{ Die Stöcke (ein absurdes Trauerspiel) }

Literatur von Martin Ganter

 

 

Ort und Zeit der Handlung: Ende August. Ein Ort wie überall

 

 

 

Personen

Stefan Jählich

Else Jählich

Rektor

Käslein, Theologe und Dekan

Hauber, Historiker, Professor

Katzendorf, Sprachwissenschaftler, Professor

Kaulkapp, Soziologe, Professor

Ein uralter Philosoph

Ratz und Spatz, Universitätsbüttel

Justizsekretär

Trauermann, erscheint später als armer Spielmann

Anwalt Dr. Habebald

Kulturdezernent Dr. Grimmlich

Frau Hahnenfuß, Sekretärin

Dr. Ratscher mit seiner Seilschaft

Prof. Dr. Wolf und Mitarbeiter

Lehrer Lämpel mit Kindern

Großmutter mit Enkeln

Ältere Frau mit behinderter Tochter

Amtmann der Verwaltung

Erster Student (Herr Raab)

Zweiter Student (Herr Stab)

Mehrere Zwischenrufer

Ministerialdirigent Dr. Korkes

Ein Maler

Inhalt

1. Akt: Auf dem Nachhauseweg

1. Szene: Auf dem Universitätsgelände

2. Szene: Jählich auf dem Weg nach Hause

3. Szene: Vor dem Amtsgericht

2. Akt: Zuhause

1. Szene: Am Fenster

2. Szene: Der Trauermann

3. Szene: Heimkehr

4. Szene: Der Hausarzt

3. Akt: Im Rektorat

1. Szene: Beim Tee

2. Szene: Mit Jählich

3. Szene: Allein

4. Szene: Studenten

4. Akt: Zuhause am Mittag

1. Szene: Die Briefe

2. Szene: Die Buben

3. Szene: Weitere Briefe

4. Szene: Der Kollege

5. Szene: Wieder zurück

5. Akt: Im Wald

1. Szene: Beim Försterhaus

2. Szene: Trauermann mit Anwalt und Fotograf

3. Szene: Die Frau mit der Tochter

4. Szene: Großmutter mit Enkeln

5. Szene: Jählich

6. Szene: Zum Hochstand

7. Szene: Jäger

8. Szene: Lichtung mit Lehrer und Kindern

9. Szene: Mit der Großmutter

10. Szene: Entdeckt

11. Szene: Auseinandersetzungen

12. Szene: Die Kollegen

13. Szene: Nacht auf dem Gipfel

6. Akt: In der Universität

1. Szene: Auf der Galerie

2. Szene: Traumwandlerisch

3. Szene: Studenten

4. Szene: Beim Audimax

5. Szene: Im Audimax

7. Akt: In der Klinik

1. Szene: Im Patientenzimmer

2. Szene: Vor dem Krankenhaus

3. Szene: Bei der Auskunft

4. Szene: Im Krankenzimmer

5. Szene: Gespräch

6. Szene: Visite

8. Akt: In einer Wirtschaft

1. Szene: Beim Kaffee

2. Szene: Imbiss der Honoratioren

3. Szene: Jählich kommt

4. Szene: Der Trauermann als Spielmann

5. Szene: Ohne die Professoren

6. Szene: Die Ärzte

7. Szene: Auf dem Leiterwagen

9. Akt: Die Feierstunde

10. Akt: Schlusslied

 

1. Akt: Auf dem Nachhauseweg

1. Szene: Auf dem Universitätsgelände

(Käslein und Hauber, zwei Kollegen, die sich unterhalten.)

Käslein: Ich sage es noch einmal und werde nicht müde, es zu sagen, dass wir hier und heute in einer Freiheit leben wie noch nie Menschen vor uns. Preis sei unserer Demokratie, Preis den Vätern der Verfassung, Preis allen, die zum Gedeihen der Demokratie beigetragen haben und immer noch beitragen! Preis sei selbst dafür gezollt, dass mitunter nicht alle Dinge ganz so laufen, wie es wünschenswert wäre, auf dass wir lernen, sie zu Recht zu rücken und ins Lot zu bringen und so zu erfahren, dass wir die Kraft dazu haben, uns immer in den besten Stand zu versetzen. Und das werden wir auch jetzt tun, werter Herr Kollege.

Hauber: Sie denken an Jählich?

Käslein: Allerdings.

Hauber: Und wenn er mit seinen Stöcken nicht nur die Hüte der Leute, sondern auch noch die Leute selber in die Luft schickte, wäre das so bedeutsam? Solange er uns in Ruhe lässt bei unserer Arbeit, mag er tun, was er will.

Käslein: O Herr Kollege, verwechseln Sie nicht Jählichs Stöcke mit einem modernen Theaterstück. Stöcke sind keine Stücke. Kunst ist eine Sache, eine andere aber die Wissenschaft.

Hauber: Immerhin hat man ihn bereits für einen Nobelpreis in Erwägung gezogen. Da können wir doch wohl stolz drauf sein. Bleiben nicht nur Exzellenz-Universität, sondern rücken auch noch auf ganz besondere Weise ins Rampenlicht der Öffentlichkeit.

Hauber: Was meinen Sie damit?

Käslein: Dass ich dagegen bin, dass wir uns durch äußere Ereignisse in unsren Entscheidungen beeinflussen lassen. Ich sage es ganz offen und ehrlich, dass ich Angst habe, wenn wir Jählich die große Rede am Tag der Freiheit überlassen.

Hauber: Haben Sie feste Gründe?

Käslein: Allerdings. Jählich ist kein Liebhaber von Versteckspielen. Er wird damit herausrücken, was er unter Freiheit versteht, um uns zum Schluss gar noch damit zu knechten. Selbst wenn er nichts als die Wahrheit spräche, wäre damit dann aber alles für die Freiheit verloren. Doch darüber müsste ich gründlicher berichten. Soviel indessen getraue ich mich zu sagen, dass unsere Freiheit großer Gefahr entgegengeht, wenn wir nicht sorgsam mit ihr umgehen.

Hauber: Als Dekan kennen Sie freilich den Kollegen besser als ich.

Käslein: Wenn meine fürsorgliche Hand stets über ihm sein könnte, sähe wohl alles anders aus. Mehr will ich dazu jetzt gar nicht sagen.

Hauber: Das ist mit wenig Worten durchaus nicht wenig gesagt. Aber ein Theologe hat es nicht nötig, viele Worte zu machen.

Käslein: Mag Jählich auch einen kantigen Charakter haben, so muss er sich gleichwohl auch anpassen. Er aber ist einer, über den mir die meisten Beschwerden eingehen. Immer wieder heißt es, dass er sich keine Zeit nimmt für die Studenten, und dass er sich nicht an die Studieninhalte hält; sodann dass er keine echten Klausuren schreiben lässt, sondern die Aufgaben schon im Vorfeld auf unstatthafte Weise bespricht, was keine objektive Beurteilung der Studenten zulässt. Auch die Evaluationsbehörde hat Entsprechendes festgestellt. Dabei ist das längst noch nicht alles. Nur um den Rektor bei Laune zu halten und ihm Wutausbrüche zu ersparen, habe ich bislang noch geschwiegen und habe alle diese Dinge clam heimlich erledigt.

Hauber: Da hat es unsereins doch besser. Ich genieße das Privileg, mich in nichts einmischen zu müssen und habe auch keinerlei Ambitionen für einen solchen Posten.

Käslein: Glücklich, wer sich der Verantwortung zu entschlagen weiß.

Hauber: Weiß man nichts, so geschieht einem auch nichts. Das mag zwar etwas feige sein; aber um zu guten wissenschaftlichen Resultaten zu kommen, muss man den Rücken frei haben. Mögen sich die Verantwortlichen darum bekümmern. Unsereinem genügt es, sich anzupassen, soweit man sich anpassen muss; im Übrigen wegzuschauen, wo nichts zu holen ist. Die Vorsicht, eine Tochter der Klugheit, war noch nie die schlechteste aller Tugenden.

Käslein: Wohl dem, der es so gut hat wie Sie. Denn wenn dann die Sache mit den Stöcken als Scharlatanerie auffliegt, dann wird man sich fragen, warum man Jählich für den Nobelpreis vorgeschlagen hat, ohne sich auch nur einmal genauer umzusehen. Wenigstens ein Gutachten hätte man doch von den Theologen anfordern sollen. Schließlich haben die Theologen mit okkulten Phänomenen die meiste Erfahrung.

Hauber: Sie halten die Stockgeschichten für okkulte Phänomene?

Käslein: Lesen Sie doch die Zeitungen! Sie sind voll davon.

Hauber: Vielleicht will er nur nachsehen, was unter den Hüten steckt? Der Mensch pflegt sich ja gern für einen anderen auszugeben als er ist. Und oft spricht er auch etwas ganz anderes als was er meint. Was man damit allerdings erwirtschaftet, weiß ich nicht.

