.4.68

Jetzt aber hat es doch auch mal den Prediger getroffen, ton Chalou. Viele, viel zu viele Tage, an denen wir uns nicht mehr gesehen haben. Eine irrsinnige Last, eine kaum ertragbare Traurigkeit ist nun endlich von den Schultern. Wenn ich Dich nur, während Du tief schliefst und weiter keinen Finger rühren und keinen Wimpernschlag machen könntest, wenn ich Dich da besuchen kommen und neben Dir sein könnte! Ich würde Dich streicheln und liebkosen; ja, da empfände ich wohl zugleich auch alle Dir erwiesenen Zärtlichkeiten wie mir von Dir erwiesene Zärtlichkeiten. Aber jetzt ist alles wieder gut. Du warst ja wieder da. Und ich stehe am Fenster und höre, wie es draußen durch die Nacht regnet.

 

1.5.68

Wenn die Zeit gekommen ist, wenn sie endlich erfüllt ist und wir uns immer liebhaben können. Man meint, sie müsste längst gekommen und da sein, als hätten wir sie verpasst. Aber wir haben sie nicht verpasst, auch wenn mir die Augen zufallen, kaum dass ich die Macht habe, mich dagegen zu wehren.

 

2.5.68

Das Ureigenste ist etwas, was einem nicht mehr alleine gehört. Das Ureigenste ist etwas wie Geben im Empfangen und Empfangen im Geben; ist gegenseitiges Erkennen und Verstehen und Lieben.

 

3.5.68

Jutta- Maria, Gnadenreiche,

Du, die Du lebst, Dir lieg ich am Herzen

Unbeschadet aller Verlorenheit des Daseins.

Du, die du lebst, Dein Bild wird nicht alt.

Du in uns behütet, behütest uns.

In uns geschaut, schaust uns,

in uns geliebt, liebst uns,

in uns mit Lebensatem versehen, du spendest uns Leben.

Und wenn auch verloren geht all unsere Hoffnung,

wenn zu Staub zerfällt, was uns lieb war und teuer:

du wirst nicht vergehen und wirst uns nicht verlassen.

 

10.5.68

Diese Kunst, den Schwerpunkt nicht zu verrücken. Wie schwer im Bereich des Seelischen, was im Körperlichen so leicht gelingt.

Ich liebe Dich, Du, als dürfte ich Dich morgen zum ersten Mal sehen und ginge dann sterben. Aber ich gehe nicht sterben. Wir verwandeln uns nur ineinander. Und so, neu erstanden, betrachten wir uns behutsam staunend abermals von neuem.

 

13.5.68

Nicht erst, wenn alle Zeit vorbei ist, auch jetzt schon weiß ich, wie lieb Du bist und dass es etwas gibt, was unsere Liebe hält.

 

15.5.68

Ist einer allein, er ist und bleibt ja immer allein

zurück ohne alle Gewissheit.

Ist einer allein, er bleibt immer sich selber gegenüber,

so dass er nicht von der Stelle kann, wie sehr er auch wollte,

Ist einer allein, er bleibt sein eigener Schein und sein Ungenügen.

22.5.68

Bedrückt dich ein Leid,

wem wirst du es sagen,

ohne zu rühren an

den empfindsamen Schwingen der Seele?

Aber sagen musst du.

Früher nicht, als bis alles gesagt ist,

wirst ganz du über dich verfügen.

Leiden aber kommen vom Nicht-sagen-können,

vom Nicht-finden gesicherter Worte,

von Worten, die verloren gegangen

im allzu langen Auf-sich-gestellt-sein.

 

25.5.68

Jetzt, nachdem ich lange genug darüber nachgedacht habe, Liebste, jetzt weiß ich, dass nur ich die Schuld daran trage, dass etwas Ungutes über Dich gekommen ist. Denn ich habe ja eigenmächtig unternommen, dich aus Deinem So-sein in ein Anders-sein zu reißen, was keinem zusteht. Und so lauert nun in Verstecken der Dorn, um aufzuschießen in ruhelosen Stunden.

 

28.5.68

Martin! Dein nach so langer Zeit. In Deinen Armen lass mich ein Weilchen ruhen, dann werde ich wieder leichtfüßig wie eine Gazelle, gestärkt an Deinem starken liebenden Herzen auf Dich zukommen, neu neu an Dir Anteil haben; wir werden wieder andersartig schön ein neues und altes, tiefes Vertrauen zueinander spüren. O Du! Wie unendlich dürstet Deine kleine Blume nach ihrem Prinzen, obwohl er ganz in ihrer Nähe weilt.

Schaust auch Du bisweilen noch aus nach den Sternen am Himmel und spürst auch Du noch dabei diese Erregung und Sehnsucht? Es ist etwas Unsagbares, das mir besonders von unserer ersten Bekanntschaft, von diesem vorsichtigen Hinhorchen zum anderen hin, diesem Hingezogensein, trotz Zurückgehaltenwerden (wovon) als wunderschönes Erlebnis in Erinnerung ist.

Bisweilen vermögen wir es, in der Gegenwart Vergangenheit und Zukunft zu bannen und zeitlos zu sein. Heute wieder hast Du mir ? welch feine Zeichen ? diese Blumen geschenkt; der Duft der weißen Nelken erfüllt mein Zimmer, und die Knospen der Pfingstrosen verheißen eine herrliche Blüte. ?

Sommer. Wie sehr wir beieinander sind und dennoch aufeinander warten. Martin! Du!

 

2./3.4.68 Pfingstfest

Es bedarf zum Glück nur eines unendlichen Sich-Öffnens, eines beglückten Austausches, dieses Odems aus Vertrauen, Umeinanderwissen, Liebe.

Martin, welche Seligkeit.

 

6.4.68

Wie bedrückt, dass ich für Dich nicht so da sein kann, wie ich möchte! Martin, mein Schatz! Ganz einsam steht die "Königskrone", die Feuerlilie vor mir. Heute morgen hast Du sie für mich gebracht, wie lieb! Diese Traurigkeit bisweilen, die uns gefangen hält. Ich möchte nur eines: Martin, bei Dir sein.

 

8.4.68 Samstagabend

Martin, ich denke an Dich. Martin, mein lieber kleiner Prinz, sieh ich weine. O Du bist so weit. Warum immer alles in sich ersticken? Wozu dieses gezwungene Auseinandergehaltenwerden? Leben wir nicht auch jetzt? Ab wann dürfen wir anfangen zu sein? Martin, ich brauche Dich! Jetzt! Mein lieber kleiner Prinz!

 

12.6.68

Ich denke an letztes Jahr. Du hattest Dein Mathe-Examen schon gemacht, Martin. Du in Deiner Schönheit Du! Lass uns diese Nacht beieinander träumen. Du! Ich ganz Dein und Du ganz mein.

 

13.6.68 Fronleichnam

Spaziergang an der Dreisam im Dämmern; anschließend Früchte-Eisbecher im Löwen. Glückliche, wirklich schön und gut machen. Du. ? Mein Prinz, schlafe fein in dieser Nacht. Wir sind immer eins. Küsschen. Du hast so eine starke Anziehungskraft, Schatz!

Unendlicher Reichtum, geheimnisvolle Seele, Du öffnest Dich mir immer neu und ich staune zutiefst, was in Dir ruht und so stark und gewaltig drängt, sich zu offenbaren, mitzuteilen, Austausch zu halten und Widerklang zu finden. In der Dynamik solchen Mitteilens ist Leben, Sein; erlernen wir Tieferes von uns neu verstehen.

 

19.6.68

Martin, Du bist so unendlich lieb. Bei Dir sein dürfen! Neben Dir sitzen, im Garten lernen, und der herrliche Erdbeerkuchen, den Du für uns gemacht hast! Schatz, Küsschen, Du! Immer

 

26.6.68

Martin. So ein dummes H

Martin, Du, wo wir doch längst WIR sind. Du. Wo Du nun schon in meinem Bett geschlafen hast! Schatz!

 

3./4.7.68

Spürst auch Du das unendliche Glück in unserem Zusammensein! Am liebsten möchte ich singen und ganz rasch hinlaufen zu Dir, Martin. O nun bist Du krank, wie sehr hast Du mich damit erschreckt! Aber Du musst recht bald wieder ganz gesund sein. Du mein Schatz! Küsschen; alle Küsschen, die ich zu Dir schicke, sollen dazu beitragen, dass Du recht bald wieder ? wenn auch nur kurz ? ein Spaziergängchen mit mir machen kannst. Du!

 

4.7.68

Wie sich eine Handlung ausnimmt, was für einen Wert sie letztendlich erlangt, ist nicht so sehr eine Frage der Einstellung dessen, der sie tut und bewertet, wiewohl man auch eine solche subjektive Bewertung nicht übergehen muss; nein, es ist vielmehr die Frage, wie sie der aufnimmt, dem sie widerfährt, der sozusagen das Endziel ist von dieser Handlung. Es ist die Frage, an welchem Ort der Erinnerung er diese Handlung hintut und wie sie sich im Netz der Erinnerungen bei ihm weiterentwickelt. Schlimm ist insofern eine Handlung, die sich nur als Erreger von Hass und bösen Gedanken entpuppt.

 

9.7.68

Wieviel Examina müssen wir wohl noch ablegen, bis wir wahrhaft vermögen?

 

11.7.68

Einen versteckten Weg durch den Zaun

Nimmt das Amselpaar zum Nest ihrer Jungen.

Weiß es doch: die Gefahr ist groß,

wo wehrloses Leben sich regt.

Und selbst die Blätter der Hainbuche,

die das Geschehen leise verfolgen,

rascheln schon fast zu verdächtig.

Schaut nicht hin, schaut nicht hin!

Gesehen zu werden ist schon halbwegs verloren.

13.7.68

Als ich heute Abend zum Amselnest ging,

nachzuschauen, ob die Jungen schon ausgeflogen,

schauten sie alle sehr still aus dem Nest,

als ob sie schon schliefen.

Langsam beugte ich mich zu ihnen herab,

als zischelte, ob ich Futter brächte.

Aber ein anderer war mir zuvorgekommen.

Mücken flogen über dem Nest

Und eine Schnecke näherte sich vom Rand.

Nun hat auch dieses leise Gezwitscher des Nachts

vor meinem Fenster ein Ende.

17.7.68

Liebende dürfen sich niemals fragen, was sich hinter ihren Gesichtern bewegt. Denn dies gehört zum Geheimnis ihres Glaubens, dass sich dort etwas Wunderbares vorbereitet, das man nicht stören darf.

Liebste! Ich freue mich, wenn Du kommst.

 

23.7.68

Höchste Idealität zum Ziel gesetzt, wird zum Theater und zum Selbstbetrug, sobald man sie vor vielen Leuten verkündet. Aber allein zu Zweien als leises Versprechen wird zum Ansporn. Hinter jedem Wort, das ein Ziel zu beschreiben sucht, wartet ein zweites und dann ein drittes. Die Antwort auf das erste Wort, ist vielleicht der Schlüssel zum Erkennen des zweiten u.s.w. Geduldig gilt es, ihm nachzustreben, auch wen wir schuldig dabei werden, weil wir den Ansprüchen, die wir an uns stellen oder die Gott an uns stellt, nur so wenig genügen.

 

25.7.68

Unter harten äußeren Bedingungen und unter großen Einschränkungen und in allerengsten Grenzen uns zu lieben, haben wir uns schon etwas geübt. Aber das heißt nicht, dass wir bedürfnislos geworden wären. Liebste, wenn wir ganz alleine sind, möchte ich mich ganz vergessen in Dir.

 

27.7.68

Heiraten! Das ist wie ein nach Hause-Gehen, ein großer Neuanfang des göttlichen Gedankens, ein Zurückkehren zum Paradies.

 

28.7.68

Warum wissen wir so wenig, worüber wir verfügen? Weil wir das, was wir gestern konnten, heute vielleicht schon verlernt haben und verloren haben und nicht mehr können? Immer ist es ein Wagnis mit dem uns Eigenen. Und denken wir zurück, dass wir etwas Gutes schon einmal besser gekonnt haben, was wir jetzt nicht mehr können, so irritiert uns das; das baut nicht auf. Aber das uns Eigene ist etwas, das sich so eben als Darlehen und Geschenk und Gnade erweist. Wir sind dazu da, uns wechselseitig zu bestärken im Guten. Wir erproben uns im Glauben, dass wir es schaffen. So wie Du es immer tust und wie Du es so schön getan hast vor meinen Examina. Liebste.

 

26.8.68

Heute nach dem Examen in Gerichtsmedizin kleine Wanderung vom Schauinsland herab über den Kybfelsen nach Hause. Schön war auch die Mittagspause oberhalb Hofsgrund mit dem freien Blick aufs Wilhelmstal und den Feldberg dahinter. Die Berge anfangs noch etwas dunstig verhangen, dann aber bilden sich weiße Wölkchen und das Wetter wird sonnig und warm. Keats. Lieder gesungen und viele wundervolle Küsschen.

 

2.9.68

Ich sollte es nicht sagen, nicht einmal mir; und doch will es immer auch einmal wieder heraus: ich bin nicht glücklich hier. Dieses ewige Hin und Her mit Deinen Eltern macht einen entsetzlich traurig. Vor allem diese Versöhnungsversuche, mit denen Du Dich mir ausschließest. O ich hasse dieses Spiel, bei dem ich immer der Betrogene bin. Ich bin müde dieser Fratzenschneiderei und des Tanzes nach der Pfeife des Vaters. Heute soll ich Dich trösten, wenn man Dich anschreit, und morgen soll ich zusehen, wie Du keine Zeit für mich hast, wie Du Dich mit ihnen zu Tisch setzen musst, um mit ihnen zu lachen und fröhlich zu sein. - Ach ich muss mich zusammenreißen. Warum nur lass ich mich immer wieder so gehen und trete Dich mit Füßen, wo ich Dich umarmen möchte. Nur weil ich mir einrede, Dich nicht zu erreichen? Warum beginn ich wie ein Verrückter auf der Stelle zu tanzen? Kommt das nicht daher, weil mir die Ruhe fehlt, dich zu sehen, wie ich Dich sehen sollte? O das Doppelgesicht aller Dinge, das auch zutiefst in mir wohnt. Diese Tiefen. Dass man sie noch liebt, dass man noch das Unverständliche, Heimtückische, Entsetzliche liebt! Sich damit abgibt! Alles geht hin und her und im Tiefsten herrscht immer noch das ursprüngliche Chaos.

 

3.9.68

Du schließest mich ja nicht aus. Immer ist es nur ein Aufstauen und Aufschieben. Dann aber plötzlich bricht etwas den Damm: Eitelkeit oder Stolz oder Neid oder einfach Angst aus purem Egoismus um mühsam errungene Privilegien. Aber wenn dann geschehen ist, was anscheinend hat geschehen müssen, wenn gesagt ist, was nicht länger hat unterdrückt werden wollen: o wie fühle ich mich dann elend und gemein. Dann hab ich nur noch den Wunsch, Deine Hände zu finden, um mich auszuweinen.

O ihr Mütter, die ihr all das geschehen lassen müsst, wenn wir uns doch vorgenommen haben, aufzusteigen zu euch! Wie schämt sich meine Seele! Und doch, wie geduldig nehmt ihr uns auf . Ich weiß, ihr habt ein noch tieferes Verstehen, als dass ich es begreifen könnte und braucht nicht viel Worte, wenn ihr den mühseligen Ankömmling bei euch aufnehmt.

 

4.9.68

Was wir nicht ändern können, sollten wir verschwiegen oder es uns so zurecht legen, dass wir sagen können, dass alles in Ordnung ist.

 

5.9.68

Dass Du es bist, immer Du, während ich ich bin! Dieses So-sein ist mehr und ist etwas ganz anderes als ein bloßes objektives Factum. Wohl oftmals erfährt man dies in einer Art Trauer, wenn man sich nicht hineinverwandeln kann in das Du, wenn man immer wieder auf sein elendes und gemeines Ich zurückgeworfen wird. Aber im Bei-Dir sein bin ich mehr als nur ein unberechenbares, unsicheres, verletzliches Ich. Wenn wir uns zusammen Mühe geben, dann bin ich bei Dir, und wir beide geben einander Halt. Dieses wundervolle Gemeinschaft-Haben mit Dir sichert mein Ich und macht, dass ich da bin.

 

11.9.68 Dein Traum

Wo wie aus einer Art von Säcken die Kinder heraus zur Welt kommen, derweilen die Frauen daneben stehen. Einmal aber war das Kind viel zu klein. Es gehörte der Frau, die gerade neben Dir stand. Sie nahm das noch blutbefleckte Kind und steckte es sich in den Mund. Erst als die anderen darauf aufmerksam wurden, holte sie es wieder aus dem Mund heraus.

 

14.9.68

Nachdem nun auch Neurologie/ Psychiatrie gut überstanden war, Kaffee getrunken und einen kleinen Spaziergang gemacht. Das Examensende rückt immer näher. Das Glück wird greifbar.

 

15.9.68

Die Zeit ist vielleicht am meisten daran schuld ? wenigstens erfahren wir es so, wenn wir mit dem Rad miteinander nach Hause fahren, indem wir schnell noch irgendwas besprechen, was uns betrifft im Hinblick auf uns selbst, wo Du doch gleich wieder an die Examensvorbereitungen musst -, dass wir uns auf einmal dann wie zwei Fremde anblicken, die erahnen, dass sie ein Glück zusammentragen und aufbauen könnten, dass wir aber Abschied nehmen müssen, noch ehe wir damit begonnen haben, es zu entfalten.

Dann aber ist es auch wieder die Umgebung, die von allen Seiten auf uns einstürzt. Mag sie auch ein Recht haben auf uns, zumindest eine Macht über uns hat sie, der wir uns nicht zu entziehen verögen. Alle Bewegungen, und das ist eben, was die Zeit ausmacht, synchronisieren miteinander. Eine Bewegung greift in die andere mit ein, so dass selbst jede Eigenzeit, auch wenn sie die allgemeine Zeit mit bestimmt, doch auch von ihr bestimmt wird. Alles was wir tun hat etwas Freiheit Stiftendes, wird aber auch sichtbar und erkennbar in der Bestimmtheit durch die uns bestimmenden Zeiten. Zumal, wo bei uns alles so schnell gehen muss, ist die Gefahr der Fremdbestimmung riesengroß.

Zeit müssten wir haben, jede unserer Bewegungen sorgfälitg auszuführen; und wenn wir sie auch nicht nahc allen Konsequenzen zu überschauen vermögen, sie doch in einem uns gemäßen Glauben auszuführen. Aber da überschlägt sich alles und dann sind wir schon wieder meilenweit auseinander und stehen allein.

 

17.9.68

Wir machen einen kleinen Spaziergang spät am 21 Uhr die Straße entlang. Morgen hast Du Prüfung in "Kinder"

In vier Wochen werden wir uns verloben. Was für ein Ereignis, auf das wir zugehen. Was für eine verheißungsvolle Sprache, die uns begleitet und im Ohr tönt. Was für ein wunderbarer, für jetzt noch kaum fassbarer, märchenhafter Klang.

 

21.9.68 Samstag Abend

Durch den mächtigen Regen, der den ganzen Tag hindurch ohne Unterlass herunterkommt, mit dem Rad nach Littenweiler. Auf der Straße, die steil herunterführt, kommst Du mir, fast wie über Sturzbächen gleitend, schon entgegen. Wir laufen die Sickingenstraße ein wenig auf und ab. Es wäre schön, wenn nun endlich diese vielen Prüfungen ein Ende nähmen; sie sind so hinderlich für die angemessene Feier eines Samstag-Abends. Diese nun anstehende Prüfung in Hygiene z.B. ist doch einfach ein Unding. Das stopft man sich wie ein Irrsinniger das viele Zeug in den Kopf, um es nachher nur rasch wieder zu vergessen. Es ist geradezu, als zwänge einen einer, den Kopf dahin zu wenden und dann dorthin, wie die Pferde in der Dressur. Anschließend sitzen wir in der Küche. Mutti, Deine Mutter, bringt uns eine Flasche Wein.

Mit Bonn scheint es jetzt ja zu klappen. Und dennoch hat das alles so etwas Fremdes, Abstoßendes an sich, etwas, was mir die Freiheit zu nehmen droht, das Riesenministerium mit seinen 1000 Türen und Fenstern und Türstehern und Beobachter und Aufpasser. Da musst Du schön auf Dich aufpassen, dass Du tust, was das Amt will. Wie kommt es, dass man sich nicht dagegen wehrt, dass man noch nicht einmal einen Versuch unternimmt, nicht einmal an einen Versuch denkt? Hat man es denn auf ein goldenes Verdienstkreuz abgesehen, das einem bestätigt, dass "man" so gehandelt hat, wie "man" es sich vorgestellt hat? Was ist das: Das Amt? Dem Amt gemäß handeln? Seinem Amt gerecht werden? Immer dieses Einschwenken in Reih und Glied auf "Teufel, komm raus!" Aber vielleicht kann ich ohne eine solche Art von Beklemmung gar nicht leben.

