{ Land ohne Wiederkehr - Oder: Die Dichterinsel (eine nicht ganz göttliche Komödie mit etwas Gesang) }

Literatur von Martin Ganter

 

 

 

 

Personen

Peter Pfüdimann, genannt Pfüdi

Wilhelm Meister von Hochberg, Exzellenz

Ur-Schanabi, Fährmann

Uttnah Pischtim, Inselprotektor

Kum Baba, Strandwart

Fürst

Tom Spindler, ein Prüfling

Vinz Strandler, ein Prüfling

Franz Sortini

Weitere Schriftsteller

Zwei Weltpolizisten

 

 

Inhalt

1. Szene: Wie der Dichter Pfüdimann zur Dichterinsel kommt

2. Szene: Wie Pfüdi und Fürst aufeinander treffen

3. Szene: Wie Pfüdi die Insel betritt und erfährt, dass er auf einer Prüfungsinsel gelandet ist

4. Szene: Schriftsteller kommen herbei und umkreisen die ewig ungelöst bleibende Aufgabe der Dichtung

5. Szene: Pfüdi trifft auf Tom Spindler

6. Szene: Meister

7. Szene: Strandler wird zur Prüfung gebracht

8. Szene: Beginn der Prüfung des Strandler

9. Szene: Die Ausräumung der Bibliothek hier und in der Schule

10. Szene: Pfüdi unterwegs

11. Szene: Pfüdi und Strandler werden von zwei amerikanischen Kriegern überrascht

12. Szene: Pfüdi wird zur Prüfung gebeten

13. Szene: Wie die zwei Krieger den Sortini aus dem Versteck ziehen und zu seiner Exzellenz bringen

14. Szene: Wie Sortini geprüft wird

15. Szene: Aus Sortinis Autobiografie

16. Szene: Wie die Krieger das Haupt des Terroristen bringen und wie die Arche davonfährt

17. Szene: Zu den Müttern

 

1. Szene: Wie der Dichter Pfüdimann zur Dichterinsel kommt

(Ur-schanabi, der Fährmann, kommt mit Pfüdimann angefahren. Neben Ur-schanabi befindet sich noch Uttnah-Pischtim im Boot. In der Ferne, im Osten beginnen sich die sonnenbeschienenen Konturen der Insel herauszuheben.)

Pfüdi: (auf dem Heck) Sei mir willkommen, du Land meiner Sehnsucht, du Insel der Dichter! Wie schön mir doch das Ufer, die ruhmvolle Pforte zu deinen Gefilden entgegenglänzt, wo mir nun ein neues Leben beginnen soll! - Aber warum fährt er nicht weiter? (zu Ur-schanabi, der mit dem Rudern aufgehört hat) He, Bootsmann, was soll das? Warum fährt er nicht weiter? Hat er nicht gehört, dass man auf mich wartet? Und sieht er nicht, wie sich der Himmel über meiner Freude verdunkelt, weil er nicht weiterfährt?

Ur-schanabi: Aussteigen!

Pfüdi: Er scherzt wohl!

Ur-schanabi: Aussteigen! Hab ich gesagt.

Pfüdi: Er verwendet Worte des Alltags in witziger Bedeutung?

Uttnah-Pischtim: Aussteigen! hat er gesagt.

Pfüdi: Geb er mir die Ruder, wenn er nicht mehr kann!

Uttnah-Pischtim: Es ist nicht vom Rudern die Rede!

Pfüdi: Die Herren glauben doch wohl nicht, mich demütigen zu sollen!

Ur-schanabi: Beeil er sich, wenn er nicht will, dass ihm auch noch das rettende Ufer entgeht.

Pfüdi: Ich warne ihn!

Ur-schanabi: Mich will er warnen?

Pfüdi: (zu Uttnah-Pischtim) Mein Herr, bislang habe ich Sie noch für einen verständigen Mann gehalten. Was sagen Sie dazu?

Uttnah-Pischtim: Nehm er seine Sachen und geh er!

Pfüdi: Mit so ernsthafter Miene so zu scherzen, das ist so meisterlich.

U.-P.: Es ist Ernst! Versteht er denn nicht?

Pfüdi: Gestatten Sie, dass ich alles, was hier geschieht, als Eigentum eines in mir stattfindenden Traums reklamiere!

Ur-schanabi: Was sollen wir machen?

Uttnah-Pischtim: Greifen wir eben zum letzten Mittel!

Ur-schanabi: Ja greifen wir zum letzten Mittel! Dann mag er sehen, wo er mit dem Eigentum eines in ihm stattfindenden Traums bleibt.

Pfüdi: Lassen Sie es sich gesagt sein, meine Herren. Ich komme nicht als ein Unbekannter. Meine Beziehungen sind nicht schlecht.

Ur-schanabi: (schwingt das Ruder wie eine Keule empor; ein Amtszeichen, ein Hakenkreuz, wird sichtbar) Genug jetzt! Wird?s bald?

Uttnah-Pischtim: Es wäre schade um ihn, wenn er jetzt nicht ginge!

Pfüdi: Unter der Bedingung geh ich allerdings. Da gibt der Klügere nach! Aber ich sage den Herren: nicht eher werde ich Ruhe geben, als bis ich dieses unglaubliche, ungehörige Verhalten bestraft sehe! Aber meine gesammelten Werke darf ich ja wohl noch mitnehmen!? (er springt mit seinem Rucksack, in dem seine gesammelten Werke sich befinden, ins Wasser)

Pfüdi: (den Rucksack gut über Wasser haltend) Was für ein weites und wüstes Land, dieses Land der Dichter! So drängt es mich jetzt zu sagen, wenn es denn überhaupt ein Land der Dichter ist. Dass ich einmal des ganz großen Glücks teilhaft würde, glaubte ich ja nie; dafür war ich mir selber stets viel zu suspekt. Dass es aber einmal so weit kommen würde, dass ich Angst haben müsste, mich mitsamt meinen gesammelten Werken an Land zu bringen, das geht entschieden über jeden Komödienspaß. Fast bin ich versucht, die Probe aufs Exempel zu machen und zu sehen, wie lange ichs unter Wasser aushalte. Wenn ich unter Wasser bleiben kann, so lange ich will, dann träumt mir nur. - Ah, wie es mir bereits alle Vorfreude verschlagen hat! Fast als ob ich unterwegs wäre zur Sträflingsinsel Guantanamo oder verurteilt zu einem Gulag oder sonst einer Strafkolonie und sah mich eben noch auf den Himmelsgefilden der Geistestitanen. Und nun fällt zu allem Überfluss auch noch diese Finsternis vom Himmel! Als ob ein alles vernichtender Umschwung bevorstünde! Ein Glück ist nur, dass ich bereits mit den Füßen den Grund erreiche. Jawohl, da ist er doch. Und da? Ja, da ist er auch. Geh ich denn dem Weg nach, der mir einen immer festeren Grund bietet! Selbst wenn ich nichts mehr hätte, keinen Sonnenstrahl mehr von der Insel und keine Orientierung mehr, um die eingeschlagene Richtung beizubehalten, so könnte ich mich dann doch immer noch auf meine Füße verlassen. Das Beste aber ist, wenn ich möglichst schnell und unversehrt an Land komme! (er stapft leise weiter)

Sollte es etwas geben, was ich übersehen hätte? Wer steht, sehe zu, dass er nicht falle, so heißt es ja immerhin. Sollte ich einen Zeitgenossen, den ich hätte ehren sollen, übersehen haben? Jeder, der sich hervortut und etwas Hervorragendes schafft, und müsste man ihn auch einen Helfer und Wohltäter der Menschheit nennen, ist ja doch immer auch Erreger einer Menge unguter Gefühle, weil die, die bis dahin ungehemmt und ungehindert sich hervorgetan haben, nun doch als Überflügelte nur noch weniger herausragen. Aber zu empfindsam darf man auch nicht sein, wenn es einen einmal auf die Erde geschleudert hat und man da seinen Weg nehmen muss. Da gibt es genug Gruben und Fallstricke, da muss man sich nicht auch noch selber unsicher machen, indem man sich vormacht, man wüsste nicht, was zu tun ist.

Als Schüler hab ich einmal eine Treppe gezeichnet: von unten aus einem abgrundtiefen höllischen Feuersee hervorkommend, die ich dann oben in Wolken verschwinden ließ. Das stammte freilich noch aus dem Gedankengut und dem Anschauungsmaterial des in der Seelsorge tätigen Vaters. Klar dass ich hinaufzuklettern, klar, dass ich an ein herrliches Reich da droben zu glauben hatte. Klar, dass wir da droben einmal hausen würden, zusammen mit dem lieben Gott. Den dacht ich mir als liebenswerten Kompagnon und als Wirt und Hausmeister, der Sorge dafür trug, dass wir immerfort alles hätten und dass niemand unsere Kreise störte.

(aus der Ferne sieht man einen Mann in einem Einbaum auf Pfüdi zusteuern)

Diese Vorstellung änderte sich dann allerdings mit den Jahren. Schau ich mir heute das Kinderbild an, so seh ich dort droben, wo die Leiter in den Wolken verschwindet, kaum mehr etwas anderes als den Beginn eines Nichts. - War das Verrat an der Freiheit und an der Erlösungssehnsucht des Menschen, dass ich den Glauben an die Gemeinschaft der Gläubigen aufgab, oder war es ein Dienst an der Freiheit, weil die Abweisung von Unbeweisbarem und Unerreichbarem zum Dienst an der Freiheit gehört? Mögen andere die Frage beantworten, die weniger zu kämpfen haben als ich. Freilich kann man sich fragen, wie der Mensch das bisschen Endlichkeit anständig durchstehen kann mit solch einem desillusionierenden Treppenbild vor Augen. Ich gebe indessen zu, dass solche Chimären notwendigerweise das Streben nach Größe und Würde unterdrücken, von einem Gedanken an Unsterblichkeit ganz zu schweigen.

Mag sein, dass es mir stets an Leichtigkeit und Gleichmut wie auch an Strategien zur Krisenbewältigung gemangelt hat. Als Jugendlicher habe ich die Welt immer ein bisschen zu ernst genommen. Das liegt wohl an der häuslichen Atmosphäre. Meine Mutter wollte immer, dass ich sanft durchs Leben käme, ohne nach oben anzuecken und ohne nach unten weh zu tun. Mein Vater indessen, ein kleiner Pastor auf dem Land, war darauf versessen, dass ich es einmal zu mehr brächte als nur zu einem verlotterten Pfarrer auf dem Land. Eine Karriere in der Stadt, eine Professur an der Universität oder vielleicht auch ein Ministersessel war das mindeste, was er sich für mich ausgebrütet hatte. Dabei hatten mir die Parzen durchaus keine stolzen Lieder über der Wiege gesungen! Und wenn ich meinen Lehrern einen Vorwurf mache, so nicht, dass sie mich in meiner Durchschnittsbegabung durchschauten, sondern dass sie nichts getan haben, mir Anleitung zu geben, mich daraus zu befreien; sei es, dass sie es verstanden hätten in mir eine Genügsamkeit hervorzurufen, die mich mit mir versöhnt hätte oder aber mir zu zeigen, wo und wie ich an mir zu arbeiten hätte. Allenfalls dass mir einer einmal meine Einbildungen vorhielt und mir klar zu machen suchte, dass aus mir nie und nimmer etwas werden würde. Doch wenn er auch Recht haben mochte, was mein flegelhaftes Betragen anging, so weckten in mir weder der Ton seiner Worte noch auch die Züge des Gesichts etwas anderes als das Bildnis eines Feindes. So blieb mir denn nichts übrig, als allein die volle Verantwortung für mich zu übernehmen und mich nicht aufzugeben. Was nun die Eltern anging, so war ich gleichsam so etwas wie ein Muskel im Widerspiel prot- und ant-agonistischer Kräfte. Die Mutter vornehmlich hatte die Religion blind gemacht für alles Große in dieser Welt. Die Pfründe meines Vaters, die sie ganz selbstverständlich in Gottes ewigem Ratschluss begründet sah, genügte ihr, sich ganz auf den Himmel zu konzentrieren. Diesen stellte sie sich als einen schön geschmückten großen Saal vor, in dem ein herrliches Hochzeitsmahl stattfinden sollte, zu dem alle Menschen eingeladen waren. Wäre der Vater nicht gewesen, so hätte es mir wahrscheinlich genügt, mich in ihren Himmel hineinlocken zu lassen. Anders der Vater. Wenn er sich auch eine Welt ohne Gott nicht vorstellen wollte, so konnte er es doch recht gut. Und wenn man schon einmal auf der Erde war, so seine Meinung, dann hatte man sich auch auf dieser Bühne zu bewähren.

Wozu ich nun taugte? Ich wusste es nicht. Gemäß den Zielen der Erziehung meiner Mutter bin ich einer geworden, den man leidlich human und von Menschenliebe beseelt nennen mag. Wenn ich auch die Menschen dicht um mich herum immer als störend empfunden habe, so bin ich doch stets auf Ausgleich und Toleranz bedacht gewesen, wann immer eine Sache gemeinsam auszutragen war. Armen und Obdachlosen, als wär ich selber einer, habe ich immer mal wieder geholfen. Doch glaube deshalb nur keiner, er sehe vor sich einen Tugendbold. Wenn es nach den Wünschen meiner Mutter gegangen wäre, so hätte ich ihr Wort besser beherzigt und immer wieder versucht, im Nächsten Gott zum Vorschein zu bringen. Als Kind versuchte ich mich ja noch in dieser Kunst. War ich gemäß der Doktrin meiner Mutter und gemäß dem Verhalten meiner Lehrer nur ein erbärmlicher Stallhase und Stümper, für jeden freilich auf besondere Weise, so genoss ich es doch schon als Kind, gemäß den ambitionierten Fernzielen meines Vaters, mir als Künstler voll Allmacht zu gefallen. Und waren es auch nur Entwürfe, so hörte ich doch bereits die Jubelrufe der Menge. Darauf aber sollte ich dann doch noch ein Weilchen warten. Bereits als ich dem Vater sagte, dass ich kein Professor und kein Minister werden wolle, sondern nur ein Schriftsteller, war die Not groß. Und als ich dann Ernst machte und mit dem Schreiben begann, so wurde unser Verhältnis durchaus nicht besser. Trotz vieler sehr unwürdiger Versuche, zu Ruhm und Ehren und zu Geld zu gelangen, blieb ich doch viele Jahre an den Esstisch der Eltern gefesselt. Wäre alles nach dem Willen des Vaters gegangen, so wäre ich zuerst Minister oder Professor geworden oder allenfalls auch Landesbischof, um mir dann, wenn es mich gelüstete, auch noch auf dem Feld der Literatur den Lorbeerkranz zu erwerben.

2. Szene: Wie Pfüdi und Fürst aufeinander treffen

Fürst: (kommt auf Pfüdi in einem Einbaum herangefahren) Hallo Pfüdi!

Pfüdi: Ist da wer? (er schaut sich um)

Fürst: So warte doch!

Pfüdi: Wer mag sich hier draußen im Meer aufhalten, der mich kennt?

Fürst: So halt doch an! Was stapfst du davon? Siehst du mich nicht?

Pfüdi: Ah dort! Wer bist du?

Fürst: Kennst du mich wirklich nicht mehr, mich, den Weggefährten deiner frühen Jahre?

Pfüdi: Bis du es, Fürst? Bist du es wirklich?

Fürst: Wer sonst soll ich sein?

Pfüdi: Kommst du von drüben?

Fürst: Wovon redest du?

Pfüdi: Von der Insel. Ich suche einen Ausstieg aus dem Meer.

Fürst: Wer sucht, ist verloren.

Pfüdi: Wer sucht, findet.

Fürst: O mein lieber Pfüdi. Jetzt hab ich gedacht, du hättest endlich deinen hochheiligen Jugendernst abgelegt. Und da hör ich dich schon wieder predigen, als stündest du auf der Kanzel.

Pfüdi: Ich bin eben, wie ich bin.

Fürst: Das ist wie mit dem Mann, der nach dem besten Honig suchte, ohne dass er etwas vom Honig verstand. Und ich will dir auch sagen, wie er ihn gefunden hat! Zuerst nämlich, wenn der Mann einen Honig probierte, hatte er die Angewohnheit, dabei in seinem Misstrauen zu denken, er könne künstlich gestreckt und verzuckert sein. Da verging ihm sogleich der Appetit und er mochte ihn nicht mehr.

Pfüdi: Bravo, bravo; da gibt er besser aus!

Fürst: Erst als er gelernt hatte, dass er so nicht fündig würde und er gelernt hatte, sich einzureden, was für eine herrliche Tracht er vor sich hatte, dass er sich sogar einbildete, die vielfältigen, von ihm nicht durchschauten chemischen Aromastoffe den verschiedenen Blüten zuzuordnen, war er glücklich und aß das Zeug wie ein Kenner und Feinschmecker.

Pfüdi: Bravo! Bravo! Du bist doch noch immer der, der du schon immer warst. Und immerhin ist die Honigbiene das drittnützlichste Nutztier; das solltest du nicht vergessen.

Fürst: Und solltest du auch nichts finden, was dir das Leben erträglich macht, die Zeit findet immer einen Weg, dir das Problem zu lösen. Und wenn sie dir nur mit jedem Tag einen Tag von deinen Lebenstagen hinwegstiehlt.

Pfüdi: Und was lernen wir aus alledem, Herr Oberlehrer?

Fürst: Komm mit mir und lass dir´s gesagt sein: Das Leben da drüben ist nichts für einen Mann von deinen Qualitäten! Bei uns ist es nicht übel. Unser sind viele. Auch der Friedrich ist bei uns.

Pfüdi: Welcher Friedrich? Der sich nicht zu gut war, sein eigener Eckermann zu sein?

Fürst: Natürlich. Wer auch sonst?

Pfüdi: Na dann Pfüdi, Pfüdi!

Fürst: Auf mein Wort, es soll dich nicht gereuen. Wir leben ein lustiges Leben!

Pfüdi: Das mag ja sein; aber ich brauche etwas Festes unter den Füßen.

Fürst: Das hast du bei uns! Unsere Schiffe sind stabil, auch wenn sie nicht sehr komfortabel sind und nur einer hereinpasst. Wenn einmal ein arges Unwetter herniederprasselt, so kennen wir Plätze, wo wir jederzeit einen Unterschlupf finden. Oder meinst du, weil du ein Pastorensöhnchen bist, deshalb brät man dir dort drüben eine Extrawurst?

Pfüdi: Das ist das mindeste.

Fürst: Als ob ich nicht mit angesehen hätte, wie man dich hat aussteigen lassen. Das war ein Skandal, eine Demütigung ersten Ranges.

Pfüdi: Man tat es, weil man meine Freiheit herausforderte. Ich selber sollte entscheiden, wohin ich wirklich wollte.

Fürst: Dreh dir nur alles zurecht, wie du es brauchst. Doch vergiss nicht, was kommen wird, ist noch um einiges schlimmer.

Pfüdi: (für sich) Nach uns wird kommen nichts Erwähnenswertes.

Fürst: Was brummelst du da?

Pfüdi: Ich fragte mich, ob das die frohe Botschaft ist, die du mir zu sagen gekommen bist.

Fürst: Es ist die Wahrheit.

Pfüdi: Ich gehöre nicht zu denen, die sich damit abfinden, als ob es auf Erden nichts Schönes und Gutes gäbe.

Fürst: Dann hältst du also Ausschau nach einer Insel, wo du eine liebe Ewigkeit lang wohnen kannst inmitten von Sommerblumen und Fruchtbäumen und lustigen Mädchen?

Pfüdi: Warum nicht? Ich habe nichts dagegen.

Fürst: Dann lass dir sagen, dass es hier nichts gibt von alledem. Nicht einmal in der Mitte der Insel ein Apfelbäumchen mit freundlichen Äpfelchen dran; nur einen uralten Schlossturm, wohin sich selbst Nattern und Ottern zu schlängeln weigern.

Pfüdi: Ich schließe aus deinen Worten, dass du schon dort warst.

Fürst: Und wenn es irgendwo ein Paradies gäbe, Pfüdi, mit allem nur erdenklichen Zubehör, ich sag dir, es vergingen keine drei Wochen, da wünschtest du das ganze Paradies zum Teufel.

Pfüdi: Genau das sage ich ja. Du meinst zwar, es fehle dir etwas, wenn du keinen Honigkuchen hast; doch du täuschst dich; denn die Gewohnheit macht schnell, dass einem das eine wie das andere schmeckt. Gib dir also keine Mühe. Meine Konfirmandenlektionen habe ich gut gelernt.

Fürst: Wenn es noch ein Restchen der goldenen Zeit gibt, so findest du sie hier draußen!

Pfüdi: Du vielleicht.

Fürst: So verschieden sind wir nicht, Pfüdimann. Glaub nur das nicht. Oder sucht er nach einem Abenteuer? Will er noch ein allerletztes Buch schreiben, das da beginnt mit den Worten: Es war einmal ein Mann, namens Pfüdimann. Als der sich auf den Weg zu den Gefilden der Seligen machte, begegnete ihm der böse Wolf?

Pfüdi: Warum nicht gar?

Fürst: Wenn er es wissen will, so will ich ihm sagen, warum ich nicht auf die Insel gehe!

Pfüdi: Geb er sich keine Mühe. Ich wills nicht wissen.

Fürst: Ich sags ihm aber trotzdem! Ich geh nicht hin, weil ich es nicht nötig habe. Und warum habe ich es nicht nötig? Weil ich keine Qualifikation mehr brauche und kein Diplom und keine Anerkennung, keinen Ehrendoktor und keinen postumen Nobelpreis, auch nicht von Gottes bestgeratener Exzellenz. Magst du auch begierig sein, in die große Akademie der Literatur aufgenommen zu werden, mir gefällt die Vorstellung besser, sie hätten mich dort einsperren wollen, mir aber wärs gelungen, im letzten Augenblick noch aus dem Gefängnis herauszufliegen.

Pfüdi: Wovon sprichst du? Brauche ich eine Qualifikation? Magst du es auch vergessen haben in der Zwischenzeit - mir ist nichts lebendiger und klarer, als dass ich als weltweit berühmter, hochqualifizierter Mann komme! Ich muss noch nicht einmal abwarten, was kommt. Das heiß ich Bereit-sein!

Fürst: Wenn er nicht weiß, was kommt, heißt er das Bereit-Sein? Weil es dir Zeit Lebens viel zu gut gegangen ist und du nichts anderes gemacht hast, als die Zeit zu verträumen, glaubst du, der Schlendrian würde hier ebenso weitergehen. Dabei weißt du doch längst, dass du dich das ganze Leben über nur betrogen hast. Nur willst du dir lieber weiter etwas vorlügen, als endlich auf diese Lügen zu verzichten.

Pfüdi: An deiner Stelle würde ich ganz still sein. Wir lieben keine anderen Herren, sondern keine, hast du gesagt. Und dann hast du dich an die schlimmsten Verbrecher verkauft.

Fürst: Was sagst du?

Pfüdi: Nebensächliches oder Zeitgeschichtliches, gewissermaßen.

Fürst: Wann immer du dich als Schriftsteller und Theatermacher verstanden hast, hast du über Ruhm und Unsterblichkeit gebrütet. Noch ehe du wusstest, wie man Sätze anfertigt und hintereinander reiht, sahst du dich bereits als gefeierten Künstler Einzug halten auf der Insel der Dichter. Und nun glaubst du, man erwarte dich hier und alles flöge dir zu? Vergiss nur ja nicht, dass hochtrabende Hoffnungen nirgends anders gedeihen als im Dunstkreis der Macht! Und dass man sich gemein machen muss, um in die Nähe der Macht zu gelangen.

Pfüdi: Versuch mir keine Angst zu machen! Damit hast du keinen Erfolg.

Fürst: Für alles, Pfüdimann, hat man zu bezahlen; und die Schlussabrechnung, die kommt erst noch! Doch wie du willst! Stapf nur tüchtig weiter und lass dich überraschen. Dort bei der Fahne ist das Tor, durch das die Auserwählten ziehen. Und dann lass dir den Weg zeigen zu seiner Exzellenz!

Pfüdi: Zu welcher Exzellenz? Das soll wohl ein Witz sein.

Fürst: Zu seiner Exzellenz, Wilhelm Meister von Hochberg. Nationalschriftsteller der Deutschen.

Pfüdi: Was hab ich damit zu tun?

Fürst: Ja hast du etwa chinesisch geschrieben? Er kommt dir als dein Totenrichter entgegen und prüft dich ab.

Pfüdi: Komm mir bitte nicht mit solchen Tricks. Du weißt, dass ich das nicht mag.

Fürst: Ich kenne viele, die die Wahrheit nicht mögen.

Pfüdi: Meine Muttersprache war nie das Deutsch, sondern stets das Schwizerdytsch.

Fürst: Und doch hast du Deutsch geschrieben. Hochdeutsch.

Pfüdi: Außerdem glaube ich nicht an einen Richter und an ein Gericht. Du musst doch selber zugeben, Fürst, dass es sich bei solcherlei Erzählungen stets um Märchen handelt. Schon bei der Lektüre von Homers Odyssee muss man sich doch fragen, zu welchem Zweck dieser Minos eigentlich Gericht über die Toten hält, wo doch die Toten im Reich des Hades und der schrecklichen Persephoneia nichts sind als wesenlose Schatten. Was auch könnte man diesen antun? Es kann sich da also nur um einen abgefeimten Trick handeln, die Zuhörer auf Erden im Gehorsam gegen die Obrigkeit zu halten. Es geht nichts über das Gehorchen, so soll sich der Zuhörer sagen. Lieber nicht nachdenken und gehorchen, als nachdenken und zu einem anderen Ergebnis gelangen. Wer nachdenkt, macht sich strafbar.

Fürst: Endlich, Pfüdi, endlich beginne ich dich wiederzuerkennen als den kritischen Denker, der es verdient, dass man ihn achtet und ehrt.

Pfüdi: Wenn du willst, so begleite mich noch den restlichen Weg zum Strand. Dann können wir noch ein echtes Wort miteinander tauschen! Denn wenn wir auch nicht in allem einer Meinung sind - eine gewisse Vorstellung, wie wir unser Leben gestalten und wie wir es optimal verbringen, haben wir ja doch. Und Langeweiler oder Zeittotschläger sind wir ja wahrlich auch nicht. Mit solchen Leuten, die sich in die Gruben der Unbedeutendheit stürzen, weil sie Angst haben, als beschränkte Geister aufzufallen und sich zu blamieren, hatten wir nie etwas zu tun.

Fürst: Gestatte, dass ich dich unterbreche! Du hast den Totenrichter offenbar schon wieder ad acta gelegt.

Pfüdi: Wollen wir weiter scherzen wie Autoren in der Komödie oder wollen wir ein ernstes und ehrliches und bedenkenswertes Wort tauschen von Mann zu Mann?