Käslein: Das darf man sich wohl fragen. Unser Rektor indessen scheint blind zu sein. "Wir brauchen auch Querdenker", sagt er. "Darauf wollen uns die Stöcke aufmerksam machen." Vielleicht sieht er auch schon einen großen Geldsegen auf unsere Universität herabregnen. Da nützt auch nichts, ihn behutsam auf ähnliche Fälle aufmerksam zu machen, wie z.B. noch im 19. Jahrhundert, als Ignoranten und Glücksjäger in unseren Universitäten versuchten, aus Dreck Gold herzustellen. Und was sich daraus dann ergab, das war immer eine großes Fiasko, eine Riesenernüchterung, eine Beschämung des Geistes. Soweit sollten wir es, schon im Interesse Jählichs und seiner Familie, nicht kommen lassen. - Doch still! Da kommt er!

2. Szene: Jählich auf dem Weg nach Hause

(Jählich kommt vorbei mit einem Wanderstab; er befindet sich auf dem Weg nach Hause, hat aber noch einiges in der Stadt zu besorgen.)

Käslein: Aber Herr Kollege! Immer so eilig? Es ist, als flüchteten Sie vor dem Weltuntergang.

Jählich: Ja, leider.

Käslein: Dabei sollte uns doch der Weltuntergang gelassen vorfinden, wie schon Horaz angemahnt hat. Doch wie steht es mit einer kleinen Probe Ihrer Kunst? (er zieht sich rasch ein Hütchen auf)

Jählich: (lacht gezwungen) Gestatten Sie, meine Herren, dass mir eben nicht nach einem Scherz zu Mute ist.

Käslein: Immerhin sind wir es gewohnt, uns für Experimente aller Art zur Verfügung zu stellen, zumal wenn es sich um wissenschaftliche Experimente handelt. Oder ist es nicht so, Kollege Hauber?

Hauber: Ganz gewiss.

Jählich: Noch einmal, meine Herren! Lassen Sie mich gehen. Meine Zeit drängt. Musste schon ein paar Studenten unverrichteter Dinge wegschicken. Ich bin wirklich in Eile.

Käslein: Nun gut. Dann geben Sie uns Adepten wenigstens etwas zum Nachdenken. Wenn wir nun also zu Ihnen sagten "die Kraft der Stöcke, über die Herr Jählich verfügt": wie würden Sie dann den Satz beenden?

Jählich: Lassen Sie es gut sein.

Käslein: Ist das alles?

Jählich: Eigentlich ja. Aber wenn Sie noch etwas hören wollen, so möchte ich sagen, dass mich nicht verlangt, mit den Stöcken zu kommen, sondern in Liebe und im Geist der Milde.

Käslein: Nun, dann danken wir Ihnen für die Lektion.

Jählich: (weitereilend) Dabei habe ich mich heute Morgen eigens ermahnt, aufzupassen, dass mich nirgends was in Versuchung führt. Und nun geh ich schon wieder peinsam irritiert von dannen. Ein kleiner unterschwelliger Ton genügt ja schon manchmal ?Doch still, keine Rechtfertigung, still sag ich, still. Man muss sich nicht immer klar machen oder gar noch fest einprägen, wenn etwas nicht so gelaufen ist, wie man es gern gehabt hätte. Je mehr wir uns über etwas erregen, umso mehr setzen wir das Gedächtnis in Gang und schaden uns, weil es sich in uns festsetzt und sich dem Vergessen entzieht.

3. Szene: Vor dem Amtsgericht

(Hier in der Nähe befindet sich auch schon das Amtsgericht, auf welches Jählich zueilt. Vor dem Eingang steht ein Sekretär, der einen Wecken verspeist.)

Jählich: Und nun rasch noch zum Vormundschaftsgericht, damit endlich die Magensonde für meine Liebste gelegt werden kann. Ah wie schrecklich alle diese Dinge. Das ist wie damals, als der erste Rollstuhl ins Haus kam. Diese gottverdammten Rollstühle, wenn man dazu verurteilt wird, ohne je wieder daraus heraus zu kommen. Und dann muss man noch froh sein und darf sich glücklich schätzen, wenn man in den Genuss dieser gottlosen Dinge kommt und nicht auch noch darum kämpfen muss. Ah was für eine elende, was für eine peinsame Schikane auf dem Rücken der Kranken. So weit ist es nun also schon gekommen, dass ich zum Gericht muss und um Erlaubnis ersuchen, meine Frau pflegen zu dürfen. Oder bedeutet Gesundheitsfürsorge etwas anderes? (er zieht einen Schrieb hervor und liest) "Es ist erforderlich für die Betroffene - also für meine Frau -, einen Betreuer mit dem oben beschriebenen Aufgabenkreis zu bestellen, weil sie auf Grund der aufgeführten Behinderungen nicht in der Lage ist, diese Angelegenheiten selber zu besorgen." ? Das kann sie also noch. Aber wenn sie keinen Betreuer findet? Was dann? Ihr Dummköpfe von der Justiz! - "Die Anhörung der Betroffenen wird unverzüglich nachgeholt." ? Zum Teufel auch! Was habe ich mir zu Schulden kommen lassen? Hab ich mir ein reiches krankes Weib gekapert, das ich nun zu Tode betreue, um rasch an das Erbe zu kommen? Sind wir nicht seit 40 Jahren verheiratet? Und nun kommen sie einem auch gleich mit ihren Geldraffformularen, oder besser gesagt, sie lassen ihren Sekretär damit auf einen los, der einen bis auf die Unterhose durchfilzen soll. Prost Demokratie. Wenn das ein guter Stil ist. Dabei habe ich das Gericht nie um Hilfe angerufen noch auch habe ich etwas verbrochen, dass ich ihm etwas schuldig wäre. Mein ganzes Verbrechen besteht darin, dass ich meine seit 40 Jahren schwerkranke Frau aufopferungsvoll 24 Stunden am Tag pflege, statt, wie es sonst Landes Brauch ist, mich scheiden zu lassen, und dass alles, was geschieht, mit ihrem Willen und Einverständnis geschieht. Jeden Tag kämpfe ich gegen den Tod und bedarf nicht auch noch des Kampfes gegen solche Behörden!

Doch da ist er ja schon. Da sieh den Frosch aus des Gesetzes Sumpf! Als gelernter Bannerträger der hohen Justiz und als ihr Sekretarius steht er da, einstweilen noch damit beschäftigt, seinen Wecken zu kauen und Maulaffen feil zu halten, bereit Alarm zu schlagen, als ob Terroristen kommen könnten, den Palast der Justiz zu erstürmen. Und doch! Irgendwo stehen muss er ja schließlich. Und wenn ihn, seine Ehren, der Herr Amtsrichter hierher gestellt hat, dann kann er nichts dafür, dass er da steht. Dann steht er da im Dienst. Ich aber werde dem Herrn Amtsrichter nicht mehr auf die Nerven fallen, indem ich ihm rate, seinen Sekretär besser an die Leine zu nehmen.

Sekretär: Was wünscht der Herr?

Jählich: Ich wünsche nichts. Ich komme gezwungenermaßen wegen einer Betreuungserlaubnis. (Zeigt das Schreiben)

Sekretär: (schaut es flüchtig an) Ja dann gehen Sie nur herein und lassen sich an der Pforte den Weg sagen zum Vormundschaftsgericht. (Jählich geht ins Haus) Es gibt Leute, die glauben, für sie hätte unsere Demokratie eigens Ausnahmegesetze zu basteln. Aber unser Amtsrichter Golgathan, wenn er auch uns gegenüber sehr grob sein kann, von außen lässt er nichts über uns kommen. Da kann man wirklich nichts sagen. Wir brauchen kein Recht neben dem allgemeinen Recht. Und schon gar kein Stockrecht mit einer Prügelordnung.

2. Akt: Zuhause

1. Szene: Am Fenster

(Frau Jählich am Fenster mit einem Blatt Papier)

Frau Jählich: (liest)

Wenn morgens meine Seele ich ergründe,

nachdem den Kreis der Nacht sie musst durchirren

durch Schmutz und Elend und ich dann nichts finde,

als was der Liebe Lobspruch mag verwirren:

 

"Bin das denn ich?" frag ich mich, weil mit andern,

als hätt des Treubruchs Geißel uns geschieden,

ich dich erblick, bereit schon auszuwandern,

und du hättst jedes Wiedersehn gemieden?

 

Wo ich begierig, Liebste, dich zu schauen,

des Abends spät zur Nacht mich niederlege,

ob ich dich wiederfind auf grünen Auen,

und nun erspäh auf unliebsamem Wege?

 

Magst, Liebste, du mir nie genommen werden

in solcher Nacht, mein einzig Glück auf Erden.

Ärmster, und da hast du geträumt, ich wäre nicht mehr da gewesen und du hättest nach mir gesucht und Angst wäre über dich gekommen, dass ich überhaupt nirgends mehr wäre? Und dann, plötzlich, hättest du mich gefunden, still und stumm dasitzend an einem Tisch neben anderen, die da warteten? Und Wut und Zorn wären da über dich gekommen und du hättest mich gefragt, ob ich denn schon mit einem von diesen verheiratet wäre? Und dann hättest du mich von der Bank losgerissen und mit dir gezogen? ? O, Liebling, reiß mich und zieh mich nur immer mit dir, wenn ich mir selber einmal abhanden komme! Überall hin gehe ich ja mit dir! Nun aber frage ich mich umgekehrt, warum du nicht schon längst da bist? Es wird doch nichts dazwischen gekommen sein! Dass sich wieder einer vor dir aufgepflanzt und sich dir in den Weg gestellt hat! Ach, wie viel Angst wir uns doch immer um uns machen, Liebster, dass man mitunter noch gar auf den wunderlichen Gedanken kommt, dass man gar nichts so Liebes haben sollte. Aber das ist ja falsch. Es ist uns doch gegeben, dass wir daran wachsen und uns bewähren. Und mit dem größten Glück will ja immer auch das größte Unglück getragen werden, Liebster! - Doch da hör ich was. Ein Auto fährt vor. Das muss er sein.