Wie wollte ich etwas Gutes tun, etwas Gutes schreiben; aber es fällt mir alles so schwer; meist bin ich müde; habe heute Nachmittag eineinhalb Stunden geschlafen. Jetzt ist 23 Uhr und immer noch ist nichts getan. Mathematik, Philosophie, Soziologie, Schiller, Kafka und meine Schreibereien, an denen ich nicht weiterkomme.

 

22.9.68

Erst wenn man wahrhaft bei sich ist, kann man auch wahre Aussagen machen, vorausgesetzt freilich, dass man die Kunst des Schreibens beherrscht. Es wäre dies wie ein Ort, der einem Halt gewährt und von dem aus man sehen kann, was zu sehen ist. Aber man misstraut einem solchen Ort, schon als Ziel des Suchens; man nimmt mit dem Weg des Suchens vorlieb, ohne sich um das Ziel zu bekümmern, ja ohne auch nur an seine Existenz zu glauben.

Kaum dass ein Wort oder ein Satz den Mund verlässt und das Papier erreicht hat, beginnt es auch schon zu wanken und sich zu drehen und nach anderen Wörtern Ausschau zu halten. Kaum aufgeschrieben wird selbst der zuvor für gut und wichtig gehaltene Gedanke des Satzes frag- und korrekturwürdig. Und es ist, als würfe man Köder aus, um Fische oder Seeungeheuer und uns fremde Wesen anzulocken; fast, als man schriebe aus Lust, allerlei Widersprüchliches und noch nie gesehene Gespenster an- und aufzuregen. Aber es ist eine gefährliche Lust, immer auf schmalen Treppen und Hinterstiegen entlang zu eilen und hinauf und hinab zu steigen. Denn man gelangt nicht zu den Superos, sondern zum Acheron, zum brausenden Chaos der Dinge, zur Unkultur oder doch zumindest zur Vorkultur, zum Noch-nicht von dem der Mythos spricht, und gelangt, das Ziel der Schöpfung überspringend, zur Auslöschung und zum Verrat an der Unsterblichkeit der Seele.

Ja, so ist das, Meister Kafka. Misstraut man dem Ziel und lässt es außer Acht, so bleibt einem in der Tat kaum mehr übrig, als sich von der Kunst des Schreibens oder aber auch nur von der Unzulänglichkeit des erworbenen und jetzt verfügbaren Schreibens treiben und beherrschen zu lassen. Und mag uns mitunter auch die Hoffnung umschmeicheln, über das Ungerade und Absurde und Paradoxe weiter zu gelangen und Kierkegaardsche Sprünge zu tun, so wissen wir doch, dass im Raum der Kunst kein Wunder geschieht. Ja, die Kunst leitet und verweist uns auf kein Ziel, das außerhalb der Kunst läge; sie verführt zum Scheitern. Und verleitet letztlich nur zum Verrat der unsterblichen Seele. Um ins Leben einzudringen, muss man leben, leben und leiden, und immer tiefer leben und tiefer leiden und darf dabei den Glauben nicht verlieren, dass alles einen Sinn hat, oder, wie es Du und Goethe sagen: dass das Leben gut ist.

 

23.9.68

Unter Deinem Schirm ein wenig im Regen spazieren gegangen. Unter einem Schirm zu zweit: das ist ein wunderbares Erlebnis. Bald ist nun ja auch diese Zeit herum, wo wir in Freiburg unsere Spaziergänge machten. Wie verlangen wir nach dem Leben Seite an Seite. Aber wenn wir zu zweit sind, werden wir auch dem Kampf mit dem Allein-sein nicht ausweichen. Man kann ja dem Partner im Notfall nur dann eine Stütze sein, wenn man selber frei stehen kann. Aber es ist nicht leicht, ja es fällt mir sehr schwer, vom Beisammen-sein in Deinem Zimmer allein in den Regen hinaus zu treten. Oder muss ich mich anklagen, dass ich mir als Lernprogramm vorgenommen hätte, weniger für Dich zu empfinden? Liebste, Du! Was für ein dummer Gedanke!

 

24.9.68

Angst um die Liebste, ja die haben wir schon reichlich kennen gelernt. Aber in der Liebe, wenn nirgends eine Anfechtung da ist, ist alle Angst aufgehoben. Es ist, wie wenn man noch rasch durchs Unwetter muss, um dann im eigenen Haus auszuschnaufen. Kierkegaard täuscht sich wohl, wenn er hier etwas Angsterweckendes erkennen zu können glaubt. Wenn auch das Hinstreben zu einem ruhigem Glück nicht eine endgültige Vereinigung erreichen lässt, wenn wir uns auch nie der Dynamik des Lebens werden entziehen können, so wird doch unsere Zusammengehörigkeit immer weiter wachsen, die aller nur möglichen Angst den Boden entzieht. Und wie die Einübung im Christentum geschieht, so geschieht sie auch in der Liebe. Unersetzlich. Und wenn vom Nichts die Angst auf den Menschen einfällt, so vom Geliebten die Zuversicht. Isoliert das Nichts, so verbindet die Liebe, so dass alle Angst geradezu der Liebe entgegengesetzt ist. Nur wo keine Liebe ist oder wo Liebe aufhört, beginnt Angst. So sehen wir es doch schon bei den Kleinstkindern, wenn sie ihren eigenen Willen entdecken und sich das erste Mal von der Mutter abnabeln.

 

26.9.68

Ein klein wenig durchs Dunkel gegangen. Es ist aber wohl besser, wenn wir unsere Spaziergängchen am Mittag machen, an den Grünsträuchern entlang, wenn es noch etwas Sonne gibt. Wenn man etwas gern hätte, was keinem weh tut, und es einem dann doch versagt wird und versagt bleibt: wie das schmerzt! Du bist mutlos und weinst und auch ich weiß Dir nur wenig zu helfen. Bevor ich zu Dir herausfuhr mit Kaffee und Kuchen im Gepäck, sagte die Mutter noch, ganz im Verkennen unserer Lage: "So lustig und froh sollte man immer sein!" Und dann war für uns überhaupt kein Platz, wo wir uns ein wenig hätten hinsetzen können. Selbst in der Küche könne man nicht ruhig sein; da sei man nicht sicher vor ihm. Und dann sind wir eben draußen im Dunklen geblieben. Ob es Sterne hatte oder Wolken den Himmelbedeckt hielten, ich weiß es nicht. Ich habe nicht ausgeschaut. Über alle Maßen waren wir traurig. Bevor wir auseinander gingen, standen wir noch für ein Weilchen auf der Treppe; Du befürchtetest, man könne drinnen etwas an Deinen verweinten Augen ablesen.

Den Kaffee hab ich dann wieder mitgenommen. Jetzt ist gleich Mitternacht. Morgen muss ich um 7 Uhr heraus, um 8 Uhr Schule halten. Wenn nur nicht alles so zwanghaft schnelle ginge!

 

27.9.68

Immer ein Versuch, etwas aufzufinden, was wahr ist und Halt gewährt. Man darf sich nicht vergessen beim Hervorholen des Beständigen. Ja, unsere Liebe darf ich dabei nie vergessen. Alles verliert sich, was sich nicht in der Liebe findet. Auch alles Glück.

Vor Deinem Fenster die Motorengeräusche, die Dich am ruhigen Arbeiten hindern. Dann meine Ungeduld und Unruhe, die Dir auch keine Ruhe und Gelassenheit schenken! Wann sind denn endlich die vielen Prüfungen zu Ende, die in den Sälen der Kliniker abgehalten werden, und wann, Liebste, wann alle die Prüfungen, die sich vor Deines Herzens Schrein abspielen?

Ich denke an Dich, Jutta!

 

28.9.68

Das sichere Abwägen in der Liebe, fast wie von selbst. Bald das Ungestüme der Herbeieilens und Umarmens, bald das Beruhigende und Besänftigende im gemeinsamen Ausatmen und Einatmen. Heiterkeit liegt über solchem Zur-Ruhe-Kommen. Wir haben sie doch schon ein wenig kennen gelernt, diese einzigartig schwebenden Zustände der Liebe, die keines Wortes mehr bedürfen. Und alles Einander-Anschauen enthält eigentlich keine Fragen mehr, sondern verrät das Staunen über uns, als müsstest Du mir sagen, woher die Liebe kommt, währenddes mein Gesicht sich auf deinem Schoß bettet und träumt - und ich doch längst alles weiß.

 

29.9.68

Am Abend in der Kirche. Der Gruß des Engels Gabriel. Die auf Goldgrund gemalte Darstellung der Verkündigung. "Du bist voller Gnade. Der Herr ist mit Dir!" Es ist wunderbar, diese Worte nachzusprechen und zu teilen. Man braucht viel Zeit, sie zu begreifen. Die Verkündigung geschieht ja immer noch und hört nie auf.

Die Kirche ist noch ein wenig beleuchtet, wie wir sie verlassen; fast alle sind schon gegangen. Nur eine Frau steht noch unter der Empore, die mit dem Pfarrer Walter redet. Der Pfarrer ist älter geworden, langsamer, bestimmter. Aus welchen Tiefen schöpfen, aus welchen Winkeln nehmen die Verkünder des Evangeliums ihre Erklärungen? Muss es nicht immer aus einer Leere heraus geschehen, die den Gott bittet, herabzukommen? Es ist ein persönlicher Gott, dieser unser Gott: ein Gott der Erfahrung, des Gebets des Glücks und des Unglücks, der Geschichte, vornehmlich aber ein Gott der Geschichte unserer Liebe. Was haben die Menschen aus ihm gemacht? Haben sie ihn nicht vernachlässigt und vergessen? Warum wird einer ausgelacht, wenn er sagt, er wolle Gott liebe? Liebchen, wie anders kann ich Gott lieben, als indem ich Dich liebe und indem ich alles liebe, was Dir lieb ist und wert?

 

1.10.68 Traum

Wie ich aufwache ist es 4 Uhr. Nicht dass ich mich nur ganz schrecklich geängstigt hätte, aber etwas bang war mir schon zumut. Es war in Rom, an einem sonnenbeschienenen, von vielen Menschen bevölkerten Fleck. Kaum dass wir beisammen waren, musstest Du auch schon wieder fort. Dies scheint fast schon eine Tatsache zu sein, selbst in den Tiefen meiner Seele, an der nicht mehr gerüttelt werden kann, unumstößlich wie bei Orpheus, bei dem Eurydike immer von ihm fort muss. Da warst Du denn auch gleich in einem der großen römischen Busse. Wir hatten uns bereits verabschiedet, aber ich konnte ja noch nicht gehen, solange der Bus noch dastand. Und als der Bus nun losfuhr, sprang ich schnell noch auf ein Trittbrett, von wo aus ich durch die offenstehende Türe ins Innere schaute. Nun waren es aber sehr viele Leute, die vor mir standen und um derentwillen auch die Türe nicht hatte geschlossen werden können. Gleichwohl entdeckte ich Dich alsbald. Du aber ob der vielen Leute, sahst mich nicht. Ich überlegte, ob ich Dich rufen sollte oder nur ruhig stehen bleiben und abwarten? Nun ging es das Gelände bergab, auf die nächste Haltestelle zu.

 

2.10.68

Wir brauchen nicht viel. Vieles würde uns erschlagen. Ganz weniges schon genügt uns. Liebste, lass es uns zusammen auswählen! An Deiner Seite, das weiß ich, werde ich nie vergessen, zumal wo du es immer wieder so liebevoll sagst, dass das Leben etwas sehr Gutes ist.

 

5.10. 68 Samstag

Heute von 15 Uhr bis 20. 45 Uhr beisammen. Uns war fast, als wären wir schon auf unserer Hochzeitsreise. Zuerst machten wir einen kleinen Spaziergang durch die Schrebergärten an den noch immer vielen, buntblühenden Blumen vorbei. Die Sonne war noch etwas zum Vorschein gekommen, die die Farben zu kräftigem Leuchten brachte. Darauf dann sind wir in die Stadt gefahren und sind noch ein wenig an den Geschäftsauslagen vorbei flaniert. Dann zu einer kleinen Stärkung auf die uns bereits vertraute Weise.

Jetzt sind nur noch zwei Prüfungen vor Dir, dann ist das Examen geschafft. Am Freitag noch "Haut". Am Abend werden wir dann ins Theater gehen, in Romeo und Julia.

Auch gestern Abend, bei Ernst Kühn, war es durchaus lustig. Und als wir gegen 1 Uhr nach Haus radelten, fielen Dir beinahe schon die Augen zu.

 

7.10.68 Traum (Unsere Wohnung)

Sie ist eigentlich gar nicht schwer zu finden. Man steigt einfach die Treppen hinauf, die sich in einem Halbkreis emporwinden und betritt dann durch eine große Glastüre unsere Wohnung. Obwohl wir vorerst nur zu Zweien die Zimmer bewohnen, geht es recht lebhaft bei uns zu. Nur manchmal, wenn es draußen heftig regnet und wir am Fenster stehen und der Regen gegen die Scheiben schlägt, muss ich mich aufraffen und mit dem Rad die Straße hinauf fahren, zur Schule.

 

8.10.68

Eine der so schwer auslotbaren Befähigungen des Menschen ist wohl das Verzichten. Dem Verzicht geht das Begehren voraus. Denn was man nicht begehrt, darauf muss man auch nicht verzichten. Und was man als Lebensnotwendiges braucht, darauf kann man nicht verzichten. Dazwischen liegen dann also alle die Dinge, die man gut brauchen kann, ohne die man sich aber auch getraut, leben zu können. Immerhin gibt es dann auch noch den Verzicht auf Begehrenswertes, weil man um ein noch Begehrenswerteres weiß, das einem im Sinn liegt und dem man mit dem Verzicht eine besondere Achtung und Ehrfurcht und Verehrung erweist. Ist nun da aber ein Unerreichbares, so scheint es leicht zu sein, das Begehren als unmöglich zu durchschauen und zu verzichten. Man nimmt dann für gewöhnlich eben mit einem anderen, einem Ersatz, vorlieb. Hat man aber ein Unerreichbares sich zum Ziel gesetzt und verzichtet man dann auf alles Erreichbare, so hat man sich für ein Leben in Armut und für ein Leben in Narrheit entschieden, wie ein Paulus, ein Franziskus oder wie ein Don Quijote. Wir aber haben uns entschieden, nicht aufeinander zu verzichten, sondern gemeinsam eine Einheit, einen einzigen Leib zu bilden, wie er ja auch in der Genesis so schön als Ziel der Schöpfung erscheint. Wir begehren und verzichten nicht und wir müssen auch gar nicht verzichten, weil wir uns als Gottesgeschenk erhalten haben und annehmen dürfen. Nur so weit uns Verzicht abverlangt werden wird, werden wir auch das Verzichten zu erlernen haben; aber das tun wir beide dann zusammen, miteinander und füreinander, jeder auf die ihm zugewiesene Weise.

 

10.10.68 Traum

16.40 Uhr treffen wir uns bei der Littenweiler-Schule. Du bringst den Kaffee mit und ich den Kuchen. Auf dem Weg erzählst Du Deinen Traum, der Deine augenblickliche Prüfungssituation mit unserer augenblicklichen Lage verbindet: Das Kind der Frau nebenan ist blau angelaufen, weil man es nicht von der Nabelschnur getrennt hat. Auch hat es ein viel zu längliches ovales Bäuchlein.

 

11.10.68

Nun ist auch bald die allerletzte Prüfung herum. Fast als ob nun alles so gewiss wäre, so tadellos zu unseren Gunsten abwägbar. Dabei hört nur etwas auf und ein anderes fängt an. Vielleicht habe ich zu wenig Gespür für die Anfänge, vielleicht auch zu viel Skrupel. Es strengt mich kolossal an, alles im voraus zu verstehen und mir Heimeligkeit vorzureden, wo wir noch nicht einmal wissen, wo Du wohnen wirst. Wenn Du nach Säckingen gingest, so wüsste ich ein wenig schon Bescheid und ich würde das Zukünftige jetzt schon auf uns zukommen sehen. Ich wüsste, wohin es geht, kennte Dein Zimmer, das Haus, die Straße, das Rheintal, die Säckinger Berge, wo wir einmal die vielen Steinpilze gefunden haben, das andere Mal uns verirrten. Ich wüsste, wo ich schlafen könnte zur Nacht und wo ich mir Dir speiste zu Mittag. Ich kennte die Kirche und die Straßen und Plätze im Städtchen. Das geht so unterirdisch unfassbar und beängstigend an uns vorbei, was wir noch nicht zu greifen vermögen. Freilich könnte man sagen: "Hab Geduld und wate ab, es wird sich für alles ein schöner Weg finden!" Aber belehren uns nicht gerade die allerjüngsten Ereignisse, dass man nicht auf Geduld setzen darf? Ist nicht auch schon unsere Verlobung als Fest bei Dir Zuhause ins Wasser gefallen, mitsamt der Ringe, die wir nun nicht kaufen oder die nun auch schon ins Wasser fallen? Dabei ist doch nichts leichter, ja beinahe nichts so schön, wie eine Schuld. Man muss ja nur den Herrn der Verzeihung anflehen und er erfüllt uns unsere Bitten und macht alles neu! Wo aber keine Schuld vorliegt, wo nur Beklemmungen die Brust umknäuelt halten: bedarf es da nicht furchtbarer Anstrengungen, um nicht zu erliegen?

 

12.10.68 Romeo und Julia.

Eine lockere, doch zielstrebige Anhäufung von Einzelszenen. Wir diskutieren die Voraussetzungen des Stücks, den Streit der beiden Familien; und dann überhaupt das Herausarbeiten des tragischen Kerns als Aufgabe des Theaters. Vor allem das Besitzrecht des alten Capulet über seine Tochter, das aber nur eine Fortsetzung der Besitzansprüche der beiden Familien darstellt, abgeleitet aus den Tagen der Barbarei und der Vergewaltigung - gegenüber dem Verlangen der Tochter nach einem Verehrer voll Liebe, nach einem Leben, das sich in gegenseitiger Achtung und Liebe speist und verzehrt. Unterordnung gegen den brutalen menschenverachtenden Despotismus der väterlichen Gewalt ("und bist du mein, so soll mein Freund dich haben; wo nicht: geh, bettle, hungre, stirb am Weg!" III.5), gegen den auch die Frau des Capulet nichts vermag -, oder Flucht ins Ungewisse, in den Tod. Der Prinz erscheint bei alledem wie eine höhere Instanz, wie sie auch vom Herzog in Maß für Maß verkörpert wird.

Vermutlich müsste das Tragische weniger komisch zur Ruhe kommen, als wir es auf der Freibugrer Bühne gesehen haben. Es ist eine Frage der Inszenierung. Man spielt zu sympathetisch, so dass man den Schluss, der mit Sympathie nichts mehr zu tun hat, ins Komische hinein erträglich machen und verfremden muss. Dabei hätte man auf das Tragische als Ingrendienz der Liebe zu achten. Auf ein leises Nachtönen der antiken Tragödie, wo ein Preis entrichtet wird für die große neue Erfahrung: die wechselseitige personale Liebe. Auf die Antike auch, wo Schöpfung immer auch im Zusammenhang eines gewaltsam-dramatischen Ringens statthat.

So hat die Welt des Theaters Anstoß zu geben zur Beobachtung der äußeren Welt wie auch einen Spiegel zu leihen zur Erkenntnis und zur rechten Einschätzung der eigenen inneren Welt des Zuschauers.

 

13.10.68

Stehen bleiben ist schon wie ein langsames Zurückgehen. Nicht Vorwärts-Sehen wie ein Rückfall ins eigene Unvermögen. Man weiß zwar, dass es nicht gut ist, wie es ist; man hat eine Ahnung, dass es ein besseres Verhältnis geben könnte: doch man bewegt sich nicht, man rührt keine Hand. Eine Wand schiebt sich nach der anderen vor jedes Ziel, als gäbe es kein Recht und als gäbe es keine Möglichkeit, darauf zuzugehen.

 

14.10.68

Dieses Buch ist für mich wie ein Buch der Zukunft. Ich schlage die noch leeren hinteren Seiten auf und versuche, daraus zu lesen. Und dann denke ich an die vielen Ehen, die nur jämmerliche Missbildungen zeitigen; und ich weiß, dass das vor allem daran liegt, dass man sich nicht sorgfältig genug vorbereitet hat und dass man sich die Gemeinschaft nichts hat kosten lassen; vor allem aber, dass keiner da war, der gebremst und etwas verlangt hätte (vgl.Prospero: "Eins ist des andern ganz: den schnellen Handel/ muss ich erschweren, dass nicht leichter Sieg/ den Preis verringre" I.2). Das ist denn doch immerhin bei all den Nöten, Liebste, die Du hast ausstehen müssen und vielleicht noch immer wirst ausstehen müssen, etwas, was uns zu Gute kommt: dass Du für uns und für unsere Liebe so viel gelitten hast, Liebste.