Fürst: Was hast du dir dabei gedacht, als du dich auf den Weg hierher gemacht hast? Wie hast du dir das Leben hier vorgestellt? Bedenke genau, was du sagst. Ich sage nicht: Bedenke genau, ehe du etwas sagst. Ich spreche nicht als ein Oberlehrer zu dir, der ich ja auch gar nicht bin, nicht einmal als dein einstiger Mentor, sondern als dein alter Freund, der ich noch immer zu sein mir schmeichle. Sieh, der Mensch strebt zwar nach hohen Zielen, zumal in der Jugend, und da ist er auch gewillt, jeden Preis zu bezahlen, jedenfalls in Gedanken; kommt er dann aber in die Mannesjahre, so muss er erkennen, dass nicht jedes hohe Ziel eines hohen Einsatzes wert ist. Mag auch die Jugend von Zielen träumen, mag sie sich darin gefallen, belobigt und gepriesen zu werden und Beifall zu erhalten von den vielen, mag sie auch auf Preise und Auszeichnungen hin arbeiten, ja mag sie selbst Werke erstreben, die haltbarer sind als die in Erz gemeißelte Schrift: geduldig abzuwarten und über sich hinaus zu wachsen ist allemal noch besser. Sag doch selber: Was hast du davon, wenn du mit deinem Gepäck an Land gehst und zu der Exzellenz gehst und du das unverschämte Glück hast, dass seine Exzellenz dich brauchen kann? Steht nicht schon bei Platon gegen Ende seiner Apologie, was von solchen Hoffnungen zu halten ist? Oder ist es nicht bedauerlich, wenn der große Sokrates nach seinem Tod sich nichts weiter zu wünschen weiß, als sich über strittige Rechtsfälle zu unterhalten? Und wenn Platon danach noch das Gespräch mit Homer oder mit Musaios hinzufügt, ohne alle Themenbenennung, so klingt das nur wenig überzeugend. Die Wahrheit ist aber doch die, dass der Mensch nicht dazu geschaffen ist, große Gespräche zu führen. Dass sich zwei unterhalten, jeder gleichberechtigt und wechselseitig auf gleich Weise respektiert, das schlag dir nur aus dem Kopf. Das hat es noch nie gegeben. Noch nie haben zwei ein und dieselben Interessen gehabt, noch nie hat sie dieselbe Sehnsucht beseelt, noch nie haben sie dieselben Freuden erquickt und dieselben Leiden heimgesucht. Ein Dritter aber, der ihre Gespräche liest, versteht im besten Fall sich selber ein Stück weit besser.

Pfüdi: Und wenn die Menschheit nichts anderes wäre als Fliegengeschmeiß, ich würde mich nicht damit abfinden.

Fürst: Früher sagtest du einmal, die Menschheit sei nichts als ein hochnotpeinsamer Zufall oder ein Unfall, als der liebe Gott schlief. Das Schicksal der Gerechtigkeit sei kaum mehr als eine Kapitalistenkomödie. Große Worte seien leere Worte. Und die Hauptsache sei, dass man gut lebt.

Pfüdi: Jetzt aber sag ich das nicht mehr.

Fürst: Bedenke gut, dass du zu wählen hast zwischen zwei Wegen. Wenn du an Land gehst, wählst du den Weg des Suchers. In der Hoffnung nie geahnte Entdeckungen zu machen, schleppst du dich dahin. Bleibst du aber hier, so lernst du, in dich hinein zu finden und den Unbilden von Sturm und Regen und Wogen und Wetter zu trotzen. Jeder von uns lebt für sich, wie ein archimedischer Punkt, in seiner Welt. Und trifft es sich einmal, dass sich unsere Wege kreuzen, so sagen wir einander guten Tag, wechseln ein paar Worte und ziehen weiter.

Pfüdi: Ehe ich wählen kann, muss ich mich umsehen. Und was die Insel angeht, selbst wenn sie wüst wäre und leer, so will ich mich schon damit abfinden, wenn ich am Ende nur einen guten Ausgang erreiche!

Fürst: Dann adieu, Hans Narr! Dann haben wir lange genug miteinander geplaudert.

Pfüdi: Mein Wunsch ist es gewiss auch nicht, in die Dienste seiner Exzellenz zu treten.

Fürst: Geh nur! Ich kann auch allein in Prosa weiter musizieren!

Pfüdi: Ich glaube lieber an den guten Ausgang, als dass ich mich vorzeitig aufgebe.

(während die ersten schweren Tropfen fallen, steigt Pfüdi an Land)

3. Szene: Wie Pfüdi die Insel betritt und erfährt, dass er auf einer Prüfungsinsel gelandet ist

(Am Strand liegen Tiergerippe und diverse Knochen herum. Eine Türe, die frei im Gelände steht, kann als Türe zur Insel aufgefasst werden. Dahinter steht eine Schutzhütte, über der eine Fahne schlaff hängt. Vielleicht dass man mitunter ein Hakenkreuz sehen zu können vermeint.)

Pfüdi: Somit hätten wir den Strand erreicht. Und wenn uns das Land auch nicht wie ein gelobtes vorkommt, so lasst uns zumindest den Scherz aufgreifen, zu dem uns diese verlotterte, im Freien stehende Türe einlädt, schließlich sind wir keine Spielverderber, und etwas zur Begrüßung singen, zum Beweis, dass wir angekommen sind! Mal sehen, was sich uns da auf die Schnelle zusammenreimt!

Angekommen am Ufer der Dichtkunst, doch ohne Freude,

nirgends ein Ton, der von tätigem Leben zeugt!

Nirgends ein fröhliches Menschlein, kein liebliches Glockengeläute!

Das war nun allerdings kein vor überschwänglicher Freude jauchzender Liedanfang, kein glanzvolles Dokument eines unerschütterlichen Glaubens. Doch freilich, die Tage eines unumschränkten Glaubens sind schon lange dahin. Tief in den Tagen des Wissens stecken wir drin, das rastlos weitereilt, ohne dass wir einen Ausgang sehen. Doch warum zeigt sich niemand, mich zu begrüßen? Soll ich den Verdacht in mir aufkeimen lassen, dass es hier eine feige Brut gibt, die sich im Hintergrund verschanzt und die sich nicht getraut hervorzukommen? Oder soll ich mich gar noch eines Überfalls befahren?

Oder ist überhaupt nirgends jemand da und niemand hat auf mich Acht? Wie? Sieht mich niemand? Täuschen wir uns und nehmen uns viel zu wichtig und alles nimmt seinen gleichgültigen Gang, als ob wir alle längst schon verschwunden wären? Fehlt nur noch ein Rabe auf dem Dach da, der gern krächzen würde, hätte er nicht längst das Krächzen verlernt. - Immerhin bin ich noch frei. Oder kann ich nicht der Küste entlang gehen? (er tuts) Und in die andere Richtung? (er tuts) Und wenn ich ins Inselinnere will? Was soll also das dumme Gerede von den irreversiblen Wegen? Freilich könnt ich auch noch zurück ins Meer, wenn ich wollte. Aber ich will nicht. Frei bin ich, wenn ich mir auch nicht mehr die Freiheit nehme, mir eine Unfreiheit zu gestatten.

(Pfüdi nimmt unter dem Dach der Schutzhütte Platz)

Pfüdi: Das alles hier hab ich mir allerdings etwas anders vorgestellt, als ich mich vor etwa 30 Jahren in einem Stück versuchte. Mehrere Male hatte ich Homers Odyssee gelesen, mehrere Male den Helden durch den Irrgarten des Lebens begleitet und das Leben des Helden als einen Roman der Verirrung miterlebt. Vor allem aber hatte es mir die Prophezeiung angetan, die Teiresias dem Helden in der Unterwelt hatte zukommen lassen. Das große Thema der Heimkehr und die Bedingungen, unter denen der Held die Heimkehr schaffen würde, hatten mich in seinen Bann gezogen. Von zwei Weisen der Heimkehr war da die Rede. Die erste betraf die Heimfahrt nach Ithaka mit seinen Gefährten, wo es vor allem galt, schuldlos an der Insel Thrinakia und den Rindern des Sonnengottes vorbei zu kommen. Die zweite Heimkehr aber betraf die Reise nach der Reise, die Entsühnung des Helden mitsamt einer Vision der Zukunft. Und eben die Prophezeiung dieser zweiten und endgültigen Heimkehr, dieser Heimkehr auf eine Erde, auf der der Friede herrscht und ein verständiges Miteinander, auf eine Erde des goldenen Zeitalters und des Paradieses - das war es, was mich näher zu erforschen verlockte.

Selbstverständlich schenkt Odysseus dem Teiresias Glauben. Wie er im Gespräch mit Penelope versichert, weiß er Bescheid über einen weisheitlich geprägten untadeligen Herrscher, der die Götter fürchtet. In der Furcht des Herrn übt er Gerechtigkeit und Erde und Meer geben ihm in Fülle ihren Ertrag. Darüber hinaus ist Odysseus fleißig und umsichtig und tapfer, wie es sich für einen Helden von seinem Ausmaß geziemt. Wie ihm Teiresias befohlen macht er sich mit einem Ruder auf den Weg. Der Glaube an die Verheißung so wie die tatkräftige Inangriffnahme des göttlichen Gebots sind der Gegenstand seiner Prüfung. Eine weitere Prüfung gibt es nicht. Indessen ist da alles, was ihn erwartet, anders, als er es sich vorgestellt hat. Klugheit und Einsicht reichen nicht aus. Alles Unheil der Menschheitsgeschichte, alle Gemeinheiten, Grausamkeiten, aller Hass, alle Kriege und Verbrechen, alles das Waffenszenario bis in unsere Tage muss er durchstehen. Haben ihn die Götter im Stich gelassen, dass sie ihm ihre Weisheit verwehrten, oder haben sie ihn von vorherein schon irregeführt? Wann immer er sein Ruder fest in die Erde hinein zu stoßen versucht, wird er überrascht und macht sich lächerlich oder er erlebt sonst etwas Schlimmes. Endlich ist es das hochspezialisierte und hochtechnisierte Zeitalter, in das sich der Held verirrt. Er stößt auf den Menschen, der keine Zeit mehr hat, um über sein Menschsein nachzudenken. Spezialistentum und Konsum sind die beiden Blickwinkel, unter denen ausschließlich noch das Dasein gesehen wird. Trotz aller dieser Rückschläge und Missgeschicke bleibt der Held zwar noch immer ebenso schonungslos und hart gegen sich, doch kann er es nicht verhindern, dass er unverrichteter Dinge nach Ithaka zurückkommt. Leib und Lunge sind verseucht, Arme und Beine schwach geworden und matt, das Herz nur mehr noch unregelmäßig schlagend, die Augen am Erlöschen. Keine Athene ist mehr da, die ihm das Land der Väter zeigt. Dieses Mal sind auch die Freier gewappnet, tollkühn sich ihnen entgegen zu stellen. So macht der Held kehrt, um noch einmal zu Teiresias zu gelangen und vor ihm Klage zu erheben, was alles er getan und erlitten, ohne doch in jenes, ihm verheißene, glückliche Zeitalter zurück zu finden. Ich selber war gespannt, was für eine Antwort er ihm gäbe wegen der gescheiterten Verheißung. Doch der Held findet nicht noch einmal zurück in die Unterwelt; vielmehr verschlägt es ihn auf eine Insel, ähnlich dieser hier, wo er nur noch erfährt, dass er der letzte Ankömmling sei; dass aber mit dem letzten Ankömmling die große Flut und der Untergang der Erde anhebe. Damals hatte ich noch geliebäugelt, das Stück ?Die Heimkehr des Odysseus? zu nennen. Da es mir aber nicht gelungen war, es zu einem guten Ausgang zu führen, gab ich es wieder auf und ließ es liegen.

(Der Strandwart kommt und holt die Fahne ein.)

Pfüdi: Immerhin kommt jetzt einer aus der Deckung. Er scheint mir aber nichts mit Homer zu tun zu haben noch auch mit meinem Odysseus. - Der Herr holt die Fahne ein?!- Nun, mein Herr! Wollen Sie mich nicht willkommen heißen auf Ihrer Insel?

Kum Baba: Mein Herr. Diese Insel ist nicht dazu da, auszuruhen. Hier bedarf es der höchsten Konzentration.

Pfüdi: Dass ich nur nicht in ein Konzentrationslager gelangt bin! (für sich) Dazu würde ja manches ganz gut passen. Doch still! Wecken wir keine bösen Geister! Wecken wir keine Gespenster! - (laut) Hier hausen wohl nicht viele auf der Insel?

Kum Baba: Genug, dass man mich zum Strandwart bestellt hat.

Pfüdi: Darf ich mich erkundigen, wo ich angelangt bin?

Kum Baba: Fragen darf er; doch muss er selber die Antwort finden. Was man sich nicht selber sagen kann, muss man auch nicht wissen wollen.

Pfüdi: Ist das eine Erziehungsmaxime von Ihnen?

Kum Baba: Überhaupt muss der Mensch nicht immer alles wissen.

Pfüdi: Ich denke da anders. Wenn man eine Antwort auch noch nicht hinreichend zu erfassen vermag, so kann man sie doch stets von neuem bedenken und mit den eigenen Erfahrungen vergleichen.

Kum Baba: Lass er sich überraschen!

Pfüdi: Wenn es etwas Gutes ist, so sei es mir allezeit willkommen!

Kum Baba: Hier ist nicht die Ausnahme die Regel, sondern die Ausnahme ist die Ausnahme und die Regel ist die Regel. - Aber wenn er einen braucht, der ihn an die Hand nimmt und ihn beschäftigt, so nenn er mir einen Satz, den er geschrieben hat und den er für besonders gehaltvoll hält!

Pfüdi: Soll ich ihm einen Satz nennen, den ich geschrieben habe?

Kum Baba: Mir soll er gar nichts, nicht einmal Dank sagen. Ich prüf ihn ja nicht. Aber wenn er geprüft wird, wird er ganz bestimmt aufgefordert, einen solchen Satz zu nennen. Da kann er sich jetzt schon ein wenig darauf vorbereiten und sich die Zeit vertreiben.

Pfüdi: Wenn ich geprüft werde? Pflegt man hier Scherze zu machen? Doch seien wir kein Spielverderber! Lass mal sehen, Pfüdimann, was du darauf zur Antwort hast! Denn es ist ja nicht so, dass ein Pfüdimann vor irgendeiner Prüfung Angst haben müsste. Wer meine theoretischen Schriften kennt, zumal die zum Theater, der weiß, dass es einem gefährlich aufstoßen könnte, wenn er sich mit mir in einen Disput einließe. Da ist durchaus leicht möglich, dass es ein Prüfer mit der Angst zu tun bekommt. Einen Satz möchte seine Exzellenz hören, den ich geschrieben habe und den ich für besonders gehaltvoll halte? Das heißt natürlich, es muss ein Satz sein, den seine Exzellenz für besonders gehaltvoll erachtet. Das ist gar nicht so leicht, abzuschätzen, was für einen anderen gehaltvoll und bedeutungsvoll ist. Wenn es nicht unbedingt ein Satz von mir sein müsste, so wüsste ich mir wohl rat. Doch lassen wir das. Eines aber würde ich doch noch gerne wissen. Zu welchem Zweck soll ich überhaupt geprüft werden? Was erwartet mich nach der Prüfung?

Kum Baba: Da lass er sich nur mal überraschen!

Pfüdi: Böcklins Toteninsel, ich hab sie mir stets in Basel angesehen, wenn ich durchs Museum kam, ist nicht so gespenstisch wie das Inselland hier. Als wären Jahrmillionen vergangen, seit der letzte Mensch hier vorbeikam.

Kum Baba: Gedulde er sich nur! In ein paar Millionen Jahren wird das der Fall sein.

Pfüdi: Außer ihm gibt es niemanden hier?

Kum Baba: Täusch er sich nur nicht.

Pfüdi: Dann lass er mich einen sehen von diesen Erdenbewohnern, wenn es ihm nicht zu viele Mühe macht!

Kum Baba: (stampft mit dem Fuß auf den Boden)

4. Szene: Schriftsteller kommen herbei und umkreisen die ewig ungelöst bleibende Aufgabe der Dichtung

Pfüdi: Was sind das für Leute?

Kum Baba: Sie kommen zum Schreiben. Und weil sie durchgefallen sind, müssen sie in den Sand schreiben. Und weil sie nichts anderes mehr wissen, schreiben sie meist nur auf, dass sie durchgefallen sind.

Pfüdi: Vermutlich eine Sisyphusarbeit.

(er liest, was einer in den Sand schreibt)

Die Amsel abends schreit aus voller Kehle,

damit es nachts ihr nicht an Starkmut fehle,

dass sie, wenn Träume bös vorüberziehen,

nicht in Erwägung zieh kopfloses Fliehen.

(zum Strandwart) Wie geht es weiter? Ich kann nichts mehr lesen. Der Regen verwischt jeden Buchstaben, kaum dass er im Sand steht.

Kum Baba: Wart er es ab!

Pfüdi: Weiß er es nicht oder ist er nicht neugierig?

Kum Baba: Wer einmal mit dem Schreiben begonnen hat, der muss weiter schreiben, immer weiter.

Pfüdi: Das hab ich ja gesagt. Daraus folgt, dass sich ein gewissenhafter Schriftsteller bei Zeiten einen solchen Stoff beschaffen sollte, dass er ihm nicht ausgeht, auch wenn er eine Ewigkeit lang zu schreiben Zeit hat.

Kum Baba: Da, sieh er nur! Da kommen schon die Nächsten.

Pfüdi: (liest, während einer schreibt) April und Mai und Julius sind ferne - (vorauseilend) Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne. Das kenn ich; das war der erste Satz, den ich von diesem Mann auswendig konnte. Das war vor über 50 Jahren.

Kum Baba: Und da!

Pfüdi: (liest) Und wenn wir auferstehn ist auch ein Tag. - Das kenn ich auch! Nur dass der Herr schon auferstanden ist und aus dem Tag ist nichts geworden!

Kum Baba: Und da!

Pfüdi: (liest)

Was nützt uns Wissen,

wenn wir nicht verstehn,

was es bedeutet

all das Weiter-gehn?

 

Wenn wir berechnen können

schon den Tag,

wo enden wird

all unsere Müh und Plag?

 

Und dass wir tot sein werden,

Jahr um Jahr,

ob auch zum Leben uns

die Mutter einst gebar?

Pfüdi: Geht das so weiter?

Kum Baba: Hör doch!

Pfüdi: (er liest)

Und wie im Karussell sich Ross und Reiter

im Kreise drehn, so gehen die Jahre weiter,

Steigst du auch aus, nicht endet drum das Leben,

erstaunlich ist nur, dass es dich gegeben.

Pfüdi: Es ist genug. Mir schwindelt! Ich lass mir nicht ins Gemüt greifen. Das wäre noch schöner! Bis jetzt haben mir zwar Gedichte und Lieder immer dann besonders gut gefallen, wenn man aus ihnen ein wenig Wahnsinn heraushören konnte. Aber das vergeht einem hier.

Kum Baba: Wenn er noch mehr Leute zu sehen wünscht, daran hat es keinen Mangel. (er stampft wieder; darauf kommen abermals Leute aus der Erde, die singen)

Du bist das Tor, das unbekannte, enge,

die Schwelle, die man nur gebückt durchstrebt,

das Nadelör dem zappelnden Gedränge

voll Hoffnung, dran viel altes Blut noch klebt

 

Du bist der Baustein blutig wund gehauen,

Das Angesicht geworfen in den Schacht,

einmal nur kurz getrocknet von der Frauen

herzliebstem Haare kurz vor Mitternacht.

 

Du bist im Dunkel in der Nacht der Kleinen

das letzte Wetterleuchten überm Haus,

die letzte Angst der Armut und das Weinen,

die Hand, die drückt die matten Lichtlein aus.

Pfüdi: (noch während des Gesanges davoneilend) Genug, genug! Mich schaudert, wenn ich bedenke, wie viel Früchte ihre Reife nicht erleben konnten, und das nur, weil der Mensch dem Menschen feindlich in den Weg trat! Leben Sie wohl, Herr Kum Baba! Und vielen Dank für den Empfang!

Hier scheinen alle verrückt zu sein. Doch freilich, wenn man erst einmal viele Jahre lang Hoffnungen gehegt hat und nichts davon ist in Erfüllung gegangen, da kann man schon ein bisschen verrückt werden. Sag mir, was du suchst und was dir wert ist, und ich sag dir, wer du bist. Sag mir, was du treibst und was deine geheime Lust ist, und ich sag dir, in welcher Gesellschaft du lebst. Sag mir, was dich umsorgt und umsingt, und ich sag dir, wie dein Liedlein klingt. Wir wollen uns jetzt aber nicht weiter erregen. Das ist ja eben so eine Unart, dass man, wenn man einmal begonnen hat, sich aufzuregen und schwarz in schwarz zu malen, dass man dann glaubt, man müsse nun damit fortfahren, bis man die unterste Hölle erreicht hat. Aber das müssen wir jetzt nicht, nicht wahr, mein lieber Pfüdi. Uns geziemt vielmehr, ganz ruhig zu bleiben und uns zu wappnen für den Fall des Falles. Exzellenz soll staunen, wenn er es auf einen alles entscheidenden Kampf zwischen uns ankommen lässt. Als ob wir nicht über Literatur hinreichend Bescheid wüssten. Von der Erfindung der Schrift an kenn ich mich aus. Und was meine eigne Produktion angeht, da sag ich nur: zeigt her und lasst sehen, wo ihr es besser gemacht habt! Da soll mir nur einer kommen; ja da soll mir nur einer an den Karren!

5. Szene: Pfüdi trifft auf Tom Spindler

Pfüdi: Wie? Kommt da noch so einer? Doch nein, seiner frohen Gestalt und seinen kindlichen Bewegungen nach kann der Mensch noch nicht wahnsinnig sein. Zu den desillusionierten und ausrangierten Existenzen kann er nicht gehören. Der junge Mann erinnert mich eher an die Almbuben bei uns Zuhause! Die roten Wangen, der beherzte leichtfüßige Schritt! Und in der Tat seh ich jetzt auf seinem Käppli ein Schweizer Fähnli. Fehlen nur noch ein paar Schafe oder Kühe, die er vor sich hertreibt, um mit ihnen zum Dorffest unter dem Maienbaum zu gelangen. -

He du, mein Freund, auf was für einer prosaischen Wanderschaft treff ich dich an? Wo kommst du her? Der Pfüdi heiß ich, und der Pfüdi bin ich, der Peter Pfüdimann aus Bern.

Spindler: Spindler ist mein Name, Tom Spindler, und ich komme gleichfalls aus Bern.

Pfüdi: Marschierst gern auf deinen Füßen?

Spindler: Bewegungen auf den eigenen Füßen waren mir schon immer das Liebste. Durch die frische und freie Natur zu gehen, an Matten vorbei und durch den Wald! Wenn sich da nur tüchtig die Füße bewegen, kommt mitunter auch im Kopf was in Bewegung.

Pfüdi: Gut, dass ich dich antreff, Freund. Nicht immer kommt einem einer so gelegen wie du mir. Schon nämlich hab ich daran gezweifelt, dass ich hier an einen vernünftigen Ort geraten bin. Dein Erscheinen aber und vor allem die uns gemeinsame Sprache belebt mich förmlich. Freund, du glaubst ja gar nicht, wie froh ich bin, dich hier zu treffen. - Du kommst von der Prüfung?

Spindler: Ich bin dankbar dafür, mich einmal haben aussprechen zu können. Und wenn ihm der Gott gab, zu sagen, was er leidet, so gab mir ein Gott die Gelegenheit, zu sagen, was für Schwierigkeiten mir in meiner Literatur begegnet sind.

Pfüdi: Du warst also bei seiner Exzellenz?

Spindler: Jawohl, dort war ich und es durchaus kurzweilig.

Pfüdi: Erzähle, wenn es dir nicht zu viel ist.

Spindler: Warum auch soll es mir zu viel sein? Kaum dass er mich empfangen hatte, begann er, sich über die Zumutung auszulassen, dass er noch immer das Prüfungsamt auszuüben habe. Dazu gab ich keinen Kommentar. Jedenfalls ihm nicht. Er fragte mich, ob ich auch so einer von den Traumtänzern und Tränensäcken sei, die sich offensichtlich immer besseren Gedeihens erfreuen. Dazu hatte ich ihm, wie sich versteht, auch nicht viel zu sagen. Oder hätte ich ihm sagen sollen, dass mich manche zu Hause einen Löl genannt haben, was mir immer wie ein Ehrentitel vorgekommen? Nachdem er sich dann in einigen Jeremiaden Luft verschafft hatte, was für ein Unhold ihm nur immer diese Leute da zuschickte und dass er sich das nicht länger gefallen ließe, kam er fast gar widerwillig auf die Pflege seiner Werke zu sprechen. Doch auch hier konnte ich ihm eine Enttäuschung nicht ersparen. Da hatte ich meine liebe Not, seinen Blicken auszuweichen und in die Gegend zu schauen.

Pfüdi: Und gab es etwas in der Gegend zu sehen?

Spindler: Alles das geschah ja im Prüfungszimmer. Dieses musst du dir als einen großen Büchersaal vorstellen, in dem seine Exzellenz die Weltliteratur um sich versammelt. Außer Bücher rings an den Wänden gibt es nur noch einen Schreibtisch mit einem Sessel, hinter welchem ein Porträt seiner Exzellenz hängt.

Pfüdi: Das stell ich mir allerdings ungemein komisch vor, wenn da einer dasitzt und hinter ihm sitzt er noch einmal, gleichsam als sein eigener Aufpasser.

Spindler: Als ich kam, war er eben zu Fuß, beim Überprüfen einiger Bücher.

Pfüdi: Und dann nahm er Platz und nahm sich dich vor?

Spindler: Keineswegs. Er ließ sich durch mich nicht aufhalten. Das Meiste waren nur Monologe, die er auch ohne mich gehalten hätte. So beklagte er sich z.B., dass man sich heutzutage viel zu wichtig nehme.

Und wenn dann Leute kämen, die vorgäben, das Schreiben sei ihre Lebensbeschäftigung und ihr Lebenselixier, so hätten sie doch nicht das Geringste zu sagen. Da sei ihm ein Sucher lieber, auch wenn er nicht zum Schreiben käme. Das große Thema werde nämlich nicht aufgefunden, indem man nur tüchtig drauf los schreibe.

Pfüdi: Viele haben ganz sicher das Zeug zu etwas Großem, verirren sich dann aber in Themen der Zeit und finden dann aus diesem Dickicht ihr Lebtag nicht mehr heraus.

Spindler: Wenn ich für mich entscheiden dürfte, so wollte ich mich auch lieber für eine große Botschaft entscheiden und mir beim Schreiben die Hand führen lassen, als groß im Schreiben zu sein, ohne etwas zu sagen zu haben. Doch nicht jedem, selbst wenn er einen hohen Baum bestiegen hat, wird auch gleich ein großer Überblick beschieden. Immerhin aber kann man sich ja bereit halten, damit, wenn einen das große Thema überkommt, man gleich beginnen kann.