2. Szene: Der Trauermann

(Es erscheint ein Mann mit schwarzem Zylinder, begleitet von einem Anwalt)

Trauermann: Gnädige Frau! Hab ich die Ehre, in Ihnen Frau Prof. Jählich zu begegnen?

Frau Jählich: Mein Gott, wer sind Sie und was wollen Sie? (für sich) Es wird doch meinem Mann nichts zugestoßen sein.

Trauermann: Ich bin bekannt als der Herr Trauermann. Aber Frau Professor können ganz ruhig sein.

Frau Jählich: Ich brauche weder eine Trauer noch einen Trauermann.

Anwalt: Gnädige Frau, keiner braucht eine Trauer. Wer nur immer kann, geht ihr aus dem Weg. Selbst Psychologen tun sich schwer, sie in ihr System einzubauen.

Frau Jählich: Was wollen Sie hier? Ich kenne Sie nicht, ich habe die Herren noch nie gesehen.

Anwalt: Aber Sie lesen doch die Zeitung.

Frau Jählich: Hier im Haus liest niemand die Zeitung.

Anwalt: Ist das die Möglichkeit? So gibt es einen Professor an einer Universität, der sich erdreistet, nicht die Zeitung zu lesen? Verweigert sich mithin die Früchte der freien Berichterstattung? Woher soll man sich dann das Material holen zur freien Meinungsbildung?

Frau Jählich: Eine Berichterstattung, mein Herr, schafft zumeist nur bereits bewertetes Material herbei und drückt damit eine bereits dezidierte Meinung aus.

Anwalt: So leugnen Sie die Tatsachen?

Frau Jählich: Was sind Tatsachen, mein Herr! Sogenannte Tatsachen sind oft nichts weiter als Arrangements von Vorstellungen, präsentiert durch technische Instrumente, die ihnen das Ansehen von Unantastbarkeit und Objektivität verleihen. - Doch gehen Sie, wenn Sie mir weiter nichts zu sagen haben.

Anwalt: O, allerdings haben wir noch Weiteres zu sagen. Doch da müssen wir etwas weiter ausholen. Gnädige Frau, wir sind gekommen, um Ihnen und Ihrem Mann zu sagen, dass die Rechtssache mit meinem Mandanten noch keineswegs beigelegt ist.

Frau Jählich: Von was für einer Rechtssache reden Sie? Sie reden ja, als sollte ich verhaftet werden.

Anwalt: O, gnädige Frau! Sagen Sie nichts über das Verhaftet-werden! Es kann einem viel Süße und Erleichterung verschaffen; und zwar sowohl bei Fällen, wo etwas nicht geschehen ist, was leicht hätte geschehen können, als auch bei Fällen, wo etwas geschehen ist, was leicht hätte vermieden werden können.

Frau Jählich: Was soll dieses kasuistische Kauderwelsch, diese Träumersprache mit den Weichselzöpfen?

Anwalt: Ist ihr Mann nicht zu Haus?

Frau Jählich: Nein, er ist noch nicht zu Haus.

Anwalt: Dann freilich wollen wir uns kurz fassen. Nur so viel sei Ihnen gesagt, was zu wissen unbedingt nötig ist und was Sie die Güte haben mögen, Ihrem Herrn Ehegemahl weiterzusagen. Dieser Herr hier, Herr Trauermann, mit dem Ihr Ehegemahl bereits vor den Schranken des Gerichts gestanden, um vom richterlichen Stuhl sein Urteil zu empfangen, dieser Herr hat sich nun doch entschlossen, Revision einzulegen, und zwar nicht, weil er mit dem Urteil nicht zufrieden gewesen und zufrieden gestellt worden wäre, sondern weil wir, die Pfleger und Beschützer einer nur der hohen Gerechtigkeit unterstellten und nur ihr verantwortlichen Gesetzesauslegung uns dazu entschlossen haben, das Recht nicht beugen zu lassen. Von daher haben wir auch Herrn Trauermann zugesichert, für die im Revisionsprozess anfallenden Kosten aufzukommen. Wir haben Zeugen mit fotografischen Dokumenten, die belegen, dass unser Mandant damals nicht nur des Zylinders entblößt wurde, dass er vielmehr auch einen Schlag mit dem Stock auf seinen Hinterkopf erhalten hat, der ihm eine blutende Wunde beigebracht hat, die bis jetzt noch immer noch nicht auskuriert ist. Zeigen Sie der gnädigen Frau die Wunde!

Trauermann : (er lüftet den Zylinder und zeigt die Wunde)

Anwalt: Den Tatbestand einer Körperverletzung haben wir auf jeden Fall. Wäre jetzt nur noch zu untersuchen, in welcher Absicht sie ausgeführt worden. Sie verstehen wohl, gnädige Frau, was das bedeutet, so dass ich mich nicht länger explizieren muss. Nehmen Sie mein Wort als das Wort eines durchaus nicht kleinen und unbekannten Anwalts, dass wir den Fall sehr ernst nehmen und dass wir ihn erst zu den Akten tun, wenn er einwandfrei geklärt ist. Und wenn wir uns bis hinauf an den Thron der himmlischen Gerechtigkeit prozessieren müssen!

Frau Jählich: Gottes Gerechtigkeit auf Ihr Haupt!

Anwalt: Genug, dass ihr Mann einsieht, dass es der falsche Weg ist, die Welt mit Stockkünsten missionieren zu wollen. Wie sagten wir, Herr Trauermann?

Trauermann: Nur in engstem Einvernehmen mit der Gesellschaft können Erfindungen gedeihen.

Anwalt: Hoffentlich sind sie in einer guten Haftpflichtversicherung. Der Fall dürfte Sie sonst ziemlich teuer zu stehen kommen. Der Prozesswert befindet sich in der Größenordnung einiger Millionen Euro. Ich habe die Ehre! (beide ab)

3. Szene: Heimkehr

(Jählich kommt heim)

Frau Jählich: (vom Fenster wegtretend und das Fenster schließend) My home is my castle, sagt der gutmütige Engländer. Aber das stimmt bei uns ja schon lange nicht mehr. Man greift uns ins Fenster hinein, man spürt uns nach; und nicht mehr viel fehlt, dann betritt man auch noch unser Haus. Dabei leben wir doch gar nicht in einer Diktatur. Wir leben doch in einem Rechtsstaat, in einer Demokratie, in einem Land, das sich rühmt, ein freiheitlich gesinntes Land zu sein! (Jählich ins Haus eintretend) Väterchen, bist du es?

Jählich: Ja, Mütterchen, ich bin´s.

Frau Jählich: Gott sei Dank!

Jählich: (eintretend) Ja, glücklich bin ich nun wieder da. Du hast dir doch hoffentlich keine Sorgen gemacht, Liebste!

Frau Jählich: O Du!

Jählich: Aber warum ist da alles mit schwarzen Tüchern bedeckt? Der Tisch, das Bett, die Kommode, das Lesepult?

Frau Jählich: Da ist nichts Schwarzes.

Jählich: Ach ja. Du hast ja Recht. Wie narrt mich das Dunkel. Wir müssen nicht Schwarz sehen. (indem er den Laden des 2. Fensters in die Höhe kurbelt) Fragen wir doch lieber mal die Kurbel des Rollladens, was sie uns heute orakelt. "Wie weit du bist! Wie weit du bist! Wie weit du bist!" Hörst du? Gestern sagte sie noch: "Du bist schon weg. Du bist schon weg! Du bist schon weg!"

Frau Jählich: Aber du bist noch da. Sag mir, dass du da bist, Liebster!

Jählich: Aber Liebling. Ich bin doch da. Hier, bei dir. In deinen Armen.

Frau Jählich: Ich brauche heute noch viele Küsschen von dir.

Jählich: Schätzchen, was hast du nur?

Frau Jählich: Jede Kleinigkeit bewegt mich zur Zeit wie ein Weltuntergang.

Jählich: Hast du dich wenigstens etwas geschont? Und haben dich die Schmerzen in Ruhe gelassen?

Frau Jählich: Um dich mach ich mir Sorgen, Liebster, nicht um mich.

Jählich: Aber ich bin doch wohlauf. Gesund wie der Fisch im Wasser.

Frau Jählich: Ist dir nichts widerfahren beim Unterrichten oder auf deinen Wegen?

Jählich: Nicht das Mindeste. (er isst jetzt etwas) Auf dem Weg zum Parkplatz sah ich noch ein paar Kinder. Sie spielten auf der Wiese des Campus. Ein paar Heuballen befanden sich dort, wo sie sich in allerlei Kunststückchen versuchten.