 

15.10.68

Weil die Straße sehr nass war und ich nichts riskieren wollte, ging ich die Straße zu Fuß hinunter und schob das Rad mit der Rechten. Du aber standest droben und schautest mir nach von der Treppe. "Geh hoch", sagte ich, als Du mich frugst, was Du tun sollst, "und bringe das Deine in Ordnung, während ich herunter gehe und das Meine in Ordnung zu bringen versuche.!" Aber ich hatte kein gutes Gefühl, als ich das sagte. Einmal, weil es pahetisch und mithin unwahr gesagt war; sodann aber auch, weil ich das Herbe meiner Worte verschmeckte. Denn warum sollte immer ich drunten sein und die Dinge drunten besorgen? Warum gingen wir nicht beide dorthin, wo etwas für uns zu tun war, sei es in die Räume der lichten Höhe, sei es ins Dunkel nach drunten?

Löschst Du Dein Licht, dann ist alles dunkel,

und schließt Du Dich ein, du kommst nimmer heraus

Verstopfst dir die Ohren, hörst doch sein Gemunkel

im wütenden Sturm noch ums brüchige Haus.

 

Legst Du Dich hin, wer hält Dir die Wache?

Er dringt bei Dir ein; dann steht er vor Dir.

Worauf willst Du bauen? Wer führt deine Sache,

wenn er tödlich getroffen sich reckt wie ein Tier?

 

Willst warten Du, bis die Wolken sich heben

Aus dem Abgrund des Tals, wo das Jahr zerfiel,

auf des Winters Stille hinter dem Leben,

bis alles dahintreibt, ein morscher Kiel?

16.10.68 Traum

Mir träumte von einer Reise in die Alpen. Ich saß im Zug, welcher mit Sirenenlaut und Ausstoß heftig ausgepresster Rauchwolken sich bereit machte, in ein sehr langes und steiles Tunnel einzubiegen. Erst gegen Abend würden wir dann hoch droben vor einer Nachtherberge ankommen. Mir war nicht ganz wohl dabei. Und ich überlegte mir, ob ich Dir nicht gleich, jetzt noch, ehe wir einfuhren, aus dem fahrenden Zug eine Postkarte zuschicken sollte oder ob es besser wäre, Dich morgen in aller Frühe hierher nachzuholen. Andererseits wusste ich, dass es nicht leicht sein würde, Dich zu erreichen, selbst wenn ich die Nachricht jetzt noch vor der Einfahrt in den Tunnel los werden würde. Nun aber fuhren wir auch schon an den letzten kleinen rußgrauen Backsteinhäuschen vorbei und es wurde dunkel. Und ich schloss die Augen und überließ mich der holprigen Fahrt, bis sich mir das Bild vergegenwärtigte, das mich oben empfinge: Eine abendliche Wiese, die einen starken hellgrünen Glanz gegen die andrängende Nacht aussandte. ? Als dann der Wecker mich weckte, war mir, als hielte ich meine Hände um Deinen Kopf geschlungen und flüsterte Dir etwas zu.

 

17.10.68

Welche Lampe hängen wir auf in unserem Zimmer, damit sie uns Leuchte sei? Und um was für einen Herd setzen wir uns?

 

18.10.68

Nicht mehr viele Nachrichten "von drüben". Mit einem Mal saust nun schließlich der ganze eiserne Vorhang herab. Ein kurzer Besuch von Dir, hier bei mir heute Feitag Nachmittag 15 Uhr, wird mir mitgeteilt, während ich in dem idiotisch dummen Schulphysikseminar sitze. Man sagt, Du seiest sehr blass gewesen. Schriftliches von Dir ist nicht vorhanden. Morgen ist also Dein letzter Prüfungstag. Ich bin froh, wenn Du endlich aus dem verdammten Schlossgefängnis Nr.58 heraus bist.

 

22.10.68

Nun wo Dein Examen vorbei ist, rückt auch schon das Folgende ins Blickfeld. Aber es ist keine Angst mehr da vor dem Kommenden. Eher ist mir, als wäre uns alles längst vertraut, zumal wo die Auseinandersetzungen zu Hause doch endlich zum Verstummen kommen sollten. Eh Du denn ewig um meinetwillen fortleidest, ist es doch besser, du gehst; und ich geh ja mit Dir, Jutta.

 

26.10.68

Wie einseitig, stets von mir aus, ich doch alles betrachte! So dass, wenn mir ein Abend gut gefallen hat. Ich Dich gar nicht lang frage, ob der Eindruck bei Dir in gleichem Maß vorhanden ist, während ich im entgegengesetzten Fall Dir in den Ohren liege, Du mögest doch einräumen, dass man auch den Abend lassen kann. An solchen Abenden bin ich dann auch meist ungehalten und ungerecht, vielleicht aus einer Art Trauer um die verlorene Zeit, die man sinnvoller hätte gebrauchen können. So bin ich den auch heute Abend nach dem sinnlosen Film im Universitätsgebäude recht kritisch und verdreht mit Dir nach Haus geradelt und habe Sachen zuoberst gelehrt, die ich besser drunten gelassen hätte. Das geht einfach nicht so. Nein. Das muss sich ändern, und das wird sich ändern, verlass Dich drauf!

 

28.10.68 Beim Spaziergang am Sonntag, wie wir durch den Wald die Schneise zur Schönen Aussicht herabkommen, entdecken wir mitten auf dem Weg eine Drossel, die unbeweglich dasitzt. Es ist offenbar ein einsam gewordenes Tier, das da den Tod erwartet. Es schaut nicht nach uns, nimmt keine Notiz von uns, ist mit sich selber beschäftigt. Nur bisweilen ändert sich der Lichtreflex in seinen Augen, wird bald glänzend, bald wieder matt, wenn die Augäpfel in ihren Höhlungen rollen. Uns wundert, dass das Tier keine Zeit mehr gehabt hat, sich zum Sterben nicht in ein Versteck zurückzuziehen.

 

29.10.68

Gestern Abend mit Michael Schlager die Abfahrt nach Baden-Baden besprochen, der Deine Sachen in seinem Auto wegfährt. Nach der langen schweren Prüfungszeit kommt nun endgültig die Vorbereitungszeit, wenn auch mit Deinen Eltern immer noch keine Lösung in Sicht ist.

Heute den letzten Tag zusammen in Freiburg. Es war am Nachmittag. Ein jeder von uns trat aus dem Elternhaus, dann trafen wir uns und gingen zusammen in die Stadt: den Mondstein abholen und zwei Ringe besorgen. - Spät noch bei Bernhard in der Okenstraße. Morgen um 14 Uhr Abreise nach Baden-Baden.

Jutta, Liebste.

 

 

6. Hochzeitsvorbereitungen

Nun also geht es ins Berufsleben hinaus, ins Freie, in die von uns zu gestaltende Welt. Unabhängig von allem Elternhaus bauen wir uns nun unsere Welt auf. "Musst mir meine Erde doch lassen stehn, und meine Hütte, die du nicht gebaut, und meinen Herd, um dessen Glut, du mich beneidest." Und doch hat die Beziehung als Bedrohung aus dem Untergrund weiter schrecklich fortbestanden. Briefe gingen nach Freiburg, von meinem Schätzchen zur Mutter, mit der Bitte, den Vater zu begütigen und zu versöhnen. Umsonst. So haben wir uns denn zwar frei gefühlt, zumal ich. Für mein Schätzchen aber, die stets nur das Gute suchte und im Anerkennen alles Guten Ruhe fand, war nun auch diese Zeit immerfort überschattet von dunklen Qualen. So etwas wird man wohl zu vermuten haben, wenn sie schreibt: "Ich bin sehr müde heute. Martin, bitte, bleibe mein lieber Prinz, sonst muss ich ganz verzweifeln." Nichts, aber auch gar nichts Böses, hatte sie getan, es sei denn, dass sie zugelassen hatte, dass ein Reis zwischen uns aufgegangen war. Nun waren wir eben auf uns angewiesen, auch mit dieser Hypothek. Und doch ist auch in dieser Zeit das Reis weiter gediehen. Am 4.11.68 hat mein Schätzchen das erste Mal in unser Buch eingetragen: Baden-Baden. Dann hat sie darunter zwei sich überlagernde, ineinander gelagerte Ringe gezeichnet und unsere beiden Namen darunter geschrieben: Martin ? Jutta. Ich werde mit diesem unserem Bundeszeichen auf Leben und Tod unser gemeinsames Grab schmücken.

 

5.11.68

Am Abend, nach der Arbeit, gehört man sich am meisten. Tagsüber wird irgendwie auch etwas von einem weggenommen; vielleicht werden wir uns dessen nicht bewusst; oder es ist eigentlich nur ein nicht ganz freies Verfügen über uns selbst ? und sei es nur, dass wir Vorschriften haben, in welcher Zeit das und jenes getan werden soll. Irgendwo ist gerade der Arztberuf ganz persönlich und erschreckend unpersönlich. Irgendwo baut man eine starke Barriere vor einem Bereich seines Inneren, und nur bis dahin gelangt der Mensch, wie er uns als Patient entgegenkommt, mit seinen Beschwerden und Nöten. Auch wenn wir ihm ehrlich raten und zu helfen versuchen: einen großen Bereich unseres innersten Selbst halten wir schützend verschlossen. Selbstschutz?

So verläuft die Tagesarbeit, wir denken zueinander. Aber wie anders am Abend. Martin, Du! Da sehnt und öffnet sich alles; schon das gedankliche Beieinander-Weilen dürfen, das Wissen darum, gehört dazu. Auch Du, Martin, wirst nachher (nach der Philosophie) mit deinen Gedanken nach hier fliegen.

O wer doch den Raum überwinden könnte! Aber ist nicht auch schon in diesem wunderbaren Umeinander- Wissen und Vertrauen ein unendliches Glück?

Martin! Du bist lieb, so lieb! Du, mein Prinz, Dein darf ich sein! Abends trage ich immer eines Deiner lieben Geschenke, heute den Zirkon-Ring, gestern den rmreif. Und tagsüber schaue ich immer wieder stolz und etwas verwundert auf unseren Verlobungsring.

Die Liebe ist etwas unendlich Schönes; wir wollen uns immer darum bemühen, sie auch in unserem Leben zu verwirklichen. Wenn man von so vielen schlechten Ehen hört ? o wie möchte man da verzweifeln. Wahrscheinlich ist DAS die eigentliche Aufgabe und DAS Geschenk an den Menschen überhaupt.

Martin, wie oft durften wir schon das Göttliche der Liebe erspüren! Gerade an diesen Anfangstagen hier in Baden-Baden. Du bist so lebendig bei mir.

Dir viele Küsschen, auf Deine Stirn, die Augen: o lass mich darin ganz tief versinken, in Dir sein.

 

6.11.68

Heute Abend in Deinen lieben Briefen geschmökert.

Wenn man so allein ist, lebt man aus dem vergangenen, gemeinsam Erfahrenen auf die Zukunft zu. Gegenwart ? ist doch nur, wenn Du da bist.

Jetzt zähle ich schon die Abende bis Samstag. Du Martin.

Eine solche Gewissheit, ein solches Vertrauen in den andern ist so glücklich "lastend". Manchmal meine ich, Du müsstest hinter mir stehen, Dich vorneigen und den Kopf ruhig an meine Wange legen. Ich streiche langsam durch Dein feines Haar.

 

8.11.68

Alles dieses unsere Geschichte. Du bist mein kleiner Prinz, ich Dein Jottchen. Du hast etwas so unendlich Sanftes, Rührendes und dann so viel Starkes, solche Festigkeit. Auch wenn Du glaubst, bisweilen Steuermann eines treibenden Schiffes zu sein. Du, Martin, nimm mich fest an Deine Hand und lass mich an Deiner Brust geborgen sein.

Heute ein Patient, ein sehr einfacher Mann, seit 3 Jahren Witwer. Seine Frau strab mit 39 Jahren an Ca. Sagte zu mir, so wie mit seiner Frau das war ? er heirate nicht mehr. Seine Frau sei ihm ein Engel gewesen. So Schönes aus dem Mund eines ganz einfachen Mannes. Mit so viel liebevoller Erinnerung. Da soll sich nichts anderes einschleichen.

Du liebster Martin! Mein Bräutigam ? immer mein Prinz; auch die Durststrecken in der Wüste durchqueren wir ? und da sind ja immer die Sterne am Himmel.

 

11.11.68 Martin

Dein Namenstag! Küsschen mein Prinz. Morgen Abend wirst Du kommen du wir werden feiern, ganz fein.

Am 9./10.11. Wochenende in Freiburg, wobei ich in Deinem Bett schlafen durfte.

Immer wieder lernen wir uns neu kennen. Man muss sehr behutsam sein in der Liebe. In welche Tiefen gelangen wir? O Du, dass wir uns so stark lieben dürfen, so ineinander verwoben werden!

 

12.11.68 7 Uhr früh

Du heute zur endgültigen Vorstellung in Koblemz. Unsere Zukunft. Ich denke fest an ich, mein Prinz.

 

13.11.68

Martin. Du musst, wenn ich nicht anders kann, ganz fest an mich glauben. Bitte

O Du bist so gut und sanft. Was nur mit mir ist. Ich bin doch kein Stein, bin doch auch aus Fleisch und Blut. Ich, mein Inneres will sich Dir ja öffnen, ist es möglich, dass es da keine äußeren Ausdrucksmöglichkeiten findet?

Ich bin sehr müde heute. Martin, bitte, bleibe mein lieber Prinz, sonst muss ich ganz verzweifeln. O Du, nimm mich fest an Deine Brust und lass mich dort ruhen, bis meine Starre sich wieder gelöst hat. Martin! O ich schäme mich ganz und möchte ganz mich in mich zurückziehen. Aber Du, Du hältst meine Hand sicher, was kann da passieren? Ich bin mir selber fremd, Du aber bist so großartig. Du mein Prinz

 

18.11.68 Martin-Jutta

Dieses so fraglose Einandergehören in der Liebe. An diesem Wochenende durfte ich an Dir neu werden. O Du hast mich gelöst, mein Schatz! Aber jetzt der Schmerz des Fernseins. ? Draußen fällt ganz sachte Flocke um Flocke und hat alles mit einem weißen Guss überzogen, ganz zauberhaft. Jetzt mit Dir durch die Landschaft gehen, im Dunkeln, eng an Dich geschmiegt.

Mein Prinz! Ich weiß Dich so nah, weil Du an mich denkst. Und so gehöre ich ganz Dir und lese in "Moses", das Du mir zum Geburtstag geschenkt hast.

 

19.11.68

Wir besinnen uns aufeinander und finden so eine uns eigene Art der Vereinigung der Herzen. Wir üben uns nah beieinander EINS zu sein. Schatz. Es wird wohl nicht immer nur das Nahe-sein genügen! Liegt darin doch noch ein Abstand, der überschritten werden kann. Vorerst bleibt unsere Sehnsucht dort stehen ? nur die gedankliche Träumerei darf bisweilen ein Vordringen in jenen unangetasteten Bereich wagen. Martin, Du mein Bräutigam, mein Prinz!

 

20.11.68 Mittwochmorgen, eine halbe Stunde vor Dienstbeginn

Dabei sind wir doch eigentlich Studenten geblieben. Aber man muss immer so sicher tun, als ob man alles weiß.

Martin, Du. Draußen ist alles in eine dicke Schneedecke gehüllt und gibt sich damit ein reines, ausgeglichenes Aussehen. Spitzen und Kanten haben die Schneeflocken verwischt - bis ein lauer Wind kommt und die scharfen Konturen der Dinge wieder hervorgräbt.

Martin, es ist etwas so unendlich Schönes, an Dich denken zu dürfen, mit Dir zu verweilen -.

Dann auf in den Tag! Schatz!

Am Mittag Dein lieber Brief, ganz mir aus dem Herzen gesprochen, Martin! Weil es auch ganz aus Deinem Herzen kam.

 

21.11.68

Ich lese in unserem ersten Buch. Mein Herzensbub, o dass wir uns so lieben dürfen, Martin, und so Sehnsucht leiden müssen! Wir wollen bald Hochzeit halten, mein kleiner Prinz.

 

29.11.68

Martin! Du über alles: mein Prinz. Weinen könnte ich, so lieb bist Du zu mir. Du, so in Deinem Suchen nach Echtheit und in Deinem liebevollen Verstehen. Es muss immer gut mit uns sein.

Gestern Abend mit viel Spaß den Kuchen gebacken; er wird Dir sicher fein schmecken. Wenn wir nur mal unsere Wohnung haben, o Du, es wird so fein werden. Du mein kleiner Schatz, wo Du doch so groß bist!

Abends.

Eine wunderbare Glückseligkeit hat sich meiner bemächtigt, als ich heute Abend aus dem Dienst komme. Rasch den Mantel an, in die Abendmesse. - "Unruhig ist unser Herz, o Gott, bis es Ruhe findet in Dir." - Nun liegt nur noch die Nacht zwischen uns, eine schöne Nacht voller Erwartung und sehnsuchtsvollem Herzklopfen. Du, mein Schatz, mein lieber kleiner Prinz!

 

10.12.68

Ja, es wird immer gut um uns bestellt sein. Lass mich immer Dein kleiner Prinz sein. Und was auch geschieht, es wird immer uns beide zusammen angehen.

 

11.12.68

Zu Kafkas Schloss. K. und Frieda (S.45)

"Dort vergingen Stunden, Stunden gemeinsamen Atems, gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weitergehen, weiter sich verirren."

 

Wie fremdartig, verfremdet, den Erzähler verfremdend ist doch diese Schilderung! Weil K. es nicht fertig bringt, sich ein für allemal loszulassen, weil ihm das Vertrauen fehlt, sich loslassend zu einem neuen gemeinsamen Sein zu erwachen, deshalb überkommt ihn das Gefühl, er gerate in eine unermessliche, nur immer noch bedrohlicher ihn umkreisende Fremde. K. spürte die Verlockung, doch die Verlockung, Ja zu sagen. Doch sie wird ihm zur Schlinge. Unsinnig, weil unüberschaubar umgarnt sie ihn, verbunden mit unzähligen unheimlichen Gefahren. (Kafka-K kokettiert mit Felice, einer verheirateten Frau. Er will sie und will sie doch nicht. Er braucht sie zum Schreiben, aber nicht in seinem Leben) Kafka-K. kann sich bestenfalls im Leben, aber nicht vor dem Leben behaupten.

Nein, Heimatluft hatte Kafka-K: nie gehabt; mag er sie auch gesucht und bei der Begegnung mit der Frau erwartet haben; aber sie weht ihn hier ganz und gar nicht an. Diese Erwartung bringt und hält nur eine Bewegung, eine Handlung, in Gang: die Handlung des Romans, die Handlung des Fremden in der Fremde. - Heimat hat für Kafka nicht denselben Realitätsgrad wie die Fremde. Mit dieser Einschätzung geht er auf die Welt zu, auch zum Reich der Liebe und findet, was und wie er es sich ausgemalt hat. Alles ist Fremde, überall Fremde! Und Heimat, noch nie gesehen, bestenfalls gehört und erhofft, wird zur großen Vision eines utopischen Lebens.

Freilich, wie erkennen wir die Wirklichkeit, wenn wir uns als Mann und Frau begegnen? Ist es nicht gerade so, dass in dieser für uns so bedeutsamen Begegnung auch die Umgegend eine besondere Umgestaltung erfährt? Alles hält den Atem an, wenn Mann und Frau sich begegnen. Alles scheint eilends mit ihnen zusammenzukommen, scheint neugierig auf sie zuzukommen; und was man zuvor vielleicht als eine Wiese im Tal und Berge in der Ferne bemerkt hat, das wird jetzt zur großen Schaubühne. Aber bei diesem äußeren Rahmen muss man nicht stehen bleiben. Denn nicht Tal und Berg werden zu Zeugen bei einem Spiel, das zwanghaft beginnt und zwanghaft weitergeht, sondern wir sagen es der Arena des Kosmos und den Zuschauern, seien sie nun kreatürlich oder göttlich, was für einen Platz wir willens sind, vor dem Leben zu behaupten.

 

17.12.68

Nochmals zum Briefkasten gefahren und geschaut, ob er geleert worden. Aber es ist alles in Ordnung und die schlimme Befürchtung trifft nicht zu. Der Kasten ist geleert, der Brief an Dich unterwegs. Wenn nichts dazwischen kommt, könnte Dich mein Briefchen schon morgen früh erreichen.