Pfüdi: Und dann?

Spindler: Dann erkundigte er sich nach meinen Produktionen und ob ich sie in den Regalen irgendwo sähe. Ich erwiderte ihm, dass das absolut unnötig sei; dass ich nämlich nur kleine Sächelchen geschrieben hätte, die sich hier gewiss nicht wiederfinden würden.

Pfüdi: Das war dann wohl nicht ganz das, was Exzellenz hören wollte.

Spindler: Ganz unzufrieden schien er nicht.

Pfüdi: Weil er bereits wusste, dass er dich würde durchfallen lassen?

Spindler: Immerhin teilte er mir mit, man habe ihn missverstanden, wenn er den Schriftstellern zu Beginn ihres Schreibens empfohlen habe, sich an kleinen und unscheinbaren Gegenständen zu versuchen.

Pfüdi: Und dann?

Spindler: Dann gelangten wir zum Höhepunkt der Prüfung oder vielleicht auch zu deren Peripetie. Ich gestand ihm nämlich, dass ich wohl versucht hätte, das Leben kennen zu lernen; dass es mir aber nicht gelungen sei. Kaum dass ich es ein Stück weit eingefangen gehabt hätte, wäre es mir auch schon wieder entwischt.

Pfüdi: Das hättest du nicht sagen sollen, Landsmann. Nichts wird ja so treuherzig und anstandslos geglaubt, wie wenn man sich selber schlecht macht.

Spindler: Aber es ist ja wahr. Ja mehr noch, fast möchte ich sagen, es steckt ein kleines Geheimnis dahinter. Was mich betrifft, so habe ich die Vermutung, dass mit dem Fortschreiten unserer Kunst die Höhe des Themas fast noch schneller wächst. Ähnlich wie bei jenem Griechen, der nach den goldenen Früchten über seinem Haupt zu haschen sucht, ohne sie erreichen zu können.

Pfüdi: Du meinst den Tantalos.

Spindler: Ich glaubte, ihm dieses offene Wort sagen zu sollen.

Pfüdi: Und dann?

Spindler: Dann bemerkte er, dass ich mich wohl auch an keinen Erziehungs- oder Entwicklungsroman gewagt hätte. - Er hatte eben die Lehrjahre des Herzens und Wilhelm Meisters Lehrjahre zur Hand, die er irgendwie verglich. - Ich gab ihm zur Antwort, dass ich stets nur Romane nach eigenem Erleben geschrieben hätte und da es mit meiner eigenen Erziehung nie so recht habe vorangehen wollen, so sei für einen Erziehungsroman kaum Platz gewesen.

Pfüdi: Und dann?

Spindler: Dann wollte er wissen, was es heute in der Welt noch zu erleben gebe. Drauf gab ich ihm zur Antwort, dass man als Literat kein gutes Metierlied mehr singen könne; dass man sich nur noch als Hans Narr am Tisch der Gesellschaft aufzuhalten habe, um je nach Wetterlage ein Zuckerbrot einzustecken oder die Peitsche zu empfangen. An dieser Entwicklung habe auch die deutsche Klassik nichts zu ändern vermocht, auch nicht das Volk der späteren Dichter und Denker. Beharrlich fuhr ich fort, dass mir die Deutsche Literatur stets etwas zu fromm und zu ernst und zu anspruchsvoll pädagogisch gewesen sein. Zu wenig Heiterkeit, zu wenig Spiel, zu wenig Selbstverspottung, zu wenig Komödie sei da zu finden gewesen, zumal da wir hätten feststellen müssen, dass sich diese Literatur in dunkler faschistischer Zeit überhaupt nicht bewährt habe. Überhaupt gebe es nicht wenig Leute heutzutage, die befürchten, dass sich das vollkommenste Vollkommene als leerer Wahn herausstellt.

Pfüdi: Das war ein Tränklein! Das wird ihm kaum gemundet haben.

Spindler: Unterdessen hatten zwei Leute den Raum betreten, auf die seine Exzellenz offensichtlich gewartet hatte. Kum Baba hieß der eine der Herren, Uttnah der andere, beide Schränke von Männern, wie entsprossen aus den Urtagen der Menschheit. In Windeseile und wie nebenbei und als wär es das Selbstverständlichste von der Welt wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich für eine Freundschaft mit Exzellenz nicht in Frage komme. Das scheint die Formel zu sein, mittels deren er einem sagt, dass man die Prüfung nicht bestanden hat. Als man mir diesen Bescheid getan hatte, nahm ich den Hut und war schon im Gehen. Doch dann drängte es mich noch zu einem kleinen Abschiedsgruß. Eine kleine Anmerkung wollte ich doch noch los werden. Und so versetzte ich, dass es für dieses Urteil keiner so mühsamen Prüfung bedurft hätte; ich selber hätte noch nie an die Freundschaft geglaubt und daran habe auch diese Prüfung nichts geändert. Als ich nun aber noch einen letzten Blick hinter mich warf und sah, dass sich Exzellenz bereits in Gesprächen mit den beiden Männern befand und er mich lang schon vergessen hatte, so sagte ich nur noch: Aber so lachen Sie doch, Exzellenz, wo Sie mir das Urteil meiner Unfähigkeit so sauber und glatt übermittelt haben! Das tut gewiss auch ihnen gut.

Pfüdi: Und dann?

Spindler: Und dann war das Liedlein aus und die Maus ging hinaus.

Pfüdi: War das nicht etwas peinsam?

Spindler: Immerhin hab ich so nebenbei noch ein paar Dinge erfahren, die auch er vielleicht noch für sein Fortkommen gebrauchen kann.

Pfüdi: Ich bin gespannt.

Spindler: Wenn ich recht gehört habe, steht das Ende der Prüfungen bevor.

Pfüdi: Das kam mir schon zu Beginn deiner Erzählung einmal in den Sinn.

Spindler: Von einem Prüfling war da nun die Rede, den die Herren auf Anweisung seiner Exzellenz schon aus dem Boot gestoßen hätten.

Pfüdi: Das ist interessant.

Spindler: Eine uralte Weissagung muss es da geben, dass dann kein weiterer Prüfling mehr auf die Insel kommt.

Pfüdi: So lebten wir wirklich in der Endzeit? Wenn mein Vater davon sprach, lachte ich ihn immer aus. Und jetzt wäre ich just der Mann, der die Endzeit einleitet?

Spindler: Und dann war vom Bau einer Arche die Rede, welche schon fast seefertig sei, als handelte es sich um eine Armada. Ich fragte mich, wozu man noch eine Arche braucht, wo es doch keine Sintflut mehr gibt.

Pfüdi: Vielleicht weil seine Exzellenz mit dem Weltganzen nicht mehr zu Recht kommt.

Spindler: Irgendwie meine ich Andeutungen vernommen zu haben, dass die Insel unsicher geworden sei und dass ein Wechsel in unmittelbarer Nähe stünde.

Pfüdi: Und wann soll das sein?

Spindler: Wenn ich recht gehört habe, nach der letzten Prüfung.

Pfüdi: O, das wäre allerdings schon bald. Und der Prüfling?

Spindler: Was ist mit dem?

Pfüdi: Reist der dann in der Arche mit?

Spindler: Da müsst ich Exzellenz selber sein, um diese Frage zu beantworten. Wie mir aber scheint, ist Exzellenz nicht der Mann, bei dem man es auf die Dauer aushält. Oder ist er der Mann, der um solch eine Vergünstigung nachsucht?

Pfüdi: Ich habe ja nur gefragt.

Spindler: Gehen wir denn unseres Weges! You that way; we, this way.

Pfüdi: Da geht er schon weiter, das unschuldige landsmännische Gemüt. Und wenn mich das Gespräch als solches auch nicht erbaut hat, so hat mir des Landsmanns Art doch sehr gut getan (singt beim Weitergehen)

O du, mein liebes, glänzendes Bern,

du Stadt meiner Kindheit, mir lang schon so fern!

Und doch, noch immer, wenn die Sonne sich hebt

und die grünenden Matten neu strahlend belebt,

wenn die Glocken der Tiere läuten hinauf

und der Kuhhirt singt seine Lieder im Lauf,

steig ich mit ihnen die Berge empor,

bis zu der Wolken erhabenem Chor.

 

Wie schön ists dort droben, aus luftigen Höhn,

Vom Dachstuhl der Welt nach den Häusern zu sehn,

und über die Plätze durch Straßen und Gassen

den Blick still weiden und wandern zu lassen.

Wo dich umschlängelnd die Aare hingleitet,

dort jetzt noch sich städtisches Wesen ausbreitet,

und geschäftiger Gang das Tagewerk bestimmt:

bis dass der Himmel die Zeit übernimmt.

 

Ja, wenn der Zeitglockenturm in der Stadt

sein großes Zeichen gegeben hat,

erst leise lockend, dann tönend vertraut,

und alle Glocken einstimmen laut,

dass nun zu Ende die Zeit der Not,

und Zeit ist zum Tisch und zum Abendbrot,

steig ich und eil ich die Berge hinab

und lehn meinen Stab an Mütterlis Stübeli.

6. Szene: Meister

(Beim Turm. Ein alter fensterloser Turm mit einer einzigen festverschlossenen Türe. Nebendran das Prüfungsgebäude. Dann eine Brücke, die dieses Innere über einen Graben mit dem Äußeren verbindet. In der Nähe, im Hintergrund, wieder das Meer.)

Meister: Reißen wir uns zusammen! Verdrängen wir alle Prüfungsmüdigkeit! Besorgen wir mit Anstand, was noch zur Besorgung ansteht, wenn ich mir das Leben hier auch ganz anders vorgestellt habe. Ah, wie träumte mir einst von großen Forschungen. Den Himmel zu erforschen mit den Myriaden von Sternen. Diese Urschrift aus der Hand Gottes, diesen Hochgesang aus seinem Mund! Und nun bin ich da und vergeude mich in sterilen Prüfungen, unternehme nichts anderes mehr, als wie ein altgedienter Lehrer ungezügelte grüne Jüngelchen abzuprüfen, Tag um Tag, ja ich mach mich gar noch selber zum Gespött, indem ich einer Narrenverheißung Glauben schenke, die von einem Freund spricht, den ich mir eben durch den Dienst im Prüfungsamt erwerben könnte. William Shakespeare, so dacht ich, könnt ich für mich zurückgewinnen, ihn als meinen Freund mir verdienen, ihn zum Leben erwecken. Und nun hab ich nichts anderes getan, als mich im Dienst des Prüfungsamtes abzurackern und auf ein Wunder zu warten, während meine Talente endgültig vor die Hunde gegangen sind! Was für ein Wechsel von jenem Leben, das ich früher einmal geführt habe, zu diesem elenden Leben! Dabei hab ich mir den Übergang stets als einen kontinuierlichen Übergang und Aufgang vorgestellt, wie über eine hohe Brücke zum Höchsten hinauf schreitend. Schließlich bewahren wir ja doch das Beste, und also ist es auch das Beste, was uns bewahrt; so dachte ich. Und hab ichs nicht selbst an meinem Faust deutlich gemacht, mit Beginn des zweiten Teils? Und haben nicht alle die großen Dramatiker des Abendlands zu zeigen versucht, dass der Tod nichts ist als ein Gespenst für schwache Gemüter, die es versäumt haben, etwas mit ihren Talenten anzufangen? Mag mir vorwerfen, wer Grund- zu haben glaubt, dass ich mich jemals in den Gruben der Unbedeutendheit eingenistet und aufgehalten habe. Wenn ich auch nur auf meine Weise fromm war, so hab ich doch stets aus dem Geist jenes standhaften Prinzen gelebt, den uns der spanische Dichter Calderon vor Augen gestellt hat, nämlich das Leben zu bestehen, um es nach dem Leben in einem noch höheren und größeren Ausmaß fortzusetzen. Der standhafte Prinz stirbt als Märtyrer für Glauben und Nation; aber statt dass er sein Leben verliert, gewinnt er es neu und in herrlicher Glorie. Die spanischen Heere, die bislang so erfolglos gewesen, erstehen unter seiner Führung; ja sie besiegen nun den Feind, weil sie ein göttlicher Held anführt! Stets stand ich voller Bewunderung diesem Schauspiel gegenüber, weil es auch mich im Bewusstsein stärkte, der Vernichtung des Todes zu entgehen!

Groß sein, was ist das? Sagt es mir, ihr Großen, wenn ihr es wisst! Sag es mir Alexander, sag es mir Caesar, sag es mir Napoleon, ja, Napoleon. Ich hielt ihn nicht nur für groß, ich war von seiner Größe überzeugt. Damals, beim Erfurter Fürstentag, als mich der Kaiser bei seinem Frühstück mit dabei zu sein würdigte. Und dann, was geschah dann? Lasst uns sehen, was die Nachwelt darüber zu sagen weiß.

(Er liest aus einem Buch)

Hässlich, als er aus seinem Schlaf erwachte und um sich sah. Aus war es mit seiner Herrschaft, aus mit der Macht, aus mit dem gewaltigen Wort. Nach St. Helena hatte man ihn gebracht und eingesperrt, weit genug entfernt von Frankreich, dass er es sich nicht noch einmal einfallen ließe, nach Paris zurückzukehren. Da saß er nun also auf seines Bettes Rand, erwacht und desillusioniert, aus der Wirklichkeit herausgeschleudert, als wäre sie nur ein Traum gewesen, sein Gehirn zu narren. Keiner nahm jetzt mehr Rücksicht auf ihn, den Kaiser. Selbst die Ratten hatten sich Soldatenstiefel angezogen und polterten über die Diele. Es wunderte ihn, dass er überhaupt noch lebte. Wie, oder lebte er gar nicht mehr? Träumte ihm nur, er würde noch leben, und befand sich bereits in einer anderen Welt? Er schaute sich um. Ihn fror. Ah, da sah er ja wieder zwei von diesen, seinen Bewachern. Bis an die Zähne bewaffnet, als hätten sie Angst vor einem Gespenst. Und hatte er sie nicht noch vor dem Einschlafen, dieser so schweren Prozedur, gehört, sie wollten ihn endlich loswerden, und sei es mit einer Prise eines das Leben ausschleichenden Gifts?

(Er beendet die Lektüre und redet frei weiter).

Wie anders war da die holde Ludovica aus dem Leben gegangen! Ohne einen Schrei der Schmerzen, ohne einen Laut der Klage! Lautlos gingst du in den Orkus hinab!

Doch sieh! Man kommt! Jetzt heißt es gleich wieder: Exzellenz, hier bringen wir Ihnen den nächsten Prüfling!

(Kum Baba und Uttnah bringen den Strandler wie einen Missetäter herbei)

Ah, wie ich die verfluchte Prüferei hasse. Mag sich doch selber überprüfen, wer Lust dazu hat. Und wer zu faul dazu ist oder zufrieden mit seiner Erbärmlichkeit: mag er faul und erbärmlich bleiben - was geht das mich an? Doch genug ist jetzt gemeutert, Meister! Jetzt bemeistere dich und sei still!

7. Szene: Strandler wird zur Prüfung gebracht

Kum Baba: Exzellenz, hier bringen wir Ihnen den nächsten Prüfling!

Meister: Und den soll ich noch abprüfen?

Kum Baba: Jeder von uns hat zu tun, was die Gesetze der Insel von ihm verlangen.

Meister: Nachdem wir uns entschlossen haben, die Insel zu verlassen, unterstehen wir nur noch ganz bedingt diesen Gesetzen. Überhaupt waren doch Sie es, meine Herren, die mir bei meiner Ankunft den Floh der Verheißung ins Ohr gesetzt haben.

Entweder wirst deinen Freund du finden

Oder die Insel wird dir verschwinden.

Sind wir nun nicht schon so weit, dass wir uns für das Verschwinden der Insel entschieden haben?

Kum Baba: Noch ist es nicht so weit.

Meister: Aber Sie hatten eigens für mich diesen Spruch parat, als ich auf die Insel kam, weil sie wussten, dass man es auf dieser öden und unwirtlichen Insel nicht aushalten kann ohne das süße Gift einer Verheißung. Oder warum haben Sie mir nicht gleich frank und frei gesagt, dass nichts hinter dieser Insel steckt? Nur damit ich mich besser an die Umstände gewöhnte und einlebte? Ich klage Sie an!

Uttnah: Die Verheißung ist keine Erfindung von uns und sie ist auch nicht falsch; sie kann sich noch jederzeit erfüllen.

Meister: Sie wird sich erfüllen, mein Herr; das weiß ich; aber sie wird sich nur deshalb erfüllen, weil sie sich niemals und auf keine Weise nicht erfüllen kann. Solche Verheißungen aber, die eintreffen, was immer auch geschieht, sind wertlos.

Uttnah: Wir haben nicht für die Verheißung gerade zu stehen, nur für ihre wortwörtliche und unverfälschte Übermittlung.

Meister: Ich weiß. Ich weiß. Und doch bin ich jetzt auch nicht mehr weit entfernt von jenen Euripideischen Jammerhelden, die auch nicht vor Göttersprüchen Halt gemacht und die die Frage erhoben haben, ob nicht der Gott lügt.

Uttnah: Für ein wunderbares Walten ist es nie zu spät.

Meister: Dabei habe ich alles getan. Oder war in jener Verheißung nicht von einem letzten Prüfling die Rede, der aus dem Fährboot gestoßen werden muss. Ist der Herr da aus dem Zubringerboot gestoßen worden?

Vinz: Fragen Sie mich?

Kum Baba: Es ist der Vorletzte, den wir an Land gebracht haben.

Meister: Zum Teufel auch. Dann kann er auch mein William nicht sein und wenn ich die tausendfache Verwandlungskunst des Apoll besäße.

Uttnah: Was meinen Exzellenz damit?

Meister: Ja, kann er nicht auf drei zählen. Fände ich in ihm meinen William, wäre das Prüfungsgeschäft zu Ende. Da es aber noch nicht zu Ende ist? Versteht er jetzt?

Strandler: Ich wollte weder bekannt werden, noch berühmt, noch auch abgeprüft. Schon gar nicht aber liegt mir im Sinn, seine Exzellenz zum Narren zu halten.

Meister: Das wäre auch noch schöner!

Strandler: Überhaupt versteh ich nicht, dass es mich just auf diese Insel verschlagen hat.

Meister: Seit ich mich dazu entschlossen habe, nicht mehr zu prüfen, kommen mir nur noch solche Gesellen in den Weg

Uttnah: Ohne Zweifel ist der Mann ein schlichtes Gewächs.

Meister: Und was soll ich mit ihm tun? Mach ich mich nicht lächerlich, wenn ich abermals den Versuch wage, einen Freund wie meinen William aus seinem Fleisch zu locken? Oder darf ich mir wenigstens Hoffnung machen, etwas zu hören, was mich erfreut?

Uttnah: Wir haben Herrn Strandler schon klar gemacht, dass Exzellenz nicht mehr von pfauenhaft eitlen Autoren mit Familiensagas und Adels- und Kaufmannsgeschichten oder von Revoluzzern mit ihren Agitationen behelligt zu werden wünscht, noch auch von Stückeschreibern, die mit einem neuen Faust oder einem dritten Teil anrücken.

Uttnah: Desgleichen, falls er Erzählungen oder Romane dabei hat, wo er sich als Erzähler stets als sein eigener Narr und Hans Wurst ins Wort fällt, im Sack zu lassen. Desgleichen alle Romane, wo er den Zuhörer durch endlose Digressionen an Kommentaren und eingeschobenen Extrabeilagen ermüdet.

Kum Baba: Schließlich ist Exzellenz kein Literaturkritiker, der sich wie eine Bestie im Käfig auf alles stürzt, was man ihr zum Zerreißen und Verbeißen vorsetzt.

Uttnah: Wir haben ihm auch gesagt, dass es niemals die vornehmste Aufgabe der Literatur sein kann, sich in die Händel der Welt einzulassen, weder als Gerichtsreporter noch als Historiker noch gar als parteiischer Parteigenosse.

Wer etwas Besonderes erlebt hat, sei es etwas Schönes oder Hässliches, etwas Angenehmes oder Schmerzhaftes, und jemanden sucht, dem er es in angenehmer Erzählweise mitteilen kann, der ist hier recht am Platz.

Kum Baba: Sehnt er sich aber wieder nach der Zeit, wo die Schrift-Zeichen ausschließlich zum Zählen Verwendung gefunden haben, zum Zählen von Getreidesäcken, Öl- und Bier- und Weinfässern und vor allem zum Zählen der Geldsäcke, so mach er, dass er davon kommt, ehe er erkennen muss, dass er vor seiner Exzellenz steht, Wilhelm Meister von Hochberg, Nationalschriftsteller von Deutschland.

Meister: Meine Herren! Sie können jetzt gehen. Vergessen Sie aber nicht, mich zu benachrichtigen, sobald die Arche fertig gestellt ist! Jede Minute hier ist mir eine Qual.

(Uttnah und Kum Baba gehen)

8. Szene: Beginn der Prüfung des Strandler

Meister: (indem er den Strandler in die Bibliothek führt) Nun also zu ihm! Wie war noch einmal sein werter Name?

Vinz: Vinz Strandler.

Meister: Er ist Vinz Strandler und heißt Vinz Strandler?

Vinz: Jawohl, der bin ich und so heiße ich.

Meister: Und was sagt er zu dieser Bibliothek?

Vinz: Was soll ich dazu sagen?

Meister: Die Giganten des Geistes schauen auf ihn. Merkt er das nicht?

Strandler: Auch zu Hause hatten wir ein Zimmer mit einer kleinen Bibliothek. Mein Vater war sehr stolz auf sie. Auch meine Liebe zu den Büchern wie auch zum Bücherschreiben rührt wohl von damals her. Und wenn diese Liebe aber auch noch immer ungeschmälert Bestand hat, so denke ich doch sehr oft, wenn ich eine große Bibliothek betrete, mit wie viel Hoffnungen und Siegesjubel viele dieser Bücher begonnen worden und wie wenige davon noch nach 50 oder 100 Jahren zum Bejubeln anstehen.

Meister: Gleichwohl entschied er sich zum Schreiben und ernährte sich davon?

Vinz: Ich ernährte mich nicht vom Schreiben. Ich war Lehrer.

Meister: So schrieb er sich ein Zubrot zum zweifellos dürftigen Lehrersalär?

Vinz: Ich schrieb mir auch kein Zubrot.

Meister: Dann red er endlich! Ich bin kein Therapeut, der ihm die Würmer aus der Nase zieht. Was hat er gemacht? Worüber hat er nachgedacht und was hat er aufgeschrieben? Wo hat er etwas Vollkommenes zu Wege gebracht, das verdient, auch noch in 100 Jahren bejubelt zu werden? Außer Prüfungen abzunehmen und Zeugnishefte zu schreiben hat er doch noch etwas getan; sonst wär er nicht hier!

Vinz: Ich wollte nur Lehrer sein. Und wenn ich einmal ein wenig über Literatur mit einem unserer Experten an der Schule plauderte, ließ ich mir mild über die Schulter schauen. Ich habe nie den Drang gehabt, jemandem meine Meinung aufzuzwingen.

Meister: Doch genug präludiert, genug der retardierenden Momente! Erzähl er mir etwas aus seinem Leben, vornehmlich mit Blick auf sein späteres literarisches Schaffen. Wann und wo und wie merkte er, dass er zum Schreiben berufen war?

Vinz: Wenn Exzellenz sich dafür interessiert, wann und wo und wie ich auf mein Talent im Schreiben aufmerksam geworden, so muss ich bemerken, dass ich zwar stets darauf wartete, dass es sich indessen nie hat zeigen wollen. Ich war ja selber stets enttäuscht, wie unbeholfen und schwerfällig meine Sätze daherkamen, wie kunstlos und trocken meine Sprache, wie stupide und langweilig der Satzbau, wie eng begrenzt der Wortschatz, wie ungeschult der Ausdruck, mit einem Wort, wie unübersehbar für jeden Kenner, dass nicht das mindeste Talent vorhanden war. Wenn sich Exzellenz aber dafür interessiert, wie sich mir einmal die Frage stellte nach einem Leben als Schriftsteller, so kann ich dazu etwas sagen.

Meister: Erzähl er! Ich höre ihm zu. Nicht weil er mich neugierig gemacht hätte, nur weil ich eben noch etwas Zeit habe. Wenn er aber gut und spannend erzählt, so kann ich zumindest sagen, dass er sich passabel und wacker geschlagen hat.

Vinz: Das war damals, als ich das elterliche Haus verließ und in die Welt hinauszog. Gern hätte ich es wohl so gehabt, wie wir es im Märchen lesen, dass der Vater eines Tages zu mir gesagt hätte: ?Der Frühling steht vor der Tür. Länger dich zu ernähren vermag ich nicht. Sieh zu, dass du in die Welt hinaus kommst und dir selber dein Brot verdienst.? Doch so war es nicht. Alles kam viel zu schnell, als dass ich mich darauf hätte vorbereiten können. - An jenem Tag hatte ich, als ich mich des Morgens aus dem Bett hob, noch nicht die geringste Ahnung davon, was am Ende des Tages auf mich wartete. So aber trug sich alles zu! Mein Vater war nur ein kleiner Beamter. In seine jugendlichen Träume war der Krieg dazwischen gekommen und hatte ihm ein Gewehr in die Hand gedrückt und ihn so verhindert, dass er Zeit gehabt hätte, etwas aus sich zu machen. Und als der Krieg vorbei war, da war keine Zeit mehr für eine längere Ausbildung. Eine Frau und zwei Kinder warteten auf ihn zu Hause und wollten umsorgt und verköstigt sein. Und so hatte er sich entschlossen, als gehobener Beamter, d.h. als Beamter in der zweiten Reihe zu dienen. Doch es war ein schwer verdienter Sold, den er jeden Monat nach Hause brachte. Denn wenn er anfangs noch hoffte, auch als Autodidakt reüssieren zu können, so wurde er alsbald eines Besseren belehrt. Von neuen Ideen der Registratur und ähnlichen Dingen, wie sie dann bald schon mit der Einführung des Computers Wirklichkeit geworden, wie überhaupt von der Frische und Gewecktheit seines Geistes wünschten sich seine Vorgesetzten keine Zeugnisse. Sie wollten nur, dass er tat, was sie von ihm verlangten, und das waren oft Tätigkeiten, die insofern deprimierten und demütigten, als sie kein Nachdenken verlangten. Sich da hineinzufügen fiel dem Vater nicht leicht. Zum Glück war ihm von den Eltern ein Erbe zugefallen, mit welchem er sich bald schon nach dem Krieg ein kleines Haus zu erbauen vermochte. Da nun, am Rand der Stadt, wollte er wohnen, da ungestört zu Hause sein, da auch alt werden und vergessen, dass ihm in anderen Zeitläuften ein besseres Leben zu führen hätte vergönnt sein können. Anfangs nun ging auch noch alles ganz gut, als die Mutter noch jung war und es nicht darauf ankam, ob man zwei oder fünf Kinder um sich herum hatte. Als aber diese Zeit und mit ihr der Schwung und die Zuversicht der Jugend dem Ende zugingen und den Jahren des Alters Platz machten, zogen immer mehr Wolken über dem Haus auf. Die letzten Freunde des Hauses hatten sich verabschiedet, die letzten Verwandten und Bekannten, wenn sie nicht in der Zwischenzeit verstorben waren, hatten längst ihre eigenen Wege eingeschlagen. Vaters sehr bitter gewordene Lebensbetrachtungen waren ja wahrlich auch keine Einladung, uns zu besuchen. Gewiss war die Mutter noch da, und sie tat auch alles, soweit es nur ging, dem Vater zur Seite zu stehen und zu Hilfe zu kommen. Da sie aber selber das Leben stets nur mit Mägdediensten und Besorgung von Mutterpflichten verbracht hatte, so war sie unvermögend, das bleierne Gewicht des Vaters abzufangen und ihn für das Leben zurück zu gewinnen. Vielleicht, dass sie abends einmal, statt den öden Fernseher einzuschalten und sich davor zu setzen, ein Kartenspiel spielten. Anregungen für Vaters müde gewordenen Geist waren das freilich nicht. Und freilich war auch der sonntägliche Kirchgang, an dem sie noch immer festhielten, für seinen auf sich gestellten, vernachlässigten, hungrigen Geist zu wenig. Stets nur von der sonntäglichen Predigt gespeist zu werden, selbst wenn sie mit Fleiß und Verstand vorgetragen wurde, das ernährte auf die Dauer zu wenig.