Frau Jählich: Lenkst du auch nicht ab, Liebster? Wenn dich etwas quält, musst du es Mütterchen sagen!

Jählich: Was soll mich quälen? Ich bin doch auch so einer wie die Kinder, der sich in Kunststückchen versucht, obwohl er weiß, dass die Zeit dafür längst vorbei ist.

Frau Jählich: Ja ein Kind bist du geblieben, Stefan. Komm noch mal her zu mir, mein kleiner Prinz, dass ich dich fest an mich drücke.

Jählich: O Liebste, ich sehe uns bei den Kindern bestätigt, wenn ich bedenke, wie wenig man braucht, um glücklich zu sein. Auch wir als Kinder machten einst solche Sächelchen; und dann waren wir stolz auf uns und staunten über unser Können. Und selbst später, als dann die Schulzensuren dazu kamen, ließen wir es uns nicht nehmen, große Artisten zu sein. Ich erinnere mich da noch an einen Mitschüler. Er fiel nie durch fehlerfreie Arbeiten auf und war auch sonst kein Kirchenlicht. Eines Tages aber muss eine Art von Erleuchtung über ihn gekommen sein, wohl der wunderbarste Tag seines Lebens: da verkündete er stolz, er sei jetzt dabei, seinen ersten großen Roman zu schreiben. Da schauten wir alle skeptisch auf ihn. Riehm aber, denn so hieß er, ließ keinen Zweifel aufkommen. Im Geist glaubte er schon alles zu Papier gebracht zu haben, dass er sich bereits als den großen, gefeierten Romancier sah. Bald schon freilich war von dem Roman nimmer die Rede. Und doch, hätte er sein Wort eingelöst und wäre ihm der große Wurf gelungen, es hätte ihm wohl kaum jenes erste berauschende Gefühl zurückgebracht, das ihn umwogte, als er glaubte, das große Ganze zu haben, das er doch nur zu erstreben sich vorgenommen. Ja, glücklich war er in der Vorwegnahme, es geschafft zu haben. Hätte er dann weiter gearbeitet, so wäre dann wohl noch so manches hinzugekommen, was ihm erspart geblieben. Vornehmlich die Einsicht in die Mangelhaftigkeit unserer Ausführungen, die Einsicht in unsere Fehler.

Frau Jählich: Wir lassen diese Einsicht nicht zu einem Fluch werden.

Jählich: Aber Liebste! Zumal, wenn du bei mir bist. Und du bist ja immer bei mir, Liebste!

Frau Jählich: Mein großer Schatz! Wo sonst sollte ich sein?

Jählich: Nie habe ich von mir und meiner Arbeit viel Aufhebens gemacht. Still und ruhig habe ich alle die Jahre hinweg meine Arbeit getan. Und wenn ich auch nicht zu den Professoren gehöre, die sich durch große Entdeckungen einen Namen gemacht haben, so habe ich mir doch Mühe gegeben, alle meine Arbeiten so zu verrichten, dass meine Mitarbeiter und meine Studenten zufrieden sein konnten, auch wenn ich jetzt, im Gedränge all der Ereignisse, mitunter schnell gereizt reagiere. Ich gehörte, wie man so schön sagt, zu den Stillen im Lande, bis eines Tages, es war schon die Zeit, wo ich das Ende meiner beruflichen Laufbahn abzusehen vermochte, etwas dazwischen kam. Fürs Erste und dann auch genauer betrachtet handelte es sich nur um ein kleines Nichts, das überhaupt nichts mit uns zu tun hatte. Und das wäre es wohl auch geblieben, hätten nicht zufällige Umstände aus diesem Nichts etwas gemacht, was keiner vorhersehen, wohl aber auch keiner hätte verhindern können.

Frau Jählich: Aber du hast dich daran gemacht, dieses Nichts zu erforschen, nachdem es sich nun einmal in unser Leben hereingedrängt hatte. Was du getan hast, das muss jedermann zugeben, das hast du für die Forschung getan. Und wenn man dich jetzt zu ehren gedenkt, so denke ich, dass man nicht falsch handelt; denn erstens sind dir ein paar bemerkenswerte Entdeckungen gelungen und zweitens braucht ein Forscher auch die Anerkennung und die Ermutigung durch die Öffentlichkeit.

Jählich: Ich erinnere mich noch ganz genau, wie alles begonnen hat. Es war zu der Zeit, als sich deine Krankheit ruckartig verschärfte. Damals mussten wir dann ein Computertomogramm erstellen lassen, das zeigen sollte, wie weit die Areale in deinem Gehirn bereits für immer ausgelöscht wären, und das keinem anderen Zweck diente als der bloßen Neugierde. Denn helfen konnte dir damals schon kein Arzt mehr. Das Einzige, was sie mir neben ihren Rechnungen noch attestieren konnten, das war die Verleumdung, ich hätte dich schlecht gepflegt. Dabei war es doch auf der Station von Prof. Zett, wo sie dir, bei der Heilung einer Lungenentzündung, binnen zweier Wochen einen Dekubitus an den Rücken gebracht haben. Ein ganzes Jahr brauchte ich da, den wieder los zu werden.

Frau Jählich: Ach, Liebling, quäl dich nicht mehr.

Jählich: Du hast ja Recht. Wenn man erst einmal in die Litanei des Elends geraten ist, dann gelangt man nimmer an ein Ende. Dabei wollte ich doch nur sagen, wie das mit den Stöcken begonnen hat. Damals, als sich die Erkrankung verschärfte, begann es auch, dass ich mich gejagt und gehetzt und immer auch schnell gereizt fühlte. Damals geschah es, dass ich zu einem Studenten, der abermals seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, sagte, dafür hätte es früher Prügel abgesetzt. Statt meinen Kommentar zu beherzigen, ging der Student dann zu Käslein, sich zu beschweren. Doch das Entscheidende an jenem Tag war dann die Begegnung mit dem Trauermann, wenn ich mich denn noch recht erinnere. Dass mich sein Anblick erregt hat, ja wohl in Harnisch gebracht hat, daran erinnere ich mich wohl noch. Noch nie war ich ein Freund von Leichenbegängnissen und Friedhöfen; und nun gar erst mit solchen Dingen in der Öffentlichkeit zu prunken, das war für mich unerträglich. Dass ich nun aber mit meinem Stock zugeschlagen oder dass der Mensch gar in meiner Nähe seinen Zylinder verloren hätte, daran erinnere ich mich nicht. Selbst ob ich damals einen Spazierstock bei mir gehabt habe, weiß ich nicht mehr. Wie dem aber auch sein mag, daraus wurden dann die Stöcke; und so hat alles begonnen.

Frau Jählich: Wenn du erst den großen Preis bekommst, da bin ich mir ganz sicher, dann hast du es geschafft. Dann können wir diesen Alptraum vergessen. Und wenn ich ansonsten auch noch nie etwas auf Preise gegeben habe - das weiß du ja, dass du mir immer so gefallen hast wie du bist und daran ändert sich auch weiterhin nichts -, so hoffe ich doch, dass wir dann unsere Tage in Frieden weiterzuleben vermögen.

Jählich: Wenn ich den großen Preis bekäme und ich könnte ihn umtauschen unter der Bedingung, keiner wüsste mehr etwas von meiner Kunst, du aber wärst wieder gesund, ja, Liebste, dann hätte ich es geschafft. Oder du könntest doch wenigstens wieder schlucken und wir könnten zusammen Mahl halten. Und wir müssten nicht zu den Ärzten in die Klinik, eine Magensonde legen lassen und die künstliche Ernährung bliebe mir erspart. Oder meinst du, mir schmeckt das Essen, wenn du nur daneben bist und zuschauen musst?

Frau Jählich: Lass gut sein, mein Lieber!

Jählich: Du hast ja Recht, Liebste. Wir alle wissen ja nicht, in was für einer Welt wir leben und welcher Motor alles bewegt und wohin es uns treibt; wenn wir auch ahnen, dass es das Beste wäre, wenn es eine Welt gäbe, in der wir ganz allein für uns sein könnten. Aber vielleicht kommt die ja noch, wenn sie sich auch noch viel Zeit lassen sollte. Noch steht mir der Sinn nicht danach, von der Welt wegzuziehen und fort zu fliehen. Auch wenn uns die Welt mit all ihrer Kultur, ihrer Geschichte, ihrer Religion und ihren Wissenschaften kaum mehr zu geben vermag, als uns vergessen zu machen, dass wir zu den Nichtwissenden gehören; und uns zu ermahnen, dass wir uns eingliedern und uns bewegen, wie alle um uns herum, und tun, was alle tun, und was man uns vorschreibt. Dabei ahnen wir unseren Gott doch gerade und zutiefst in unserem Nichtwissen, im Nichtwissen um das Glück unseres Zusammenseins, im Nichtwissen um die Wege der Sehnsucht, im Nichtwissen um unsere ewige Heimat. Auch was Liebe ist, wissen wir ja nicht, dieses übermächtig uns Umgreifende, dem wir kaum anders nahe zu kommen vermögen als im Loblied. Ja, die Freiheit, mit unserem Nichtwissen in ein gutes Verhältnis zu kommen, scheint mir die wahre Aufgabe unseres Lebens, die Aufgabe unserer Selbstbefreiung. Aber wir haben keine Angst, Liebste. Du und ich. Sind wir nicht stark, unerschütterlich stark in der Verbindung von Mann und Frau? Sind wir nicht eines Leibes und eines Geistes und einer Sinnstiftung, die nur uns gehört? Vielleicht sind die Stöcke in ihrer Unbeherrschbarkeit nur über mich gekommen, um mich daran zu erinnern, dass ich ganz ruhig werde in dir.