 

18.12.68

Anouilh: Die Katze

Viel Philosophie, viel zu viel schon, bevor sich der Vorhang hebt. Illustration von begrifflichen Gegensätzen, weltanschauliches Spiel, ein Abkömmling des Mysterienspiels. Ringen um Idealität in einer Welt aus schlechter Realität. Aber das Ideale (das Sittengesetz, der kategorische Imperativ) kann nicht erreicht werden. Das Reale, weil durch das Ideale zu Ersetzende, flieht endlich aus den Augen. Zum Schluss bleibt nur die Kerkerzelle übrig, das auf sich verwiesene, sich reflektierende Ich. Während aber ein Richard II. im Rückblick im Kerker Erkenntnis sammelt und Läuterung (Katharsis) erfährt, bleiben bei Anouilh nur der Blick auf das Unverwandelbare und eine bleiern-drückende Erinnerungsschwere, die an Unerlöst-Sein und an eine Erlösungssehnsucht erinnern.

 

Immerhin hatte ich in der Nacht das starke Bedürfnis, mich Deiner zu vergewissern: Du mein heißgeliebter, immer ersehnter Schatz. Aber selbst wenn ich Liebe und Geliebte und Schatz sagte, fragte ich mich, ob ich schon zu viel gesagt hätte. Gehörten diese Worte der Sprache an, die aufs Reale verwiesen oder waren sie utopisch, dem nie einholbaren Idealen verpflichtet? Ein wenig hatte ich mich von dem Stück einholen und paralysieren lassen, hatte mir meine Beobachterdistanz rauben lassen, dass ich nun fast Angst bekam um alle die Bezüge, allein schon wenn wir "mein" sagen und "dein". Endlich aber wurde ich wieder ruhig; und ich wusste, dass ich auch weiterhin "mein" sagen werde und "dein", in unserem Sinne, weil Du viele Hände hast, mich an Dich zu ziehen.

 

7.1.69

An der Eggstraße vorbeigefahren und daran gedacht, wie oft ich früher in die Straße hineingeschaut hatte, nach jenem Haus, in dem ich Dich wusste und das nun schon lange von fremden Leuten bewohnt wird. Und es war mir wie ein Rückblick in ein bereits lange entschwundenes Leben.

 

8.1.69

Ich lag in meinem Bett und wusste nicht, ob Du dabei wärest, und hatte fürs erste nur die Sorge, dass ich Dich an die Seite drückte und Dir den Platz wegnähme.

 

9.1.69

Das Warten auf Deinen Brief, ein wenig ungeduldig, dann aber doch auch wieder ganz zuversichtlich. In den Augenblicken der Geduldlosigkeit, wenn sich mir das Herz vor Qualen im Leib dreht, da ist mir, als ob ich, ich unseliger Tor, Dich weggeschickt hätte und Du wärest gegangen, ohne Dich umzublicken. Dann aber wieder weiß ich ja, dass Dein Schreiben kommt und ich weiß auch, dass Du mir schreiben wirst, dass Du mich nicht vergisst. Das weiß ich noch genauer, als ich den täglich Sonnenaufgang zu berechnen vermag. Wie sehr ich das alles aber auch weiß, ja wenn Du immer nur schreiben würdest: Du mein Schatz, mein Prinz; wenn ich Buchstabe für Buchstabe um den Inhalt Deines Briefes wüsste, so brauchte ich Deine Briefe gleichwohl immer wieder, wie das tägliche Brot. Was ja auch schreiben wir uns denn, wenn nicht uns selber. Das ist viel mehr als Buchstaben und Worte. Die geschriebene Sprache ist ja nur das grandiose Mittel und sie ist ja "nur" dazu da, mir das Brot Deiner Gegenwart zu stiften.

 

30.1.69

Claudel: Der Tausch

Welch kleines bittersüßes Gefängnis, dieses Du, das sich wie ein Bleiherzchen ans pochende Herz hängt. Er hätte es länger besitzen können als nur für diese kleine Weile. Dann aber kam das unbedingt Andere und der Glaube schwand und dann kam der Tausch und das Haus wurde aufgegeben.

Jedes Haus, wenn es nicht oder nicht mehr erfüllt ist vom Duft der gemeinsamen Liebe, wird zum Gefängnis. Im Gefängnis aber ist kein Glück. Aber wenn man auch im Gefängnis lebte und wenn es einem gelänge, das Gefängnis mit dem Duft der gemeinsamen Liebe zu erfüllen, so lösten sich die starren feindseligen Mauern auf und man könnte ins Freie treten wie der Bakchos bei Euripides oder wie Petrus in der Apostelgeschichte, als man ihn eingesperrt hatte.

 

1.2.69

Jutta, kleines Du in meinen Händen. Sei ganz unbesorgt und ruhig: ich bin bei Dir.

 

2.2.69

Mit der Ohnmacht darf man nie kokettieren noch gar sie lieben. Was einen selber angeht, so muss man mit ihr auskommen und zurecht zu kommen versuchen, einstweilen, bis es einem gelungen ist, sie ganz zu beheben.

 

3.2.69

Immer mal wieder das Gefühl der Verunsicherung und der Verlassenheit. Aber nicht weil ich Deiner Hilfe entbehrte, sondern weil ich spüre, wie viel zu wenig ich mich bemühe, neben Dir und für Dich etwas zu bedeuten. Ich stoße mich aus mir hinaus und bin nicht in der Lage, mich aufzufangen. Und dann warte ich, bis der Schlaf über mich kommt. Ich bin nicht wert, ein so großes Gutes zu betreuen und zu bewahren wie Deinen Glauben an unsere Liebe. Wenn ich nur besser um mich und um meine Umgebung Bescheid wüsste. Wenn ich wüsste, wo ich noch stehen kann, wo mir das Wasser noch nicht über den Hals geht und ich noch nicht untergehe. Ich habe eine katastrophale Orientierung, eine miserable Ordnung.

 

27.2.69

Wie weit wir treiben,

ohne zu bleiben,

ohne zu stehn.

Regen hämmert gegen die Scheiben

Und die Tage vorübergehn.

 

28.2.69

Man bildet sich ein, man hätte etwas geleistet; man hätte nur anhalten und aussteigen müssen, um sich davon zu überzeugen. Doch ist gut, dass man nicht angehalten hat und weitergefahren ist. Weiterarbeiten, darauf kommt ja doch alles an, wie viel oder wie wenig auch erst getan sein mag. So sind wir schon eitel-selbstverschuldeten Täuschungen und Enttäuschungen aus dem Weg gegangen.

 

29.2.69 Traum

Es war viel Betrieb im Haus. Unter anderen waren auch Oma, Tante Gretel und Eugen da. Sie saßen unten in einem kleinen Raum beisammen und schienen auf etwas zu warten. Vielleicht auf das Frühstück, denn es war Frühstückszeit. In die allgemeine Wortlosigkeit hinein las Vater aus einem Album Sprüche der Weisheit. Aber keiner schien sonderlich darauf zu achten. Auch las er viel zu schnell, als dass man sich den Gehalt der Sprüche hätte aufzuschließen und anzueignen vermocht. Man hörte nur und dann kam schon das Nächste. Ich aber war noch in meinem Zimmer. Da kamst Du, mich abzuholen. Ich war sehr glücklich darüber. Natürlich hattest Du ein ganz besonderes Vorrecht auf mich; und doch verwirrte es mich jetzt, wenn ich daran dachte, dass auch noch ein anderes Mädchen auswärts sich Hoffnungen auf mich machte. Was für ein schreckliches, unauflösbares Rätsel! Ja es schien mir geradezu ein Verbrechen, ein gemeiner Verrat, wenn ich nun ginge, ohne das andere Mädchen in der Ferne wenigstens in Kenntnis davon zu setzen. Und ich konnte den Gedanken nicht loswerden. Erst als wir drunten ins Zimmer traten ? alle schienen auf uns gewartet zu haben, denn Vater beendete augenblicks die Lektüre und alle wandten sich uns zu -,begann ich, Dich mit jenem Mädchen zu vergleichen. Und ich begann, Faktum gegen Faktum und Vorzug gegen Vorzug zu stellen. Sie war 24 Jahre alt, Du auch. Sie Ärztin, Du auch. Sie so lieb und golden gelockt wie Du auch. Ja, wer warst denn Du und wer war jenes Mädchen in der Ferne? Da aber kam mir die erlösende Einsicht, dass es beide Male nur Du warst, Du in der Ferne, in Baden-Baden, und Du in Gedanken hier, bei mir, und dass mich nur eine Unachtsamkeit in die peinvolle Irre geführt hatte.

 

1.3.69

Wip sin alle frouwen gar!

Zwifellop daz hoenet,

als under wilen frouwe:

wip dest ein name ders alle kroenet.

(Walther. Aus den Liedern der Minne-Auseinandersetzung. 15. IV)

 

Alles, was Anspruch erheben darf auf den Namen Frau (wip), ist aufgehoben in Dir und in Deinem Namen: Jutta.

 

2.3.69

Möge sich über dem nächtlichen Rand

Morgenröte erheben,

schlafende Wälder und dämmerndes Land

neu zu beleben.

 

10.3.69

Wieder auf dem Weg nach Hause an Deinem Fenster in der Eggstraße vorbei. Es war dunkel. Da wusste ich, dass Du schon schliefst. Und alle die Tage, vor allem aber auch alle die Abende und die Nächte fielen mir wieder ein, in denen hier so Großes, so Unbegreifliches geschehen war. Wie zärtlich verliebt war ich doch in diese Straße! Wie verliebt in dieses Haus mit dem eisernen Gartentor, in dein Zimmer, auf das man zuschritt, wenn man sich der Haustüre näherte! Wie erinnerte ich mich an die so über alles wunderbaren, überirdischen Empfänge an den Sonntagabenden; aber dann auch an die Abschiede, wenn Du einbogst zur elterlichen Wohnung und ich allein zurück musste.

Ja, auch daran erinnere ich mich noch, das muss im Frühling 1963 gewesen sein, nach der abendlichen Runde beim Pfarrer, Du hattest eben Dein Abitur gemacht, als ich eines Sonntags auszog, um nach Dir und dem elterlichen Haus zu forschen, wo Du wohntest. Und wie ich die Umgegend des Römerhofs abgeschritten hatte, wie ich mich also gerade in die falsche Richtung auf den Weg gemacht hatte¸ denn niemals wär mir ja eingefallen, jemanden danach zu fragen und mein Geheimnis zu verraten. "Zu wie viel höchlich ungereimten Dingen/ hat meine Leidenschaft mich hingerissen!" (Wie es euch gefällt, II.4) Jutta, liebste, mit mir zusammen im Wald des Lebens, es ist alles gut.

 

4.5.69

Ach der vielen Unruhe, die immer wieder über uns kommt, wenn wir Abschied nehmen und voneinander gehen müssen! Es ist immer wieder, als zerreiße etwas. Und doch: haben wir nicht gerade in solchen Augenblicken der Ohnmacht, wenn uns das Nicht-mehr umdüstert und die Tränen uns aus den Augen rollen, uns mehr noch lieb, als wenn wir beisammen sind und Auge in Auge tauchen und Hand in Hand im alles umstrahlenden leuchtenden Augenblick? O es ist ja doch nur ein Kleines, sagen wir da beschwichtigend zu uns, und betören und beschwatzen und leiten und lenken wir unsere Herzen dahin, dass ja auch die Abschiede zu etwas gut sind: auf dass wir bei der nächsten Ankunft unsere Hände auf Neue zusammenlegen und verschränken dürfen. Wie weit entfernt sind wir doch noch von dem Tag, wo wir ganz still nebeneinander stehen und sitzen und liegen und uns auf alle Weise festhalten, ohne mehr die kleinste Beirrung. Liebste, aber wir schaffen es, weil wir immer miteinander und zusammen üben.

 

5.5.69

Ganz still schreibst Du ins Buch, währenddes ich meinen Sonntagsdienst versehe. Und heute Abend finde ich Dich hier, wie Du über alle Entfernung weg Deine liebe Hand ausgestreckt hast nach hier. O Du bist ja auch da, auch wenn unsere Herzen ob der Entfernung weinen. Du hältst meine Hände und führst mich immer zu Dir hin; wir bleiben unterwegs zueinander.

Die lauen Abende im Mai jetzt. Allein hier ? Du, wir empfinden das Alleinsein stärker als zuvor, da wir so gar keine Möglichkeit haben, es zu durchbrechen. Trotzdem ? Du bist immer hier, in dem Ringchen an meinem Finger Dein lieber Name.

Du mein Prinz. Wir hätten auch noch Prinz hineinschreiben sollen. ? Ob Du schon gut schläfst und vielleicht träumst?

Martin Du, lass Dich umarmen und mich ein Weilchen Deinen Schlaf beschützen, Du mein Schätzchen

 

16.5.69

Mairegen. Morgen kommst Du wieder. Martin, es wird wieder schön sein. Innerlich sind wir schon wieder fein aufeinander vorbereitet. Martin, mein Prinz. Nur wenn Entfernung überbrückbar ist, sind wir fähig, sie zu ertragen, und je mehr wir uns wieder einander nähern, je kürzer die Stunden zwischen uns noch sind, desto intensiver wollen wir uns schon die Hände reichen, um den letzten Abstand zu überwinden. - Wenn wir dann ganz nah beieinander sind, brauchen wir wieder einen Abstand. Ob das ist, um zum andern überhaupt die Hand ausstrecken zu können?

 

21.5.69

Wie schön, wenn wir am Sonntagmorgen noch ein wenig beieinander liegen! Jede Minute ist so wertvoll, wie eine kleine Perle im aufgehenden Morgen. Da wir immer nur über sehr wenige Minuten verfügen, sind sie uns auch über alle Maßen so wert und teuer. Nicht ein Sturmwind braust um sie hin, nicht Erregung stört sie, nicht drängt eilige Hast. Eins sind sie mit der ruhigen Gebärde des über die Berge von Baden-Baden steigenden Tages, des im Morgentau allmählich sich belebenden Morgens. - Und so bin ich dann auch noch bei Dir am Montag in aller Herrgottsfrühe, wenn auch nur im träumenden Gedenken, wenn mich der Zug mit aller Macht an die Arbeit nach Schopfheim hinwegzieht.

 

22.5.69

Sehnsucht auf dem Schulweg

Und fahr ich dann in Basel ein, in den Badischen Bahnhof, wo ich umzusteigen hab Richtung Lörrach, dann packt mich und überkommt mich immer mal wieder eine große Sehnsucht, ein Fernweh nach Italien. Hinweg mit Dir zusammen über alle Grenze, über alles Einengende, uns Eingrenzende und Beschränkende. Und ich träume, während ich eine knappe halbe Stunde auf die Weiterfahrt warte, wie wir zusammen durch die Schweiz fahren, die Alpenpässe und Gebirgskämme überwindend, und wie wir dann weiterfahren, begleitet zuerst von Sturzbächen, später dann schon von stattlichen Gebirgsströmen, in das Land, das sich terrassenförmig in die Ebene hinab erstreckt, hinab nach Oberitalien, an Weilern und kleinverwinkelten Gehöften vorbei und vorbei am Land Vergils zu den großen Städten des Appenin

 

24.5.69

Mein lieber so großer und so kleiner Schatz! Wie könnten wir alles verstehen, was da auf uns wartet! Der kleine Prinz hat noch nicht einmal seine Rose verstanden, und war doch immer um ihn. Wie schwierig ist es da erst, das auf uns Zukommende zu verstehen. Und doch, wo wir uns schon ein wenig näher gekommen sind, Du als mein lieber Schatz und ich als Dein kleiner Prinz: haben wir da nicht schon ein kleines Vorgefühl auf alles das, was sich in uns bereitet und was aus uns werden soll? Wie wollte ich freilich, Du wärst bei mir und ich könnte immer alles mit Dir besprechen und Dir sagen. Dabei ist es doch auch so gut. Nichts und niemand raubt Dich mir mehr ja. Ich weiß, dass ich Dich jetzt genau so bei mir habe, wie es für jetzt gut ist. Ich brauche ja nur den Kopf aufs Kissen zu legen, um Dich zu spüren, und ein wenig die Augen zu schließen, um Dich zu sehen und nur ein wenig den Atem anzuhalten, um Dein Herz schlagen zu hören.

Jutta. Du. Nimm ein ganz liebes Küsschen von Deinem Martin.

 

27.6.69

Es ist gut, dass alles so weit ist. Möge alles, was ist und was sein muss oder vielleicht auch sein darf, uns erreichen in jener Mitte, die unsere Mitte, Deine und meine, und die Mitte Gottes ist: als etwas Notwendiges und zugleich Tröstliches; und dass uns das Notwendige nur nicht irritiert, niemals, so dass wir begännen, es hin und her zu wenden, bis wir es in die Nähe der Dinge gerückt hätten, die so sein können aber auch anders, und wir darüber nachdenken und nachgrübeln, ob nicht doch noch andere Wege hätten erreicht werden können, die besser gewesen wären. - Liebste Jutta! Lass uns unsere Mitte auftun gerade so, wie wenn wir Kinder wären, für die man die Vorhänge des Theaters aufgehoben hat und die nun darauf warten, dass das Spiel beginnt. Dass unsere Sorgen nur nicht wie Zwerge im Kreis herumeilen, die kein Ende finden. Und dass wir nicht herum schiffern in lecken Booten, wo man nichts anderes mehr tun kann, als Wasser heraus zu schippen, immer wieder. Mag das Spiel auch ein schwieriges, ja auch ein böses sein, lass uns damit zufrieden sein, wenn es nur ein gutes Ende findet, wie es sich doch die Kinder ersehnen.

 

7.7.69

In vier Tagen findet nun unsere Hochzeit statt, die standesamtliche. Wenn sie auch wie ein Wirbelwind auf uns zukommt, sie bringt uns nichts Neues. Nur ein Theäterchen, da es die Welt nichts angeht: dass wir uns zugehören. Ein heller Ton auf einem dunkelfarbigen Feld, wie bei vielen Bildern van Goghs, wo ein leuchtender, satter Farbton aus einem mit Zwischenfarben abgestuften Raum herausbricht und herausschreit.

Vielleicht, dass wir nach Salzburg fahren oder in die Alpen; aber das ist zu weit; man tauchte in einen Bereich, den man sogleich wieder verlassen müsste. Besser wär vielleicht an den Bodensee oder an den Züricher See. Etwas Schönes muss es sein, ein Ort, von wo aus man lange leicht herabschauen kann auf eine Landschaft, in deren Anschauen man sich ausruht.

 

 

7. Die Hochzeit

Allein nun also haben wir die Hochzeit gefeiert, ohne Mutter und Vater der Braut und ohne Geschwister. Weder zur Zeit der standesamtlichen Hochzeit kam etwas in Bewegung, noch auch zwei Monate später mit der kirchlichen. Nur Gisela und Inge ? Inge, die selber einen Tag darauf im Kreis von Juttas Eltern heiratete! ? als Abgesandte des väterlichen Zorns, sind auf der Treppe gestanden, die zum Kindergarten des Carolus emporführt und haben wie zwei drohende Mänaden auf uns geschaut beim Auszug nach der Hochzeitsmesse, die Botschaft nach Haus zu bringen, dass das Ungeheuerliche nun Wirklichkeit geworden. Dabei hatte sich Jutta ihre Hochzeit doch so ganz anders vorgestellt und ausgemalt. Schon als Kind hatte sie bei Puppenhochzeiten von ihrer eigenen Hochzeit geträumt und hatte auch bei einigen Hochzeiten später als eine kleine Brautjungfer Hochzeitsdienste verrichtet. Und wenn sie beim Spiel als Kind die Brautglocken hörte, dann ist sie gern schnell zur Kirchentüre geeilt, um sich den Auszug, vor allem aber die reichgeschmückte Braut, sich anzusehen. Endlich war es auch bei einer Hochzeitsfeier, im Frühjahr 1963, als es mir gelang, mich ihr das erste Mal als Liebhaber zu zeigen. Das war bei der Hochzeit von Paul und Ingrid. Damals hatten wir im Dattler den Abend zusammen verbracht. Kühn war ich, wie ich es mir zuvor schon pochenden Herzens vorgenommen, auf Jutta zugeeilt, hatte mir ein Plätzchen verschafft neben ihr und hatte den ganzen Abend und die ganze Nacht über als hochbeglückter Verehrer keinen Tanz ausgelassen an ihrer Seite. Damals war auch schon der Plan in mir gereift und ich hatte gedacht: Wenn wir einmal unsere Hochzeit halten, dann geben wir auch ein solches Fest für die Pfarrgemeindejugend; wer weiß, ob sich dann nicht auch wieder ein solches Paar findet und kennen lernt und sich verpflichtet in dem wunderbaren Versprechen, dem Vollkommenen nachzustreben.