In dieser Zeit nun war ich selber bereits so groß geworden, dass ich hinaus in die Welt hätte gehen können. Die Schulen lagen hinter mir, die Welt mit ihren Angeboten vor mir und nur um des häuslichen Friedens willen und damit Vater nicht allein sei, hatte ich mich noch immer zu keinem festen Schritt entschlossen.

Meister: Zu lange zu Hause zu bleiben ist nicht gut.

Strandler: Eines Tages, es war ein Sonntag zu Beginn des Frühlings, sollte alles ganz anders kommen. Es war der erste Sonntag im Jahr, an dem man von der eisigen Winterkälte nichts mehr spürte. Wenn auch noch da und dort Schneereste am Wegrand lagen, so war es doch plötzlich so warm geworden, dass alle Welt schon am Morgen nach draußen drängte. Auch ich hatte mich zu einem Spaziergang ins Freie begeben. Der Mutter hatte ich gesagt, dass ich spätestens beim 12Uhr-Glockenläuten wieder zuhause wäre. In der Tat war ich ganz in meine Gedanken versunken den Strom entlang gegen die Berge zu ausgeschritten, dass ich mich beeilen musste, als ich merkte, wie spät es inzwischen geworden war. Die Mittagsglocken waren eben verklungen, als ich, ziemlich außer Atem, durchs Gartentor das elterliche Anwesen betrat. Es hätte mich nicht gewundert, man hätte mich am Gartentor abgepasst und mich ob des Zuspätkommens gerügt und gescholten und selbst, als ich auf das Haus zutrat und bereits die Mutter sah, wie sie eben dabei war, den Mittagstisch draußen auf der Veranda zu decken, schien mir die Gefahr noch keineswegs gebannt. Hocherstaunt ob des ungewohnten Bildes eilte ich auf sie zu und begrüßte sie und sie gab mir den Gruß in freudiger Stimmung zurück. Sie habe den Vater gefragt, sagte sie mir, indem sie sich in kindlicher Fröhlichkeit in ihrem grünen Frühlingskleid wiegte, ob sie nicht bei dem schönen Wetter draußen das Mittagsmahl einnehmen könnten; der Vater aber habe nichts dagegen gehabt. Wenn sie schon der kleinen Geschwister wegen zu Hause bleiben müssten, so könnten sie zumindest so den beginnenden Frühling gebührend begrüßen. Von angespannter Eile war bei ihr bei weitem nichts zu bemerken. Auf meine Frage, ob ich ihr behilflich sein könne, teilte sie mir mit, dass sie Vaters Lieblingsgericht zubereitet habe, mit dem sie ihn überraschen wolle; wenn ich darauf Acht gäbe, bis sie noch die übrigen Zubereitungen hinter sich gebracht hätte, könnte es ja nicht schaden.

Nichts war mir lieber, als auf die auf den Tisch gestellten Schüsseln Acht zu geben, d.h. mich daneben zu stellen und mich noch einmal den Gedanken zu überlassen, die mir unterwegs gekommen waren. Was auch sollte Schreckliches geschehen?

Als ich nun so dastand, war das erste, was mir wieder in den Sinn kam, ein Satz, der in der Kirche verlesen worden war und der vom Ende der Welt gehandelt hatte. Diesen Satz, dass nämlich in jener Zeit die Kräfte des Himmels erschlafften, hatte ich den Satz der Griechen entgegen gehalten, dass Gott Geometrie treibe, die dann keinen Bestand mehr haben könne. Und dann hatte sich mir ganz zwanglos eines zum anderen gesellt. Wie zum Spaß war mir der Satz gekommen, dass der Schöpfergott in der Neuzeit sich entschlossen haben könnte, Physik zu treiben. Und dann hatte sich in mir ein Widerspruch zu Wort gemeldet; dass nämlich, wenn alle Konstanz, insbesondere die Konstanz der Naturgesetze aus der Unveränderlichkeit und dem ewigen Beharrungsvermögen Gottes hervorginge, kein solcher Weltzusammenbruch am Ende stattfinden könnte, es sei denn, dass es mit Gott selber zu Ende ginge.

Meister:

Das Sein ist ewig; denn Gesetze

Bewahren die lebendgen Schätze,

Aus welchen sich das All geschmückt.

Vinz: Unterdessen wurde ich aus meinen Betrachtungen gerissen. Ich weiß nicht mehr, ob ich zuerst die Mutter hörte, wie sie im Haus nach dem Vater und den Kindern rief, oder ob ich zuerst sah, wie in den Schüsseln sich etwas zu regen und zu bewegen begann. Zuerst wollte ich es überhaupt nicht wahrhaben. Ich erinnere mich noch, wie ich meinte, mir habe das Auge gezuckt und wie ich mehrere Male hinsah und das Auge ausprobierte, bis ich wusste, dass es keine Täuschung war. Vaters Lieblingsgericht war nämlich eine gewisse Fischspeise. Und nun glaubte ich, bemerkt zu haben, wie ein Fisch seinen Kopf bewegt hatte. Immer wieder, und das bald schon mit Leichtigkeit, fand ich ihn unter den vielen anderen Fischen heraus. Dabei war es noch nicht einmal einer von den Größten und Kräftigsten. Nur ein kleiner Zufall, dass er nämlich in der Gelatine zu oberst seinen Platz hatte und dass es für ihn nur ein kleiner Sprung zu sein schien, bis er mit dem Kopf die verhasste Decke durchstieße, die sie alle einsperrte, schien ihn auszuzeichnen. Während er nun aber das Maul öffnete und schloss, als ob er nach Wasser schnappte oder auch nach Luft, stieß er zugleich die benachbarten Fische an, die nun ihrerseits damit begannen, das Maul aufzusperren und wieder zu schließen. Und wie die Bewegung nach und nach von dem ersten Fisch ausgehend sich nach allen Seiten hin fortsetzte, vielleicht indem sie den Mut erzeugte, zum entscheidenden allgemeinen Stoß anzusetzen, so kam nun die Bewegung wieder zurück, dergestalt, dass es ihm nun mit der rückkehrenden Welle gelang, das Maul durch die Gelatinedecke zu stoßen. Ein kleiner Lichtblitz schoss ihm dabei aus dem Maul, worauf die Fische neben ihm die Decke gleichfalls zu durchstoßen versuchten. Um das Schlimmste zu vermeiden hätte ich nun wohl gern die beiden Schüsseln in die Küche zurückgetragen. Da ich aber den Vater hörte, wie er bereits den Hausflur auf die Haustüre zu schritt, bedachte ich mich eines andern, und ich nahm eine Gabel von den Gedecken zur Hand und stach nach dem Anführer der aufrührerischen Fische. Mit einem solchen kurzen Prozess die Ruhe wieder herzustellen, schlug indessen gründlich fehl. Statt diesen und mit ihm alle die Rebellen in den früheren Zustand der Todesstarre zurück zu zwingen, bäumten sie sich nun noch mehr auf; und wo zuvor nur erst ein Flämmchen erschienen war, kamen jetzt von überall her Stichflammen zum Vorschein, dass die gesamte Schüssel lichterloh zu brennen schien. Zum Glück hatte ich etwas Papier bei mir; das nahm ich nun, zerriss es in Schnipfel und warf sie in die aufgesperrten Rachen. Den erwünschten Erfolg erreichte ich allerdings auch damit nicht. Nur noch wilder fuhren die Bestien auf, so dass alsbald nicht nur die Schüsseln, sondern auch der gesamte Tisch von Asche und verbranntem Papier überstreut war. Dass dann der Anblick für den ankommenden Vater keine Freude war, versteht sich von selbst. Voll Gram, als ob der Weltbrand bereits ausgebrochen wäre, sehe ich ihn noch dastehen, ehe er sich bei der Mutter für das herrliche Essen bedankte und sich auf sein Zimmer zurückzog. Noch am selben Tag war ich von zu Hause aufgebrochen und fortgegangen.

Meister: Was für ein verrückter, diffuser Beginn! Und doch erinnert sie mich an eine Art moderner Berufungsgeschichte. Auch die Geschichte des Samuel und viele andere Geschichten begannen ja recht dunkel, gleichsam inmitten einer Notzeit. Doch wie ging dann sein Roman weiter? Was hat er da aufgeschrieben?

Vinz: Ich habe keinen Roman aufgeschrieben, wiewohl ich durchaus noch einiges erlebt habe, was des Erzählens wert wäre.

Meister: Und warum hat er das nicht getan? Traute er es sich nicht zu? Oder hatte er Hemmungen, vor anderen Leuten Intimitäten zu erzählen?

Vinz: Entweder ich hätte einen Roman geschrieben, der mit einer herrlichen Hochzeit geendet hätte, mit dem netten Satz: und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch; oder aber ich hätte mich an einem Roman versucht, der im Ungewissen endet. Was das erste Projekt angeht, so ist es zu keiner Märchenhochzeit gekommen, so dass man sie hätte erfinden müssen, was ich aber nicht für passend hielt. Was aber die zweite Version angeht, so stand ich ja noch mitten im Leben. Gleichwohl faszinierte mich dieses zweite Thema durchaus. Oder ist es nicht so, dass man sich immer einmal wieder verzeiht, wenn man an einem Tag sich zwar Mühe gegeben, und doch nicht zum Erfolg gekommen? Ja, dass man sich auch eine längere Zeit des Suchens und unfruchtbaren Umherschweifens gestattet? Wie aber, wenn man ans Ende des Lebens gelangt und dann feststellt, dass man alles getan und dass man sich abgearbeitet hat, ohne sich ein Verschnaufen zu gönnen und doch ist alles umsonst gewesen?

Meister: Da war ihm lieber, gleich mit gar nichts anzufangen, um sich später auch nicht beklagen zu müssen? Das wäre ja noch schöner, wenn sich endlich nur noch der Mensch glücklich preisen dürfte, der sich durch absolutes Nichtstun und Schmarotzen auszeichnet!

Vinz: Ich dachte einmal, das war noch in meiner Jugend, an das große Lied, das noch keiner gesungen, das alles erweckende große Lied des ersten Schöpfungstages.

Meister: Warum soll sich der Mensch, zumal in der Jugend, nicht prächtig begeistern und mächtig bemühen? Und wenn da zwei Menschen, ein junger Mann und eine junge Frau sich in diesem Geist zusammen gesellen, so lässt sich nichts Besseres erdenken zur Vorbereitung auf eine hohe Zeit.

Vinz: Ja damals, als wir, meine Braut und ich, noch an eine Vermittlung des Absoluten glaubten, da träumten wir auch über der wahren und eigentlichen Aufgabe des Dichters. Schon in der Genesis schien uns das ewige Leben des ersten Elternpaares mehr als nur das Leben der Gattung. Alsbald schon fanden wir zu der Vermutung, dass hier die Rede von einem anfänglichen Weltzustand war, bis dann derselbe durch die Flut und nach der Flut anders bestimmt wurde. Zu jenem anfänglichen Weltzustand führte uns auch die Lektüre der Euripideischen Alkestis, als noch Asklepios und seine Söhne erfolgreich gegen den Tod kämpften, ehe sie Zeus mit seinem Blitz erschlug. Schon die Lieder auf den Tafeln des Orpheus reichten dann aber nicht mehr sehr weit. Die Macht des Sagens nahm ab und schwand dahin. Und wenn wir dann dagegenhielten, dass die Sirenen oder ein begnadeter Sänger wie Demodokos nichts anderes mehr vermochten, als durch die Vermittlung der Musen Einzelheiten wie Schlachtengemetzel oder Weibergeschichten aus dem trojanischen Krieg herzusagen, als wäre er mit dabei gewesen, so standen wir da und waren ratlos. Und wir fragten uns, ob ein Gott deutlicher seine Ungöttlichkeit bekunden könne, als wenn er sich hergibt, Klatsch und Tratsch aus der Welt der Menschen hinüber und herüber zu tragen.

Meister: Herrliche Zeit der Jugend, herrliche Zeit der Träume!

Vinz: Ja, damals träumten wir noch von einem lebenspendenden, aus dem Tod erweckenden Lied; und alles Dichten und Schreiben kam uns nur vor wie unmündiges Stammeln und Kritzeln.

Meister: Der Mensch muss sich zufrieden geben mit dem, was er erreichen kann. Zumal ein Schriftsteller muss das Machbare im Auge behalten; und er darf dabei auch nicht vergessen, dass man sich bescheiden muss beim Dichten, sowohl im sanften Umschreiben des Unbeschreibbaren als auch in seinen Ansprüchen. Die Kunst ist nicht dazu da, dass wir sie als Messer gebrauchen, es uns in den Leib zu stoßen. - Doch ihm muss ich das ja gar nicht sagen; denn er ging dann in die Schule und ließ die hohe Kunst und die Geschichte der Fische auf sich beruhen.

Vinz: Ich ließ sie nicht auf sich beruhen. Von zu Hause ging ich weg mit einem schlechten Gewissen. Und wenn ich an mein Leben zurückdenke, so bin ich stets ein Versager geblieben, auch wenn ich mir nicht immer erlaubte, mir das einzugestehen und ich mich nie damit zufrieden gab.

Meister: Kann man ein Lehrer sein und zu den Versagern gehören?

Vinz: Vielleicht hat mich ein Gott davor bewahrt, den Roman des Versagers zu schreiben. Gelebt aber hab ich ihn wohl. Denn alles, was ich in Angriff genommen habe, scheint nur dazu da gewesen zu sein, um gegen mich auszusagen. Die Wahrheit über mich aber ist, dass ich, um brauchbar zu werden, die beständige Begegnung mit meiner Unbrauchbarkeit brauchte. Die Wahrheit über den Stoff aber, die mich zur Wahrheit über mich führen soll, diese Wahrheit ist die, dass sich das Werk immer weiter und weiter erstreckt, je weiter ich voran komme im Schreiben. Und so läge und bliebe denn die Wahrheit meiner Vervollkommnung unabdingbar gefesselt in der Düsternis meiner Unvollkommenheit. Wenn ich nun aber auch nicht so dreist sein mag, das Bewusstsein eines Versagers in die Voraussetzungen für einen Pädagogen aufzunehmen, so meine ich doch, dass ein Wissen darum die Kommunikation mit den Kleinen erleichtert.

Meister: Das ist wie mit der Zuverlässigkeit, der Treue, der Wahrheitsliebe und den anderen Tugenden auch. Weh dem, der da meint, er habe die Höchstform erreicht. Doch sollte man mit einschränkenden Urteilen über sich noch behutsamer sein. - Hat er sich nie mit jemandem ausgesprochen über diesen seinen Auszug von zu Hause?

Vinz: Mit wem hätte ich mich besprechen sollen?

Meister: Er war immer allein?

Vinz: Als ich von zu Hause wegging, war ich eine Zeitlang allein. Dann aber habe ich in meiner Braut meine Mutter wiedergefunden. Sie für mich zu gewinnen war zwar ein schweres Stück Arbeit, zumal gegen Widerstände in ihrer Familie; aber es ist mir gelungen und dann ist sie auch immer meine liebe Frau geblieben.

Meister: Nun bin ich zwar kein Psychologe oder ein alleswissender Therapeut. Gleichwohl liegt es schon aufgrund des gesunden Menschenverstandes nahe, das Schicksal jener Fische im Zusammenhang mit seinem Verhältnis zu Vater und Mutter zu sehen, die ja in seiner Geschichte am Anfang und am Schluss vorkommen.

Vinz: Exzellenz macht mich gespannt.

Meister: Herauszukommen aus der Gelatine, aus der Schüssel, aus der Veranda, aus der brüchig gewordenen Welt - das war das Bestreben der zu Tod gekommenen Fische, auch wenn sie das neue Reich nicht fanden und sie ihren endgültigen Untergang dadurch nur beschleunigten. Soweit ich die Kultur überblicke, hat der Mensch schon immer im Fisch ein besonderes, von Geheimnissen umwittertes Wesen gesehen. Da er ja nirgends sonst als im Wasser zu leben vermag, erschien er ihm einerseits als ein Wesen, welches zu ewiger Gefangenschaft verurteilt war. Da es aber andererseits sich in einem Medium aufhalten konnte, das für den Menschen schlechthin lebensfeindlich war, galt er ihm auch als das Wesen, das auch im Bereich des Todes zu leben vermochte. In der Idee des heilsträchtigen Fisches dann verbanden sich dem Menschen die beiden einander unversöhnlich gegenüberstehenden Bereiche zu einer neuen Einheit; und er entdeckte das Wesen, das sich im Bereich des Todes und des Lebens aufzuhalten vermochte. Wie uns viele Fischpriesterschaften bezeugen, glaubte schon der Mensch in frühester Zeit an die Möglichkeit eines solchen Wesens. Seit Alters sprach er ihm die Macht zu, aus dem Wasser aufzusteigen und an Land zu gehen und sich in die Luft zu erheben bis zum höchsten Himmel, um dann wieder ins Wasser zurückzukehren, und damit auch die Macht, verloren gegangenes Leben neu wieder zu gewinnen und zu erwecken. Hier indessen war dieses Wesen nicht zum Vorschein gekommen; im Vorversuch bereits war es gescheitert; mag sein, dass es unter anderen Umständen sich auch hier hätte offenbaren können. Die Fische auf der Veranda jedenfalls verkörperten es nicht. Von ihnen gingen nur der Rauch und Feuerchen aus.

Vinz: Wir wissen ja zwar auch, dass viele Fischarten, nachdem sie die Weiten des Ozeans durchquert haben, wieder an die alten Laichplätze zurückkehren, von wo sie einmal aufgebrochen. Dass es aber die Fische auf der Veranda nicht schafften, sich aus dem Bereich des Todes zu befreien, hängt wohl auch mit des Vaters Unglaube zusammen. Das Leben hatte ihn dahin gebracht, dass er nicht mehr an die Gemeinschaft der Heiligen glaubte und damit verbunden auch nicht mehr an die Auferstehung der Toten. Das beengte und bedrängte auch die Mutter. Damals erkannte ich jedenfalls, dass mir ein Weggang bevorstand, ein gewaltsames Mich-frei-machen, ein Weg-bahnen, ähnlich wie es auch die Fische versucht hatten.

Meister: Und dann lief er hinaus in die Welt, studierte und strandete als Lehrer in einer Schule?

Vinz: Oftmals, wenn ich an das Elternhaus zurückdachte, war mir, als läge es Jahrhunderte weit hinter mir. Und da ich die Zeit gut genutzt und für das Lehreramt studiert und nun wohl auch etwas Glück hatte, erhielt ich einen Platz als Lehrer an einer Schule. Wenn es auch nur eine halbe Stelle war und mit vielen Auflagen verbunden, so gelang mir doch, Fuß zu fassen. Ich tat, was man mir als Aufgabe zuwies und tat alles, dass auch die Kollegen um mich herum mit mir zufrieden waren. Auf diese Weise glaubte ich am leichtesten, den für mich nötigen Freiraum zu erlangen.

Meister: Aber zum großen Schreiben fand er nicht?

Vinz: Hin und wieder träumte mir noch davon. Doch waren es stets bedrückende Träume, die mir ein unsagbares Unvermögen ins Bewusstsein riefen.

9. Szene: Die Ausräumung der Bibliothek hier und in der Schule

(Uttnah Pischtim und Kum Baba kommen hereingeeilt)

Uttnah Pischtim und Kum Baba: Haben Exzellenz gerufen.

Meister: Ich habe nicht gerufen. Doch ist gut, dass Sie kommen. Darf ich wissen, bis wann unser Schiff fertig ist?

Uttnah Pischtim: Das muss jeden Augenblick so weit sein.

Meister: Das heißt aber, dass es noch immer nicht so weit ist.

Kum Baba: In spätestens einer Stunde wird das der Fall sein.

Uttnah Pischtim: Wenn aber schon die Rede davon ist, so möge sich Exzellenz nicht erregen, wenn nicht alles so geworden ist, wie Sie es sich gewünscht haben und wenn wir jetzt mit einer Bitte an Sie herantreten.

Meister: Heraus jetzt mit der Sprache!

Kum Baba: In der Kürze der Zeit war es uns unmöglich, ein so komplexes Gebilde wie eine Arche aus dem Boden zu stampfen. Sie musste m.a.W. etwas kleiner gebaut werden, als wir es uns vorgestellt hatten, so dass nur etwa die Hälfte der vorgesehenen Bücher darin Platz finden.

Meister: Das heißt, dass ich nochmals eine Sichtung der Bücher vorzunehmen habe?

Uttnah: Wir könnten einen Micro-ship anfertigen; auf dem hätte dann alle Literatur Platz und noch zehnmal so viel.

Meister: Ich habe schon einmal gesagt, dass ich keinen Micro-baustein wünsche. Das Große hat ein Recht als Großes in Erscheinung zu treten. Es muss sich nicht mit Kleinem zusammen in einem Micro-ship verstecken.

Vinz: Dann kann ich jetzt ja gehen.

Meister: Bleib er! Er wird zwar verstehen, dass ich ihn nicht in die Arche mitnehme; gleichwohl bin ich aufgeschlossen für jeden Tipp, welche Bücher mit mir die Fahrt antreten, zumal im Blick auf die Schuljugend.

Sie aber meine Herren, Sie können wieder gehen! Und sorgen Sie dafür, dass wir in einer Stunde losfahren können! (Kum Baba und Uttnah ab)

Meister: Also alles nochmals von vorn. Aber wir machen es jetzt anders. Wir beginnen mit den uns teuersten und liebsten Büchern, die unbedingt mit müssen! Und erweitern dann nach und nach den Kreis. Da sind zuerst einmal die Bücher der Klassik, und zwar in der wundervollen 24 bändigen Hamburger Ausgabe. Die kommen auf jeden Fall in dieser Pracht und Fülle mit. Eigentlich sollte da auch noch ein Registerband dabei sein und die Briefe und die Gespräche mit Eckermann, um nur das Allerwichtigste zu nennen. Doch darüber reden wir später. - Neben den Grundbestand der deutschen Klassik stellen wir dann meinen Freund William. Ich denke da an das komplette Werk in einem Band. Wenn ich auch das Englisch viel schlechter beherrsche als das Lateinische und das Italienische, so kann ich den William doch ziemlich auswendig auf Deutsch, so dass ich keine Mühe habe, meine englischen Defizite zu überspielen.

(während er Bände sich vornimmt und überprüft) Nur gut, dass Sie kein großer Schriftsteller geworden sind. Wär er ein großer Schriftsteller geworden mit Romanen und Theaterstücken und wohl auch mit einem bedeutenden Tage- und Arbeitsbuch, so müssten wir nun auch ihn bitten, auf einen Teil seines Werks zu verzichten. Nach meiner Lebenszeit hat Deutschland allerdings nicht mehr viel Bedeutendes gezeitigt.

Vinz: Man hat sich in vielem erprobt, zu vielem vor allem aber hinreißen und missbrauchen lassen.

Meister: Bei ihm aber war es vor allem der mangelnde Ehrgeiz, auf dessen Flügeln er hätte zu anderen Ufern fliegen können.

Vinz: Ein Streber war ich, wie ich schon sagte, nie, weder in der Öffentlichkeit noch insgeheim.

Meister: Selbst in der Schule war er mit dem zweiten oder dritten Platz zufrieden?

Vinz: (nickt Zustimmung)

Meister: Es gibt viele, die zufrieden sind, wenn man ihnen nur pünktlich das Monatsgehalt auszahlt.

Vinz: Ich war zufrieden, wo immer man mich zum Unterrichten hinstellte.

Meister: Das waren dann wohl die verachteten Anfängerklassen?

Vinz: Die Mittelstufe, vor allem aber die Oberstufe habe ich stets den Kollegen überlassen, die sich für begabter hielten. Vielleicht darf ich hinzufügen, dass es mir nicht schwer fiel, mich klein zu machen, was ich freilich noch nie als eine besondere und bewundernswerte Tugend angesehen habe. Ich sagte mir aber, dass es keine geringe Aufgabe sei, den Kleinen die Freude an der Sprache und an den Meisterwerken der Sprache beizubringen.

Meister: Immerhin! Und doch! Wer sich nie den Mühen des Schreibens unterzogen hat, wer nie unter dem Schreiben gelitten hat, wer nie sein Schreiben der Öffentlichkeit zur Lektüre übereicht hat - was hat der hier zu suchen?

Vinz: Wie ich schon gesagt habe, liegt das nicht an mir. (er will gehen)

Meister: So bleib er doch! Die Schule kann man nicht wichtig genug nehmen. - Etwas wird er ja geschrieben haben, und wenn auch nur für seine Kleinen.

Vinz: Das allerdings. Nie habe ich einen Aufsatz schreiben lassen, ohne selbst eine Bearbeitung von mir hinzuzulegen.

Meister: Ach ja, war da nicht erst neulich einer da, mit Kochers Aufsätzen? Vielleicht hat auch er so etwas publiziert.

Vinz: Publiziert nicht, wohl aber für mich geschrieben. Und ich habe diese Aufsätze auch an die Kinder weitergereicht. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die Eltern diese Aufsätze gesammelt und herausgegeben haben. Nebenbei bemerkt lag das auch gar nicht in meinem Sinn.

Meister: Wenden wir uns nun also der Antike zu, wo uns obliegt, die nächsten Bücher in Kompagnie zur Europäischen Klassik auszusuchen. Hier ist Griechenland! Die beiden Bücher von Homer nehmen wir mit. Die Odyssee schon allein wegen der wunderschönen Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa und die lIias ob des Abschieds zwischen Hektor und Andromache, wenn man auch über den Freiermord und den unmenschlichen Groll des Achilleus geteilter Meinung sein kann. In den beiden letzteren Fällen haben wir es aber mit zeitgeschichtlich bedingten Verhaltensweisen zu tun. - Man pflegt doch noch immer die Lektüre der beiden Bücher an Ihrer Schule?