4. Szene: Der Hausarzt

(Wie der Hausarzt Dr. Ratscher kommt)

Ratscher: (ohne Vorwarnung ins Zimmer eintretend, gefolgt von einem Dutzend Mitarbeitern) Hier wären wir nun also. Dies ist die Familie Jählich , Herr und Frau Jählich. Zwei Kinder gibt es noch, aber die sind schon lang außer Haus. Ist es nicht so?

Jählich: Mein Herr, was wollen Sie? Hab ich Ihnen nicht längst als Hausarzt gekündigt?

Ratscher: Wir hatten einen Vertrag geschlossen, einen Vertrag zwischen Dr. Ratscher und der Familie Jählich. Ein Vertrag aber, mein Herr, ist eine zweistellige, wenn nicht eine höherstellige Relation. Ist er zustande gekommen, so hat er für beide Parteien Gültigkeit, jedenfalls für eine gewisse Dauer, und schließt mithin über diesen Zeitraum hinweg Verpflichtungen ein für beide Parteien. Solchen Verpflichtungen nachzukommen bin ich hier und daran kann mich auch ein Herr Jählich nicht hindern. Nur dass mein Kollege, der Neurologe Dr. Kalkmann, heute nicht mitkommen konnte, laste ich mir an.

Jählich: Getrost mein lieber Doktor. Getrost! Wir werden es zu ertragen wissen, wenn Sie uns heute noch keine schöne neurologische Diagnose abliefern. - Ein wackeres Kerlchen ist er doch, das kann man wohl sagen. Anführer einer tüchtigen Gilde in unsrer Gesellschaft. Was auch kann der Mensch besseres tun, was Schöneres sich einfallen lassen, als sich den Händen dieser wundervollen Kindergärtner für die erwachsenen Kinder anheimzugeben! Ja meine Damen und Herrn! In diesen Vorgärten und Kindergärten ist für Sie gesorgt! Da bleibt keiner unumsorgt. Überall hat es Fenster und Gucklöcher und Überwachungsanlagen, von denen aus man selbst noch von den Ordinationsräumen auf Ihr Wohlergehen achtet. Dabei wird keineswegs nur für ihre somatischen Wehwehchen gesorgt, auch ihrer Psyche wird trefflich aufgeholfen, wann immer sie dessen bedarf. Selbstverständlich weiß man dabei fein das vegetativ Animalische und Psychosomatische vom unsterblichen Teil der Psyche zu trennen. Für alles gibt es hier Spezialisten. Sie müssen nur bei der Paxis Dr. Ratscher anrufen und ihren Obulus von 30 Euro Telefongebühr entrichten: dann geht alles wie am Schnürchen. Oder ist das kein Service hier!

Ratscher: Das nächste Mal aber ist das anders. Da ist dann Dr. Kalkmann mit dabei.

Jählich: Wird das dann nicht ein etwas teurer Hausbesuch?

Ratscher: Das haben Sie doch gar nicht zu bezahlen, Herr Jählich. Sie sind doch erstklassig versichert.

Jählich: Und was treiben Sie, mein werter Herr?

Erster: Physiotherapie auf physiologisch-neurologischer Grundlage.

Jählich: Und Sie, gnädige Frau?

Zweiter: Mein Fach ist die Logopädie. Dr. Ratscher hat mich mitgenommen, dass ich den Schluckbeschwerden Ihrer Frau abhelfe.

Jählich: Und Sie?

Dritter: Ich bin Logotherapeut. Wenn ein Kranker Not hat, sich auszusprechen, stehe ich ihm bei, die rechten Worte zu finden.

Jählich: Und wenn er keine Not hat?

Dritter: O distinguo. Da kann dann immer noch sein, dass er meint, keine Not zu haben, und leidet doch die größte Not.

Jählich: Und sie?

Vierter: Wir sind Pfleger und Pflegerinnen, speziell ausgebildet für die verschiedensten Krankheiten. Medizinisch und psychologisch allgemein ausgebildet und dann noch spezialisiert, ich z.B. für die Dekubitusprophylaxe.

Jählich: Und diese Ausbildung setzt Sie in Kraft, alles genau und wahr beurteilen zu können?

Ratscher: Diese Leute vertreten die heute gültige Lehre und besuchen Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen. Mehr kann man nicht verlangen. Das ist genug.

Jählich: Und was Sie angeht, mein Herr? Worauf sind Sie spezialisiert?

Fünfter: Ich betreue die Angehörigen der Schwerkranken.

Jählich: Also mich? Das ist ja wunderbar. - Ohne gefragt zu werden, wirst du betreut von einem Heer selbsternannter Helfer und Störenfriede, einschließlich den Spezialisten für das Stadium finale.

Ratscher: Dass ich auch für meine Mitarbeiter zu sorgen habe, dass sie zu Brot kommen, tut nichts zur Sache. Und dass ich selber viele Auslagen habe, soll uns hier weiter auch nicht beschäftigen. Aber auch die Miete für die Praxisräume, für die Arzthelfer, für die Reinigungsanstalten etc. etc.: das alles will bezahlt sein.

Jählich: Fehlt nur noch der Kirchendiener, damit er auch gleich für die richtige Farbe des Sargs sorgt. Oder hatten Sie mich nicht damals bei ihrem ersten Besuch gleich gefragt, welcher Konfession ich angehöre und woran ich glaube? Und waren Sie da nicht schon gleich mit dem Stift bei der Hand, sich den geistlichen Herrn vorzumerken, den Sie uns dann zuschicken, wenn trotz ihrer riesigen Seilschaft mal was daneben gehen sollte? Sicher ist doch sicher. Oder nicht? Vielleicht haben Sie auch schon ein paar Leichenprediger bei der Hand, für jeden Fall einen, damit nur ja keiner in den falschen Himmel hinaufrutscht?

Ratscher: Wenn wir bald schon die Kirchensteuer in unserem Land abgeschafft haben, wird selbstverständlich auch der Seelsorger in meinem Gefolge mit dabei sein. Dann obliegt es unsereinem, auch ihm zu seinem Brot zu verhelfen. Im Übrigen, mein Herr, haben Sie längst noch nicht alle Wege skizziert. Nur den Normalweg!

Jählich: Ach ja. Sie haben Recht. Das beste Ende findet eine Geschichte, wenn sie ihr schlimmstes Ende gefunden hat. Aber zum Teufel! Gibt es etwas Schlimmeres als den Tod?

Ratscher: Hier liegt ja gerade das Problem. Vergessen Sie nicht, mein Herr, dass das menschliche Leben einschließlich seines Endes nur erträglich und verkraftbar ist, wenn es sich in einem größeren sozialen Verband abspielt. Wer sich nicht einordnet und allein bleibt, ist selber schuld, wenn er für immer verloren geht.

Jählich: Muss nicht jeder für sich aufarbeiten, was für sein Leben von Bedeutung ist? Genügen da Vordenker und Aufseher?

Ratscher: Genug der Präliminarien. Kommen wir endlich zur Sache!

Jählich: Jawohl, mein Herr! Kommen wir endlich zur Sache! Ich bin gespannt, was wir uns noch zu sagen haben, nachdem Sie das Paket fürs ewige Leben so schön verschnürt haben. Vielleicht über die Briefmarke, ob wir eine Sonderbriefmarke aufkleben und was für einen Poststempel wir wählen?

Ratscher: Haben Sie nicht eine etwas lose Zunge, mein Herr?

Jählich: Mag schon sein.

Ratscher: Ich finde, Sie sollten Ihre Zynismen etwas besser im Zaum halten.

Jählich: Lassen Sie sich gesagt sein, mein Herr, dass auch ich immer wieder mal ausatmen muss. Das gehört zur Systole oder, wenn Sie so wollen, zur Freiheit des menschlichen Lebens. Doch sagen Sie jetzt noch rasch, was Sie glauben, mir sonst noch sagen zu sollen.

Ratscher: Nutzen wir die Zeit!

Jählich: Ja, nutzen wir die Zeit, auf dass wir schon bald weder mehr von Amtsgewalt und Amtsmissbrauch unterdrückt noch auch von Dummheit und Torheit geplagt werden!

Ratscher: Schön und gut. Und was weiter? (zum Logotherapeuten und zum 5. Pfleger) Achten Sie bitte gut auf alles, was uns Herr Jählich zu erzählen hat!

Jählich: Jawohl, meine Herren, achten Sie darauf, dass sie weder von Menschenhand noch von Gotteshand gegeißelt und gekreuzigt werden.