Nach unserer eigenen Hochzeit also, die uns eher an des Bettelmanns Hochzeit im Lied erinnerte, begaben wir uns auf eine kleine Hochzeitsreise und fuhren über das Vorarlberg und St. Anton in die Österreichischen Alpen. Das war freilich kein guter Rat, den wir da befolgten. Denn zum Bergsteigen war jetzt nicht die Zeit, wo das erste Kind unterwegs war, und für wilde Burschen- und Hüttenromantik war Liebchen jetzt auch nicht in der rechten Stimmung. Ich erinnere mich: Einmal kochte ich in einer Blechkonserve eine Suppe, die ich auch noch verschüttete. Was für eine Ohnmacht. Wie sehr ich da doch mein Schätzchen mit dieser dummen Hochzeitsreise enttäuscht habe! Wyhlen oder Säckingen oder einen entsprechenden Ort hätte ich für uns aussuchen sollen, z.B. einen Ort in dem von unserem lieben Johann Peter Hebel geschätzten Hotzenwald. Mit einem stillen Plätzchen in der Sonne, um neben einem Tässchen Kaffee sich ruhig zu unterhalten und ein wenig im Hausfreund zu lesen und Pläne zu schmieden; und nicht in den dummen Alpen herumzustehen, wo andere dann die Gipfel erklettern und wo wir uns die Füße abfroren. Doch hat sie sich nichts anmerken lassen.

Zum Glück haben wir dann im Spätjahr eine Hochzeitsreise nach Rom nachgeholt, die uns die Eltern spendiert haben.

Was die Beziehungen zu den Eltern meiner Liebsten angeht, so blieb die Lage so verflucht wie sie war. Jutta schrieb zwar Briefe nach Haus und war wohl auch längst mit ihrer Mutter ins Reine gekommen, sofern da überhaupt jemals etwas gewesen war, aber der Weg zum Herzen des Vaters blieb verrammelt. "Ich habe mich so über Deine Post gefreut!" beginnt sie am12.12.69 einen Brief an Mutti, ihre Mutter, aus Göppingen (wir haben den Brief in Muttis Hinterlassenschaften gefunden), und fährt dann fort: "Wenn es wenigstens wieder so weit kommen könnte, dass ihr ohne Bitterkeit an uns denkt. Wie sehr wünschte ich die Zeit herbei, in der wir uns wenigstens ohne allen Harm und ohne alles Anschuldigen und Abrechnen begegnen könnten. Ich habe hier genügend Zeit, über alles nachzudenken; wir beide, Martin und ich, bedauern das jetzige Verhältnis außerordentlich. Wie schwierig für uns eine Verständigung ist, ich weiß auch gar nicht, wie wir es anfangen könnten." Zum Schluss des Briefes, zur Grußsendung, schreibt sie dann noch: "Euch allen wünsche ich alles Gute und Liebe, besonders Grüße auch an Papa!" So kam es denn dann, dass selbst noch nach der Geburt unseres ersten Kindes, des ersten Enkels auf beiden Seiten, Mutti zuerst nicht einmal ins Krankenhaus durfte, die Tochter mit dem Kind ("das Heidenkind!") zu besuchen.

Wahrscheinlich war es in jener Zeit, dass meinem Schätzchen die praktische Philosophie für das Leben klar wurde: dss wir, was wir nicht ändern können, zu verschweigen oder aber es so uns zurecht zu legen haben, dass wir sagen können, dass alles in Ordnung ist, ja dass es gut so ist. In jenenTagen aber war es wohl auch, dass mein Schätzchen krank wurde für ihr ganzes Leben: eine progrediente Krankheit, die vermutlich leichtes Spiel hatte, sie anzufallen, als sie sich in einem psychophysisch so labilen Zustand befunden. Doch auch hierüber hat sie sich nie ausgelassen; strikt hat sie sich an ihre eigenen Philosophie gehalten.

 

18.7.69

Schlaf, Liebste. Denn ohne Unterlass können wir nicht am Werk bleiben.Ein Unfertiges, Ungewisses, Unwissendes muss wohl immer bleiben. Wenn nur Du da bist.

 

19.7.69

Ernst meinte: Bei der Hochzeit habe ich geradezu etwas Spitzbübisches angenommen; zumal als wir die Treppe zum Standesamt emporstiegen. In der tat erinnere ich mich noch gut daran, wie ich in einer der breiten Nischen hineinsprang und mich in meinem Hochzeitsanzügchen als Wandfigur präsentierte. Vorher, so meinte er, hätte ich etwas Etabliertes und allzu Regelmäßiges an mir gehabt.

 

23.7.69

Wenig Zärtlichkeiten hatten wir nur noch getauscht, weil wir es nicht wagten, auf diesem Gelände, das uns nicht gehört und das uns feindselig gesinnt ist, Zeichen unserer Zusammengehörigkeit von uns zu geben. Das Äußere wirkte schon so bedrückend und einschränkend, dass wir es bei einem kurzen und knappen Gute-Nacht-gruß bewenden ließen, nachdem ich mich geweigert hatte, Deinem Vorschlag gemäß, fern von Dir, irgendwo oben zu schlafen. Des Morgens am anderen Tag, als ich Dich mit dem Auto zum Bahnhof brachte, kläglich war abermals jeder Versuch gescheitert!, warst Du wieder , noch immer nicht ganz ruhig durch die Adern strömte. Es scheint ja zwar so zu sein, dass wir auch auf solche verspäteten Beweise scharf sind, kommen dann aber die Beweise, dann können wir nicht mehr an uns halten, die volle Rechnung aufzumachen, ein leidliches hässliches Geschäft, worum ich Dich mit einem Küsschen um Verzeihung bitte. Ja, Liebste, verzeih mir, wenn ich immer noch, auch jetzt noch als Dein Bräutigam, so jämmerlich versage. Es soll sich ändern!

 

15.8.69

Liebste ich vergesse nie, dass uns das gemeinsame Streben nach Vollkommenheit zusammengeführt hat und in Ewigkeit verbindet! Du!

 

29.8.69

Heute wohl die letzte Nacht, die ich noch unter dem elterlichen Dach zubringe. Aber man muss wohl alles verlieren, um von Grund aus ein Neues zu beginnen. Gewiss, früher war alles sehr gut. Aber dieses Gute hatte denselben Charakter wie das Zuhause-Sein. Man hatte es bekommen und übernommen, ohne es sich erworben und verdient zu haben. Ohne sich eigentlich und selbsttätig eingerichtet zu haben, hatte man sich zurecht gefunden. Man glaubte alles zu kennen und kannte doch gar nichts. Wenn ich nicht mehr aus noch ein wusste und den Kopf aufs nächtliche Kissen legte, dann kannte mich doch zumindest noch das Kissen. Jetzt sind wir Fremdlinge geworden. Es ist nicht leicht tiefer zu sehen und zugleich noch Abstand zu wahren. Wir merken nur, wie uns ein Geheimnis zu sich herabzieht und uns nicht mehr loslässt. Und dann wird es uns schwer ums Herz, dass alles so verstrickt, so unauflöslich verstrickt ist. Und wir wissen nicht, wo wir uns morgen und übermorgen hinlegen und was dort wir finden werden.

 

31.8.69

Zwei rotgepolsterte Stühle, darüber jeweils alle unsere Kleider hängen, als ob sie den Weg dahin von allein gefunden hätten. Vom Bett aus gewahrt man sehr gut das Bewegte dieses Spiels. Gleich dabei steht ein viereckiges Tischchen, überdeckt mit einer gelben Tischdecke, von der man allerdings längst nicht mehr sieht ob der Menge der darüber getürmten Dinge: Bücher, Akten, Schreibsachen, Wäschebeutel, Kerzen, Bilder, Taschenradio u.v.m. Ein ähnliches Tischchen steht nach abseits davon bei einem kleinen Damencouch, auf welchem unsere beiden Püppchen sitzen, denen es überall gefällt und die allüberall in der Lage sind, einen kleinen Plausch abzuhalten. Auch nachts über brauchen sie nie so viel Schlaf wie wir. Sie sind nie so arg müde. Auch das Lämmchen ist bei ihnen. Auf dem Boden sodann befinden sich gut verteilt über die gesamte Zimmerfläche die Unmasse an Büchern, die schließlich auch irgendwo ein Daseinsrecht beansprucht. Interessant wirkt auch der aufgeklappte Koffer mit den beiden Badetüchern auf dem Deckel, der den Blick in eine Menge von Kleinkram freigibt. ? Durch zwei kleine Fensterchen fällt die Morgensonne in den Kellerraum. Zeit wäre schon längst, um aufzustehen; aber man muss sich immer erst tüchtig wachrütteln, bevor man sich aus diesem Chaos erheben mag.

 

6.9.69

Sehnsucht nach einem Tanz, der es uns ermöglicht, aus allem dem Wirrwarr heraus zu kommen. Aber wir sind ja nicht unbedarft; wir wissen, dass in der Bewegung der Wechsel und die Änderung des Ortes möglich wird. Und wir haben auch gelernt, im beidseitigen Eingestimmt-Sein einen Fuß um den anderen zu setzen; nicht in mühselig erworbenem So-Tun, sondern in der Artigkeit und Zierlichkeit des ganzen Menschen; fern liegt uns die Frage, was wir dafür zu bezahlen hatten und wie wir uns anzustrengen hatten, um auch noch das anfänglich mühevolle Üben zu einemseligen Geschäft zu machen; das herrliche Gefühl, bald getragen zu werden und dann wieder zu tragen, beschwingt und belebt uns. Man muss es gelernt haben, so dahinzugleiten, selbst auf engstem Raum, und anzuhalten und die Wende nicht zu verpassen, um dann wieder kurz auszuschreiten und zu beschleunigen. ? Ja, miteinander herauszutanzen und sich zu befreien aus all der Erdenschwere und Erdverhaftung, sich einüben in ein besseres, herrliches, unvergängliches Leben: wenn Er uns noch ein bisschen dabei hilft, dann kann schon nichts fehlen. - Mein Schätzchen, vielleicht dass sich nächstes Jahr noch schönere Gelegenheit findet, wenn wir zusammen wohnen, unsere Tanzkünste zu erweitern!?

 

14.9.69

Martin, Du Geschenk Gottes!

 

15.9.69

Vor einem Monat unsere kirchliche Trauung.

Nun, der liebe Gott wird uns schon länger zusammen angenommen haben.

Unsere Lesung: Der neue Himmel und die neue Erde. ? Der auf dem Throne sitzt, sprach: "Siehe ich mache alles neu!"

Lesung: Joh.21

Evangelium: Lukas, 21,34-36

 

19.9.69 Freitagabend

Wie verdichtet sich die Erwartung zu unruhig freudiger, beinahe unerträglicher Sehnsucht! Nun kann ich kaum noch erwarten, Dir einen festen Kuss aufs Mündchen zu drücken! Martin, mein kleiner Prinz! Du! Du bist ja wirklich und nicht nur ein Traumbild für mich. O komme bald, mein Schatz!

 

28.9.69

Wie wunderbar dieses Wochenende. Du liest vor aus "Der Spieler". Wir sind so glücklich und nun am Abend traurig. Aber es ist dennoch eine sehr wertvolle Zeit für uns. Du, Martin, immer bist "Du mein Prinz ? und ich Dein Schloss ?"

 

9.10.69

Schmerzliche Sehnsucht, bei Dir zu sein. Martin, Schatzibutz, jetzt auch schon Papischatz.

Am 30.Oktober 65 schreibst Du in Dein Notizbuch, wir müssten ein Buch zusammen schreiben. Wie vieles dieses unser Buch jetzt schon in sich birgt! ? Wie sehr doch die Sehnsucht nach einem einzigen Menschen uns bestimmt. Ich kann mir nichts Wunderbareres vorstellen als dieses vertraute Bei-Dir-Sein. Martin. In zwei Tagen bist Du wieder hier; wir tasten uns vorwärts von Wochenende zu Wochenende. Am Samstag, dem 11.10, ist es ein Viertel Jahr nach dem 11.7. Die Stärke des Zusammengehörens lässt sich aber nicht zeitlich ermessen. Du, wie sind wir in Gottes offene, gnadenvolle Arme gefallen! Du eröffnest mir, und sei es auch nur mit einer kleinen Überlegung, immer wieder einen kleinen Zugang zu Jesus. Martin, wie lieb Du bist. Du trägst eine so reichhaltige Schönheit in Dir.

 

19.10.69 Sonntagabend

Immer wieder heißt es Abschied nehmen für die kommende Woche. O nach solch einem Eins-Sein ? welcher Schmerz!

Wir gehen zur Burg Hohenstaufen; wir lesen in den "Erzählungen aus einem Totenhaus".

Human Embryologie. Zum ersten Mal spürst Du, wie Schatzibutz sich bewegt und so die ersten Zeichen von seinem Leben uns mitteilt. Welch Geheimnis sich da in uns entwirkt.

Martin, mein Prinz! Was wir da mit und aneinander erleben ist so unbeschreiblich. Nur die Tränen beim Abschied sprechen ein klein wenig darüber. Du, o Du! Wie viel Schönheit Du in Dir birgst. Gern möchte ich mit Dir auch Schweres tragen. Wenn ich Dir nur helfen könnte!

 

26.10.69

Ja, nicht einmal für 4 Tage wollen wir einander loslassen. Immer hat das "Auf Wiedersehen" etwas so Unbestimmtes, Unübersehbares an sich. Donnerstag möchtest Du ja wieder hier sein. Und hast jetzt eine Zweizimmerwohnung gefunden! Schatzibutz, mein Prinz, wir wollen ganz behutsam alles für uns bereiten und so einrichten, dass wir darin "Leben" erfahren können. Es muss ganz fein werden mit uns.

 

2.11.69

Du hörst zum ersten Mal das Herzchen unseres Schatzibutzelchens schlagen!

 

27.11.69

Wie wir es nur ertragen, Tag für Tag so auseinander. Vor Kummer und Sehnsucht könnte man endlos weinen ? o Du Schatzibutz. Wir brauchen uns beide, gerade in diesen Tagen, immer mehr. Ohnmächtig drücken wir das Gesicht ins Kissen ? noch für zwei Tage allein! Dann wieder alle Seligkeit auf einmal. Hoffentlich wird bald Weihnachten; ich meine die Zeit nicht mehr erwarten zu können. Mein kleiner Prinz, auch Du musst allein sein in der leeren Wohnung, frühmorgens in der Kälte bei dem langen Weg. Komm, lass uns noch wenigstens jetzt am Abend lieb zusammenkuscheln und uns wärmen. Da mein Prinzchen, unser Papischatz.

 

4.12.69

Wonach wir zutiefst streben: das ist unser Ziel. Ob wir es mit einem Namen belegen können oder nicht, das ist einerlei. Nur deutlich lebendig spüren müssen wir es in uns, wie das Kind in uns, in Dir, das neue Leben. Mitunter meinen wir, wir wüssten um das alles ganz genau Bescheid; dann wieder ist uns wieder fast jeder Einblick entschwunden und alles erscheint uns fremd. Selbst auch, wenn wir uns Namen aufgeschrieben hätten, sie gäben dann ja nichts weiter mehr her, nur als bedeutungslose Zeichen stünden sie um uns herum. Wie eine Erleuchtung kommt es über uns und prägt sich uns ein, ehe es wieder verschwindet und uns mit dem Wissen der Unwissenheit zurücklässt. Wenn ich nun trotzdem versuche, dieses Ziel zu bezeichnen, so nur, um mich zu vergewissern, dass es einmal da war und dass es wieder da sein wird, sobald nur der Geist über uns kommt. Es ist wohl eine Art des Innewerdens, ähnlich wie wir als Mann und Frau einander innewerden und erkennen, so wenn ich mich als Mann in deinem Spiegel besänftigt erkenne und du dich als Frau gestärkt in meinem Spiegel. In dir habe ich mich anfangshaft bereits gesehen und in Dir werde ich mich immer wieder und weiter sehen, in der von dir beschützten Gestalt. Das ist wunderbar. Wie auch sonst müsste uns unser Ich erscheinen, träte es uns objektiv gegenüber, ohne dieses um uns besorgte, uns leise umsorgende Du! Als ein unabgesättigt einsames, erschreckend raubtierhaftes, verwilderndes und verwildertes, und vor allem unerlöstes und ungebundenes, als ein durch kein Band und keinen Bund erlöstes und befreites Ich!

Vielleicht hat dieses oben avisierte Ziel auch etwas von dem, was Aristoteles zu Beginn der Metaphysik mit Wissen bezeichnet. Es ist aber kein Wissen im Sinn der Wissenschaft, sondern eher eine Art Gesamtwissen, eine Art platonischer Überschau und Überblickens, eine Weise des Glaubens um alles Gestaltete und Gestaltbare. Dieses Wissen oder eben auch dieses Innewerden zielt auf ein Bild von den Dingen in uns und um uns, auf ein Bild der Welt und des Kosmos. Selbst auch alle moderne Relativitätstheorie kann ja grundsätzlich in einem absoluten Raum gesehen werden, auch wenn dieser absolute Raum, dieses Absolute nicht von der Physik aus angegangen und vermessen werden kann. Dieses Absolute ist eher wie ein großes "Es klappt", ein "Es ergibt sich". Es atmet Weisheit und stiftet Sinn und zeigt sich wohl auch im Wunder, dass Experiment und Theorie zusammen stimmen und klingen.

Man könnte indessen dieses Innewerden oder Innesein auch im Bild der Heimkehr bedenken, die einem Odysseus im Sinn lag und die seinen Gefährten aus dem Sinn schwand und vergessen wurde über dem Genuss von Lotosfrüchten etc. Eine Heimkehr nach Belmont, nach dem Ort der unvergänglichen Liebe. Wie oft erblicken wir uns nicht abseits und außerhalb unseres Selbst, neben allem, was atmet und lebt, fast wie ausgeschlossen oder ausgestoßen. Lebten das wahre Leben und Erleben in uns, wär uns also auch der Kern unseres Dasein offen zugänglich, so hätten keine Lotophagen und kein Außerhalb, wie das Geld Venedigs etc. mehr Macht über uns. Irritationen gäb es dann nicht mehr. Immerhin wissen wir und werden der Täuschung nicht anheimfallen, als ob eine entscheidende Verwandlung durch eine äußere und äußerliche Veränderung erwirkt werden könnte. Im Erfassen unseres gemeinsam aufgebrochenen Daseins ist genug Glück für uns, ist unsere Heimkehr und unser Zuhause, und hier ist wohl auch zutiefst jenes Ziel zu erreichen.

 

5.12.69

Mamaschatz und Butzilein

Kommt nur schnell zu Papi heim:

Ei wie fein träumts in der Nacht,

ist das Bettlein fein gemacht.

Unterm warmen Federkissen

lässt sich ja vortrefflich küssen,

während draußen vor dem Haus

sich die kalte Nacht läuft aus.

6.12.69

Ave Maria, gratia plena

Wie wunderbar dieses Dokument des Immerwährenden, dieses einzigartigen ausgezeichneten Seins. Dominus tecum. Der Herr ist mit Dir. Gestern und heute und morgen. Ja, tief beglückt sind wir, dass der Herr immerfort mit dir ist, zumal du unsere Sorgen und Nöte kennst. Oder bist du uns nicht voraufgegangen wie eine gute Mutter mit deinem Schutz, uns zu empfangen am Tag unserer Geburt, als wir noch unkundig waren all der Wege, die zu den Herrlichkeiten Gottes führen.

 

7.12.69

Wie wir doch an unserem Hoffen und Warten ablesen können, wie es um alles Adventliche bestellt ist. Wie die Schmerzen des Wartens das Höchstmaß erreicht kurz vor dem Zusammenkommen, wenn wir kaum mehr zu warten haben. Und dann gilt wohl auch die Umkehrung: Je mehr wir den Herrn erwarten, um so mehr kommt er auf uns zu, um so mehr leben wir in der Endzeit.

 

12.2.70

Lass auch den Dorn verwachsen sich hinein

Und halte Tröstung Du über der Zeit!

Von jetzt an werden wir also zu Dritt sein: Mamaschatz, Annettchen und Papabär.

 

20.2.70

Annettchen ist unser Kind, noch nicht lange, aber nun doch so ganz und gar uns in die Hände gegeben, dass es uns bisweilen seltsam anmutet, dass es etwas Lebendiges ist, was da in unseren Händen liegt. Wir haben ja das Lebendige nicht erschaffen, gleichsam als hätten wir den Plan entworfen und den Bau durchgeführt; wir haben ja nur zugesehen, wie das alles geschah: durch uns und mit uns und in uns, und darum sind wir auch so verwundert. Annettchen gehört uns und gehört zu uns und ganz vorzüglich natürlich gehört sie auch ihrem Mütterchen, die einst als Märchenprinzessin mit hrem Prinzen aufgebrochen ist, das goldene Halsband zu finden, das sie nun schmückt. Dabei ergreift uns das Kind ja noch viel mehr als jedes noch so herrlich verfertigte Halsband, wenn es die Arme und die Beinchen und immer dazu den ganzen Körper bewegt, vor allem aber auch, wenn es die Augen aufschlägt und nach uns Ausschau hält. Es muss sich nicht ängstigen: wir sind ja da. Annettchen gehört zu uns und es gehört sich zugleich selbst. Welt liegt vor ihr und wartet auf sie, um entdeckt zu werden: zuerst in Gestalt von Mamischatz und Papabutz, wie auch dann in der ihr eigenen, ihr noch fast völlig unbekannten Gestalt. Das alles ist so unbegreiflich und doch wahr, so unfassbar und doch zu fassen: weil es als Fleisch aus unserem Fleisch und Gebein aus unserem Gebein, weil es als Gottes Schöpfungswunder vor uns liegt.