Vinz: Wenn alles gut geht, kann man auf die Schulanfänger hoffen, mit der Kyklopengeschichte einigen Erfolg zu haben.

Meister: Und dann hätten wir hier noch die griechischen Tragiker. Ja, da muss ich sagen, dass sich bei mir die Reihenfolge inzwischen etwas geändert hat. Wenn ich früher den Euripides mit unter den Tragikern aufgezählt hatte, so vor allem um zu zeigen, dass es neben Aischylos und Sophokles auch noch andere Dramatiker gegeben hat. Euripides war gleichsam nur noch der Zeitgenosse von Athens Macht und Niedergang im Peloponnesischen Krieg, während mit Aischylos das hohe Pathos der Perserkriege lebendig war. Heute sehe ich das objektiver. Bei Euripides wird die Welt des Mythos und das Tragische nicht mehr sichtbar im Widerschein der Befreiungs- und Perserkriege, sondern im Widerschein der Dämonen im Kampf um die Vorherrschaft in der Welt. Aristophanes mag zwar Recht haben, als er in den Fröschen dem Aischylos den Preis vor dem Euripides gab. Denn Aischylos ist zweifellos der größere Patriot. Aber Aischylos ist nur Patriot, während sich Euripides neben seiner Liebe zu Athen vornehmlich auch durch seine Menschenliebe im allgemeinen auszeichnet. Bauern und Sklaven und Frauen demonstrieren bei Euripides das beispielhafte Tun ebenso wie Leute mit großen Namen, während aber auch große Leute wie die Atriden oftmals klein und gemein und jämmerlich und schäbig in Erscheinung treten. Entsprechend steht es auch mit der Bedeutung der Götter. In der Literaturgeschichte wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Euripides an einen Gott geglaubt habe. Doch das ist keine gute Frage. Denn Euripides will nicht als frommes Schaf vermessen, sondern als Phänomenologe gewürdigt werden. Als solcher aber zeigt er die vielfache Gestalt des Dämonischen, zeigt, was für Götter erlebt und verehrt oder auch gehasst werden können, je nachdem, zu was für einem Handeln sich der Mensch entscheidet. Wo aber der Adel der ihm angestammten Aufgabe nicht mehr nachkommt und versagt, verschwinden auch die Götter der Polis. - Nebenbei bemerkt kann auch Aristophanes nicht ernst genommen werden. Wer noch den eigenen Untergang verulkt, weiß nicht, mit Anstand zu sterben. - Am Schluss bleibt dann nur noch der Zufall oder der vielschichtige, vielgesichtige, zu allem fähige Gott wie in den Bakchen, der dann auch Unschuldige mittrifft. Wenn ich früher einmal auch die Bakchen als eines der schönsten Stücke des Dichters bezeichnet habe, dachte ich an gewisse Chorlieder, die unter anderem auch für eine maßvolle Behandlung von Besiegten plädieren. Gleichwohl ist dieser so verwandlungsfähige Gott doch schwieriger und rätselhafter, als dass ich das Stück heute noch als schön bezeichnete. Er ist wie der Wald. Wie man in ihn hineinruft, so tönt es auch wieder heraus. Es wunderte mich indessen nicht, wenn einer der neueren Dichter die Phönikerinnen für das bedeutendste Stück nicht nur des Euripides, sondern des abendländischen Theaters erklärte. In diesem Stück, wo der Familie des Ödipus wie auch dem Staat zumal durch die beiden sich um die Macht streitenden Brüder Glück oder Unglück droht, sehen wir bereits auf das Schicksal der Menschheit in götterloser Zeit. Die Altäre sind zwar noch zu sehen; doch sie grüßen nur noch wie aus der Kindheit herüber. Und wenn Jokaste Zeus am Ende des Prologs um Rettung anfleht, indem sie ihn an seine Weisheit gemahnt, die die Zuteilung von Glück und Unglück einer ausgleichenden Gerechtigkeit unterstellt, so spricht kaum mehr etwas anderes als die blanke Verzweiflung, die ja auch schon mit dem als Verzweiflungsschrei gestalteten Eröffnungssatz der Jokaste an Helios so grandios anhebt.

Vinz: Solche Eingangssätze sind allerdings grandios. Ich erinnere mich auch an den Eröffnungssatz des Kaufmanns von Venedig, den ich den Kindern vortrug.

Meister: Was den Euripides angeht, diesen ersten Kosmopolit und Gestalter einer übernationalen, ja einer Weltliteratur, so könnte ich mir vorstellen, dass er an Ansehen und Beachtung in Zukunft noch gewinnt. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass es einem der kommenden Theaterexperten gelingt, die Phönikerinnen als Paradigma des abendländischen Theaters zu erfassen. Individuum und Polis treffen sich im Haus des Ödipus. Da ist der Vater, eigenbrötlerisch, in sich verschlossen, verbittert, hadernd und unzufrieden mit Gott und der Welt, und da ist die auf Versöhnung bedachte, schuldlos schuldbeladene Schmerzensmutter. Dann sind da die Kinder: die Brüder, ehrgeizig wie seit eh und je, und die Schwestern, denen alle vermittelnden und niederen Dienste zukommen. Und wenn man freveln muss, so seis um einen Thron; in allem andern sei man tugendhaft! - Aber das ist wohl auch nichts für die Schule?

Vinz: Was wünscht Exzellenz?

Meister: Euripides kommt mit. Aristophanes aber wird nicht mitreisen.

Vinz: Vielleicht war es ein Segen, dass ich mich nicht mit den großen und klugen Schülern abgeben musste. Man weiß heute nämlich wirklich nicht mehr, was man mit den Schülern der Oberstufe anfangen soll - einmal weil die Lehrpläne selber keinen sicheren Leitfaden mehr bieten, sodann aber auch, weil die Interessen der Jugendlichen in diesen Jahren sehr stark von den Interessen der Gesellschaft bestimmt sind; und das sind nicht die allerbesten. Der Unterricht der Kleinen dagegen, da es hier anscheinend noch auf nicht vieles ankommt, bietet manch einen Spiel- und Freiraum, den ich dann auf meine Weise zu füllen versuchte.

Meister: Zum Beispiel?

Vinz: Ich ging im Walde so vor mich hin. Das ließ ich einmal auswendig lernen. Ich bewunderte immer diese einfache und schlichte Gestaltung, wie aus einem Guss, die nur ein Virtuose so erfinden konnte. (für sich) Aber mir war nie wohl dabei. Immer musste ich an das arme Frauenzimmer denken, das dann im Garten seiner Exzellenz blühen sollte. Ich wäre lieber draußen geblieben. Und wenn mich der liebe Gott eingeladen hätte, hätte ich lieber nein gesagt, so dass nun in der Bibel stünde: In meinen Garten wollten sie nicht mit mir eindringen; da verurteilte ich sie, draußen zu bleiben.

Meister: Er pflegt gern Monodien?

Vinz: Immerhin haben viele unserer Musiker diese Lieder zauberhaft vertont.

Meister: Was für eine Antwort erwartet er, wenn er nach dem Begriff der deutschen Klassik fragt?

Vinz: Werde ich zur Abiturabnahme eingeteilt und ich frage nach einer Definition der deutschen Klassik, so erwarte ich als Antwort, dass wir es hier mit einer gebändigten Form zu tun haben, die erfüllt ist vom Geist der Humanität und der Sittlichkeit. So etwa steht es auch in einem Lexikon für Schüler. Ich möchte aber hinzufügen, dass ich mich bei solchen Fragen nicht wohlfühle.

Meister: Und warum nicht?

Vinz: Weil man heute nicht mehr viel nach der Klassik fragt. Wer nach der Klassik fragt, erweckt den Eindruck, als ob er irgendwo in der Vergangenheit stecken geblieben wäre und den Zug in die Moderne verpasst hätte. Sie schwimmt wie eine Nussschale neben den naturwissenschaftlich ausgerichteten Kriegsschiffen unserer Zeit. Wenn noch etwas Geisteswissenschaft die moderne Szene bestimmt, so sind es allenfalls Psychologie und Soziologie, die sich aber gern als Naturwissenschaften verstehen.

Meister:

Wenn niemand sich mehr für das uns tradierte, historisch gewachsene Weltverstehen einsetzt, dann kann man alles geschichtliche Verstehen und alle Hermeneutik vergessen.

Vinz: Erzählte ich einem Schüler meine obige Geschichte, die Exzellenz als eine Art Berufungsgeschichte bezeichnete, so würde der naturwissenschaftlich gebildete Schüler die dort erwähnten Lichtblitze als Anzahl von Photonen betrachten und die sich in Windeseile vermehrenden Blitze vornehmen, ob sie in Einklang stehen mit der Bose-statistik. Dass in diesen Lichtern etwas vom göttlichen unerforschlichen Licht erzählt worden, das trotz aller Anstrengung sich den Menschen nicht mehr mitzuteilen vermöchte, darauf käme wohl keiner. Entsprechend steht es mit der Ansicht der Sonne. Dass sie dem Himmel und zugleich der Erde angehöre, dass sie mithin den Menschen ein Göttliches zeige und näherbringe, dass sie aller Verehrung wert sei, Gott auf seinem Throne zu erkennen, Ihn den Herrn des Lebensquells zu nennen, das dürfte kaum jemanden mehr beeindrucken. Die Sonne ist nur mehr noch eine Ressource der Energie, die die Technik der Solarenergie angeht oder das Kultzeichen einer Partei, die damit einen geschickten Stimmenfang betreibt. Oder vielleicht ist die Sonne auch noch im wissenschaftsorientierten Sachunterricht als der Alptraum eines roten Riesen schilderbar, der in ein paar Milliarden Jahren herbeikommt, die Erde zu verschlingen. Und wie einem nichts Göttliches mehr begegnet, so im tieferen Sinne auch nichts Menschliches mehr. Der Mensch hat nichts mehr, was von einem heilsgeschichtlich relevanten tröstenden Gott erfüllt werden und auf ihn hin gedeutet werden könnte. Wird der Mensch gedeutet und untersucht er sich selbst, so nimmt er sich ausschließlich als ein Wesen wahr voller Psychologie, bis auf den kleinsten Nerv und die kleinste Muskelfaser. Die Pädagogik würde sich jedenfalls dem Verdacht der Heuchelei aussetzen, wenn sie sich mit Maximen und Sprüchen aus dem früheren Gottlehrbüchlein oder aus der deutschen Klassik umgäbe. Ja sie müsste sich, wenn sie die Klassik anders als literatur- und geistesgeschichtlich darböte, den Vorwurf gefallen lassen, als wär ihr daran gelegen, die kommenden Generationen zu weltfremden Duckmäusern zu erziehen. Nicht einmal die Mädchen lassen sich mehr mit dem Aufruf zu edlem und gutem Verhalten gewinnen.

Meister: (bei der Arbeit) Aber die Cicerobände fliegen hinaus. Dieses Gelärme mit Worten und Phrasen, nur um einen Catilina einen Kopf kürzer zu machen. Da lob ich mir den Kaiser Augustus, den Friedenskaiser. Da genügte ein Wink mit den Brauen und der Kopf war ab.

Vinz:

Da ist nun der Mensch unserer Tage, nach Leckereien und Zirkus Ausschau haltend, nur mehr noch umgeben von den Geistern, die er selber rief, und harrt der Zukunft entgegen.

Meister: Wir brauchen keine Rhetorik, garniert mit einer pfauenhaft prunkenden Selbstinszenierung des Redners, wir brauchen Beiträge zur Geschichte der Menschheit, um die Zukunft zu bestehen.

Vinz: Was aber ist die Zukunft? Noch nie war es deutlicher, was für ein elend begrenztes und zeitliches, brüchiges Wesen der Mensch ist als heute. Nicht dass ich jene Zeiten zurückwünschte, wo man nur einen Rock hatte und eine Hose und einen Mantel und allenfalls noch ein paar besondere Schuhe für den Feiertag. Und doch, wie hatte da alles noch seine Bedeutung! Heute hat einer alles und nichts bedeutet ihm mehr etwas außer dem Mammon, der ihm zusichert, dass er alles haben kann.

Meister: Wenn er mir einen Rückblick auf die letzten 50 Jahre geben könnte?

Vinz: Nun gut, ich kann es versuchen. Nach der Katastrophe der letzten Tyrannei setzte man auf den freiheitlich gesinnten Schiller; man las fleißig den Tell, aber auch den Don Carlos. Der tadellose mutige Freiheitsheld war jetzt wieder gefragt. Doch sah man in diesen Helden nicht mehr den großen Mann, wie er sich in vielen Gestalten der Neuzeit geäußert hat, vielmehr den aufmerksam mitdenkenden, verantwortungsbewussten Bürger. Die Männer der Macht mit ihrem Streben nach Ruhm und ewigem Leben, das hatte man gelernt, genügten nicht. Das ganze Volk musste Verantwortung übernehmen. Die Schaltstellen der Macht waren in Misskredit geraten, wenn sie nicht von allen verantwortet wurden. - Exzellenz sagte zwar einmal, eine schlechte Regierung sei besser als gar keine Regierung; doch sagte das Exzellenz vermutlich nur, weil die Menschen als soziale Wesen eine Regierung brauchen. Bei den Machtmitteln, die heute dem Menschen zur Verfügung stehen, kann man sich jedoch keine schlechte Regierung mehr leisten. Nach der Katastrophe der letzten Tyrannei waren wir uns auf jeden Fall darüber einig, dass es nie mehr vorkommen darf, dass einer mit Waffen und Technik über die Menschen wie über Hunde und Schlachtvieh verfügt. Unter solchen Erwägungen vollzog sich nun auch die Neugestaltung des Landes. Da kam die Neuindustrialisierung, dann das sogenannte Wirtschaftswunder, damit dann aber auch der Beginn des Kapitalismus, das heißt das Auseinanderfallen von Arm und Reich, und in dessen Gefolge auch der Typus des Opportunisten und der Typus des Nein-sagers. Die Rede kam auf vom Sand im Getriebe. Zugleich galt es für schick, zumal in den Kreisen der geistig sich als hochstehend erachtenden Elite, den Lobgesang auf den Kommunismus zu singen. Heute, wo die ideologischen Grabenkämpfe vorbei sind und wo man nicht mehr der Meinung ist, Literatur sei notwendig politisch, wo man sich Literatur auch zur Unterhaltung in der Freizeit wünscht, soll sich alles, also auch die Literatur, in klingender Münze bezahlt machen. Das geht aber nur, wenn man der Öffentlichkeit nach dem Maul redet.

Meister: Und der Lehrer rebelliert nicht? Er lässt sich das alles gefallen?

Vinz: Nur wenn Rebellieren schick ist, kann es sich auch der Lehrer herausnehmen zu rebellieren. Selbständige Entscheidungen sind ihm streng untersagt. Der Lehrer hat das zu tun, was man von ihm verlangt. Hierfür wird er von seinem Landesherren bezahlt. Daran hat sich bis heute noch nichts geändert.

Meister: Armseliges Lehrerdasein! - Aber der Heinrich Heine kommt auch nicht mit. Flegeleien müssen nicht sein; das soll er ruhig wissen. Mag er die Leute im Nirwana mit einem besseren Faust erfreuen!

Vinz: Das Ansehen eines Lehrers in der Öffentlichkeit ist noch nie groß gewesen. Von einem Lehrer als Gestalter der Zukunft sind wir weit entfernt. Stets meint man, der Lehrer habe es viel zu gut; er verdiene sein Brot im Schlaf; und wenn er mittags von der Schule komme und seinen Schlaf abgehalten habe, dann könne er sich bis zum Abend auf dem Tennisplatz herumtreiben.

Meister: Da meint er, seine Lieder wären originär! Dabei weiß er doch, dass Cervantes ihn im Don Quijote allein schon mit seinen Romanzen tausendfach übertroffen hat.

Vinz: Als ich jüngst bei einem Professor der Medizin war, erfuhr ich, dass es keine Berufsgruppe gebe, die so viel krank sei wie die Lehrerschaft. Heute hält sich jeder ganz selbstverständlich für das Zentrum des Alls, nicht nur der Arzt, wenn auch der ganz besonders daran glaubt, in unserer orientierungslosen, vom Glauben an ein ewiges Leben befreiten Gesellschaft den Archimedischen Punkt darstellen zu sollen. Wenn es aber noch einen gibt, dem man ein Licht aufstecken muss, so ist es der Lehrer. Jeder, ob Arzt oder Geistlicher oder Politiker hat für ihn stets eine Kollektion von Fußschellen und Daumenschrauben in seinem Gepäck.

Meister: Aber die Oberlehrer unter den modernen Literaten bleiben mir auch außen vor. Nicht wahr, Herr Klumbatsch!

Vinz: Das gesellschaftliche Desaster lässt sich sehr schön an einem Vorfall illustrieren, der sich jüngst in unsrer Schule zugetragen. Da nämlich neuer Schulraum benötigt wurde, ein Anbau aber ob der fehlenden finanziellen Mittel nicht möglich war, so kam es zu Raumkürzungen, denen sich auch die Schulbibliothek nicht entziehen konnte. Ein Aufbegehren hätte da nichts gebracht, außer vielleicht eine Rüge oder ein Disziplinarverfahren.

Meister: Es zeugt gewiss nicht vom höchsten Geistesflug, wenn man einem Meisterwerk der Weltliteratur eine mangelhafte eigene Bearbeitung zur Seite stellt. Wenn ich mit meiner Iphigenie aber nichts erreicht haben mag, mit seinem Tell hat Schiller gewiss auch nicht viel erreicht. - Ich frage mich ernsthaft, ob wir den Schiller mitnehmen. Platon ist mir lieb, aber die Wahrheit noch lieber.

Vinz: O, in Deutschland war man noch nie zimperlich, wenn es galt, Leute zur Raison zu bringen, zumal in den Schulen. Wozu es die Fachkollegen in jenen Tagen gebracht haben, das waren kleinere Betrachtungen, wenn man im Pausenhof die Schüler beaufsichtigte oder sonst einmal für ein paar Minuten auf Gängen und Treppen zusammenkam. Dabei waren die jüngeren Kollegen eindeutig von den älteren zu unterscheiden. Beschäftigten sich die jüngeren hauptsächlich mit der Frage, was denn nun eigentlich noch wert wäre, studiert und vermittelt zu werden, hielten sie also Ausschau nach einem ewigen Kanon, so war die Verkleinerung der Bibliothek für die Alten eher ein Anlass über sich selber nachzudenken und eine Gelegenheit, sich manches, was sie in ihrem Leben nicht erreicht oder unterlassen hatten, in Milde zu verzeihen. Was auch, so sagten sie, hätte es uns gebracht, wenn wir uns krumm gearbeitet und große Bücher verfasst hätten? Müssten wir dann jetzt nicht erkennen, wie wert- und sinnlos unser Leben gewesen? Welcher Qualen hat uns nicht ein Gott enthoben, dass wir nun nicht miterleben mussten, wie man unsere Bücher im Eilverfahren überprüfte, um sie dann zum Fenster hinaus zu jagen!

Meister: Eine Bibliothek sollte stets in Bewegung sein wie das Leben und sie sollte Änderungen erfahren, ebenso wie sich die Zeit und die Gesellschaft ändert, damit das, was Qualität hat, in seiner Qualität neu entdeckt und der Gesellschaft entsprechend neu zugeführt und vermittelt wird.

Vinz: Immerhin ließ uns der Direktor freie Hand. Zur Erhöhung des Bruttosozialprodukts taugt ja kaum eines der hier anwesenden Bücher, meinte er mit einem herablassenden Lächeln zu den Philologen. Doch sollten die Fächer unter sich ausmachen, wie sie die neue Spielwiese gestalteten. Als nun die Autoren der Antike ihre behagliche Ecke verlassen und samt und sonders zum Fenster hinaus fliegen mussten, plädierte einer der älteren Herrschaften für den Verbleib des Herrn Cicero. Er hatte in seiner Jugend nämlich eine Rede gegen Catilina auswendig gelernt. Und so steht das Quo usque eben heute noch im Regal.

Meister: Und von den Romanciers des 19. Jahrhunderts kommt mir auch keiner mit, so wahr mir Gott helfe!

Vinz: Mit dieser Methode hat man nicht nur unter den Alten aufgeräumt, auch unter den Neueren. Manche äußerten, eine Bibliothek sei heute überhaupt nicht mehr zeitgemäß, wo man sich über das Internet jede Schrift herunterladen könne.

Meister: Aber die deutsche Klassik, den Höhepunkt einer Jahrhunderte dauernden geistigen Anstrengung, wird man wohl noch finden?!

Vinz: Eine Zeitung von heute, so hieß es einmal, ist wichtiger als ein Homer von vorvorgestern, zumal mit einem ausführlichen Finanz- und Sportbericht.

Meister: Wie hab ich das zu verstehen?

Vinz: Überhaupt sollte man dem Jugendlichen nur solche Lektüre vorsetzen, die auch seinem geistigen Vermögen und seinen besonderen Interessen entsprechen. Zu viel habe man schon kaputt gemacht durch das systematische Zerkauen einer viel zu überfrachteten Schullektüre. Lieber ein Buch freiwillig mehrere Male lesen und nur wenig Wissen haben, das aber für einen bedeutsam ist, als viele Bücher gezwungen lesen und über ein Wissen verfügen, das nur der Abfrage dient. Ja, lieber ein nicht allzu gut geschriebenes Buch lesen und Freude erwerben am Lesen, als durch zu vieles Lesen und Wissen abgeschreckt werden.

Meister: Nur Vollkommenes erreicht Unsterblichkeit.

Vinz: Doch was ist das? Wie viele glauben an die eigene Unsterblichkeit, ohne sich weiter zu bedenken. Dächten sie genauer nach, so fänden sie wohl, dass einer zwar noch kurz nach seinem Tod bedeutsam sein mag; dass er aber, je länger es währt, umso mehr an Interesse verliert und allenfalls als historisches Objekt noch eine Zeitlang weiter vegetiert. Nimmt man aber Jahrmillionen oder Milliarden in Augenschein, dann wird auch vom Vollkommensten nicht einmal ein Nano-Fragment mehr übrig sein.

Meister: Und was die Lyrik des 20. Jahrhunderts angeht, so bedarf es nicht einmal eines einzigen Tages, bis die Nano-Stufe erreicht ist. (zu Büchern und deren Autoren) Meine Damen und Herren! Nehmen Sie den Hut in die Hand und suchen Sie sich ein anderes Domizil.

Vinz: Selbst Professor Glorreich zittert, dass nur ja sein Lieblings- und Heimatverein nicht absteigt. Er gäbe wohl ein Jahr seines Lebens dafür, wenn nur sein Wunsch in Erfüllung ginge. Neulich erst hat ihm geträumt, er sei der Keeper; da aber war er so bei der Sache, dass er sich bei einer Parade seinen Hinterkopf am Bettpfosten angeschrammt hat. Statt sich zu schämen, dass er für solch abstrusen Unsinn in seinem Hirn Platz hat, zeigt er jetzt jedermann stolz seine Wunde, als hätte er sie sich im trojanischen Heldenkampf zugezogen. Dabei sind diese Kicker noch nicht einmal Sportsleute aus seiner Heimat. Es handelt sich da um junge Leute, die man sich aus aller Welt zusammengekauft hat und die nun hier ihre Millionen verdienen. Nur an Ostern oder Weihnachten, wenn seine Frau die Festtagspost erledigt, schreibt sie auf ihre Grußkärtchen: Mein Mann lässt euch herzlich grüßen; er ist in der Bibliothek und studiert den West-Östlichen Divan.

Meister: Wenn du stirbst, stürzt nicht das Weltall in sich zusammen, nur du!

Vinz: Davon wissen sie nichts mehr.

Meister: Ja dann, Ihr gottverdammten Gassenbuben, dann reißt doch eure Dome nieder und errichtet Fußballstadien an ihrer Stelle! -

Hier, mein Herr, hier ist die Türe!

Vinz: (im Weggehen) Vielen Dank. Auch wenn ich nicht der Mann bin, einen altehrwürdigen Dom für ein neues Fußballstadion niederzureißen.

10. Szene: Pfüdi unterwegs

(In der Ferne erscheint der Schlossturm.)

Pfüdi: O, meine Damen und Herren, auch ein Schweizer kann stolz sein. Wir Schweizer haben nicht nur in der päpstlichen Garde gedient, wiewohl auch da manches zur Verherrlichung unseres lieben Vaterlandes gesagt werden kann. Der Schweizer gehörte schon immer, seit es Helvetia gibt, zu den auserlesensten Kriegern. Und so ein Krieger bin auch ich. Jawohl Kriegsblut spür ich in mir aufwallen, wenn ich daran denke, dass nun die ganze Welt zuschauen und Zeuge sein wird, wie ich mich in der Prüfung bei seiner Exzellenz schlage. Weg da mit jeder Vorbereitung! Weg da mit einem einstudierten Sätzchen, mit dem ich Furore machen kann, und mag er es auch noch so in sich haben! Weg da mit allem Begehr, eine außerordentliche, übermenschliche Leistung zu vollbringen, wo wir doch wissen, dass keine solche, selbst wenn sie zur höheren Ehre Gottes geschah, ohne einen Berg Leichen möglich werden konnte. Und selbst, wenn einer bemüht sein sollte, mir das Programm der Vernunft und des sittlichen Bewusstseins zu erläutern, so sag ich nur: Weg da mit allem edel hilfreich und gut. Nur das ist gut und nur das zählt, dass man nie ins Wanken kommt, sondern weiß, dass man ist, was man ist. Und dass keiner befugt ist, über mich den Richterstab zu schwingen außer mir selbst. Weg mir vom Hals all ihr Selbstgerechten, in welchen Kodices ihr auch herumstöbert. Und merkt euch, dass man, wenn man den Satz in die Welt setzt, dass der Mensch edel sein soll, hilfreich und gut: dass man sichs dann auch gefallen lassen muss, selber daraufhin überprüft zu werden. Meinem Landsmann Spindler gegenüber seh ich nicht recht, wie der Satz eingelöst worden, noch auch bei vielen anderen. Im Übrigen haben uns diese Ausrufe zur Veredelung der Menschheit nicht das Mindeste gebracht, zumal im dritten Reich, wo man eine sittliche Ermunterung so gut hätte brauchen können.

Doch genug der Wallung meines kriegerischen Blutes! Hätt ich jetzt nur meinen Xaver bei mir! Der würde mich jetzt schon wieder auf Vordermann bringen! Ja, die gute Haut, die tät mir jetzt wohl! Und fast wag ich zu behaupten, die gute Haut wär mir gefolgt, wenn er nicht zu Haus seine todkranke Frau zu pflegen hätte. Etwas haben, wo man zuhause ist, das heiß ich den Archimedischen Punkt, das nenn ich des Erdenlebens höchstes Glück. Wie zitternd-ehrfürchtig und zugleich überwältigt von meinem Genie er mich doch immer zu Recht zu weisen versuchte, wenn mir einmal der Gaul durchging! Ja bisweilen hatte ich solches Bedürfnis nach Zurechtweisung, dass ich so tat, als ginge mir der Gaul durch, nur um zu genießen, wie er meiner sich annahm. Wahrlich, einem Schriftsteller wie mir müsste es gestattet sein, zwei drei Leute von seinem Kaliber auf die Jenseitsreise mitzunehmen.