Ratscher: (er beginnt, Frau Jählich abzuhören) Herr Jählich, nun ist es aber genug!

Jählich: Sehr wohl, Herr Ratscher.

Die gesamte Seilschaft: Herr Dr. Ratscher.

Jählich: Seien Sie nur friedlich, meine Damen und Herren.

Ratscher: Geht es uns nicht darum, Ihre Frau aus dem Tal der Tränen zu holen?

Jählich: Lassen Sie meine Frau! Sie weint nicht.

Frau Jählich: Lass ihn doch, Liebster!

Jählich: Ich mag es nicht, wenn sich diese Leute so furchtbar wichtig nehmen. Solche Sänger gibt es an jeder Straßenecke. Sie handeln mit gedruckten Predigten und wohltemperierten Chören und allerlei sonstigem Klimbim. Haben Sie sich erst einmal Zugang verschafft in ein Haus, so wird man Sie kaum mehr los. Bei jedem Hausbesuch bläuen sie dir ein, dass es ein Irrtum ist, zu meinen, niemand könne einen zwingen, einen Arzt zu halten. Einen Hund zu halten kann Sie niemand zwingen, aber einen Arzt? Den müssen Sie sich halten; sonst bekommen Sie Schwierigkeiten im Leben und im Sterben. Und vergessen Sie bitte auch nicht die vielen Vorteile, die sich Ihnen bieten. Mit einem Dr. Ratscher an der Seite verlieren Sie auch nicht den Kontakt zur Gesellschaft, nicht einmal, wenn Ihre Frau todkrank ist. Der Gott der Gesellschaft ist mit Ihnen und den Gott des vereinsamenden Individuums haben Sie nie nötig, kennen zu lernen.

Ratscher: Dann darf ich mich also für heute empfehlen.

Jählich: Für immer, mein Herr! Für immer!

Ratscher: Überlegen Sie sich gut, was Sie da sagen. Auch ein Arzt wird einmal müde. (zu seiner Seilschaft) Kommen Sie, meine Damen und Herren. Sie haben jetzt einen Einblick getan in dieses Haus und in seine Bewohner, so dass Sie in etwa wissen, was Sie hier erwartet. (ab)

Jählich: O Du Liebste, wie verwirrt ich bin!

Frau Jählich: Liebster, Du!

Jählich: Geb es Gott, dass er nie mehr vorbeikommt! Hat sich als Hausarzt aufgedrängt, als man dich aus der Klinik entließ.

Frau Jählich: Ach, Liebster! Lassen wir es gut sein und quälen wir uns nicht! Komm zu mir und ruh dich ein bisschen aus! Das wird dir gut tun.

Jählich: O Du, Liebste, Du!

3. Akt: Im Rektorat

1. Szene: Beim Tee

(Rektor und Kulturdezernent Dr. Grimmlich bei einer Tasse Kaffee)

Rektor: Sie können sich vorstellen, dass wir als hiesige Universität berufen sind, das bedeutende Fest auszurichten.

Grimmlich: Das gilt freilich auch für uns als die Väter dieser Stadt. Und wenn Sie gesagt haben, dass wir da nichts dem Zufall überlassen dürfen, so gilt das für uns ebenso wie für Sie, nur dass es dabei um etwas andere Kompetenzen geht. Was Sie als Rektor der Universität angeht, so obliegt Ihnen die Ausgestaltung des Festes, gleichsam die Organisation und Entfaltung des Geistes. Was uns betrifft, so haben wir vornehmlich auf die äußere Sicherheit zu achten. Auf keinen Fall darf es zu irgendwelchen Zwischenfällen kommen, seien sie von Menschen gemacht oder seien sie auch nur durch kleinere Versäumnisse oder Gedankenlosigkeiten von unserer Seite ermöglicht. Heutzutage ist das vielleicht das Wichtigste, das Zustandekommen von speziellen ortsgebundenen oder situationsbedingten Gefahren zu antizipieren, selbst wenn man dadurch auch noch einige zusätzliche mit heraufbeschwört.

Rektor: Das ist freilich keine kleine Aufgabe.

Grimmlich: Deshalb aber machen wir das alles ja auch in aller Stille unter uns ab. Wobei wir hier selbstverständlich nur über solche Gefahren reden, die etwas mit ihrer Institution zu tun haben.

Rektor: Nun denn. So lassen Sie mich wissen, an was für Gefahren Sie denken, gegen die wir schon im Vorfeld gemeinsam etwas zu tun vermögen.

Grimmlich: Wenn wir es auch mit keiner Love-Parade zu tun haben sondern nur mit einer Gedenkfeier am Tag der Freiheit und wir mithin viel weniger Gäste erwarten, so ist das kein Grund zur Entwarnung. Eine dieser Gefahren ist gegeben durch die Wahl des Festredners. Was diesen Punkt angeht, so wäre wünschenswert, wenn der Redner in der Öffentlichkeit bekannt und geschätzt wäre. Eine allgemeine Reputation ist zwar noch nicht alles, da gibt es ja zwar immer auch noch Gegner, denn der Mensch liebt den Widerspruch, aber das wäre schon mal was. Sodann aber auch, wenn der Festredner festliegt, kommt es darauf an, wie er seine Rede hält. Ich denke hier noch nicht einmal an Provokationen. Wenn zwei verschiedene Leute ein und dieselbe Rede halten, ja selbst wenn sie diese auf dieselbe Weise vortragen und auf dieselbe Weise mimisch inszenieren, so ist noch immer nicht gesagt, dass sie damit dieselbe Wirkung erreichen. Gesetzt, da sind Reporter der lokalen Zeitung, die ihn bei der Rede fotografieren, und er lächelt. Bei dem einen Redner ziemt dieses Lächeln an dieser Stelle und kommt sogar ausgezeichnet an, bei dem anderen aber ziemt es sich nicht, weil es nicht zu seinem Naturell passt und weil man von ihm da etwas anderes erwartet. Am besten ist da also allemal, wenn jeder, so gut es nur geht, sich hinter der Maske des ewig Gleichen und Unverfänglichen versteckt.- Immerhin haben Sie ja schon einen Festredner ins Auge gefasst, den Sie für einen redlichen und verlässlichen, der Rede mächtigen Mann halten. So viel steht dabei wohl fest, dass er während seiner Rede kein Maschinengewehr hervorholt und um sich zu schießen beginnt.

Rektor: Das ist gänzlich absurd.

Grimmlich: Aber nicht gänzlich unmöglich. Immerhin sprachen Sie selber einmal in einer Ihrer Schriften davon, dass jeder Mensch Träger einer zutiefst unerklärbaren und rätselhaften Biografie ist.

Rektor: Wobei ich allerdings nicht an so etwas gedacht habe. (er sieht Jählich auf seinem kleinen Monitor über den Gang kommen) Aber da kommt er ja.

Grimmlich: Wer?

Rektor: Der von uns in Aussicht genommene Redner. (ruft) Frau Hahnenfuß! Holen Sie uns doch bitte Herrn Prof. Jählich herbei! Er geht eben auf das schwarze Brett zu. Aber beeilen Sie sich! Sonst ist er vorbei. Er ist bekannt dafür, schnell seinen Weg zu gehen.

Jetzt bin ich gespannt, was Sie zu unserem Kandidaten sagen.

Grimmlich: Jählich sagten Sie? Ist das nicht der Mann, der in der letzten Zeit bei uns für böse Schlagzeilen gesorgt hat?

Rektor: Sind das nicht alles nur Dämpfe aus der Gerüchteküche, wie sie der Menge behagen, die etwas für ihren Blutrausch braucht?

Grimmlich: Wie uns scheint, kommt immer einmal wieder etwas Zwanghaftes über ihn, was ihn in der Öffentlichkeit zu einem Risiko macht. Freiheit aber hat doch wohl nur antithetisch mit Zwang zu tun.

Rektor: Ein Talent ist bekanntlich nie nur ein Quell außerordentlicher Freuden. Gleichwohl aber ist er unser Mann und der Mann der Stunde. Warten Sie ab. Gleich sollen Sie Prof. Jählich sehen.

2. Szene: Mit Jählich

(Jählich kommt hinzu)

Rektor: Herr Kollege Jählich. Gut, dass Sie unsere Bitte nicht abgeschlagen haben. Wir wissen zwar, dass Sie stets in Zeitnot sind, doch wenn Sie ganz kurz bei uns Platz nehmen, wären wir Ihnen sehr verbunden. Ich habe hier den Kulturdezernenten der Stadt bei mir, Herr Dr. Grimmlich, mit dem ich Vorgespräche führe mit Blick auf die von uns auszurichtende Feier am Tag der Freiheit in diesem Jahr.

Jählich: Sehr erfreut!

Rektor: Und nun nehmen Sie aber doch bitte Platz!

Grimmlich: Sie sind der Mann der Stöcke?

Rektor: Dass Kollege Jählich der Zuchtmeister der Nation zu werden sich bestrebte, das wird man wohl kaum behaupten dürfen. Dass er aber ein großer und vorzüglicher Denker ist und dass er zugleich auch Experimenten auf der Spur ist, die bislang noch niemand gemacht hat und die sich als eine Segensquelle für die Menschheit herausstellen können, dafür stehe ich.