 

21.2.70

Mutter hat zu Hause das Geburtstagskärtchen mit dem Spruch aufgestellt, daneben die Kerze von Weihnachten mit zwei Bildchen von Großmutter und Oma. Es liegt gewiss ein wenig Inbrunst in diesem Tun. Möge ein guter Geist von dieser Stelle ausgehen, der Gräben überbrückt und beseitigt. Dass von hier aus, von wo Neues und Zukünftiges sich ankündigt, auch Altes und Vergangenes geheimnisvoll wieder aufblüht. Alle sollen sich ja doch um das Kind versammeln, die Lebenden und die, die vor uns schon gegangen. Wie wenn wie alle mit uns sich zusammenfänden? Sicherlich würden wir nicht viel zu sagen wissen. Aber kolossal wäre eine solche Begegnung allemal. Vermutlich müssen wir uns bemühen, uns immerfort auch erkennbar zu machen, dass sie wissen, wer wir sind und dass sie zu uns gehören so wie wir zu ihnen. Und ich sage zu ihnen: Seht doch! Das ist Jutta, meine Liebste, und das bin ich, und das ist Annettchen, unser Kind!

 

8. Im Garten der Liebe

Von 1970-1972 wohnten wir in Neuershausen, in der Nähe von Freiburg, wo dann Jutta in der Gynäkologie arbeitete und ich zunächst noch in Schopfheim Schule hielt, dann aber bald schon in der Päd. Hochschule in Freiburg eine Assistentenstelle bekam. Annette wurde zuerst von lieben Leuten in der Nähe unserer Wohnung betreut, dann aber vor allem auch durch die Großmutter, meine Mutter, deren Stärke ja ohnehin immer in der Betreuung des Kleinkindes gelegen. 1972 zogen wir dann nach Esslingen um, wo ich eine feste Professur in Physikdidaktik erhielt. Liebchen aber bekam am Esslinger Krankenhaus eine Stelle in der Inneren. Nun hätte ein ruhiges Leben beginnen können, auch für das Kind bzw. ab 1975 für die beiden Kinder, zumal ich meine Arbeit immer auch als die Arbeit eines Pädagogen ansah und ich mich für die geistige Entwicklung der Kinder besonders interessierte, ja es hätte sich ein ruhiges Leben entwickeln können, hätte sich nicht alsbald schon die Krankheit zu Wort gemeldet und wichtig gemacht und wäre nicht die Hochschule, nachdem man für sie noch einen Neubau erstellt hatte, 1984 geschlossen worden. Was die Krankheit angeht, so verhinderte sie sehr schnell schon alle größeren Ferienunternehmungen, alles Reisen und Urlaub-machen, aber auch jede Weiterbildung im Tanz etc. Aber das fiel kaum ins Gewicht; dafür saßen wir beim Lesen beisammen, wo wir uns ja ohnehin längst unsere Welt eingerichtet hatten. Große Weltliteratur uns aufzuschließen war fortan eines unserer Hauptvergnügen. Es mag sich ein wenig wie nach eitler Angeberei anhören: aber es dürfte wohl kaum ein Paar geben auf dem weiten Erdenrund, das so viel zusammen gelesen hat wie wir. Stets war ich der Lektor und die Liebste mein Zuhörer; und selbstverständlich gehörte die Unterhaltung über die Texte stets zu unserem Lektürevergnügen. Versteht sich, dass auch die Kinder in dieses Vergnügen mit einbezogen wurden. Homers Odyssee haben sie beinahe mit der Muttermilch eingesogen; aber noch viele andere Erzähler mit ihren Geschichten und freilich haben auch die Märchen der Gebrüder Grimm eine große Bedeutung gehabt und die biblischen Geschichten, zu denen es noch immer einen herrlichen Schatz an Kinderzeichnungen gibt. Wenn dann Mütterchen abends noch im Dienst war - "Schalterbeamte" gab es dort ja nicht - war ich es, der sie versorgte, zuerst mit dem Essen, dann noch mit Spiel und Musik. Apfelküchle mit Stifter" ist eines der geflügelten Worte aus jenen Tagen. Ein Büchlein, eine detaillierte Studie zur Entwicklung der Kinder in den ersten 6 Jahren, kam damals auch zustande.

Die Schließung der Hochschule haben wir wohl vornehmlich den Herren der Fakultät Deutsch zu verdanken, die, wie in jenen Tagen Brauch, sich ultrarot und dummdreist wie Revoluzzer gebärdeten; sie gaben wohl dann den Ausschlag zur Schließung, halfen aber zumindest der damaligen Landesregierung zu ihrem Entschluss. Die Folge war, dass wir wieder umziehen mussten, diesmal wieder zurück nach Freiburg. Vergebens dass ich noch darum kämpfte, in Stuttgart unterzukommen. Aber ein reicherfülltes Leben war es allemal, das wir mitnahmen und das dann auch in Freiburg auf uns wartete.

Und wie war das mit den Eltern? ? Nun, die spätere Versöhnung war alles in allem ein Akt der Vernunft. Sonst hätte ja wohl manch einer nach Gründen und Belegen und Tatsachen nachgefragt, weshalb der Vater noch immer so schrecklich grollte. Und was hätte er darauf sagen sollen? Immerhin aber habe ich gern die Hand zur Versöhnung gereicht. Schon um Juttas willen. Wir haben dann auch immerhin manch eine nette Stunde bei Juttas Eltern zugebracht. Unterschwellig aber blieb wohl immer das Verhältnis zum Vater zuhöchst angespannt, wenn sich Jutta auch in tiefem Schweigen übte. Erst nach dem Tod des Vaters hat sie mir einmal angedeutet, dass die Zeit zwischen der Heirat und der Geburt des Kindes unaussprechlich furchtbar und schrecklich für sie gewesen. Gleichwohl möchte ich sagen, jetzt, wo ich manch ein liebes Dokument gerade auch des Vaters in Händen gehalten habe, dass die Dinge anders zu beurteilen sind. Warum durfte Jutta nicht auch für den Vater ein wundervoller Stern sein? Und war ich denn etwas anderes als ein schrecklicher Rivale? Doch freilich wärs schöner gewesen, ich hätte mein Schätzchen aus seinen Händen empfangen.

1976 wurde dann in Tübingen von klinischer Seite bestätigt, was längst der Fall war: dass sie krank war, genauer noch, dass sie an einer unheilbaren Immunerkrankung litt. Der alte Prof. Hirschmann, er stand auf der Schwelle zur Pension, hatte Tränen in den Augen, als er die Diagnose mitteilte, nebst der Lebenserwartung von etwa noch 30 Jahren. Das war anno 1976. Doch gab es keinen Grund, weshalb Liebchen nun ihre Arbeit als Internistin im Esslinger Krankhaus hätte aufgeben sollen. Statt dessen hatte sie immer wieder Gelegenheit, manch einem Kranken mit der gleichen Krankheit zu begegnen. Nur von einer eigenen Praxis war von nun an nimmer die Rede. 10 Jahre blieb sie noch als volle Fachkraft im Beruf, die letzte Zeit aber mehr mit dem Gehen durch die Krankenhausgänge geplagt als mit der Versorgung der Patienten, dem Schreiben der Arztbriefe und den jedem zukommenden Sonderuntersuchungen. Immer wieder brach sie zusammen, wenn sie sich auch noch so fest an den Wänden zu halten suchte.

Eine besonders herbe Situation ergab sich, als wir uns zur Nachuntersuchung ein Jahr später wieder in Tübingen einfanden. Da war dann schon der neue Chef im Amt, ein drahtiges Bürschchen, ein Handlanger und Bediener eines guten Besens! Statt als Professor hatte ich mich ihm als Lehrer vorgestellt, ein entscheidender Fehler, der üble Folgen nach sich ziehen sollte. Als ich ihn nämlich fragte wegen einer jährlichen Kur - so etwas hatte mir mein Vater vorgeschwatzt, dass es die Frau eines reichen Ladenbesitzers aus Freiburg mache und dass sie gut dabei fahre -, da fuhr er auf wie von der Tarantel gestochen und erklärte mir, dass Ärzte nicht krank zu feiern pflegten wie die Lehrer, wobei er seine Untergebenen als leuchtendes Vorbild pries etc. etc. Als ob ich es darauf angelegt gehabt hätte, meine Frau in Urlaub zu schicken und die Kapazität des Esslinger Krankhauses zu schwächen! Nein, so was war mit ihm nicht zu machen.

Damals schrieb ich ein paar wütende, von purer Ohnmacht diktierte Sonette (Das Endgericht, Vermittlung, Anfrage), die man in Gedichtssammlungen finden kann. Und auch heute noch, wenn ich den Namen "Tübingen" höre, fällt mir zuerst dieser Bursche ein; und aus dem Namen "Tübingen" allein schon träufelt mir Gift ins Ohr. Vielleicht darf ich nebenbei bemerken, dass ich sehr folgsam des Professoren-Flegels Maxime befolgte: Kein einziges Mal in diesen 40 Jahren war meine kranke Frau in einer Kur. Aber dieser Mensch war ja nicht der Einzige, der uns das Leben schwer machte und der mir den Glauben an eine Gemeinschaft der Menschen schwer beschädigte, das war nur der Erste in einer Reihe trauriger Gesellen, zu denen auch engste Familienangehörige zählen. O alle die Leute, vor allem die Mediziner, die uns in diesen immer schwieriger werdenden Zeiten der Krankheit über den Weg kamen, die wir aufsuchen und mit denen wir zusammen kommen mussten! Wenn man von da dieses Gutachten herbeizuschaffen hatte und dann von dort jene Bestätigung und Beglaubigung. Selbstverständlich musste für die verschiedensten Ämter und Kassen der Fortgang der Krankheit immer auch wieder durch Computertomogramme etc. dokumentiert werden, auch wenn die Herren Mediziner sonst nichts dabei zu machen hatten, als sich vom Lehnstuhl aus die Bilder anzusehen und den Fortgang der Krankheit, den Zerfall des Gehirns, zu bestätigten, versteht sich, nicht ohne das Honorar dabei zu vergessen. Oder wenn einen Zahnweh plagte oder so etwas: man musste ja nur im Rollstuhl in einer der Arztpraxen auftauchen, um als persona ingrata angesehen zu werden! Dabei wurde auch das Sitzen im Rollstuhl alsbald schon zu einer Qual, so dass ich dann den Stuhl kippte etc. Und doch will ich mich nicht mehr all der kleinen Scheißer erinnern, die uns durch ihren Unverstand gequält haben. Warum auch alle ihre Namen herzählen, bis auf den letzten, der selber, wie sich später herausstellte, einst in Esslingen zusammen mit Liebchen Assistenzarzt gewesen und der ihr nun als großer Chefarzt und Professor in Freiburg entgegenkam mit seinem Pomp und seinen Schikanen! Mögen sie sich als Technokraten der Medizin und als Helden der modernen Wissenschaften in die Annalen und Verdienstbücher des Ruhms einschreiben! Was geht das uns an? Besser ist alle Mal, noch davon zu berichten, wie unsere Liebe gerade auch in jenen schweren Zeiten sich regte und wuchs! Vornehmlich sind es die Lieder, die damals, 1976, in diesem Wissen um Krankheit und Tod zum Preis der Liebe entstanden und die ich unserem Buch anfügen möchte. Wenn ich sie heute lese, so ist mir, als hätte ich sie für heute geschrieben. Gewiss atmen sie noch den Geist der Jugend und der unbegrenzten Hoffnung und der unbeschwerten Gottesliebe, wie ich sie, in der Zwischenzeit ein wenig desillusioniert, nicht mehr besitze; aber ich habe ja auch damals um die Liebste geweint, weil ich uns auch damals schon ein wenig so sah, wie ich uns heute sehe: vom Rücken aus, wie wir davonwandern, unwiderruflich, aber zusammen, auf der Suche nach der ewigen Heimat, und wie mir, dem Zurückbleibenden, unsere so vertraute und lebensnotwendige Liebe aus dem Blickfeld schwand. Ich möchte diese Lieder unserem Buch anheften, so wie man im Spätjahr noch so manches Mal ein paar der letzten Blumen aus dem Garten heraufholt, um sie vor sich auf den Tisch zu stellen und sie um sich zu haben.

Die nächsten 30 Jahre haben wir dann tapfer durchstanden, immer mit ein paar Einschränkungen mehr als am Tag zuvor. Kaum hatte man sich also an den Zustand X gewöhnt, so hieß es, auch noch dies zu berücksichtigen und jenes zu unterlassen. Immerhin hatte dies das Gute, dass wir bei der Ausschau nach der Vertiefung liebenswerten Gewohnheiten immer jenseits des prosaischen Alltagsvollzugs auf der Suche waren. Auch in dieser Zeit inspirierte mich die Muse mit dem einen und anderen Gedichtlein, bald ernst, bald heiter, immer aber zum Lob und Preis der Liebe. Erst im vorletzten Semester meines Berufslebens bat mich die Liebste, vorab in Pension zu gehen. Ich wollte dies auch tun, aber da war gerade Ferienzeit und die Leute von der Verwaltung waren nicht da, und so hab ich auch noch das letzte Semester absolviert und war damit dann eben wohl nicht ganz so ruhig und so für mein Schätzchen da, wie ich es sonst hätte sein können. Immerhin sind wir ohne fremde Hilfe und ohne Fremdkörper in unserem Haus ausgekommen. Und wenn wir auch schon immer die ärztliche Versorgung allein und ohne jeden Hausarzt vorgenommen haben, so haben wir die letzten zweieinhalb Jahre überhaupt keinen Arzt und keinen Pfleger mehr bei uns gesehen; künstliche Ernährung etc. etc. haben wir alles alleine gemacht. Jeder Tag, an dem Du nicht mit diesen Leuten zu tun hast, so sagte ich mir, rechne Dir an als einen Glückstag. Ja, außer den Kindern und Bernhard dem Gottesmann, habe ich niemanden mehr ans Krankenbett gelassen. Mütterchen war immer bei mir, aber immer mehr und immer weiter sich einschränkend, bis hin zur letztmöglichen Lage des gekrümmten Körpers auf dem Totenbett, als die Augen schon verklebt waren für die Ewigkeit und die Zähne in die Zunge gebissen, kaum mehr herauszulösen. Bis zum letzten Zittern der Seele, als sie den Augenblick schon auf sich zukommen sah, wo sie das Haus der Pilgerschaft würde verlassen müssen und niemand mehr in Sicht war, der sie begleitet hätte, hat Mütterchen sich geduldig von der Tyrannei der Krankheit niedertreten und zu Grunde richten lassen. Freilich, was hätte ich drum gegeben und wie gern hätte ich unsere Liebe, die ich bei meiner Liebsten als Minnedienst gelernt habe, fortgeführt! Doch es sollte nicht sein.

Ein letztes Foto hat man mir noch zugeschickt, das mich mit meinem Schätzchen zeigt, aufgenommen 10 Tage vor dem Ende. Doch wie hat es mich erschreckt, wie entsetzt. Wie schonungslos objektiv und brutal hat nicht der Fotoapparat aufgezeichnet, was er gesehen! Entledigt all der lieben Erinnerungen, entledigt allen Geheimnisses der Liebe, wie ich die Liebste nie gesehen, ausgeliefert der Sinnlosigkeit des Leidens und Sterbens. Ein ganz anderes Bild hatte ich mir vorgestellt. Verflucht sei die Technik! Und ich stellte rasch ein anderes Bildchen vor mich hin, das mir Liebchen als liebes, anmutig lächelndes Kind zeigt. Und gibt es Gottes herrliches Antlitz, wo auch sonst ist es mir erschienen, wenn nicht in deinem Antlitz, Geliebte! Nirgends sonst hab ich ein Gesicht gehabt, als nur in Dir.

Nun also kehren wir in den Anfang unserer Liebe zurück. Zuerst symbolisch, indem wir uns da zur Ruhe legen, wo wir unsere ersten gemeinsamen Spaziergängchen gemacht und wir uns beide von unserer gegenseitigen Liebe erzählt haben; sodann um in den Morgenglanz der Ewigkeit einzutauchen, weil wir, ich zweifle nicht, von Ewigkeit her füreinander bestimmt waren und wir mithin auch für die kommende Ewigkeit füreinander bestimmt sind.

Was aber wird auf Erden hier bleiben von meinem Liebchen und mir? Nun, es muss ja nichts hier bleiben. Auch ein kommender Goethe muss uns nicht in den Musterpaaren der Liebe aufzählen. Was dem Leiden abgerungen ist, das ist fruchtbar; und was fruchtbar ist, das ist wahr. Und die Leiden dieser Zeit sind nichts gegen die Freuden in der Herrlichkeit Gottes, wie der Apostel sagt. Nein, es muss nichts bleiben, wiewohl freilich schön wäre, wenn andere jungen Leuten von uns hörten und wenn sie sich entschlössen, uns, vor allem aber meinem Liebchen, nachzueifern, die 40 Jahre Krankheit ohne einen einzigen Klageton durchstanden, um uns, wo möglich, gerade, was den männlichen Teil angeht, noch zu übertreffen. Die Liebe ist nicht neidisch und sie bläht sich nicht auf. Sie erträgt alles und duldet alles, zumal wenn es dem Preis der Liebsten zu Gute kommt.

Der Du die Ewigkeit erschaffen,

mit Preisgesang sie dir zu füllen,

du lässt in Müdigkeit mich nicht erschlaffen,

des Herzens Sehnsucht mir zu stillen.

 

Du, Herr, ermüdest nicht wie Menschen tun,

gewaltig Du in Deinen Gunstbeweisen,

Du holst uns ab bald aus der Erde Ruhn,

der Liebsten Liebe immer dir zu preisen

 

9. Lieder aus dem Garten der Liebe

9.1

Liebst du mich Liebste,

liebst du mich noch?

Was fragst du mich Liebster,

Du weißt es doch!

 

9.2

Gott und die Liebe leuchten wie im Traum

Im Aug der Liebsten glimmt kein Verrat.

So wie zum Lied am Abend Amsel sucht den höchsten Baum,

hilf deinem Herzen auf den rechten Pfad.

 

9.3

Liest man auch die trunkenen Worte

über buntverschlungenen Zeichen,

ist man doch noch nicht am Orte,

wo man trefflich kann vergleichen.

 

Nur mein Liebchen, das kann lesen

überall, wo wir gegangen;

ist mit mir ja dort gewesen,

wo Zypress und Rose prangen.

 

Und ich seh sie dort auch weilen,

reichgezierte Himmelspforte;

und für sie nur sind die Zeilen

all der vielen trunkenen Worte.

 

9.4

Wäre keiner da zum Zechen,

der ich durstig bin auf Wein,

und auch keiner da zum Sprechen,

müsst mir selber unnütz sein?

Schenke, komm, mir einzuschenken,

Schenke, schnell jetzt, schenke ein!

Fest an Liebchen jetzt zu denken,

sollst du mir behilflich sein!

 

Leise freilich nur verrat ich,

wie es der Prophet erlaubt,

leis den herzenssüßen Pfad ich,

der mir den Verstand geraubt.

Und nun musst du weiterdenken,

nützen mir mit deiner Kunst,

dass, berauscht von den Getränken,

ein mich schmeichl´in ihre Gunst.

 

Muss zuerst ein wackerer Zecher,

dann ein Dichter-Sänger sein.

Schenke, reich im Tulpenbecher,

reich mir jetzt, vom besten Wein!

Eins im andern zu benennen,

reiche mir das Instrument!

So nur gibt sich zu erkennen,

was schon viel zu lang getrennt.

 

Alles muss ich ihr vergleichen,

der aufs schönste alles gleicht,

und so muss sie mich erreichen,

die durch alle Strophen reicht!

Reich auch ihr den Tulpenbecher,

Schenke lass zur Tür sie ein.

Hinter ihrem bunten Fächer,

sieh nur, tritt sie ja schon ein!

 

9.5 Lied der Braut

Wofür soll ich mich bewahren,

Harren länger noch der Zeit?

Wofür Schönes neidisch sparen,

wo der Frühlingsvogel schreit?

 

Ist der Freund nicht schon gekommen,

und ich hätt ihn nicht gesehn,

wie er spähte durch das Fenster

grad wie im Vorübergehn?

 

Wie geklopft er an die Türe:

"Meine Schöne komm herbei!",

wie er, flüchtige Gazelle,

weitereilte, war vorbei?

 

Ach du sahst ihn doch! Das war er!

Und dann war er nimmer da!