Doch wer kommt denn da?

11. Szene: Pfüdi und Strandler werden von zwei amerikanischen Kriegern überrascht

Pfüdi: Mein Herr! Er kommt aus der Prüfung?

Vinz: So kann man sagen.

Pfüdi: Und er ist durchgefallen?

Vinz: Das trifft zwar den Sachverhalt, wenn sich auch die Fakten etwas komplizierter ausnehmen.

Pfüdi: Erklär er sich genauer. Ich bin nämlich der Nächste, der in die Prüfung marschiert. Und wenn ich es auch nicht nötig habe, mir Unterweisungen einzuholen, so können doch ein paar Winke, wie wir diesem Gericht am besten beikommen, gewiss nicht schaden. Schließlich könnte ich mich auch als Ihr Rächer in Szene setzen.

Vinz: Vielen Dank, mein Herr. Aber einen Rächer brauche ich nicht.

Pfüdi: Dennoch! Wie war das mit dem Durchfall? Berichten Sie!

Vinz: Da gibt es nicht viel zu berichten. Nachdem wir uns bereits eine gute Weile unterhalten hatten, verließ Exzellenz den Raum, und ließ mich allein. Das war schon der ganze Durchfall.

Pfüdi: Worüber haben Sie sich mit Exzellenz unterhalten?

Vinz: Nun, über die Literatur im Allgemeinen und über die Gesellschaft der Gegenwart im Speziellen.

Pfüdi: Und da hat er seiner Exzellenz nicht viel Charmantes zu unterbreiten vermocht?

Vinz: Exzellenz war nicht über alles erfreut, was ich ihm erzählte. Das ist allerdings wahr. Als er z.B. hörte, dass man bei uns in der Schule die Bibliothek drastisch verkleinert hat, wurde er unruhig. Und als er gar noch erfuhr, dass auch die Klassiker nicht geschont worden und dass man ihnen über die Hälfte ihres früheren Wohnraums eingeschränkt habe, das war dann doch ein wenig zu viel. Schließlich hört man nicht gern, dass alles Schaffen umsonst gewesen sein soll, zumal wenn man sich so viele Mühe gegeben hat wie Exzellenz.

Pfüdi: Jedenfalls scheint ihm das noch niemand gesagt zu haben. Aber natürlich, wer unterbreitet einem hohen Tier etwas Unangenehmes? Lieber lügt man das Blaue vom Himmel.

Vinz: Dann, wie gesagt, verließ er den Raum und ließ mich allein. Zwar meine ich mich noch zu erinnern, dass Exzellenz gesagt hat, ehe er das Zimmer verließ: Legen Sie hierhin ihre Werke, möglichst die Werke letzter Hand; doch ahnte ich alsbald, dass das nur ein nobler Trick war, den Prüfling das Unangenehme selber besorgen zu lassen.

Pfüdi: Und dann ist er fort gegangen, ohne abzuwarten?

Vinz: Was sollte ich sonst tun?

Pfüdi: Da hat er sich freiwillig aufgegeben.

Vinz: Ich empfand es als eine Art Befreiung.

Pfüdi: Es war ein Zwang, der ihn wider besseres Wissen bestimmt hat und dem er unterlag. Fatal, wenn man gerade in den entscheidenden Augenblicken versagt.

Vinz: Ich habe mir angelegen sein lassen, alles, wo möglich, zu meinen Gunsten zu deuten, und bin dabei gut gefahren.

Pfüdi: Niemals, so hätte er zu sich sagen sollen, niemals kann mich einer abprüfen und wegprüfen und zu nichts prüfen, wenn ich nicht will! Aber du bist einer von den Schriftstellern, mit denen man kein langes Federlesen macht.

Vinz: Das ist es ja eben. Nichts von alle dem trifft auf mich zu, weshalb es mir noch immer rätselhaft ist, weshalb ich hier hergekommen bin. Zwar habe ich eine Sammlung an Geschriebenem zuhause, doch das sind Schüleraufsätze, die ich jahrgangsweise angelegt und gesammelt habe. Nur der jeweils zuletzt abgeheftete Aufsatz der Sammlung stammt aus meiner Feder. Dass ich solche Aufsätze geschrieben habe, dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen waren sie protreptisch gedacht. Von ihnen sollte eine aufbauende und aufmunternde Kraft ausgehen. Kein Schüler sollte denken, er habe eine knechtische Arbeit zu besorgen, für die sich der Lehrer zu gut wäre. Was dem Lehrer Spaß macht, das könnte wohl auch den Schülern Spaß machen. Es versteht sich indessen wohl von selbst, dass ich diese Aufsätze, zumal meine eigenen, nie für einen Druck vorgesehen habe, nur für die Hand des Schülers, damit er etwas schwarz auf weiß vor sich habe und wüsste, wie ein Aufsatz aussehen könnte. Das war meinen Schülern klar, weshalb sie sich auch anstrengten, besonders gute Aufsätze zu schreiben. Und wenn ich ihnen nie eine schlechtere Note als gut gegeben habe, so hat das nicht seinen Grund in einem starren Prinzip oder gar in Unlauterkeit und Lüge, sondern in der Freude der Schüler, etwas Gutes zu produzieren. Dabei ließ ich sie nicht nur die Aufsatzthemen im voraus wissen, so dass sie sich darauf vorbereiten konnten, sie durften auch Passagen, die ihnen nicht so gut gelungen waren, zuhause verbessern oder neu entwerfen. Nie wollte ich meine Schüler empfinden lassen, was sie im Augenblick noch waren, nämlich voller Unvollkommenheiten, wie wir ja alle; stets wollte ich in ihnen wachrufen, was aus ihnen werden könnte und wie schön es ist und wie aufmunternd, wenn die Arbeit von einigem Erfolg gekrönt ist. Wiewohl meine Ideen ausschließlich als Hilfen gedacht waren, blieb leider nicht aus, dass ich auch den Neid wachrief; und Unmut und Argwohn machten sich breit und nicht zuletzt gerade von Seiten derer, denen ich besonders helfen wollte, kam mir erbitterter Widerstand entgegen. Mit der Begründung, Noten seien nicht zuletzt gerade auch ein Instrument der Auslese, wozu auch ein objektives Ausleseverfahren gehöre, zog man gegen mich zu Feld und ob ich auch vielen Schweiß und Fleiß darauf verwandte, meine Ansicht der Dinge zur Geltung zu bringen, so rannte ich doch nur gegen taube Mauern.

Pfüdi: Der Menschenfreund vergisst leicht, dass er es beim Menschen mit einer Bestie zu tun hat, zumal wenn er auf viele trifft. Und was die Rechtsprechung und was die Meinung der vielen angeht, so kommt sie und geht sie wie der Wind. Und wer aus dem Heer der Masse herausdrängt, hat sich bereits verurteilt.

Vinz: (ein Blatt aus der Tasche holend, das er wegwerfen will) Hier habe ich noch den letzten von meinen Aufsätzen.

Pfüdi: Wart er! Darf ich das Blättchen sehen?

Vinz: Nehm er es und behalt er es, oder werf er es weg, wenn er es gelesen hat! (ab)

Pfüdi: Der Frühling - heißt das Thema. Gut, wollen mal sehen, was sich unser Schriftsteller für seine Sextaner ausgedacht hat! (liest) Wie herrlich ist doch der Frühling, wenn er nach der langen Winterpause wiederkommt. Manchmal gibt es schon im Februar den einen und anderen Tag, wo man meint, jetzt wäre er wiedergekommen, dass man beinahe den Atem anhält, so schön glänzt die Sonne über den Feldern und lockt Jung und Alt ins Freie. Aber dann kommen plötzlich wieder die Wintertage zurück und Schnee fällt pausenlos vom Himmel, dass man selbst noch in der Nacht zu tun hat, das Haus mit der Haustüre aus den weißen Bergen herauszuschaufeln. Und dann kommt der März und der April und die Tage werden wieder länger als die Nächte. Und doch geht kaum ein Jahr bei uns vorüber, wo nicht auch noch die wundervoll aufgeblühten Forsythien unter einer Last späten Schnees versinken. Dies Jahr allerdings war alles ganz anders. Der wetterwendische April war erst gar nicht erschienen. Gleich mit dem April hat der Mai seinen Einzug gehalten. Ein Tag war schöner als der andere. Zwei Monate hatten wir herrlichen Mai, dass es eine Freude war. Nur schade, dass es niemand den Schwalben in Afrika gesagt hat. Sie könnten sonst jetzt schon zwei Monate zuhause sein. Dabei braucht eine Eilnachricht nach dorthin kaum ein paar Sekunden.

Für einen Schulanfänger wär das Blättchen gar nicht so schlecht; da möchte man schon eine sehr gute Note darunter setzen; doch freilich als Eintrittsbillet auf die Insel der Dichter fehlt schon noch etwas.

(Zwei Weltpolizisten Krieger tauchen plötzlich auf und fragen nach dem Top-terroristen, der New York in Schutt und Asche gelegt hat.)

Erster Polizist: Mein Herr! Bleiben Sie stehen! Und keine Bewegung! Bei der geringsten Bewegung wird geschossen. Haben Sie verstanden?

Pfüdi: Mein Gott! Was ist denn das?

Erster Polizist: Stehen bleiben! Hab ich gesagt.

Pfüdi: Ich bewege mich doch gar nicht. Oder ist auch das Lesen verboten? Fast ist mir, als brauchte man in jeder Welt auch noch den Traum von einer anderen Welt.

Erster Polizist: Wer sind Sie?

Pfüdi: Wer ich bin?

Zweiter Polizist: Sagen Sie uns, wer Sie sind und woher Sie kommen!

Pfüdi: Die letzte Frage ist schnelle beantwortet. Ich komme aus der Schweiz, genauer noch aus Bern; und wenn ich auch keinen Ausweis mehr bei mir habe, so können sich die Herren hier überzeugen (er zeigt auf die Bücher in seinem Rucksack), dass ich Pfüdimann heiße und ein Autor bin.

Erster Polizist: Und wo geht er hin?

Pfüdi: In die Prüfung, wie es das Inselgesetz vorschreibt.

Erster Polizist: Dass wir ihn nur in keinem Camp für Talibankämpfer wiederfinden!

Zweiter Polizist: (den Ausweis lesend) Dass er Pfüdimann heißt, das stimmt.

Erster Polizist: Was aber noch lange nicht heißt, dass er kein Terrorist oder zumindest ein Helfershelfer und Sympathisant der Terroristen ist.

Pfüdi: Wenn ich ein Terrorist bin, dann ist meine Großmutter des Teufels und residiert in jenem Schloss dort. Doch Sie, meine Herren, wo kommen Sie her und wen suchen Sie auf dieser friedliebenden Insel? Darf ich fragen, wer Sie sind?

Erster Polizist: Wir sind die Männer, die die Gespenster der Zeit am ungestörten Herumhantieren hindern.

Pfüdi: Und was hab ich mir unter einem Gespenst der Zeit vorzustellen?

Erster Polizist: Es ist etwas, was immer größer wird, je näher es kommt und das sich wie der Pilz einer Atombombe entfaltet.

Zweiter Polizist: Wir gehören zu der amerikanischen Weltpolizei. Und sei er nur ja froh, dass wir nicht auf ihn die Jagd eröffnet haben. Denn auf wen wir Jagd eröffnet haben, der kann sich schon für tot erachten.

Pfüdi: Hier, wo die Welt eigentlich schon aufgehört hat, wo es nichts als Dünensand gibt und wo man förmlich schon die Bretter sieht, mit denen die Welt vernagelt ist: da suchen Sie nach einem Terroristen? -

Erster Polizist: Mein Herr, die Welt hört nirgends auf.

Pfüdi: Die Landschaft mit dem Turm da könnte aus dem Traumspiel von August Strindberg stammen. Still und leer wie ein Grab schaut sie auf einen mit ihrem Turm in der Ferne. Vielleicht dass der Turm einmal als Folter- und Hungerturm gedient hat? Dass ich keine Fenster sehe, spricht vielleicht dafür. Und, wer weiß, vielleicht umkreisen ihn des Sonntags Tauben und am Werktag Krähen. Wenn ich ihn aber für ein großes Schauspiel gebaut hätte, dann gäb es auch nur eine einzige Türe, die immer verschlossen wäre und für die es keinen Schlüssel gäbe. Und ich ließe einen auftreten, er hätte vielleicht die Art meines Vaters, der sich den Kopf zerbräche, was da drinnen ist, und der dann die Vermutung äußerte, dass man auf Jesus Christus stieße, der da drin noch immer gegeißelt wird. Aber das Stück, in dem ich hier auftrete, habe ja nicht ich gedichtet, sondern der liebe Gott. Nachdem er den Jedermann entworfen hatte, ließ er ihm dieses Korrekturstück folgen.

Erster Polizist: Genug der Quasselei!

Zweiter Polizist: Wenn er den von uns gesuchten Terroristen gesehen hat, so geb er es nur gleich zu! Oder er macht sich strafbar. Hier, so sieht er aus! Und sein Name ist Sidi Bin Laden.

Pfüdi: Sidi Ben Engeli?

Erster Polizist: Sidi Bin Laden, zum Teufel! Und Guantanamo ist das mindeste, was dem Herrn blüht, falls es sich herausstellen sollte, dass er nicht die volle Wahrheit gesagt hat.

12. Szene: Pfüdi wird zur Prüfung gebeten

Meister: (er kommt mit Kum Baba und Uttnah aus der Bibliothek) Wie lang brauchen wir noch zum Einschiffen der restlichen Bücher?

Kum Baba: Eine knappe halbe Stunde.

Meister: Fahren Sie mit den Büchern fort, die ich Ihnen gezeigt habe. Dann können wir, wenn es Not tut, auf den Rest verzichten.

Kum Baba: Sehr wohl, Exzellenz.

Meister: Meine Herren! Was gibt es? Haben Sie den Täter gefunden?

Erster Polizist: Bislang noch nicht. Aber er ist schon so gut wie gefangen. Unsere Witterung sagt uns, dass er sich hier ganz in der Nähe befindet.

Meister: Und der Mann da?

Zweiter Polizist: Was diesen Mann angeht, so behauptet er, bei Ihnen zur Prüfung einbestellt zu sein. Wir übergeben ihn Ihnen zur Observierung.

(Die beiden Polizisten gehen ab)

Meister: Das hat er gesagt?

Pfüdi: Alle Welt hat das zu mir gesagt.

Meister: Ist er Literat?

Pfüdi: Selbstverständlich. Pfüdimann Peter ist mein Name.

Meister: Eigentlich wollte ich niemanden mehr prüfen. - Da Sie aber mit einer Spezialempfehlung zu mir kommen, so haben Sie auch ein Anrecht auf eine Spezialabfertigung - und wenn es nur eine Eilabfertigung wird.

Pfüdi: Ich bin nicht scharf auf eine Spezialabfertigung. Ich weiß, was ich kann, und habe nicht vor, mein Fort- oder Weiterkommen durch eine Zusatzprüfung zu verbessern.

Meister: Das werden wir gleich sehen. Er ist Literat?

Pfüdi: (nickt) Ich habe es schon gesagt!

(Meister führt Pfüdi in den Prüfungsraum.)

Meister: Mal sehen, ob wir seine Meisterwerke in unseren Regalen führen. - Wie war nochmals Ihr Name?

Pfüdi: Pfüdimann, Peter Pfüdimann.

Meister: Da steht ein Pfüdimann. Ist er das, der die tragische Komödie geschrieben hat: Der Besuch der Alten Tante?

Pfüdi: So ein Stück habe ich geschrieben, unbeschadet der Möglichkeit, dass auch noch andere Autoren gleichen Namens ein Stück des gleichen Titels geschrieben haben.

Meister: Wie kommts dass wir Sie noch nicht ausgemustert haben?

Pfüdi: Wenn ich nicht ganz bescheiden zu sein habe, so möchte ich bemerken, dass Exzellenz ein Stück in der Hand hat, mit dem ich so großen Welterfolg errungen habe, dass ich den Nobelpreis abgelehnt hätte, wenn man ihn mir dafür angeboten hätte.

Meister: Was meinen Entscheid selbstverständlich mitnichten tangiert. (blätternd) Das Schauspiel handelt von der Gerechtigkeit?

Pfüdi: Geld und Macht erzwingen und erkaufen sich heutzutage alles, auch Recht und Gerechtigkeit.

Meister: Der Mantel des Geldes hat Frau Welt schon immer hübsch gekleidet. Aber daneben gab es früher noch den Mantel der Ehre und freilich auch den Mantel der Madonna, den Mantel der Gnade, den Mantel der Gleichheit und der Brüderlichkeit.

Pfüdi: Exzellenz sehen exzellent, worauf es ankommt.

Meister: Nur keine Schmeichelei! Oder kennt er nicht die Stelle aus dem L´avare?

Pfüdi: Wenn ich abermals ein wenig unbescheiden sein darf, so bemerke ich, dass ich vor meiner Laufbahn als Bühnenautor habe Anwalt werden wollen. Schon mein Vater hat über den Römerbrief promoviert.

Meister: Ich habe aber nicht verlangt, dass er nun, wo er mir nicht schmeicheln soll, sich selber schmeichelt. Wen träfe dann die Schuld?

Pfüdi: Gewiss, da haben Sie Recht.

Meister: Von einer gescheiten Frau hörte ich einmal, sie halte bei der ersten Probe eines Schauspiels stets den Anfangssatz und den Schlusssatz zusammen. Was sagen Sie dazu?

Pfüdi: Ein methodischer Beginn, durchaus nicht ohne Geist.

Meister: Weiß er die Stellen auswendig?

Pfüdi: Aus meinem eigenen Stück?

Meister: Was sonst?

Pfüdi: Wenn es gestattet ist, übe ich mich ein wenig in Bescheidenheit.

Meister: Nun gut! Dann will ich die betreffenden Passagen ablesen: "Die Gudrun Hamburg-Neapel", lesen wir da zu Beginn. "Das ewige Vergnügen, das wir noch haben: Zügen nachschauen." Wie gesagt, das alles zu Beginn. Ewiges Vergnügen, eine contradictio in adjecto?

Pfüdi: Allerdings. Wo schon das herrlichste Vergnügen, wenn man dazu verurteilt wird, es unablässig zu wiederholen, den schlimmsten Stress hervorruft, da dürfte dieses Nachschauen der Zukurzgekommenen, wenn der Zug in die Zukunft an ihnen vorbeirast, zu einem verfluchten Alptraum werden.

Meister: Und dann am Schluss. "Tragt ihn in den Sarg!" Der steht also schon zur Aufnahme bereit. "Wir fahren nach Capri. Bürgermeister. Der Check." Da wird also von der alten Tante Station gemacht in Güllen, nett, nett, irgendwann muss ja schließlich jeder einmal aussteigen, auch eine alte Tante, oder ist es nicht so?

Pfüdi: Eben so.

Meister: Da wird dann eine alte Rechnung beglichen, die mit Sarg und Check endet. Erinnert mich ein wenig an Richard II., wo der alte Bolingbroke dafür sorgt, dass sein alter Vorgänger und Nebenbuhler endlich hinter ihm bleibt.

Pfüdi: Der Zug der Zeit.

Meister: Vornehmlich wohl ein Zug der Neuzeit bei diesem reichhaltigen Angebot von Käuflichem und Verkäuflichem.

Pfüdi: Exzellenz sehen sehr scharf.

Meister: Bezahlte Arbeiten im Dienst der Gerechtigkeit wie beim Hintermtor. Die Novelle kennt er doch?

Pfüdi: Na klar, aus Eklein und Schnittel. Wer kennt die nicht?

Meister: Handelt es sich hier um eine bezahlte Rache oder um eine gerechte Rache?

Pfüdi: Der Autor wollte diese Fragen dem Zuschauer zur Beantwortung überlassen.

Meister:

Rache ist nie gerecht, mein Herr, auch wenn sie psychologisch nachvollziehbar sein mag. Wie schon die Medea des Euripides zeigt: Thümos de kreisson ton emon bouleumaton, hosper megiston aitios kakon brotois.

Pfüdi: Gestatten Exzellenz die Bemerkung, dass meine Griechischkenntnisse die Kenntnisse eines durchschnittlich begabten Schweizer Pastors nicht übersteigen?

Meister: Mein Inneres, das jetzt brodelt und kocht, ist stärker als alle rationalen Erwägungen und Überlegungen, wiewohl es stets den Sterblichen die schlimmsten Übel zugefügt hat.

(Uttnah und Kum Baba holen jetzt die letzten Bücher)

Uttnah: Wir kommen jetzt, die letzten Bücher abholen.

Pfüdi: Was war das?

Meister: Die Übersetzung des Euripides aus dem Griechisch.

Pfüdi: Ich dachte schon an die Bücher vom letzten Prüfling.

Meister: (zu Uttnah und Kum Baba) Nizami und Hafis und die Bände von 1001 Nacht gehen selbstverständlich noch mit!

Uttnah: Kein einziger Band hat jetzt mehr Platz.

Meister: Die gehen mit, hab ich gesagt. Und wenn die Arche untergeht.

Pfüdi: Das entspricht dem Menschenbild, wie es auch mein Freund Sortini in vielen Erzählungen festgehalten hat.

Meister: Was entspricht wem? Reden Sie klar und deutlich!

Pfüdi: Dass wir Maschinen sind wie die Tiere, meint Sortini. Vielleicht sogar nur Maschinen wie die Computer. Wenn einmal ein Knopf gedrückt ist, nimmt die Prozedur ihren Lauf, ohne alle Leidenschaft.

Meister: Sortini, Sortini. Sie reden wie ein Kind, das meint, jeder kennte jeden, den es kennt.

Pfüdi: Der einzige Unterschied zwischen uns und der Maschine, meint Sortini, ist der, dass wir mehr sein wollen als eine Maschine, sobald wir sehen, dass etwas Schlechtes dabei herauskommt. In meinem Stück freilich bedarf es auch keiner solchen leidenschaftlichen Aufwallung mehr. Das Geld machts, dass man alles hinter der Maschinerie der Apparate und Menschen verstecken kann. Jawohl, besingen wir die Maschine und den Mann! Die Gewissheit, Geld zu haben und hinter der Zahl, diesem Ausweis der Objektivität und Seriosität, alle Leidenschaft verstecken, ja ihrer entbehren zu können, so dass alles auf dieser Erde endlich human abläuft. Für jeden Kunstgriff in diesem Mordgeschäft gibt es denn auch einen schönen Satz, gleichsam die Nachfolger jener früheren Sentenzen, z.B. am Schluss die Feststellung: gestorben vor Freude um die Vaterstadt. Wenn der Professor den Studenten fragt, warum Pfüdi das Stück eine tragische Komödie genannt hat, so mag der Student eben auf diese Zusammenhänge zu sprechen kommen. - Immerhin hat Exzellenz die gesamte Exposition mitsamt den Folgen schon aus dem ersten Satz herausgelesen. Ich gratuliere zu dieser beeindruckenden Interpretation.

Meister: Aber ich habe keine Lust mehr.

Pfüdi: Was meinen Exzellenz?

Meister: Die zwanzig wohlfeilen Bände aus dem Arche-Verlag, einschließlich dem Band voll Dramaturgischem und Kritischem, kann er sich aus der Bibliothek holen, sobald ich die Insel verlassen habe.

Pfüdi: Aber Exzellenz! Sind wir nicht eben erst eingestiegen in dieses Stück, um uns nun den Feinheiten zuzuwenden? Was hätt ich dafür gegeben, wenn ich in Diskussionen hin und wieder einen gehabt hätte, mit dem ich mich so hätte unterhalten können. Was haben Exzellenz? Wir schütten doch das Kind nicht mit dem Bade aus.

Meister: Satiatus sum.

Pfüdi: Wie?

Meister: Eine Unruhe hat mich erfasst, es ist nicht auszuhalten. Oder hat euer Hitler nicht genau so gehaust wie seine alte Tante? Dass er, nachdem er es zu unumschränkter Macht gebracht, sich selbst an Lehrern, die ihm noch von seiner Kindheit her unangenehm in Erinnerung waren, vergriffen hat? Pfui Teufel! Ich muss heraus aus diesem Zug. Mir ist speiübel. Ich brauche frische Luft. (er geht hinaus, Uttnah und Kum Baba nach)

13. Szene: Wie die zwei Krieger den Sortini aus dem Versteck ziehen und zu seiner Exzellenz bringen

Uttnah: (zurückkommend, noch in einiger Entfernung von Meister, den sie nicht sehen) Wir haben nun allen Samen ins Schiff getragen, der atmet.

Kum Baba: Was immer ins Schiff zu tragen war, haben wir ins Schiff getragen.

Uttnah: Jetzt müssen wir nur noch rasch die Schiffswände mit Öl salben. Und ist das Pech dann noch bei der Hand, mit dem wir den Eingang verpichen, dann ist alles getan. (er sucht nach dem Öl)

Kum Baba: (sucht nach dem Pech) Doch was ist das? Komm mal her Uttnah und besieh dir das! Was sagst du dazu?

Uttnah: Was hast du? Was gibt es so Wichtiges?

Kum Baba: Hier, sieh dir doch nur den Kerl an, wie er sich hinter der Rohrmatte zu verstecken sucht!

Uttnah: Ist das nicht der Kerl, der zuerst viele Tage hintereinander auf der Brücke gesessen ist und uns zugeschaut und sich Notizen gemacht hat?

Kum Baba: Das ist er.

Uttnah: Dabei haben wir ihm doch gesagt, er soll verschwinden. - Und jetzt. Was tut er da? O schau. Er zündet ein Streichholz.

Kum Baba: Es ist ausgegangen. Zum Glück. Das fehlte ja noch, dass die Arche verbrennt mit allen ihren Büchern, bevor sie ausfährt.

Uttnah: Aber er lässt nicht davon.

Kum Baba: Er holt seine Papiere heraus. Ja gewiss, damit er genug Feuer hat, es an die Arche zu legen.

Uttnah: Wir müssen das verhindern oder um Hilfe schreien.

Kum Baba: Das wird nicht nötig werden. Alles ist noch einmal gut gegangen. Schau doch, die Leute von der Weltpolizei. Sie haben Lunte gerochen und die Fährte aufgenommen. Gleich sind sie vor Ort.

Uttnah: Hätte er sich uns nur nicht quergestellt. Jetzt kommt er vom Regen in die Traufe!

Sie rufen ihm zu, er soll stehen bleiben und sich ergeben. Aber er ist taub oder er stellt sich taub.