Jählich: Magnifizenz!

Rektor: Jawohl, Herr Kollege Jählich, Sie hörten durchaus Recht. Ich bin einer Ihrer großen Bewunderer. Und deshalb habe ich mich auch stark gemacht, Sie als Redner zu nominieren; in der Hoffnung freilich, dass Sie einwilligen.

Jählich: Was aber hätte ich denn vorzuweisen, was mich empfehlen könnte? Wohl habe ich mich immer einmal wieder mit dem Begriff der Freiheit auseinandergesetzt, aber doch nur marginal und, wie Herr Kulturdezernent, Dr. Grimmlich, ganz richtig bemerkt hat, bin ich mir weder in meinen Gedanken und Worten, noch auch im Werk meiner Hände sicher. Käme endlich noch hinzu, dass mir meine Frau schwer krank zu Hause daniederliegt, so dass es alles in allem nicht ratsam sein dürfte, mich als Redner vorzusehen.

Rektor: Für eine schwerkranke Frau gibt es erstklassige Pflegekräfte. Zumal bei einer Kapazität von ihrer Qualität wäre es beschämend, wenn uns das nicht gelingen sollte. Immerhin haben wir auch Ihren Namen mitsamt Ihren Arbeiten nach Stockholm weitergereicht. Von daher, lieber Kollege Jählich, dürfen Sie sich nicht beliebig klein machen. Von daher haben Sie die Pflicht, uns und unsere Universität, die ja bekanntlich etwas mit Demonstrationen des Geistes und der Geistesgaben zu tun haben, zu unterstützen. Hören Sie nur, Dr. Gimmlich, was Prof. Jählich schreibt: Ein Richter ohne Verlangen, der Gerechtigkeit zu dienen, kann nicht leben. Auch wenn er zu wissen vermeint, dass es keine solche gibt, darf er dem nicht nachgeben. Erst im Prozess gegen sich selber hat er sich zu behaupten und sich betreffen zu lassen, dass es ihn zu sich bringt. Oder nehmen wir einen Lehrer! Was wäre er, wenn er nicht an die Lehrbarkeit der Lehre glaubte! Auch bei ihm gilt, dass er der Anfechtung zu widerstehen hat, als gäbe es keine Lehrbarkeit. Wir alle müssen uns zu etwas Festem durchringen. Wir müssen daran glauben, dass es nicht nur einen Weg durchs Leben bis an die äußerste letzte Pforte gibt, sondern auch einen Weg dort hindurch. Und nicht nur daran glauben müssen wir, wie die Kindlein, wir müssen uns auch über den Weg klar werden, so weit wir dies nur vermögen, und müssen dann alles daran setzen, diesen Weg zu gehen. Das ist Original Jählich.

Grimmlich: Und warum müssen wir das?

Rektor: Ich denke, dass das etwas mit Jählichs Konzeption von Freiheit zu tun hat. Der Mensch, den es nicht nach Freiheit verlangt, sucht nach dem Diktat eines Müssens. Oder ist es nicht so, Kollege Jählich?

Jählich: Meine Herren, ich darf mich empfehlen. (will gehen)

Rektor: Ganz Recht, Herr Kollege! Belassen wir es dabei. Fragen lassen sich bekanntermaßen oft viel rascher stellen als beantworten, auch wenn es Lösungen gibt. - Lassen Sie mich noch diese letzten Notizen vorlesen! Sie entstammen Ihren letzten Veröffentlichungen im Internet, deren Leser zu sein ich mich rühme. Jawohl, Herr Dr. Grimmlich, bevor ich die Morgenzeitung aufschlage, sehe ich erst nach, was Kollege Jählich Neues publiziert hat. Hier schreibt er in einem Aperçu über einen unserer tragisch ums Leben gekommenen Dichter: "War es dies, dass auf der Erde kein Platz mehr für ihn war? Oder weil es nur eine einzige Freiheit für den Menschen gibt: Ja zu sagen zum ewigen Verschwinden im Nichts?" Und nun folgen Überlegungen zur Generationenfolge. "Die Eltern stellen einen ins Sein und führen einen ein. Dann aber, wenn sie diese Aufgabe erfüllt haben, ziehen sie sich selber wieder ins Nichts zurück. Von da an wird der Sprung nach dem Nichts laut. Freiheit als Freiheit zum Sprung ins Nichts. Freilich wird er nochmals ein wenig verschoben und aufgeschoben, wenn einem der Liebste oder die Liebste zur Seite rückt. Erst wenn dann auch die Liebste nicht mehr ist, gehen einem vollends die Augen auf." Und dann dazu noch: "Die Freiheit Ja zu sagen zu allem, was einmal letztendlich über uns kommt, und dieses Ja-sagen als eine Aufforderung zu verstehen, die an uns ergeht: eine Aufforderung, zu der wir uns als Subjekt einen übermächtigen Schöpfergott in Menschengestalt vorstellen können, die wir aber auch als geistiges Prinzip, als in uns waltenden Imperativ zu denken vermögen oder auch nur als das Echo eines umfassenden Gewissens: diese Freiheit nenne ich Gott, sie definiere ich als den Gott aus dem Geist der menschlichen Freiheit." Nun, wie ist das gesagt? Wäre das nicht ein bewegendes Stück im Kontext einer solchen Rede?

Grimmlich: Ich bin nicht der Mann, Geistesprodukte aus dem Stand zu beurteilen. Ich bin nur dazu da, alles daraufhin zu untersuchen, ob es Gefahren von unserer Stadt abwehrt.

Jählich: Und ich bin nicht der Mann, der noch länger da bleiben kann.

Rektor: Sie wollen wirklich schon gehen? Jetzt, wo ich zum Disput einlade?

Jählich: Verehren wir die Freiheit, die sich auch einmal zu einem Nein entschließt! Meine Frau wartet da doch immerhin auf mich.

Rektor: Und Ihr Beruf?

Jählich: Ich widerrufe.

Rektor: Was soll das heißen?

Jählich: Im Zweifelsfall geht mir meine Frau vor.

Rektor: Und die Forschung und das Ansehen unserer Universität?

Jählich: Im schlimmsten Fall gehe ich vorzeitig in Pension. Zwei Semester hätte ich noch. Ich bin überzeugt, dass wir bedeutende Nachwuchstalente haben, die die kleine Lücke, die ich hinterlasse, in Windeseile schließen.

Rektor: Das hieße dann aber doch, dass Sie uns als unser Mann am Tag der Freiheit nicht zur Verfügung ständen.

Jählich: Ich bin mir ganz sicher, dass es da noch andere und bessere Redner gibt. Z.B. den Kollegen Katzedorf.

Rektor: Überdenken Sie es noch einmal gut, Kollege Jählich, ehe Sie uns mit einer Absage brüskieren. Es wäre ein Schritt in die falsche Richtung. Zumal jetzt. (Jählich geht ab)

3. Szene: Allein

(Jählich allein)

Jählich: Zumal jetzt? Was soll das heißen mit diesem drohenden Unterton? Wo sind wir denn? Und dies alles im Vorfeld des Tags der Freiheit? Überhaupt dachte ich immer, ich sei durchschaut mit den Stöcken und eine solche Bemerkung machte doch auch der Herr von der Stadtverwaltung. Nur der Rektor hinderte ihn daran, ganz aus sich heraus zu gehen. Doch lassen wir vorerst einmal alles auf sich beruhen. Das wird das Beste sein. Es könnte sonst als aufdringlich gedeutet werden und das Gegenteil bewirken. Wenn aber noch einmal eine Anfrage kommen sollte, werde ich unverzüglich und unmissverständlich ablehnen.

4. Szene: Studenten

(Studenten mit Hüten auf dem Kopf bilden eine Gasse, durch die Jählich läuft, und deklamieren dabei; dabei lassen sie die Hüte vom Kopf fallen)

Dichter, Denker und Gelehrte,

Geistlichkeiten, unbeschwerte,

Magistrate, Senatoren,

Fürstensöhne hochgeboren:

Wenn sie ihre Lippen pressen,

ein paar Wörtlein abzumessen,

wie so geistreich schauen sie drein!

Wollen unsre Führer sein!

 

Und doch sind sie Jammerhunde

in dem öden Weltengrunde,

suchend selbst nach eitlem Tand.

Unbestand nur hat Bestand!

Nirgendwo zeigt sich ein Pfad.

Jedes Passwort birgt Verrat.

Namenlos in jedem Namen

schlummert der Vernichtung Samen.

4. Akt: Zuhause am Mittag

1. Szene: Die Briefe

(Frau Jählich in der Sonne am Fenster im Rollstuhl)

Frau Jählich: Da hab ich doch wieder einmal die vielen lieben Briefe um mich versammelt, die mir mein Liebster geschrieben und die ich ihm geschrieben, als wir noch um unsere Liebe so schmerzvoll rangen. (Küsst sie) Ihr Zeugnisse einer vergangenen Zeit. Aber sie ist ja noch immer da, unsere Zeit, wo wir noch da sind, Schreiber und Empfänger. Beim Lesen rückt die vergangene Zeit wieder in die Gegenwart und wird lebendig, auch wenn alles schon über 40 Jahre zurück liegt.