Nachtigall, hast nachgesehen.

Sag mir nur, was dann geschah!

 

Sag, wo es ihn hin getrieben!

Zu den Lilien auf das Feld?

Oder zu den Weinberghängen,

ob die Reben wohlbestellt?

 

Oder eilte er zur Wüste,

Füchse-Fangen schon bemüht,

dass kein Fruchtland man verwüste,

wo gedrängt stehn Blüt an Blüt?

 

Auf! Geschwind, ihm nachzueilen,

ob mein Haar voll Duft auch tropft,

bis ich ihn als Siegel presse

an mein Herz, das stürmisch pocht!

 

Müsst ich auch auf Dornen treten,

eilen über Felsgestein:

Dorn und Stein will ich umkosen,

flüstern sie doch: er ist mein.

 

Eil ich nur! Wie ich begehre!

Herz, ach Herz, was ist dir traun?

Siehst du seiner Wimpern Speere

Zittern schon, dich anzuschaun?

 

9.6

Lieder hab ich nicht gemacht

Zum Gebrauch für viele;

anders hab ich mich bedacht,

dass es dir gefiele.

 

Zwar es stimmt, ich äugelt auch

aus nach manchen Ehren;

Doch dann lernt ich das als Rauch,

Rauch und Staub entbehren.

 

Moschus, Ambra, süßen Duft,

wer könnt mir ihn bringen,

kämst nicht selbst du durch die Luft,

Liebchen mitzusingen!

 

Perle, Du, in meinem Lied,

uns recht zu erquicken,

Allerköstlichstes geschieht,

liebstes Herzentzücken.

 

9.7

Herbei zu mir, mein liebes Kind,

den Morgen zu genießen,

damit nicht träg und ungenutzt

die Stunden uns verfließen!

 

Ich halt dich fest; du hältst mich fest;

So halten wir zusammen!

Wie herrlich doch der Tag anbricht

in Frühlings Purpurflammen!

 

Was wüsst ich sonst, was könnt ich sonst

mir Schöneres erbeten,

als dass wir äugelnd küssend uns

von Herz zu Herze reden!

 

Weil doch die Liebe köstlich ist,

wenn sie uns greift und fasset,

wenn sie gelockt, mit uns gespielt,

uns neu zusammenpasset.

 

So eile nur, mein liebes Kind,

gleich will ich dir nachspringen.

Und wenn ich dich gefangen hab,

musst mir dies Liedlein singen!

 

9.8 Fröhlich durchs Grüne zu ziehn

im Arm ein Schätzchen,

haben wir nichts im Sinn

als nur ein Schwätzchen.

 

Bleiben ganz gerne, wo

Goldsonne scheinet,

doch ist das Herz auch froh,

wenn´s graupelt und greinet.

 

Drängt sich mitunter ein Lied

uns aus dem Herzen,

setzen ins Gras wir uns,

singen und scherzen.

 

Waldvöglein zwitschern mit

emsig beständig,

hüpfen von Ast zu Ast,

sorglos und wendig.

 

Geht uns ein Liedchen aus,

ziehen wir weiter,

bis uns der Abendstern

heimleuchtet heiter.

 

9.9

Wenn ein Vöglein ich wär,

säng ich hoch vom Baum

für mein Weibchen im Nest

in gehöhltem Raum,

 

Dass, soweit ich auch seh,

sich der Himmel so blau

in die Ferne hinzieht

und die Luft so lau,

 

Dass der Himmel so blau,

soweit ich auch seh

und die Luft so lau

und kein Feind in der Näh,

 

Und des Abends dann noch

hoch vom Baum säng ich hin

in die Stille der Nacht,

dass ich glücklich bin.

 

 

9.10

Eins ist keines, sag ich, weiß ich,

ob sich´s noch so quält und schälet.

Eines ungenügend heiß ich,

weil zur Einheit eins noch fehlet.

 

Eins allein, wie bleibt´s doch kleine,

unansehnlich, ungestaltet.

Erst ein Zweites schafft das Eine,

das die Einheit dann durchwaltet.

 

So denn, Liebchen, ist getroffen,

dass auch wir nicht müßig schweifen,

sondern uns gestaltend offen

eins im anderen begreifen.

 

9.11

Liebe bat mich: "Lies mir vor!",

sucht´ mich einzuweicheln,

lag am Mund mir, lag im Ohr,

wie sie mir könnt schmeicheln.

 

Und sie bat mich viele Mal,

kamen schon die Tränen

aus dem Liebestränental,

merkte um das Sehnen.

 

Und da lasen wir manches Blatt,

weil die Liebe so viele hat;

Und waren, als wir gelesen hatten,

wieder so recht vergnügte Gatten.

 

9.12

Nimmer hungern, dürsten, darben,

lass mich zechen, schenke ein!

Mich an deinem Wein zu laben,

Schenkin, tret ich bei dir ein.

 

Alte Rätsel noch bedrücken

sinnverwirrend den Verstand,

Fingerzeige schon beglücken,

Schenkin, die du machst bekannt.

 

Lass mich, selig hingerissen,

trunken suchend schlummern ein.

Hinter Nacht und Finsternissen

Herzensschenkin musst du sein.

 

9.13

O, ich will dich schon erspüren

selbst durch unwegsame Nächte,

müssen doch zu dir mich führen

Stern und Wagen, wie ich´s möchte.

 

An dem Flimmern meiner Augen,

meinem närrischen Gebaren,

wie ´s Verliebten wohl mag taugen,

wirst du leicht mich offenbaren.

 

Und was ich mir ausbedungen,

Trennungstagen abgesammelt,

lass mich, wenn von dir durchdrungen

Liebste mir der Mund hinstammelt.

 

 

9.14

Ja, ich will, ich will gestillt sein!

Jeder Steilhang soll verschwinden!

Jeder Zwischenraum gefüllt sein!

Jede Stufe weich sich ründen!

 

Alle Trübung soll verwehen,

Wirrung, Weh und Wolkenscharen,

Wege heiter hinzugehen

mit den Tagen, mit den Jahren.

 

Dies erbitt ich mir am Throne,

der den Liebenden gestattet,

wahrer Lieb zu festem Lohne,

dass kein Liebender ermattet.

 

Schein ich gleich auch unerschwinglich

hohe Gunst mir zu erlangen,

bitt ich doch inständig dringlich

nur für meiner Liebsten Wangen.

 

Ja, den großen Frauen am Throne

Will ichs auch ans Herze legen,

dass sie ? Heil dem höchsten Sohne! ?

bittend ihn für mich bewegen.

 

9.15

Pfirsichbäumchen im Garten

habe ich gern;

wenn alle Bäume noch warten,

entfalten sie Stern an Stern.

 

Aber schon im warmen Zimmer,

wenn´s draußen noch frostig knallt,

zeigt sich auf grünendem Zweig mir

Blütengestalt.

 

9.16

Winter schwindet. Winterliches

schwindet hin; der Frühling naht sich;

weggeschmolzen Hinderliches

kündet überschwänglich Tat sich

 

Und so stehen mit den Dächern

Hütten schon dem Licht entgegen,

wenn aus hunderttausend Fächern

erdwärts drängt, sich zu bewegen.

 

Berg und Matten überschwärmet,

wo im Tal schon alles grünet,

grünet, blühet, aufgewärmet,

Winterkälte weggesühnet.

 

Und so bleibet selbst im abend-

lichen Schatten noch ein Tönen,

Liebe leise zuzuflüstern

meiner Liebsten, meiner Schönen.

 

9.17

Hab nicht ein Gärtlein ich klein und fein,

ist nicht schon der Winter vergangen?

Will sehn, was mir drunten schon mag gedeihn,

ob ein Knösplein schon aufgegangen!

 

So tret ich ans Fenster, so eil ich hinab

Und eile geschwind in den Garten;

Wie lieb ich die kleinen Blümlein doch hab,

wie manches mich mag erwarten!

 

Da seh ich zwei Glöckchen leuchtend am Hag,

ein schneeweiß Leuchten und Läuten.

zwei liebliche Glöckchen im Wintertag,

es ist ja nicht auszubedeuten.

 

Wie sehr ich die lieblichen Glöckchen doch mag,

sie blühen so still, mich zu grüßen.

Ich weiß nicht, was steh ich. Ach, dass ichs doch sag:

Ich möchte sie herzen und küssen.

 

9.18

Kinder sind eins mit dem Winter,

sind eins mit dem Sommer,

sagen nicht: "Komm er!",

wenn er gegangen;

haben mit jedem Tag neu angefangen.

 

9.19 Frühling

Der Wiesen neuerwachtes, frisches Grün

ist wie ein Teppich samten, drüber ziehn

Die Bäume blühend in des Himmels Blau,

bis in den späten Abend weht es lau.

 

Und altbekannte Frühlingsvogellieder

im Halbschlaf noch hörst du sie hin und wieder,

austauschend tausend Liebesseligkeiten.

Nur im Dickicht mitunter Vöglein streiten.

 

Wie passt zu Kindern Frühlingsübermut,

sie sind dem Leben hold, sie sind ihm gut!

Ein Dichterlein, das solches wohl empfindet,

der Reihe nach die Wörtlein rasch verbindet.

 

9.20

"Liebe Mama!" so sagen die Kinder.

Und wissen noch nichts sie um Namen,

so sprechen sie diesen Namen doch aus

viel wahrer, als was tausend Weise heraus

in tausend Jahren bekamen.

 

9.21

Bald mein Kindlein kommt die Zeit,

wo du dir zum Schwatzen

ein Vöglein nimmst, zum Zeitvertreib,

zum Herzen und zum Atzen.

 

Licht machst du ihm der Äuglein Paar,

das Schnäblein weit dir offen,

an deinen Wangen weich und klar

lehrst du es, auf dich hoffen.

 

Wenn´s aber dann nicht ohne dich

kann fröhlich weiterleben,

musst sorgsam du von deinem Herz

ihm Stück um Stücklein geben.

 

9.22

Niemand soll es mir verargen,

wenn ich gern der Blumen denke,

die nur unter Daches Scheibe

ihre Stängel aufwärts lenken.

 

9.23

Ach ich sollte etwas ernster

jetzt mein Tagwerk wohl betreiben,

als so hin und her faulenzend

kleine Liebesliedchen schreiben.

 

Sollte grundernst und solide

großen Fragen groß mich stellen,

und der großen Welt zu Liebe

sie mit großem Licht erhellen.

 

Lebe wohl denn, kleine Liebe,

holde Knospe, süßer Traum,

abgeschnitten hab die kleinen

Ästchen mir vom Lebensbaum.

 

Kommt herbei, ihr Wissenschaften,

wo man rechnet und beweist,

dass im Grunde aller Dinge

alles nur sich selbst umkreist.

 

9.24

Ich stehe da und schaue

und draußen wird es Nacht.

Wie ist mir doch, als hätt ich

den ganzen Tag durchwacht.

 

Da drüben ist das Fenster

Verschlossen all die Zeit.

Kein Lichtlein mehr erhellet

es vor der Dunkelheit.

 

Da standest du und schautest

so manche Sommerstund,

und warest still zufrieden

so recht aus Herzensgrund.

 

Am liebsten, sprachst du, steh ich

Und schau den Wolken zu,

wie sie gemächlich segeln

zur abendlichen Ruh.

 

Und ich, ich dacht, am liebsten

Steh ich und seh dich schaun

Und wollte mit den Wolken

Zu segeln fast mich traun.

 

Da gingst du auf die Reise

für unbestimmte Zeit;

mir ist, als wär vergangen

schon eine Ewigkeit.

 

Ich stehe da und schaue

und draußen wird es Nacht.

Wie ist mir doch, als hätt ich

den ganzen Tag durchwacht.

 

Und drüben bleibt das Fenster

verschlossen alle Zeit.

Kein Lichtlein mehr erhellet

es vor der Dunkelheit.

 

9.25

Was nur wälzest du dich, Lieber,

auf dem Bette schlaflos immer?

Mitternacht ist schon vorüber

Doch noch fern des Morgens Schimmer.

 

Willst denn Sorg um Sorg erlangen,

als wär Schmerz und Qual dein eigen?

Lass vom Schlaf dich jetzt umfangen,

bis der Tag sich dir will zeigen.

 

Gib der Stille Raum jetzt. Draußen

kalt ists, hoch steigt auf der Rauch.

Ruhig unterm Sterngewölbe

Liebchen schläft. Schlaf du jetzt auch!

 

9.26 Ein Traum

Im Herzen, das mir angehört,

wurd manches jüngst gar sehr versehrt.

Nun hat ein Traum es noch verstört

Ganz unerhört.

 

Der Winter war vergangen,

Mai hatte angefangen

Mit grünen Blättern im Revier

Und goldener Blütendolden Zier,

mit vieler Vögel Schallen

und weitem Echohallen.

 

Du saßest an der Arbeit heiter

Ausbessernd Winters warme Kleider

Und neben dir Papa, Mama

Und Inge auch und Gisela,

sie alle arbeitsam zu Haus,

zu bessern ihre Kleider aus.

 

Den Lammfellmantel nahmst du grad,

ihn zu beschaun auf Fleck und Schad.

Da sprach die Mutter zu dir hin:

"Die Arbeit schlag dir aus dem Sinn.

Der Mantel muss zur Reinigung!"

"Wieso?" ? "Glaub´s nur!" ? Ohn´ Einigung

Ging da die Rede hin und her

 

Den Vater aber stört das sehr.

Kein Widerwort mehr will er hören.

Verflucht, wer ihm die Ruh will stören.

"Weiß Mutter denn nicht, was sie spricht?" -

"Ich mein doch nur, die Wolle bricht,

Wenn man mit scharfen Laugen

Sie sich lässt voll aufsaugen." -

 

Der Vater drauf, nun voller Wut:

"Was Mutter sagt ist recht und gut!"

Er duldete nimmer ein Wort.

Nun ging die Arbeit schweigsam fort,

mit Nadel, Faden, Bürst und Scher,

wo etwas auszubessern wär.

 

Ah, wie es dir im Herzen brannte,

wie sehnlichst doch dein Aug bekannte,

zu sehn den Vater wieder gut.

Und endlich nahmst du frischen Mut

Hobst auf den Blick, sein Aug zu suchen,

ein gutes Wort nun zu versuchen.

 

Doch fiel dein Blick nur auf die Wand,

wo groß ein Fenster offen stand.

Des Vaters Aug war nimmer dort,

ein andres Auge war am Ort

Im Fensterrahmen stand es groß,

ein Zucken der Pupille bloß,

 

sonst unbeweglich starr der Kopf,

der Krähe ähnelnd Hals und Schopf

Es starrt dich unablässig an,

aus welchem Grund? Was ist der Plan?

Was will es nur. Nicht ists zu merken.

Allein die Mutter zu bestärken,

spricht Vater jetzt ein Wort zu ihr.

 

Gebannt nur spähst du nach dem Tier.

Zum Flug bereit auf festen Beinen.

Was mag damit es denn nur meinen?

Müsst nicht man sich zum Fenster kehren,

den Einflug strikt ihm zu verwehren,

es schleunigst treben aus dem Haus?

Doch du, kein Wort bringts mehr heraus.

 

Da fliegt das Tier mit ein paar Schwingen

auf dich, dich mit sich fort zu zwingen,

packt mit den Krallen nach Arm und Händen,

den Deinen dich nun zu entwenden.

Wo wart ihr: Hoffnung, Liebe, Glauben,

dass widerstandslos es konnt rauben?

Indes voll Gram im weißen Haar

der Eltern herbes Antlitz war.

 

9.27

Vöglein klein,

sage, was stahlst du dich ein

im Frühlingsschein?

Zwischen die Herzen, die heftig pochten,

dass sie vor Lust

so Brust an Brust

fast zerbrechen mochten.

 

Vöglein klein,

sage, was stahlst du dich ein

ins Herzkämmerlein?

Pickst ja schon Stück um Stückchen heraus

mir aus dem Herzen,

das ist kein Scherzen,

lass ab vom Schmaus!

 

Vöglein klein,

sage, was stahlst du dich ein?

Schon endlich mein!

Hob drin die süßesten Wörtlein auf,

die in späteren Tagen

meiner Liebsten wollt sagen,

und du schreckst sie mir auf?

 

9.28

Hab ich mich nun freigesprochen

trüben Elends endlich frei,

oder nur mein Herz zerstochen,

dass es unverwundbar sei?

 

Dass ich tränenlos dastehe,

und ich geh mich nichts mehr an,

halb erlöst von allem Wehe

töricht doppelt nur im Wahn?

 

Ziehen unaufhörlich Fragen

Mir ohn´ Antwort durch den Sinn.

Wer auch könnte mir noch sagen,

ob ich noch derselbe bin.

 

9.29

Wenn uns einmal dort am Hügel

milder Abendschein einwieget

wenn uns nichts mehr müd betrübet,

starkem Frieden angeschmieget,

 

wenn wir uns ausbuchstabieret

alle Gattungen der Liebe,

konjugieret, deklinieret,

hüben Liebe, drüben Liebe,

 

Seiner Augen Stern aufspüret

weiter uns, mit uns zu üben,

so behütet, so geführet:

Liebe drüben, Liebe hüben.

 

9.30 Meersburg

Ich stand am Geländer und neigte mich

Hinab zu des Wassers Kreisen

am Ufer, kaum merkbar ein Lüftchen strich

auf Wasser aufkräuselnde Weisen.

 

Und winzige Wellen trugen herein,

Und neben mir säuselten Linden,

erst Augen und Stirn, dann Fleisch und Gebein,

dann mocht ich dich ganz bei mir finden.

 

Wir müssen wohl lang so gestanden sein,

und hielten uns fest umfangen

Des Maien Antlitz im Abendschein

War endlich untergegangen.

 

Die Luft war gekühlt, der Abend war

in goldenem Leuchten versunken,

und ganz allmählich dein Bildnis war

zusammen mit meinem ertrunken.

 

Zwei trunkene Schwäne nur zogen vorbei,

ich sah sie noch unter den Linden,

sie tauchten nach unserem Bildnis im Mai

und konnten es nimmermehr finden.

 

9.31

Es rauschte so leis in den Bäumen,

ans Fenster ich heimlich trat,

erschauernd aus uralten Träumen

und unter mir wogte die Saat.

 

Und tiefer, in Stromes Bette,

da schweifte der Sterne Pracht,

als ob sie verloren was hätten

und suchten es tief aus der Nacht.

 

Und drüben, da war mir, als harrten

die Eltern im Mondenschein;

im lange vergessenen Garten

als säßen sie still, allein.

 

Da spürt ich ein heftiges Schauern,

da sehnt es mich plötzlich hinab.

Fernab rückten Giebeln und Mauern,

der wankende Kirchturm ins Grab

 

Fern hört ich die Lerche noch singen,

als ob ich begraben schon sei.

Nichts mocht mich zurück mehr bringen.

Die Nacht ging endlos vorbei.

 

9.32

Des Frühlings Blumen blühten auf im Maien,

Ein früher Morgen sprühte auf im Licht,

Voll war von Jubel jegliches Dickicht,

Und alles war gepaart zu zwei und Zweien.

 

Da warst auch du und ich. Und sieh, wir gingen

Leichtfüßig hin durch tiefergrüntes Tal,

Erde und Himmel blühten allzumal,

als ob sie wiegend dich und mich umfingen

 

Da plötzlich war ein Leiden uns geworden,

das sich in meinem Innersten verlor,

wie Schluchzen heimlich schlug es an mein Ohr;

und bitten hört ich mich mit diesen Worten:

 

Vernichte du die sterblichen Gesichte

Und lass uns ruhen ganz in deinem Lichte.

 

 

9.33

Ich glaubt´ es nicht, wie groß auch war mein Hoffen,

als ich dich sah im Traum vor Freude springen

lachenden Blicks, des Frühlings Tor stand offen.

Betroffen staunend schaut ich dem Gelingen.

 

Und du sprachst: "Sieh! Ist noch was anzumerken,

dass ich den Fuß nur schwer vermocht zu setzen?

Geduld. Ich muss ihn nur noch ein paar Tage stärken,

dann tanzen wieder wir uns zum Ergötzen."

 

Und eiltest durch das Tor. Ich, dich zu fangen,

Eilte dir nach. Wie wuchs in mir die Freude.

Durch Frühlings Schluchten frühe Strahlen drangen.

 

Und eilten beide, Hand in Hand, wir beide,

die Bächlein schäumten und die Vöglein sangen,

und eilten über bunterblühte Heide.

 

9.34

Am Ufer die Veilchen

Von Weilchen zu Weilchen

Schaukeln im Licht.

Auf grünen Heiden

Unter Blumen und Weiden

haben wir uns eingericht´.

 

Hab ich dir Schmerzliches angetan,

so hab ichs doch nicht gewollt;

gern hätt gefangen ich an,

was ich gesollt.

Liefst mit mir in die Welt hinein,

Vater und Mutter sind fern geblieben,

hättest böse müssen auf mich sein,

dass ich dich fortgetrieben.