Kum Baba: Aber das nützt ihm nicht viel. Schon haben sie ihn im Griff.

Meister: (hinzukommend, gefolgt von Pfüdi) Meine Herren, was gibt es?

Uttnah: Schauen Sie! Der Mann dort hinter den Strohmatten bei der Schiffswerft! Wie der sich duckt!

Kum Baba: Aber das ist auch kein Wunder, befindet er sich doch auf streng verbotenem Gelände.

Meister: Geht er uns etwas an?

Kum Baba: Wir sind in Sorge, was er im Schild führt.

Uttnah: Vielleicht, dass das der gesuchte Terrorist ist?

Pfüdi: Aber das ist ja Sortini! Mein Freund Sortini, wenn mich nicht alles täuscht.

Meister: Wären wir schon abgefahren, dann könnte er machen, was er wollte.

Uttnah: Zum Glück haben ihn die beiden Krieger ergriffen. Jede Gegenwehr ist jetzt umsonst.

Kum Baba: Sehen Sie, wie er noch immer fliehen möchte? Wenn das kein schlechtes Zeichen ist?

Pfüdi: Ich habe auch immer Fluchtgedanken bekommen, wenn ich einen Polizisten gesehen habe. Auch wenn ich mir keiner Schuld bewusst war. Allein schon angehalten zu werden und die Papiere zeigen zu müssen, und Fragen beantworten müssen und immerfort daran erinnert werden, dass man jener gesuchte Räuber oder Mörder sein könnte! Das alles lästigt und lähmt, ganz abgesehen von der Unmenge Zeit, die einem unwiederbringlich entschwindet. Dieser Mann aber hat nichts getan.

Meister: So kennt er ihn?

Pfüdi: Ich nannte seinen Namen vorhin, in der Prüfung. Sortini!

Meister: O gottloses Schicksal! Sortini! Hier sucht der Teufel nach einem Ausgang.

Pfüdi: Als Kinder lernten wir: dum spiro spero, solange ich atme, hoffe ich. Man könnte aber auch sagen: so lange ich atme, suche ich nach Fluchtmöglichkeiten. Jawohl. Das ganze Leben ist nichts als eine andauernde Flucht vor dem Polizeiverhör.

(die Polizisten bringen den Sortini)

Erster Polizist: Meine Herren, hier bringen wir Ihnen ein verdächtiges Subjekt und bitten Sie, es genau zu oberservieren.

Zweiter Polizist: Beim Beladen der Arche haben wir es hinter einer Schilfmatte aufgespürt. Als wir herankamen, wollte er noch rasch seine Papiere verbrennen. Aber das war vergebens.

Erster Polizist: Wie uns scheint handelt es sich um Spionage.

Zweiter Polizist: Zwecks Zerstörung der Arche.

Erster Polizist: Wenn es auch nicht der von uns gesuchte Top-terrorist ist, so ist die Spur doch zu deutlich und der Verdacht zu mächtig, als dass man von einer genaueren Prüfung absehen könnte.

Zweiter Polizist: Schon allein, dass sich der Mann auf verbotenem Gelände befand und dass er behauptet, keinen Ausweis bei sich zu haben, uns also vorerst als Namenloser in die Hände gefallen ist, kann nicht stillschweigend von uns hingenommen werden.

Erster Polizist: Eine Beschädigung der Bordwand haben wir zwar bislang noch nicht erkennen können. Aber das wär ja auch noch schöner, wenn die kostbarste Fracht der Welt unterginge, nur weil es einem Terroristen gelungen wäre, sein Unwesen unter uns zu treiben.

Zweiter Polizist: Möge sich Exzellenz nicht scheuen, noch einen kurzen Blick auf das Subjekt zu werfen!

Erster Polizist: Er sollte auf jeden Fall in strengem Verwahr bleiben, bis wir den echten Terroristen gefasst haben.

(die beiden Polizisten gehen wieder)

Meister: Meine Herren, kümmern Sie sich um den Fall! Ich habe für heute schon lange genug geprüft. Ich bin müde und will mich ein wenig noch sammeln vor der großen Reise.

Kum Baba: Sehr wohl, Exzellenz. Es ist uns ein Vergnügen.

Meister: Und wecken Sie mich, wenn es so weit ist. (er geht in das Haus)

Uttnah: Sie sollen zufrieden sein!

14. Szene: Wie Sortini geprüft wird

Kum Baba: Mein Herr! Hat er gehört, was Exzellenz gesagt hat? Sie werden sich jetzt also einer Untersuchung zu unterziehen haben. Über die Länge der Dauer entscheidet er selber. Wenn er uns nämlich alles sagt, wessen er sich strafbar gemacht hat, sind wir gleich fertig.

Sortini: Was wird mir zur Last gelegt?

Uttnah: Hat er nicht gehört, dass er alles frisch von der Leber weg gestehen soll?

Sortini: Wer wäre gerechtfertigt, dass ihm nichts zur Last gelegt werden könnte?

Kum Baba: Diese Bemerkung zeigt uns, dass er sich als schuldig erkennt; aber das reicht uns nicht aus. Immerhin hat er sich auf verbotenem Gelände herumgetrieben, ohne sich ausweisen zu können. Oder bringen wir Schilder an, damit man sich im Missachten derselben einübt?

Uttnah: Er ist in flagranti erwischt worden. Jetzt sich noch herausreden zu wollen, er habe keine Absperrung und kein Verbotsschild gesehen, wäre töricht.

Sortini: Weshalb hätte ich die Absperrung nicht sehen sollen? Und doch hatte ich nichts Verbotenes im Sinn.

Kum Baba: Überhaupt, wie heißt er, wenn er sich schon nicht ausweisen kann?

Sortini: Sortini.

Kum Baba: (nachschlagend) Sortini?

Sortini: Sortini.

Kum Baba: Da ist kein Sortini registriert.

Sortini: Vielleicht werde ich unter dem Namen Sordini geführt, mit einem weichen d.

Kum Baba: Heißt er nun Sortini oder Sordini oder will er uns zum besten haben?

Uttnah: Es macht keinen kleinen Unterschied, mein Herr, ob man ein Sordini, also ein Schmutzfink ist, oder ein Sortini, also einer, der sich um das Schicksal und die guten Ausgänge bemüht.

Kum Baba: Er spricht mit einem Akzent. Er ist Immigrant?

Sortini: Als wir einwanderten, das war vor etwa 4 bis 6 Generationen, da wollten die einen den Namen mit T schreiben, also als Sortini, die anderen aber, die den Konsonant weicher aussprachen, bevorzugten den Namen Sordini. Bis dahin hatten wir den Namen nie geschrieben, immer nur gesprochen. Da war das nicht weiter von Bedeutung.

Uttnah: (aus Sortinis Kleidern ziehend) Hier ist übrigens die angefangene Streichholzschachtel und hier sind die angebrannten Papiere.

Kum Baba: Ist das eine Streichholzschachtel oder eine Zündholzschachtel, mein Herr?

Sortini: Wie es Ihnen gefällt. Man benutzt die Hölzchen, um Feuer zu machen.

Kum Baba: Und woran wollte er Feuer anlegen? An den Blättern da?

Sortini: So wird es wohl sein, wenn sie verbrannte Ecken aufweisen.

Kum Baba: O, man kann auch Blätter anzünden, um mit ihrer Hilfe noch etwas anderes anzuzünden. Geb er zu, dass er es auf die Holzwand des Schiffes abgesehen hatte.

Sortini: Mag das Cortez in Amerika gemacht haben, um seinen tapferen Spaniern den Rückweg zu verlegen.

Kum Baba: Hat er sich auf diesen Blättern Notizen gemacht?

Sortini: So ist es.

Kum Baba: Und was steht darauf?

Sortini: Ich habe Tagebuch geführt. Alles was mir widerfahren ist und was ich erlebt und erforscht habe, habe ich versucht zu notieren. Und wenn das zur Literatur zählt, so findet man hier alle meine Literatur.

Kum Baba: Aber er hat die Blätter verbrennen wollen.

Sortini: Ich wollte sie verbrennen, um jedermann der Mühe zu entheben, sie durchzulesen.

Kum Baba: O faule Fische!

Pfüdi: Kann man nicht kostbare Literatur ins Feuer werfen so wie man auch einen kostbaren Ring oder einen goldenen Becher ins Meer werfen kann? Selbst seine Exzellenz hat so etwas gedichtet.

Kum Baba: Hat er kostbare Literatur vernichten wollen?

Sortini: Weder kostbare Literatur, noch auch besondere Forschungsergebnisse wollte ich vernichten. Zu der Erkenntnis würden Sie ohne weiteres gelangen, wenn Sie sich die Mühe machten, das alles durchzulesen. Allenfalls, dass man ein paar methodische Ansätze findet neben den täglich selben Ermahnungen, mit denen ich mich zu disziplinieren suchte. Also eine Art Tagebuch, das wahrscheinlich nicht einmal in einem gewöhnlichen Primärunterricht Verwendung finden könnte.

Uttnah: Aber dann hätte er doch selber schon längst Zeit gehabt, die Sachen zu entsorgen!

Sortini: Meine Herren. Nehmen Sie denn zur Kenntnis, wie lächerlich es auch ist, dass ich eitel bin. Jawohl, wie unglaublich es auch sein mag, es ist dennoch so: auch ein so kleiner stinkender Käfer wie ich, eine so gemeine dreckige Laus nimmt es sich heraus, eitel zu sein. Ich hatte mich noch nicht aufgegeben, weil ich an eine Korrektur dachte, weil ich mir von einer Korrektur eine Wende erhoffte.

Kum Baba: Und was bezweckte er mit dieser seiner Wende?

Sortini: Nicht allzu viel und doch auch wieder nicht nichts. An eine wundersame Wende glaubte ich nicht und hoffte auch nicht darauf. Vielleicht aber, dass mir eine Beschreibung gelänge oder auch nur der Absatz einer Beschreibung oder auch nur ein Satz, der mir Sicherheit böte und mich weiterbrächte.

Uttnah: Wie war das mit den methodischen Ansätzen?

Sortini: Wenn ich etwas erforschte oder über etwas nachdachte und wenn ich es dann niederschrieb, bewegte ich mich wie der Efeu, der überall, wo er nur hingelangt, Wurzeln schlägt und dann weiterkriecht und sich weiterschiebt. Wo er aber nicht ungestört über dem Boden weiterkriechen kann, wie etwa auf Rasen und Wiesen, taucht er unter die Wurzeln der Gräser, um dann von Zeit zu Zeit innezuhalten und einen Trieb nach oben zu senden.

Kum Baba: Bei der Spionage auf unserer Werft aber waren seine Unterwasserkünste gefragt.

Sortini: Nachdem ich entdeckt hatte, dass es eine Arche war, die gebaut werden sollte, wurde plötzlich etwas wach in mir, was mich geradezu an das Unternehmen fesselte. Und dann machte ich Entdeckung um Entdeckung.

Kum Baba: Und darüber hat er in seinen Aufzeichnungen auch Bericht erstattet?

Sortini: Ich kam kaum mit, alles aufzunotieren, was ich gesehen und erforscht hatte. Zumal, als ich erkannt hatte, dass ein spezieller Typ einer Arche gebaut werden sollte, wurde ich besonders aufmerksam. Ich fragte mich, was das zu bedeuten habe.

Kum Baba: Und was ist das für ein Typ?

Sortini: Einer der allerältesten und ersten, die jemals gebaut wurden.

Uttnah: Immerhin aber aus Holz und nicht aus Schilfmatten.

Kum Baba: (zu Uttnah) Heb sie gut auf, die Blätter! Man kann nie wissen. Vielleicht enthalten sie ein paar wichtige Indizien.

Uttnah: Kein einziges Blättchen soll verloren gehen.

Kum Baba: Was war da so Besonderes, das seine Neugierde herausforderte? Er erkundigte sich nach der Arche, schwamm um sie herum und unter ihr hindurch, kroch dann durch den Dreck und alles das, warum?

Sortini: Ich leugne nicht, dass ich mich schon seit längerem mit dem Gedanken trug, die Insel zu verlassen.

Kum Baba: Und jetzt wollte er weg?

Sortini: Ich wollte weg. Ich fühlte mich allein.

Kum Baba: Notfalls auch als blinder Passagier?

Pfüdi: Wer wirklich fort will, versucht es um jeden Preis und auf jegliche Weise.

Uttnah: Vielleicht hatte er Angst vor einer Blamage bei seiner Exzellenz?

Sortini: Begegnen wollte ich ihm nicht; aber von Angst kann nicht die Rede sein.

Uttnah: Selbst wenn er es ableugnen sollte, so können doch tiefere, ihm selber geheime, Stimmen dies bestätigen, wie die Therapeuten wissen. Er war noch nicht bei seiner Exzellenz?

Sortini: Nein, bei seiner Exzellenz war ich noch nicht. Und ich hätte wohl auch die denkbar schlechtesten Karten in der Hand, die Prüfung zu bestehen. Wie auch kann man vor einem Fremden eine Prüfung bestehen, wenn man sie nicht vor sich selber bestanden hat? Noch muss ich mich wundern, wie ich überhaupt durch die Schule gekommen bin. Doch das ist eine andere, viel zu weit führende Geschichte.

Kum Baba: Halten wir erst mal fest, dass er allein war und dass er weg wollte. Von hier weg. Wo aber wollte er hin?

Sortini: Ich konnte ja nur dorthin, wohin auch die Arche fuhr. Das musste ich herausfinden. Und das konnte ich durch die genauere Bestimmung des Typs.

Kum Baba: Und wohin würde sie fahren? Was hat er da ausfindig gemacht, welchen Kurs würde die Arche nehmen?

Sortini: Ich glaube herausgefunden zu haben, dass sie zum Neujahrsfest vom Stapel laufen würde.

Kum Baba: Mein Glückwunsch. Da hat er nämlich mehr herausgefunden, als den Baumeistern bekannt ist. Doch dann?

Sortini: Dann wollte ich zur Mutter.

Kum Baba: Zu seiner Mutter, zum Neujahrsfest?

Uttnah: Wohl gar als verlorenes Kind?

Kum Baba: Will er uns ein Märchen weismachen?

Uttnah: Überhaupt hab ich von einem Neujahrfest noch nie etwas gehört.

Kum Baba: Hat er keine Braut gehabt, dass es ihn just zur Mutter zieht? Oder hat er sich um eine bemüht, aber es ist nichts daraus geworden?

Sortini: Ich hatte immer nur so unbedeutende schwache Küsschen. Dabei ist doch die Liebe stärker als der Tod.

Kum Baba: Nun ists aber genug. Zeit, dass wir abbrechen. Überhaupt, warum sind die Amis noch nicht zurück? -

Uttnah: Das hätte eine lustige Geschichte werden können, wenn er als blinder Passagier mit der Arche davongefahren wäre, auf der Flucht vor seiner Exzellenz, um dann, wenn man ihn in der Arche aufgenommen und gerettet hätte, seiner Exzellenz zu begegnen.

Pfüdi: (für sich) Das glaube ich nicht. Ich sehe da durchaus Ansatzpunkte. Schwierig ist nur, den geeigneten Augenblick zu erfassen, um ins Gespräch zu kommen.

Kum Baba: In summa komm ich zum Ergebnis, dass der Mann uns vorsätzlich belügt oder dass er verrückt ist! Für beides hat er uns eine Reihe von Argumenten geliefert.

Uttnah: Wenn das mit den Müttern stimmen würde, müsste es sich mit seinen Aufzeichnungen belegen lassen.

Kum Baba: Das versteh ich nicht. Dort kann er ja dasselbe Täuschungsmanöver angewandt haben.

Uttnah: Mag sein. Und doch weiß ich nicht, was wir sonst noch mit dem Menschen anstellen sollen.

Kum Baba: Sieh in den Papieren nach und lies uns passende Passagen daraus vor.

Uttnah: Ich kann nicht lesen.

Kum Baba: Schade.

Uttnah: Hauptsache ich kann herrschen. Dazu sind wir ja da, von seiner Exzellenz eigens bestellt.

Kum Baba: Dann gib mir mal das Zeug!

(er liest) Unsere Leute waren nie in der Öffentlichkeit beliebt. Alle hatten sie etwas Linkisches und Hinkendes, vor allem beim Tragen des Kopfes: dass man uns bald ob unserer allzu großen Unterwürfigkeit, bald ob der hinterlistigen Verschlagenheit wegen mied. Drum zogen sich die Unseren, wann immer es ihnen möglich war, zurück und blieben unter sich. Solange niemand kam und etwas von einem wollte, duckte man sich und machte sich klein. So aber lebten wir, wenn auch gleichberechtigt wie alle anderen Bürger, ein verbotenes Leben. Ja, ein jeder von uns war gleichsam schon als ein verbotenes Wesen zur Welt gekommen. Und wenn uns auch weiter nichts widerfuhr, so begleitete uns das ganze Leben über der Gedanke, dass man vergessen habe, uns auszurotten. Auf diese Weise aber haben wir uns selber das Urteil gesprochen, nicht erst heute, immer schon und werden es uns wohl auch immerfort sprechen, solang es uns gibt: Der Vater spricht es aus über den Sohn, der Sohn über den Vater. Ob schriftlich aufgezeichnet oder nur mündlich vernommen, oder nur durch das Rauschen des Blutes: das Urteil wird gesprochen. - Nun, meine Damen und Herren, was sagen Sie dazu?

Pfüdi: Das ist der Erfahrungshorizont und der Hintergrund zu der ersten Erzählung, mit der sich meinem Freund die Berufung zum Schreiben angekündigt hat. Der Sohn versucht, sich von zu Hause los zu machen und eine eigene Familie zu gründen, vielleicht sogar, da seine Kontakte weit hinaus ins Ausland reichen, um seinen Volksgenossen zu entfliehen, wobei ihm der alte Vater in den Weg kommt. Und wenn der Vater nach der Mutter Tod auch fast nichts mehr getan hat, als das Bett zu hüten, ist er, während alles das in Gang kommt, hellwach. Ja, er erwacht förmlich und wächst nun noch einmal hoch über sich hinaus, fast nur, so hat es den Anschein, um die Machenschaften des Sohnes aufzudecken, denn um solche handelt es sich in seinen Augen, über ihn zu triumphieren und ihn dann, gleichsam als Demonstration seiner Macht, zum Tod zu verurteilen. Das Vergehen des Sohnes aber mag darin bestehen, dass er von zu Hause fort wollte, sodann aber wohl auch, dass er sich mit einem fremden Mädchen verbinden und der eigenen Sippe untreu werden wollte, schließlich wohl aber auch, weil er, wenn er es auch nie gesagt hat, die Daseinsberechtigung des alten Vaters angezweifelt hat, der dem Sohn längst hätte den Platz räumen und ihm die für ihn nötige Bewegungsfreiheit gewähren sollen. -

Kum Baba: Das ist mehr, als ich erwartet habe. Aufstand im elterlichen Haus. Rebellion. Androhung von Gewalt! Verurteilung zum Tod! - Da sollten wir doch zuerst mal den Herrn da etwas fixieren. Leg ihm Handschellen an! Das kannst du doch!

Uttnah: Und ob ich das kann! Sicher ist sicher.

Pfüdi: Lassen Sie den Mann.

Uttnah: Was für Worte! Weiß er nicht, dass man Verdacht erregt, wenn man sich für einen Gefangenen verwendet?

Pfüdi: Es ist mein Freund, auch wenn er mich nicht mehr zu kennen scheint.

Kum Baba: Mitgefangen, mitgehangen.

Pfüdi: Hallo Sortini! Jetzt sollst du mal sehen, was ein Freund für den Freund tut! Ich bins, der Pfüdi, der Pfüdi aus der Schweiz. Oder kennst du mich denn nicht mehr?

Sortini: Ich hatte zuerst Angst und glaubte, es sei Paulus.

Pfüdi: Welcher Paulus? Wovon sprichst du?

Sortini: Der Paulus aus Tarsos, als ich drunten bei der Arche war. Der sich gegeißelt hat in seiner Glaubensnot. Aber er war es nicht. Es waren zwei Krieger aus Amerika.

Kum Baba: (während Uttnah mit Handschellen auf Sortini zugeht) Das wärs doch gewesen. Ein herzzerreißender Anagnorismos auf den Auen des Todes.

Pfüdi: Weg mit den Ketten und Schellen, sag ich. Der Schweizer wehrt sich, wenn er so etwas sieht.

Sortini: Lass ihn! Er ist gerechtfertigt.

Pfüdi: Er, gerechtfertigt? Dann pfüdi Gott, mitenand.

Sortini: Nicht weil er tadellos und gerecht wäre, ist er gerechtfertigt, sondern weil die Menschheit Leute braucht, die Recht sprechen, ohne belangt und beleidigt werden zu können. Ihre Amtsrobe bedeckt sie und macht sie unantastbar.

Pfüdi: Dann verwahrte die Menschheit das köstliche Gut des Rechts durch das Recht der Ungerechtigkeit?

Kum Baba: Ordnung muss sein. So lehrt es schon die Natur. Nur dann bleibt Katze Katze und Maus bleibt Maus.

Pfüdi. Nichts da. Und wenn ich den Gessler mit meinen Händen erwürge!!

Uttnah: Was machen wir jetzt? Freilich ist es uns ein Leichtes, die beiden Leutchen zur Raison zu bringen. Doch welches unserer vielen Mittelchen wenden wir an?

Kum Baba: Versuchen wir es auf schonende Art. Die Amis müssten ja längst schon zurück sein.

Uttnah: Und das heißt?

Kum Baba: Zieh ihm einen Kreis, den er nur unter Lebensgefahr verlassen darf!

Uttnah: Sehr wohl, Chef! (er zieht für Sortini einen Kreis) Hier bleibt er drin! Verstanden? Und wehe, es verlockt ihn, die Grenze zu überschreiten! Das wäre ein Fall für das Standrecht. (zu Kum Baba) Doch soll ich dem da nicht auch einen Kreis ziehen? Warum nicht für beide? Besser ist besser!

Kum Baba: Eben deshalb ernennen wir den da (Pfüdi) zum Bürgen für den (Sortini). Der da (Pfüdi) ist ein Mann des Widerspruchs und der empfindsamen Ehre. Sperren wir ihn in einen Kreis, reizen wir seinen Widerspruch. Bestellen wir ihn aber als Bürgen und lassen wir uns sein Wort geben, so kitzeln wir ihn an seiner Ehre.

Uttnah: Hat er gehört? Steht und bürgt er für den Mann? Oder will er lieber, dass ich ihm Handschellen anlege?

Pfüdi: Ich bürge.

Uttnah: Mit allen Konsequenzen?

Pfüdi: Was immer die Herren darunter verstehen.

Kum Baba: Doch warum sind die Amis noch immer nicht zurück? Ich bin müde.

Uttnah: Ich auch. Legen wir uns aufs Ohr. Doch was machen wir mit denen? Soll ich ihm nicht doch wenigstens Handschellen anlegen?

Kum Baba: Alles lassen wir, wie es ist. Er bleibt im Kreis. Und er bleibt Bürge. Kann er lesen?

Pfüdi: Selbstverständlich. Oder gibt es einen Schriftsteller, der nicht lesen kann?

Kum Baba: Dann les er uns hier weiter!

Pfüdi: Ich lese aber nur unter der Bedingung, dass mein Freund nichts dagegen hat und dass ich jederzeit aufhören kann, wenn ich den Eindruck habe, etwas zu unterbreiten, was meinen Freund belasten könnte.

Kum Baba: Er liest, bis die Krieger zurück sind. Und das sind sie, so hoff ich, jetzt endlich bald. Wir aber, selbst wenn wir auf dem Ohr liegen, hören, falls es die Männer gelüsten sollte? Und weit fort können sie sowieso nicht.

Pfüdi: Was meinst du?

Sortini: Lies nur, wenn es dich nicht ermüdet. Wegen nichts, was da steht, hab ich mich zu schämen.

Kum Baba: (sich hinlegend) Schamlos ist er also auch noch.

Pfüdi: (zu Sortini) Doch setz auch du dich nieder und mach dirs bequem. Wer weiß, was noch alles auf uns zukommt!

Sortini: (sich hinsetzend) Die einen beginnen das Leben, die anderen bringen es zu Ende. Du kannst nicht immer ein Beginnender sein. Auch wenn du es zu nichts gebracht hast, musst du einmal aufhören! Doch lass mich zu dem Vorangehenden noch ein Wort sagen! Jene Erzählung, wie wahr sie auch sein mag, schmerzte mich sehr; aber fast mehr noch ein Brief, den ich der Erzählung, gleichsam als einen Rechtfertigungsversuch, folgen ließ.

Pfüdi: War das der Sordini, der Schmutzfink?

Sortini: Ich, mein Freund, ich war es und bin es! Ich bin der Mann! Und ich bin betrübt, jemals diesen Brief geschrieben zu haben.

Pfüdi: Mütter sind immerhin dazu da, ihre Söhne zu trösten. Doch wozu sind Väter da?

15. Szene: Aus Sortinis Autobiografie

(Fortsetzung der vorigen Szene; kann in einer Aufführung gegebenenfalls übergangen werden)

Pfüdi: Doch lass mich jetzt lesen! - Diesen Erstlingen und Wegweisern in mein Schreiben folgte der erste Romanversuch. Er ist ein Fragment geblieben wie alle meine weiteren Romanversuche, wenngleich bei diesem ersten ausnahmsweise der Anfang und das Ende von vornherein feststanden. Wie in den Erzählungen so steht auch in den Romanen mein Leben im Vordergrund. Und da ich es zumeist als einen Traum oder ein Märchen empfand, so sind auch in den Romanen viele dieser mir unbegreiflich gebliebenen Geschehnisse und Vorfälle in der Art des Traums und des unromantischen Märchens wiedergeben. Alles, wie etwa die Liebe zu einem Angehörigen oder die Zuverlässigkeit gegenüber Freunden, die Treue und Verlässlichkeit war zwar fast immer da; doch dann, wenn etwas dazwischenkam, und das geschah fast täglich, war auf einmal der Boden verschwunden, ohne dass sich etwas bewegt hätte, oder das zuvor noch Nahe befand sich nun plötzlich unendlich weit entfernt. Kein Wunder, dass da im Leben auch plötzlich eine Anklage auftauchen kann, von der niemand weiß, wie sie zustande gekommen. Diese Tatsache, angeklagt zu sein, ohne um einen festen Anklagepunkt zu wissen, bringt den Roman in Bewegung. Es ist das mit Irrfahrten angefüllte Leben eines jungen Mannes, der dahinter zu kommen sucht, warum er verflucht dahinleben muss, ohne jemals darüber schlau zu werden. Etwas anders in den äußeren Details, und doch auch wieder ähnlich undurchschaubar, entwickelt sich eine Erzählung, die das Leben als den Anbruch eines großen unfassbaren Endes beschreibt. Eines Morgens geschieht es, dass der Mann, ein Geschäftsreisender, aus einem Traum erwacht, aber statt erleichtert aufzuatmen und sich zu freuen, dass es nur ein Traum war, ist der Traum Wirklichkeit geworden; er ist zu einem Käfer geworden. In dieser Welt, in der ich meine Forschungen anstelle, erscheint kaum einer wesentlich anders als der andere, bis auf die Tatsache, dass nur die Ich-person, das Überbleibsel des einstmaligen Helden, das Pech hat Protagonist des Unheils zu sein. Nur der gehört zu den Elenden, den Angeklagten und zu einer Verurteilung Anstehenden, außer Landes gehen zu müssen, der wissen will, ob er zu ihnen gehört.