Aber du warst es nicht, du bliebst mir hold,

weißt ja, dass ich nichts Böses gewollt.

 

Heimlich hab ich und oft bedacht,

und mein Herz hat im Stillen gepocht,

hätte dir gern eine Freude gemacht

und habs nicht vermocht.

Zeigt´ ich dir in der Ferne ein Haus,

ich wusste ja nicht, was ich meinte,

und sprach ich das Wort der Liebe aus,

so war mirs, als ob ich weinte.

Doch wusst ich auch nicht, was ich tat,

an deinem Herzen blühte mir Rat.

 

Mit mir ist kein Staat zu machen,

aber das muss auch nicht sein.

Mit dir nur will ich lachen,

mit dir nur fröhlich sein.

Ich sage Du und ich, wie du mich lehrtest.

Ich bin bei dir, du bist bei mir.

Die Einzahl ist gering, die Mehrzahl unbeschreiblich.

Du bist bei mir. Im Plural ist alles weiblich.

 

Am Ufer die Veilchen

Von Weilchen zu Weilchen

Schaukeln im Licht.

Auf grünen Heiden

Unter Blumen und Weiden

haben wir uns eingericht´.

 

9.35

Vater der Liebe,

in dir ist alles verwoben.

Was in den Tiefen sich regt,

was im Himmel droben,

deinen Namen kündet, dein Reich.

Ist der Mensch dir gleich,

so strafe nicht mein sonderbares Wesen,

dass ich Liebstes mir auserlesen.

 

9.36

Preis dir, der Leben geschenkt,

Leben und Geist:

Was auch immer uns gelenkt,

es dich preist.

Ob ich auch nicht dich erkannte,

als ich dich nächtens bedacht,

schenktest du mir anverwandte,

himmlische Macht:

Rosen im Haar,

so Jahr um Jahr,

so Stunde um Stund:

Liebesmund

macht dich kund!

 

9.37

Wie ein Tag sind tausend Jahre

schnellen Flugs vor ihm vergangen

David sagt es: Kaum empfangen

Stehst du schon im Greisenhaare.

 

Später aber voll Entzücken

Des Apostels Mund verkündet:

Ob auch alle Weltzeit schwindet,

Liebe bleibt, bleibt voll Erquicken.

 

So kein weiteres Bedenken,

zweifelndes, soll uns belasten,

dass im Paradies wir rasten,

Liebe weiß es schon zu lenken.

 

Und wie immer wir auch walten,

Ob im Ansatz viel bleibt stecken,

dulden wird er doch als Flecken

still uns in des Mantels Falten.

 

 

9.38

Jungfrau, viel reine,

du, die ich meine,

du aus Davids grünendem Spross!

Lass mich dir zu Füßen

Mit des Engels Gruß dich grüßen,

mit dem unnennbar süßen,

Du Gnadenvolle,

Du bist groß.

 

Magd dir, der zarten,

in Salomons Garten

kein Reis ist dir gleich.

Kostbar und reich

Wächst aus deinem Schoß,

den du empfangen,

davon die Engel sangen

nie genug, dass wir Freude erlangen,

Du Gnadenvolle,

Du bist groß.

 

Mutter bist du, hehre,

o dass ich dich ehre

mit gebührendem Sinn,

Königin,

aller Hoffnung geheimnisvolle Ros.

Dess´ wird ich nicht los,

dass du vor Jerusalems Toren

ihn sahst blassen im Tod verloren,

den du geboren.

Du Gnadenvolle,

Du bist groß.

 

Führ du uns milde

zu deines Sohnes Bilde,

zu seinen unzähligen Wunden bloß.

Die du uns worden

Aller Stunden und Orten

zu Himmelspforten,

lass uns nicht los.

Du Gnadenvolle,

Du bist groß.

 

9.39 Matth.9.18ff.

Als Jesus auf der Erde einst gewandelt

Da hat er nicht nach Menschenart gehandelt,

wo Schmerz um Schmerz durch Schmerz nur wird verschlimmert,

ihn hat das Los der Menschen sehr bekümmert.

 

Einst, als er wieder seine Jünger lehrte,

kam eine Frau, die Ungemacht beschwerte

schon manches Jahr, sie hoffte ihres Leides

Entledigung am Saume seines Kleides.

 

"Wenn ich den Saum des Kleides nur berühre",

sprach sie zu sich, "ich nimmer Leid verspüre;

denn er ist mächtig schon in seinem Kleide!"

und schleppte sich voll Müh an seine Seite.

 

Er aber sah sie, sah die fromme Regung,

der kranken Hände zitternde Bewegung.

"O Tochter, hab nur Mut!" Als ers gesprochen,

da war der Frau Gebrechen schon gebrochen.

 

Und Lärm erscholl von trunkenen Flötenspielern.

Ein Mann am her, fiel eilends vor ihm nieder:

"Meister, mein Töchterchen, du kannst es retten!

Du hast auch Macht, dem Tod es zu entketten!"

 

Da hieß er erst die Menge sich entfernen,

sie glaubt ja nicht, wird niemals Glauben lernen;

und stieg dann mit den Eltern zu der Kammer

wie rührte ihn der Tränen stiller Jammer.

 

"Sie ist nicht tot; sie schläft nur, will sie wecken!"

Man zeigte ihm den Leichnam in den Decken.

"Sie ist nicht tot. Nehmt dieses nur als Zeichen!"

Und beugte sich, die Hände ihr zu reichen.

 

Doch als er ihr die Hand gereicht, gerühret

Von so viel Not, da hat er selbst verspüret

Geheime Not, durchdringend wie noch keine,

wie Nägel, schwere, trieben durchs Gebeine.

 

Und er sprach: "Geht!", sprachs zu den Jüngern, zwölfen.

Und schickte sie zu zweien aus zu helfen.

Und war ihm selbst, wie einem voller Mühe.

Es war die dritte Stunde morgens in der Frühe.

 

9.40

"Was immer ihr begehrt",

sagst du, "will ich euch geben.

Dem, der sich zu mir kehrt,

schenk überreich ich Leben."

So hast du uns gelehrt,

dass wir von dir erstreben,

von Schuld und Not versehrt,

ein ganz vollkommenes Leben.

 

So mache du uns rein,

dass wir die Makel kennen.

Gieß du dem Herzen ein

der Liebe heißes Brennen!

Mach, dass in Trostes Not,

wir dein gar hart begehren!

Senk ein uns dein Gebot,

sooft wir zu dir kehren!

 

Du, der du nimmst und gibst

Und gibst und wieder nimmst,

die du ihm Herzen liebst,

der Liebe zu bestimmst.

Reich in der Armut Haus

Du uns der Liebe Brot,

Und geht das Brot uns aus,

nimm uns aus aller Not!

 

9.41 Das Osterfischlein Lk.24.42f

Gepriesen bist du Fischlein, das

der Herr, da er vom Tod genas,

im Kreise seiner Jünger aß.

Als dich der Herr so sehr begehrte,

vor seinen Jüngern dich verzehrte,

durch deinen Tod bewiesen hast,

dass von des Todes schweren Last

zum Leben er erstanden ist:

Jesus, der Herr, der wahre Christ.

Wie bist geduldig du, wie schön!

Komm, Fischlein, lass dein Antlitz sehn!

Wie, oder bist du selbst der Herr,

der Gottessohn, der Heiland, der,

da er zu essen dich begehrte,

für seine Jünger sich verzehrte?

Ja mit dem Herrn voller Verlangen

Bist furchtlos in den Tod gegangen.

Gepriesen Fischlein, ihn zu speisen,

sein neues Leben zu erweisen!

Jetzt, da gebrochen Todes Banden,

lebst du mit ihm, in ihm erstanden.

 

 

9.42 Am See Tiberias

So ichs lese, so ichs las,

ein wunderkräftig Bild ist das,

geschehn am See Tiberias!

 

Es ging schon gegen Abend hin,

verglänzend Licht den See beschien,

die Jünger hatten zusammen gefischt,

doch hatten sie nicht einen Fisch erwischt;

nun waren sie am Grübeln sehr,

von wo was käm zu essen her.

Endlich, noch einmal gings hinaus,

zu werfen alle Netze aus,

sie mühten sich hin durch die Nacht,

doch ward auch jetzt nichts eingebracht.

Der Morgenwind wehte schon her,

die Netzte aber waren leer.

Da half kein langes Sich-Beschweren,

mussten unverrichteter Dinge ans Ufer kehren.

 

Wie sie nun müd und deprimiert

Das Schiffchen langsam landeinwärts fährt,

Petrus war aus dem Schiff gestiegen,

es durch den Morgennebel zu wiegen,

in Ufers Nähe auf einmal da

steht ein Fremdling vor ihnen zum Greifen nah.

Und der, als wär nichts weiter geschehn:

"Was habt ihr gefangen? Kommt, lasst michs sehn!"

Zutraulich spricht er; es raucht am Ort

ein Feuer, zu braten die Fische dort.

Oft hatten sie so sich die Arbeit geteilt:

Waren die Jünger zum Fischen geeilt,

hatte der Herr am Strand geweilt,

fürs Feuer gerichtet ein paar Scheit.

Nun schauten sie alle voll Traurigkeit.

 

"Ihr Kindlein, habt ihr zu essen nichts?"

So fragt er sanften Angesichts.

"Habt ihr auch nicht ein Fischlein klein?"

Da kam ein herzerschütternd Nein.

Er aber ließ sich nichts anmerken,

wollte ja nur ihren Glauben stärken.

"Noch einmal denn versucht es gleich.

Hier ist der See recht fischereich."

Die Jünger folgten ihm aufs Wort,

sie warfen die Netze gleich beim Ort,

sämtliche Netze warfen sie aus.

Und als sie sie diesmal zogen heraus

Da hatten an Fischen so viel sie gefangen,

wie niemals zuvor noch ins Netz gegangen.

 

Da sagte Johannes: Es ist der Herr!

Die anderen aber auch ahnten ihn sehr.

Johannes hatte es nur gesagt,

weil ihn es besonders am Herzen genagt,

dass man den Herrn zu Tod geplagt.

Nun, wie der Herr am Feuer steht,

einen Brotlaib hin und wieder er dreht,

die Jünger schauen wie entrückt,

als hätten noch nie sie ein Feuer erblickt.

Wie drängt es sie, vor ihm sich zu schämen!

 

"Kommt, Kinder, das Frühmahl nun einzunehmen!"

Der Herr heißt sie, mit ihm zu essen;

sie aber können jetzt nicht mehr vergessen,

wie sie ihn jäh im Stich gelassen,

dass die Hohepriester ihn konnten fassen.

Doch wie sie sitzen nun bewegt,

des Herren Bild ins Herz sich prägt,

und aller Kummer allmählich sich legt.

 

Und wie sie so beim Essen schön,

den Herrn in ihrem Kreise sehn:

da wissen sie plötzlich, was geschehn:

Da drängts herauf, es laut zu künden:

"Der Herr ist nicht im Tod zu finden.

Zerrissen sind des Todes Banden.

Der Herr ist wahrhaft auferstanden!"

 

9.43 1 Tim.3.16ff.

In Menschgestalt geoffenbart,

Gerechtfertigt im Geist er ward,

von Engeln wunderbar geschaut,

verkündet dann den Heiden laut:

Glaube sei ihm, dem Herrn der Welt,

der stetig, tätig uns erhält,

der aufgenommen in Herrlichkeit

Hoffnung und Liebe viel verleiht.

 

9.44 Eph.1.3-14

Sei, Vater, Du uns hochgepriesen

Durch deinen Sohn, den du gewiesen

In Deinem gnadenreichen Überfließen

Zu uns, auf dass wir Heil genießen.

Gepriesen sei, was Dir gefällt,

der Du vor Grundlegung der Welt

ihn hast zu unserem Herrn bestellt.

Durch ihn von Not und Schuld befreit

Zum Lobpreis Deiner Herrlichkeit.

 

Denn was verborgen aller Orten,

das ist jetzt kundgetan uns worden,

Herr Jesus Christ, dein Wort ob allen Worten,

erschlossen hat des Himmels Pforten.

Erlösung strömt jetzt durch sein Blut,

Vergebung überreich und gut,

vor Feindes Arglist sichre Hut.

Mit ihm vereint nach festem Entscheid

Zum Lobpreis Deiner Herrlichkeit.

 

Nun auch geschieht nach Deinem Willen,

in ihm den Heilsplan zu enthüllen,

der Schöpfung Sehnen wird er stillen,

in ihm das All endgültig sich erfüllen.

Besiegelt ists mit heiligem Geist,

der uns umwandelnd stärkt und speist,

bis alle Welt in ihm dich preist.

Zu deinem Eigentum bereit,

Zum Lobpreis Deiner Herrlichkeit.

 

9.45 Lazarus und Abraham

Wie er sich hinüberwandte

Hin zu ihm, dem großen Dulder,

sah er mit dem Sohn, erkannte,

ihn an seiner breiten Schulter.

 

Sah den Vater ungeheuer

Zu Morias Hügeln schreiten.

Isaak trug Holz fürs Feuer.

Nur ein Tier schritt nicht zur Seite.

 

Sah den Vater in Gedanken

Opfernd schon das Messer heben,

ihn am Ziel ohn alles Wanken

in den Opfertod zu geben.

 

Nicht bedacht er, ob ers ließe,

ob es späterhin ihn reute,

wenn er ihm das Messer stieße

jäh und rücklings in die Seite.

 

Doch als er nun sinnend dastand,

höchsten Spruche sich zu fügen,

Isaac auf dem Altar anband

Gottes Willen zu genügen:

 

Da erbarmte sich der Höchste

Abrahams, der nicht geschonet

Seines Sohnes, seines lieben,

dass er solche Tat ihm lohnet. ?

 

Lazarus so in Gedanken

sah den Vater jetzt, den frommen,

wie er Leidenden und Kranken,

in der Schwachheit bei könnt kommen.

 

"Abraham sei hochgepriesen,

der sich selber nicht verleugnet,

der den Weg, ihm zugewiesen

unbeirrt sich angeeignet."

 

Sprachs es aus, beglückt; dann merkt´ er,

wie ihm Hilfe kam von oben,

und da ward gestillt, gestärkt er

in des Vaters Arm gehoben.

 

 

9.46 Der ägyptische Joseph

Der Dichter aber in seinem Buche

Betrübt uns gar sehr mit betrüblichem Spruche,

als wär für Gewinn nur sehr wenig Gewähr.

Denn wer wünschte ein Buch sich von tausend Seiten,

spärlich an Freuden, zahlreich an Leiden,

wer wünschte sichs her?

 

Doch will ich lieber zu Joseph mich wenden,

dem die Brüder verkauften mit bösen Händen

ob seiner Träume gerechtem Gesicht..

Da musste Joseph von sich geben

Des Vaters Leben und das eigene Leben

Und wollt es doch nicht.

 

In der Knechtschaft Ketten war er gefangen,

bis der König des Nachts einen Traum empfangen,

den keiner seiner Weisen verstand.

Da sagte der Mundschenk, der dabei gewesen,

ein Mann im Gefängnis könnt Träume lesen;

und schnell man zu Joseph sandt´.

 

Und Joseph bedachte, was keiner bedachte

ehe er sich an die Arbeit machte,

Kornhallen zu bauen in Misrajims Haus:

Denn die fetten Jahre und die mageren Jahre,

die machen zusammen vierzehn Jahre,

und sie machen ein Ganzes aus.

 

9.47

Im Gedächtnis wohlbehaltend

Wort um Wort der Offenbarung,

so in täglicher Bewahrung

fort und fort mich umgestaltend

 

Sorgsam prüfend das Geschicke,

Zeit, hinschwindender, gewärtig,

doch im Sinne gegenwärtig

Geistes Gaben, Geistes Glücke:

 

Leg ich mich nun auf die Schwelle,

das Gesicht dem Schlaf hinbreitend.

Mögest du, vorübergleitend,

es erfüll´n mit deiner Helle!

 

9.48

Maria, Mutter, Abendstern

Du Trösterin, bleib uns nicht fern.

Du Heil der Kranken eil herbei,

Du meiner Bitten Fürsprach´ sei!

 

Was ich auch heute hab gefehlt,

o wasch es ab, machs ungezählt!

Wisch mit den Tränen meine Schuld,

gewähr uns Mutter, deine Huld!

 

Deines Atems Wehen uns behüt,

Du Lilie, die nie verblüht.

An deinem Herzen schenk uns Ruh,

Maria, Mutter, milde Du.

 

9.49

Nun bitten wir dich Jungfrau stark,

der Gott sich selber anverbarg,

da er als Kind in deinem Schoß

aufwachsen wollte rein und groß.

 

Nimm auch uns Kinder schwach und klein

In deinen Mutterschoß hinein,

dass wir nach seinem Ebenbild

aufwachsen kraftmütig und mild.

 

Du Himmelspfort, Du Morgenstern,

Du Mutter unseres lieben Herrn,

Du Fürsprach gnadenvoll am Thron:

Führ Du uns heim zu deinem Sohn!

 

9.50

Als ob ich ein andrer bin,

wenn hinaus ich schaue;

übers Schneefeld gleitet hin

rosarote Fraue.

 

Als ob tief, ganz tief im Traum,

jetzt etwas geschähe.

Und ich merke, merke kaum

Dass ich stille stehe.

 

9.51

Ich weiß nicht, was ich will,

ich renne hin und her.

O Vöglein schweiget still,

ich bitt euch sehr.

 

O Vöglein schweiget still,

o Nacht, brich nun herein.

Ich will ja still sein, will

ganz stille sein.

 

9.52

Die Osterglocken klingen aus,

entstiegen ist der Herr der Erde;

der Orgeln festliches Gebraus

verstummt wie leise Wehgebärde.

Im Tal vom Kirchturm schlägt die Stund,

mit der sich nun die Nacht ankündet.

Ein Engel schwankt im Wiesengrund,

ob er Marie, die Jungfrau findet.

 

Gethsemane, der Garten, liegt

Am Weg, der in die Fremde führet.

Der Himmel sich metallen biegt,

wenn er der Erde Pfeiler spüret.

Und abermals ein Engel steigt

hernieder, ob der Herr noch klaget,

zu bringen, wenn das Haupt er neigt,

des Vaters Tröstung nicht versaget.

 

Später, wenn Stern um Stern zerstiebt

im unverhüllten Nachtgefunkel,

die Augen müde und betrübt

sich immer tiefer scharrn ins Dunkel,

wenn sich der Nachtwind hingelegt

auf bunten Beeten, Blumenranken,

die Osterfahnen hoch bewegt

den Osterstangen matt entsanken,

 

Wenn aus dem Abgrund quillt die Nacht,

als wollte sie die Leere stillen,

des Grabes aufgerissenen Schacht

mit tiefer Finsternis erfüllen,

die Lider endlich fallen zu,

das Herz nach einer letzten Runde

sich endlich auch ergibt der Ruh,

vergessend dein und seine Wunde:

 

Dann eile Schwester Du herbei,

lass dich von meinen Bitten tragen,

an deinem Herzen neu und neu

dir Lieb um Liebe fort und fort zu sagen.

Und wärs auch nur im Traum,

so acht ichs doch, als wär es eben

von anderm unterschieden kaum.

Denn wie im Traum erfüllt sich unser Leben.

 

 

9.53

Dein-Vergessene sind wir, die dein vergessen,

und sind die Deinen dennoch, die Deinen, von dessen

tausendfältigem Namen wir oftmals gegessen,

der du niemals gewesen.

 

9.54

Du lässt mich sein noch eine kleine Frist,

dann löschst du mich, als hättst du mich vergessen

und lässt mich doch, der du der Anfang bist,

aufgehn in dir grenzenlos ungemessen.

 

Du löschst mich aus und dennoch bin ich da,

verlierst mich ganz, und dennoch bin ich dein

greifst du nach mir, ergriffen steh ich da

und lebe auf in dir und deinem Schein.

 

Du lässt mich schauen, was seit eh du weißt,

das Gleichgewicht haltend in deinen Händen.

Und nicht verderben lässt du deinen Geist,

den Anfang biegend ins Geflecht der Enden.

 

9.55

Dass ichs nur sage,

töricht scheint mir jede Klage;

wonach ich so lange gesucht:

Du nanntest es Lieben,

und du hast es mir aufgeschrieben,

und es bleibt verbucht.

 

 

9.56

Atme in mir, atme in mir leis,

auf dass ich atme auf rechte Weis,

auf dass ich atme auf rechte Weis.

atme in mir, atme in mir leis,

 

Atme in mir, atme in mir leis,

auf dass ich atme zu deinem Preis,

auf dass ich atme zu deinem Preis,

atme in mir, atme in mir leis,

 

Der meinen Atem du atmend entbunden

Aus deines Atems stillatmenden Stunden,

auf dass ich atme zu deinem Preis,

atme in mir, atme in mir leis