Pfüdi: Es handelt sich da also um eine Frage, die er sich nie hätte stellen sollen, wie der auf seine Unbescholtenheit bedachte Bürger sagen mag.

Sortini: Vielleicht hatten wir gar keine Wahl, der Frage zu entgehen. Ich sage dies nicht, um einen Freispruch zu erzielen. Ich sage es in der Überzeugung, dass das Gebot der Selbsterkenntnis leicht dahingehend missverstanden werden kann, als läge eine solche Überprüfung in unserem freien Ermessen. Wie aber, wenn es sich um gar kein übliches Gebot handelt, sondern um eine Mahnung, die dem zu Teil wird, den der Gott oder das Schicksal dazu bestimmt hat: ein Gebot, das uns nicht erlaubt, abzuwägen, was geschieht, wenn man es beachtet oder wenn man es missachtet? Die Selbsterkenntnis sei für alle sehr nützlich, so heißt es. Aber die Selbsterkenntnis fängt mit einer Reihe von Fragen an. Als erstes, warum wir da sind. Diese Frage drängt sich ja bei uns geradezu auf. Sobald man aber so zu fragen begonnen hat, hat man sich auch schon fast ins Unheil verstrickt. Denn wären wir ganz und gar zufrieden mit uns und mit allem, was da ist, so drängte es uns nicht zu fragen. Fragen bekunden neben der Unwissenheit immer auch eine gewisse Unsicherheit und Unzufriedenheit, ein unangenehmes Gefühl, wenn sie sich nicht gar als erste Anzeichen eines Rebellen und Empörers gegen den Schöpfer oder die Schöpfung verstehen lassen. Sonst ja gäbe es keine Bedenken, keine Zweifel und keine Widersprüche.

Pfüdi: Der Drang, sich selbst zu erkennen, würde mein Vater, der Pfarrer, jetzt sagen, ist ein Kennzeichen der menschlichen Existenz wie auch ein Eingeständnis der Verfallenheit oder der Erbsünde. Aber der gehörte ja noch zur alten Garde.

Uttnah: Und um solch einen Drang handelt es sich auch bei ihm, als er die Arche untersuchen zu müssen glaubte und er sich dabei schmutzig machte?

Pfüdi: Wem das Gebot der Selbsterkenntnis wichtiger ist, der missachtet ihr im Wege stehende Verbote.

Uttnah: So käme man im Dienst der Selbsterkenntnis nicht umhin, ein Gesetzesübertreter zu werden?

Pfüdi: Alle Gesetze und Verbote, und Gesetze sind ja seit Alters Verbote, fragen uns letztendlich, was uns wichtiger ist: die Einhaltung der bürgerlichen Ordnung und damit unsere Anonymität und Integrität und Unbekanntheit mit uns selbst, oder unser eigenes Urteil. Denn das Urteil des Vaters ist zugleich das Urteil des Sohnes. Der Sohn nun hat zwar Angst und wehrt sich scheinbar und doch ist es zugleich das Urteil, das im Namen des Vaters und des Sohnes ergeht: ein Ja nämlich zum Erforschen aller Lebenswege im Bereich des Todes. Dieses Urteil lässt sich nicht aufheben. Und so sehen wir den Sohn durch die Welt ziehen, ob es nicht doch irgendwo einen kleinen Unterschlupf und ein kleines Glück gibt. Mögen sich dabei auch kleinere Glücksmomente einstellen, ihnen folgen dann doch stets so schicksalsschwere Schläge, dass alles hoffnungsfroh Erreichte nur dazu da zu sein scheint, den großen zerstörenden Umschwung in Umlauf zu bringen. Oftmals wird er zusätzlich auch noch durch eigene Unfähigkeit in Gang gebracht, durch Versagen oder Leichtsinn oder falsche Hoffnungsfreude, mitunter auch durch das Dazwischenkommen von Fremden, von kleineren oder größeren Taugenichtsen, aber auch von Amtsinhabern, denen, wie sich versteht, jede staatliche Ordnungsmacht blindlings gehorcht.

Endlich aber sehen wir auch den Sohn, wie er sich die ausgesuchtesten Leiden auferlegt, ob er sich in einem Käfig zum Verhungern einsperren lässt oder ob er sich einem Nadelkissen überlässt, das ihn zu Tode schindet, ausforschend, ob er Wege findet ins ewige Leben.

Sortini: In summa ist mir das Leben kaum je etwas anders gewesen als das Leben der Krähen, die pausenlos den Schlossturm umfliegen oder das Leben eines Jägers, der, abgestürzt an einem Hirschsprung im Schwarzwald, nunmehr nur noch in nutzlosem Kreislauf auf seinem Todeskahn die Erde umrundet.

Pfüdi: Das, meine Herren, ist die Geschichte dieses Mannes und dieser Geschichte dienten auch seine Arbeiten an der Arche. Doch ist der Mann denn für Sie so wichtig? Ist für Sie nicht nur der Unwichtige wichtig? Dass es ihm gelingt, in seiner angestammten Trägheit, in seinem Beruf und mit seinen Pfründen unauffällig dahinzuvegetieren und, wenn die Zeit gekommen ist, ebenso unauffällig wieder zu verschwinden? Ist für Sie nicht nur wichtig, dass einer versorgt ist und versorgt wird und sie gewähren lässt, wenn nicht gar ihnen Beifall zollt? Ist für Sie nicht nur wichtig, dass einer nie auffällig wird und nie sich Sorgen macht; dass er nie ein Gebot übertritt und damit ein Zeichen setzt, dass etwas Anderes und Neues und Ungewohntes und mithin vielleicht auch etwas Umstürzlerisches in Gang kommt? Ist für Sie nicht nur wichtig, dass er sich nicht dem gewohnheitsgemäßen, bedeutungslos gewordenen Trott widersetzt und Anstalten macht, den Gang der Zeiten durcheinander zu bringen?

Ihr Herren Richter! Wacht endlich auf aus eurem gestörten und verstörten Dornröschenschlaf! Es kann nicht so bleiben, dass einer als Nichtsnutz abgetan wird, der seine Berufung darin erfährt, dass sich Fische vergeblich bemühen, wieder lebendig zu werden. Dass einer als Nichtsnutz abgetan wird, nur weil es ihm widerfährt, als hilfloser Käfer zu erwachen! Dass einer als Nichtsnutz abgetan wird, nur weil einer, auf dem Rücken liegend, es nicht schafft, auf die eigenen Beinchen zu kommen. Nehmt endlich zur Kenntnis, dass die Zeit vorbei ist, wo man der väterlichen Gewalt trotzend ein Großer zu werden sich anschickte. Vorbei die Zeit, wo man einen Zeus seinen Himmel mit Wolkendunst zu bedecken aufforderte! Vorbei die Zeit, wo man sich daran berauschte, den Traum von der eigenen Größe zu träumen.

(man hört Trompeten; die Krieger kommen zurück)

16. Szene: Wie die Krieger das Haupt des Terroristen bringen und wie die Arche davonfährt

Erster Polizist: (das Haupt des Terroristen emporhaltend) Ruft Triumph und Heil und Segen über die Welt! Denn das Gute hat gesiegt. Das Böse aber hat den Lohn erhalten, der ihm gebührt.

Kum Baba: (das Haupt entgegennehmend und es als Gallionsfigur an der Arche befestigend) Heil euch, ihr siegreichen Sieger! Da hat doch dieser Satan geglaubt, er könnte uns auch noch unser liebes Barataria mit seinem Terror infizieren. Aber da hat er sich getäuscht.

Zweiter Polizist: Zu gründlich arbeiten unsere Geräte, dass selbst noch die elendste Maus entdeckt wird.

Erster Polizist: Mag ihn der Satan eines Besseren belehren, wenn er noch immer glaubt, mit seinem Vandalismus etwas ausrichten zu müssen. Mag er sich beim Satan in der Hölle überlegen, ob er uns noch einmal New York verwüstet. Ja mag er ihm eingeben, was er bei dem Prozess zu erwarten hat, der nun auf ihn wartet. Zeit hat er genug, bis wir in New York ankommen. Dort setzen wir seinen Kopf auf das Buch des weisen Duban, auf dass er uns Rede und Antwort steht, bis alles am Tageslicht ist. Das Buch des weisen Duban steht uns doch zur Verfügung?

Uttnah: Wir haben es eben herbei und an Bord gebracht.

Erster Polizist: Ist alles an Bord?

Uttnah: Die kostbarsten Samen sind uns an Bord, die wichtigsten Stücke auch des Weltkulturerbes, des Erbes der Menschheit. Wir müssen nur noch Exzellenz rufen. Er war etwas müde geworden und hat sich noch ein wenig aufs Ohr gelegt.

Erster Polizist: Dann rufen Sie seine Exzellenz!

Kum Baba: Da kommt er ja schon.

Ur-Schanabi: Gut, dann kommen Sie, meine Herren! Steigen wir ein! Gleich heißt es: Leinen los!

Meister: (steigt in die Arche ein) Steigen wir ein, das Große zu retten!

Alle: (beim Einsteigen) Ja, steigen wir ein, das Große zu retten!

Zweiter Polizist: Amerika aber wird keinen Terroristen mehr quer durch die ganze Welt nachrennen. Wir pfeifen auf den Ruhm, die Weltpolizei zu stellen. Wir sind es müde, noch länger das unbezahlte, mühevolle und undankbare Amt zu versehen.

Pfüdi: Doch vergessen Sie nicht, meine Herren! Eine müde gewordene Welt ist eine leichte Beute des Feindes.

Erster Polizist: Wie Recht Sie auch haben. Mögen alle die Lehre daraus ziehen, auch die, die sich jetzt noch ins Fäustchen lachen, weil wir unseren Dollar ruinieren. 100 Milliarden Dollar pro Jahr für Länder, die wir von ihren Tyrannen befreit haben und die nun durch korrupte Volksvertreter ersetzt sind! Das ist zu kostspielig, das ist entschieden zu kostspielig für eine Hundestall-demokratie, die dann wieder im Chaos versinkt. Mag doch ab sofort ein jedes Land seine Hausaufgaben für sich allein besorgen oder die Menschheit geht eben vor die Hunde.

Kum Baba: Mögen alle, wie dieser Herr, einer besseren Zukunft entgegenschwimmen!

Erster Polizist: Wir aber fahren mit bis hinter die Insel, wo die Lincoln steckt, das modernste und am besten ausgerüstete Schlachtschiff aller Zeiten, das auf uns wartet. Sind wir erst in ihm, so sind wir schon so gut wie zu Hause, trotzt es doch selbst einem Zunami und einem Meteorit. Mach das nach, wer das kann!

(Während die Arche ablegt und davonfährt, die Krieger auf der Reede stehen, hört man von dort den Anfang von ?Edel sei der Mensch, hilfreich und gut?)

17. Szene: Zu den Müttern

Pfüdi: Da fahren sie hin. Wir aber bleiben da. Zur Fahrt zur Mutter war es wohl noch etwas zu früh! Doch lachen wir! Lachen wir lieber, zumal wenn ich bedenke, dass ich William sein könnte, wenn mich Exzellenz bis ans Ende durchgeprüft und ich mich ihm als Gold im Feuer bewährt hätte!

Sortini: Wir können uns nicht beklagen, auch wenn wir untergehen.

Pfüdi: Aber von einem Einzelnen kann doch nicht Wohl und Weh der ganzen Welt abhängen.

Sortini: Wer kann es wissen.

Pfüdi: Vielleicht hätten wir die Wandlungen der Welt besser mitverfolgen und kontrollieren sollen.

Sortini: Natürlich wussten wir davon noch nichts, als wir zur Welt kamen. Wir waren bereit zu lernen, was uns unsere Mutter an Lernmaterial anbot. Aber was hatte uns unsere Mutter anzubieten? Hätte sie wenigstens nichts davon gewusst, dass sie uns nichts zu bieten hatte. Aber sie wusste davon. Nur zu genau wusste sie davon, die Ärmste, auch wenn sie uns nichts sagte. Wie auch hätte sie uns etwas davon sagen sollen, wo der Beginn des Lebens ohnedies so schwer war für uns? Sie hätte uns nur noch mehr verunsichert, denn wir hätten sie ja doch nicht verstanden. Und doch, wenn ich mich an die Blicke erinnere, mit denen sie uns ansah, so ist mir, als habe sie uns doch das eine und andere gesagt, uns mahnend und warnend und an die Geschichten erinnernd, die sie uns erzählt hat. Nicht immer waren es nur dunkle Geschichten. Mitunter leuchtete auch etwas auf, was geheimnisvoll war und süß schien und was nach Worten suchte für etwas unsagbar Wunderbares, was sich dann in einem unbeschreiblichen Gestammel Luft machte. Meist aber handelte es sich um das Unverständnis, auf das wir stoßen würden, wenn wir uns auf den Weg machten, ein wahres Wort miteinander zu tauschen. Man hat ja Angst, einander zu verstehen. Lieber beginnt man gleich gar nicht, sich in einen Austausch, ein Gespräch einzulassen. Vielleicht sollten wir bei den Kindern lernen.

Pfüdi: Ich hasste es, wenn ich von den Predigern hörte, wir sollten werden wie die Kinder, und keiner wusste etwas dazu zu sagen.

Sortini: O ja, wir wissen schon einiges. So sagt man zwar, der große Künstler habe seine Kunst in der Hand, das Kind aber bekomme die Kunst so wie sie ist, unfähig, etwas anderes zu gestalten.

Pfüdi: Und, stimmt der Satz denn nicht?

Sortini: Nicht ganz. Nicht in der Betonung. Das Kind stammelt und kritzelt, das mag wohl sein; was aber der Künstler tut, das weiß ich nicht.

Pfüdi: Man sagt, dass er auswählt. Er findet und erfindet die Kunst und bedient sich der von ihm erworbenen künstlerischen Freiheit.

Sortini: Wenn ich es recht erkannt habe, muss man das ganze Leben über Kind geblieben sein und sich doch entwickelt haben, um zu einer, wenn auch nicht großen, so doch einen selbst befriedigenden, wirkmächtigen Kunst zu gelangen, z.B. wie euer Landsmann aus dem Wiesental. Ich gäb was drum, ich wäre schon so weit, oder auch nur, wenn ich wüsste, dass ich einmal so weit komme.

Pfüdi: Gewiss; er ist auch im hohen Amtsornat immer das Bübli geblieben, zu dem die Mutter gesagt hat ?Bub, ziehs Käppli ab! Die Herrschaften kommen!?

Sortini: Dieses weiß ich aber sehr wohl, dass die Kleinen groß zu schreiben vermögen; und das nicht, weil sie es gelernt hätten, sondern im Gegenteil, weil sie noch nichts wissen davon, dass man klein und groß schreiben kann. Wir aber, von Ichsucht und Eitelkeit zerfressen, müssen erst wieder lernen, rücksichtslos klein zu werden.

Pfüdi: Statt uns zu belügen, als nutzen wir eine köstliche, künstlerische Freiheit, das ewig Wahre zu gestalten!

Sortini: Wenn ich nur daran zurückdenke, wie wir hier ankamen! Die ganze Insel erschien mir wie ein großes Nest, mit mir darinnen. Aber das Nest war nicht nur für mich gemacht. Auch andere Augenpaare als die meiner Mutter blickten über den Nestrand zu uns herein. Augen, die sich in rasanter Eile verändern konnten und die bedeuteten, dass es gefährlich wäre, sich bei einem Übertritt erwischen zu lassen. Dabei hatten wir noch nie etwas von einem Gebot oder Verbot gehört. Nur zu gut erinnere ich mich noch, wie bestürzt ich war, als ich in meiner Mutter Gesicht nach einer Antwort suchte. Plötzlich war sie es selber, die, über dem Nestrand hockend, mit ihren runden, scharfen Augen jede Bewegung verfolgte. Doch sah ich stets nur eines der beiden Augen auf mich gerichtet, das rechte oder das linke, nie aber beide beisammen, fast als wär der Anblick beider Augen zu furchtbar für mich, dass sie immer eines abwenden musste. In der Tat war schon die Gestalt der Mutter schrecklich und furchteinflößend. Hakig gekrümmt und gewalttätig wie der Schnabel eines Greifvogels mochte sie auf andere wirken. Und selbst ich hätte mich kaum gewundert, wäre sie einmal mit einem noch zappelnden Wurm herbeigeflogen gekommen, den sie dann vor mir zu Brei zerhackt hätte, um mich damit zu füttern. Furcht erfüllte mich, wenn ich daran dachte, was für ein Leichtes es für sie wäre, wenn sie auch nur ein einziges Mal vergäße, dass wir ihre Kinder wären und sie uns versehentlich als Futter verspeiste! Doch dann hielt ich mir vor Augen, was alles sie bereits für mich und die Geschwister getan hatte und was sie noch immer für uns tat! Allein schon der Gedanke, mit welcher Geduld sie uns ausgetragen hatte, erfüllte mich mit Dankbarkeit. Wenn ich alles das bei mir überdachte, beruhigte ich mich wieder; ja Hochachtung zog ein in meine Seele und dann kam es nicht selten vor, wenn ich Mutter sah, wie sie prüfend auf uns schaute, ob uns nicht doch noch etwas insgeheim fehlte, dass ich mir Mühe gab, ihr nur ja ein frohes und dankbares Gesicht zu zeigen. Auf keinen Fall durfte sie merken, was für Gedanken ich mir gemacht hatte. Ja, dann achtete ich nur noch darauf, alles zuvor mich Erregende und Beunruhigende weit entfernt zu halten und nichts in mir auffinden zu lassen, was sie daran hindern könnte, auf mich zu blicken und über mir die Flügel ihrer Liebe zu entfalten.

Versteht sich, dass ich, wann immer die Frage auftauchte, sei es dass ich mich selber fragte oder sofern mich ein anderer fragen würde, dass ich mir die Antwort fest eingeprägt hatte, dass alles, was Mutter tat, ob sie uns fütterte oder den Kot wegräumte oder uns ihr Kommen durch Piepslaute ankündigte oder uns wärmte und umhegte, dass alles das nicht nur gut wäre, nein dass es unübertreffbar gut war in seiner Art. Wenn ich zu Beginn dieses Lebens noch Vorbehalte gehabt hatte, dass meine Mutter etwas von einer Vogelmutter an sich haben mochte, ja wenn mir, wann immer mich ihre Liebe umwehte, immer noch eine Spur der Erinnerung gegenwärtig war, dass ich von nun an ein so unsicheres Leben wie das eines Vogels zu leben hätte und sich in mir eine tiefe Enttäuschung breit machte, so begann ich nun gleichwohl, alles, was immer auch die Mutter tat, im stillen zu bewundern und nachzuahmen. Vornehmlich aber war es ihre Gesangeskunst, die mich lange Zeit beschäftigte. Doch was heißt da Gesang? Was Kunst? Es war ja nichts anderes als bestenfalls die Freude am Leben, die sie immer einmal wieder überkam, so dass sie den Mund öffnete und Töne hervorstieß, wenn sie die Ihren sah, so, als wollte sie sagen: seht doch her, das sind meine Kinder! Und wenn ihr vielleicht dabei auch die eine oder andere Strophe gelungen sein sollte, sei es, dass sie die Weise von ihrer Mutter und die wieder von deren Mutter übernommen hatte, so war dies doch kaum mehr als ein ganz seltener Glücksfall. Auf Grund einer gewissen Unfähigkeit der Unseren beim Behalten eines Liedguts wie auch des genauen Reproduzierens, aber vielleicht auch, um etwas eigen Erfahrenes auszudrücken, gibt es so gut wie kein Lied, das sich weit in die Vergangenheit zurückverfolgen ließe. Von einer Entwicklungslinie oder gar von einer verantwortungsbewussten Tradition ist also bei uns nicht die Rede. Viel eher ließe sich behaupten, dass etwas in uns steckt, was eben heraus ins Freie drängt, und was sich den andauernden Veränderungen entsprechend bald so, bald anders bekundet. Wahrscheinlich gibt es kaum ein Wesen, bei dem eine derartige Diskrepanz besteht zwischen dem, was es zu tun begehrt, wenn es zu singen anhebt und dem was es dann wirklich tut. Wie oft schaute ich nicht auf die Mutter, ehe sie zu singen begann! O wie sie sich jeweils Mühe gab in ihren Vorbereitungen. Wie sie in Gedanken die einzelnen Strophen durchging. Wie sie die Augen schloss, als überflöge sie noch einmal den Text mit den Noten, und wie sie, nachdem sie die Augen wieder geöffnet uns strahlend ansah, als wollte sie sagen: das weiß ich doch und kann ich doch alles. Und wie sie dann Luft holte, ihr der Kehlsack anschwoll, dass wir es fast ein wenig mit der Angst zu tun bekamen, und sie dann zu singen anhub! Und dann bekamen wir doch nur immer wieder das zu hören, was wir schon tausendmal gehört hatten mit allen den Unsicherheiten und Unstimmigkeiten und Fehlern. Wie oft war ich nicht Zeuge, wie sie sich vornahm, etwas Wunderbares auszudrücken, ja wie sie in der Vorfreude schwelgte, wenn sie sich etwas ausgedacht hatte, und dann war doch nur immer wieder dasselbe wüste und jämmerliche Gekrächz zu hören. Ewig war es dasselbe Anpiepsen der Töne, dasselbe Schnarren und Schnattern, dasselbe mühevolle Luftholen und Luftausstoßen, als wären Feinde da, die sie durch Kriegsgeschrei vertreiben müsste. Dabei war das Geschrei eher der Ohnmacht eines aufgerissenen Mundes vergleichbar. Von manch einem, der damals bei uns vorbeigekommen war, hörte ich sagen, hinter diesen unseren Mauern herrsche eine Leichenstille, so leise war Mutters Gesang, so wenig war selbst bei offenem Fenster zu hören. Natürlich bewunderten wir die Mutter, schon allein weil sie unsere Mutter war. Und nie hätte einer von uns sie darauf aufmerksam gemacht, dass sie nicht zur großen Sängerin geboren war. Und selbst wenn sie nicht schön sänge, so konnten wir ja gleichwohl begreifen, dass Singen für sie etwas Schönes war und dass es ihr etwas bedeutete, für das es sich lohnte, sich Mühe zu geben, auch wenn es ihr selber nur so miserabel gelang. Je älter ich wurde, umso mehr nahm die Vermutung überhand, dass Mutter wusste, dass sie nur so schlecht sang; ja mehr noch, dass keiner von uns jemals gut singen würde; doch das hinderte sie nicht, uns auf jede nur mögliche Weise zu animieren, es nicht an Fleiß fehlen zu lassen. Auch wenn sich euer Fleiß und eure Mühen nicht auszuzahlen scheinen, weil euch eine Anerkennung verwehrt bleibt, ja auch wenn niemand jemals einen Fortschritt bei euch würde feststellen können, selbst wenn ihr bei Tag und bei Nacht pausenlos übtet, so ist ein solches Üben doch nicht umsonst. Lasst nur die anderen singen, sagte sie nicht ohne Stolz, weil sie für die Konzertsäle geboren wurden, ihr singt, weil ihr für das Singen geboren wurdet. Schon in unserer Kindheit haben wir, wie gesagt, versucht, Mutter nachzuahmen. Vornehmlich aber, als Mutter gestorben war und ich sie so daliegen sah, still und in sich gekehrt, war mir, als hörte ich etwas von ihrem Leben erweckenden Gesang. Seit der Zeit wuchs in mir die Sehnsucht, im Gesang ihr nahe zu sein; und kaum ein Tag vergeht, wo ich mich nicht an ihr Wort erinnere, dass wir zum Singen geboren sind und dass sie uns zum Singen geboren hat.

Gewiss sind nicht alle unsere Anstrengungen gleich erfolgreich gewesen, schließlich sind wir die Kinder unserer Mutter. Das eine mag uns besser gelungen sein als das andere; doch was macht das schon aus? Auch das Unvollkommene und Kleine und Eigenbrötlerische, ja auch noch das uns Missratene und Fehlerhafte und selbst auch noch das uns Erschreckende darf mit einstimmen in den Gesang, der uns aufhebt und ruhig und still werden und zurückfinden lässt auf den Schoß der Mutter.

Nun gibt es aber doch noch etwas, was mir Sorge macht. Ein Windhauch ist ja mein Gesang, zumal wenn er für sich allein bleibt. Erst zusammen mit den anderen wird er zum Körnlein, das mit anderen Körnlein zusammengetan und gemahlen zum Mehl und zum Brot wird. Doch das ist leichter gesagt als getan. Selbst die leiblichen Brüder, wenn sie auch Kinder einer Mutter sind, werden sich im Verlauf ihres Lebens oftmals noch fremder als die fremdesten Fremden. Aber vielleicht hat Exzellenz Recht, dass wir das zu vergessen suchen sollten, ja dass wir uns lieber mit Lügen beschwichtigen und an das Gute glauben sollten, als dass wir Wahrheiten nachforschen, deren Wirkmächte uns lähmen und zersetzen und zerstören.

Pfüdi: (nachdenklich) Jeder hat sein Schicksal. Schön aber wäre es schon, wenn jeder ein Schicksal hätte, das gut ist und das wir gerne respektieren.

Sortini: Sing uns noch ein lustiges Liedchen, Freund! Du verfügst über eine kräftige Stimme und kannst es. Dann wollen wir uns auch für heute zufrieden geben und der Komödie unseren Beifall zollen.

Pfüdi:

Mir ist, als hätt ich gebettelt um mein Leben,

da hätten sie mir zu trinken gegeben;

Und nun säße ich da, vom Weine berauscht

Und hätte verbotenen Stimmen gelauscht.

 

Kennst du den Weg, den keiner darf gehen,

Wo lau die Winde der Erkenntnis wehen,

der besser noch mundet als der beste Wein

und doch darf keiner in den Weg hinein?

 

Und sie hätten gefragt und ich hätte gelacht

Und hätte gesagt: es ist die Weide zur Nacht,

wo aus der Ferne man Skylla hört bellen

und Sirenenlieder den Durchgang verstellen.

 

Dem Maultier aber, das alles durchdringt,

Die Krauseminze des Kühnen winkt,

bis dass es enthülsten Sesam gegessen

und den Tag im Abu Mansur darf vergessen.

Überhaupt hätte man mich nicht aus dem Fährboot stoßen müssen, nur weil ich der Letzte war! Was gäb ich jetzt drum, ich könnte der liebe Gott sein und es wäre mir gelungen, aus der Menschheitsgeschichte eine lustige Komödie zu machen!