Hier sind die Briefe aus Rom. Wir waren damals 24 bzw. 25 Jahre alt, waren bereits 5 Jahre miteinander bekannt und befanden uns ein Jahr vor unserer Hochzeit. Mein Liebster war nach Rom gefahren, während ich zuhause auf das Staatsexamen in Medizin lernte. Versteht sich, dass ich auch gern mitgefahren wäre, auch wenn das freilich unmöglich war. Zumal als dann die Briefe ankamen, in denen mir Stefan so Spannendes aus der Stadt berichtete, o wie überkam mich da immer wieder eine Sehnsucht, bei ihm zu sein. Und wenn er auch nie vergaß, meiner zu gedenken, so war mir zugleich so selig und beklommen zu Mut, dass ich hätte weinen mögen. Mitunter, wenn er so leidenschaftlich und überschwänglich berichtete, fielen mir immer auch wieder die Tage ein, die wir hatten durchstehen müssen, als wir uns noch nicht ganz so sicher waren, als ich noch zögerte, mich an ihn zu binden. Sie waren ja noch nicht lange vergangen.

Damals brauchte ich noch Zeit, mit seiner Art zu Recht zu kommen und mich an ihn zu gewöhnen. Es ist ja auch keine kleine Aufgabe, sich als junge Frau für einen Mann zu entscheiden, der sich um uns bewirbt. Mag es einem vor allem auch darauf ankommen, sich selber weiter zu entwickeln, so muss einem doch auch der junge Mann echte Beweise erbringen, dass es ihm Ernst ist, sich langfristig in einen wechselseitigen Austausch einzubringen. Pflegt er nur seine Arbeiten für sich, dass man Gefahr läuft, ihm später als Gefährtin ein Stein im Weg zu sein, dann lässt man lieber die Finger von ihm. Was mich betrifft, so hatte ich immer das Bedürfnis, gemeinsam mit einem verlässlichen Freund den großen Fragen des Lebens nachzuspüren. Ruhe und Bewegung, Zweifel und Sicherheit, etwas Närrisches und dann aber auch immer wieder etwas Unerschütterliches und Ernstes suchte ich in ihm, zumal wenn es um die Hoffnung auf eine große Liebe ging. Leider wirkte sich mein Elternhaus nicht eben begünstigend und förderlich auf unsere Beziehung aus. Man wollte Stefan nicht, der bereit war, den Lebensweg mit mir zu teilen. Er sei noch zu jung und habe noch kein Examen, so hieß es. Und da ich nicht ganz von ihm zu lassen vermochte, du wirst schon noch sehen, hieß es dann, wohin das führt. Dabei meinte man, dass es Stefan nie zu einem Studienabschluss brächte und dass ich mich durch eine zu frühe Bindung in Not und Elend verstrickte. Die Augen werden dir aufgehen, wenn es zu spät ist, so hieß es dann alsbald sogar. Dann wirst du bereuen, nicht auf uns gehört zu haben. Manchmal wurde der Ton dann sogar abfällig. Dann hieß es: Erst studieren, dann pussieren! Die Entwicklung unserer Liebe ließ sich dadurch aber nicht aufhalten. Als wir dann beide das Studium hinter uns gebracht hatten und selbständig waren und nun doch alles neu und anders hätte beurteilt werden müssen, war der Ton noch immer rau. Bis nach der Geburt des ersten Kindes. Entweder Stefan oder der Vater, der Freund oder die Eltern: das war die Alternative. Das war der Gegenstand der Anklage, das die unerbittliche Wahl. War nun in den ersten Jahren ich diejenige, die sich zurückhielt und dem Liebhaber das kaum mehr Erträgliche zumutete, so war es dann später immer mehr auch ich, der viel zugemutet wurde. Zumal in jenen Tagen von Rom. Da war ich diejenige, die in besonderem Maße litt. Stefan hatte damals schon seine Examina abgeschlossen. Aber er hat mich verstanden und er hat mir auch geantwortet, so wie es gut war für unsere Liebe. Und es ging ja dann doch auch alles gut! Gott im Himmel! Es ging doch noch alles gut aus.

Hier habe ich nun die Briefe chronologisch geordnet und jeweils das Thema außen aufs Couvert geschrieben: Ankunft in Rom. Erste Eindrücke aus dem antiken Rom. Die via sacra. Das Forum Romanum, der Palatin, das Kolosseum, das Pantheon ... Dann nach den Zeugnissen des antiken Rom, die Zeugnisse des Christentums. Rom ist ja nicht nur eine Stadt, in der sich Weltgeschichte zugetragen hat, es ist auch eine Stadt, wo man, wie kaum anderswo, ins Nachdenken über die Geschichte der Menschheit, ihre Herkunft und ihren Fortgang zu geraten vermag. So hat es ja auch Stefan damals schon festgehalten.

Hier ist der Brief mit seinen Eindrücken in der Sixtinischen Kapelle. (sie liest) "Manchmal denk ich, es wäre gut gewesen, die Menschheit wäre nie über eine Beschreibung der Kosmogonie herausgekommen. Ich meine, wenn wir nie nötig gehabt hätten, uns weiter hinaus in die Geschichte der Schöpfung zu verlieren. Wozu auch hätte es eigens der Aufstellung von Codices und Gesetzen bedurft, wenn wir uns ohne Machtgier und ohne Egoismus und Opportunismus in der rechten Scheu und Ehrfurcht im Gebäude der Schöpfung bewegt hätten? Oder waren denn Himmel und Erde und selbst die Unterwelt, die ja auch als Häuser gedacht und durch einen Tempel vermittelt wurden, nicht ausreichend dazu? Und die göttlichen Mächte, einerlei was für Namen man ihnen unterlegte, waren nicht auch sie wie Gebäude, deren Standbilder wiederum wie Gebäude vor dem Menschen standen, der selber als ein Gebäude ihnen nachzueifern bestrebt war? War es nötig, dass sich das böse Blut regte in diesem Haus und sich darin der Same des Fluchs fand?" Ja, so schrieb mir Stefan, ehe er dann auf die Darstellung des Jüngsten Gerichtes zu sprechen kam, mit der wir uns etwas schwer taten. Dieser athletische Christus als zorniger Weltenherr, das passte nicht zu den Vorstellungen und Erwartungen, wie sie sich uns durch die Lektüre der Evangelien gebildet hatten. Im Tor durch den Tod zum wahren und ewigen Leben konnte sich doch kein solcher Richter aufhalten. Fehlte ihm nur noch ein Stock in der Hand und ein Hund an seiner Seite, so ein Kerberos, meinte Stefan damals lächelnd. O wie oft haben wir uns nicht gerade über diesen Durchgang unterhalten. Mag das auch für die vielen, denen man Unrecht getan hat, ohne es zu ahnden, ein besonderes Bedürfnis sein, dass ihnen einmal Gerechtigkeit widerfährt, aber das kann doch nicht die Einleitung sein zu einem großen und wahren und ewigen Leben! Nein, diesen Christus dachten wir uns als einen guten Hirten, der nichts anderes aufzusammeln bemüht war als das Gute und der, besonders auch all jenes Gute und Liebe schätzte, das bei aller Unvollkommenheit der Christusliebe abgerungen war. - Dann ist hier der Brief von St. Paul vor den Mauern. (sie nimmt den zweiten Brief) An diesem Brief beeindruckt mich vor allem, wie Stefan den Eindruck beschrieben hat beim Eintritt in die Basilika. Doch wer stört mich denn da? Was wollen diese beiden Männer, die da unentwegt an unserem Haus auf und ab gehen? Warten die auf einen Dritten und haben zufällig hier den Ort des Wartens ausgewählt? Aber warum schauen sie dann immer hier herein in den Garten, warum hierher zu mir? (sie zieht sich zurück) Werden wir hier beschützt oder bewacht, ohne dass wir davon wissen? Weder das Eine noch das andere wäre gut. Wären es Beschützer, so müsste ich sie kennen. Diese Leute aber sind mir fremd. Bliebe mithin, dass wir bewacht werden? Aber weshalb sollten wir bewacht werden? Was haben wir getan oder was für eine Gefahr geht von uns aus, dass man uns bewachen müsste? Zumal von mir, die ich ja gar nicht mehr in der Lage bin, mich allein fortzubewegen!

Noch immer kommen sie am Haus vorbei. Als müssten sie sich ducken, damit ich sie nicht sehe und nicht errate, um wen es sich handelt. Was für ein Schauspiel! Die warten auf keinen Dritten. Die haben es auf unser Haus und auf uns abgesehen. Zwei Polizisten, die man abgeschickt hat, uns inkognito zu überwachen! Dabei hab ich die Leute doch schon einmal irgendwo gesehen. Lass sehen! Ja gewiss. Das sind die zwei Büttel der Universität. Ja, das sind sie, wenn es nicht zwei Doppelgänger sind. Aber das sind sie. Das sind keine Doppelgänger. Das sind die zwei Büttel oder Pedelle oder was für Titel sie auch tragen mögen. Aber wer schickt sie? Sind denn in unserer Universität auch Polizisten angestellt? Davon hat mir Stefan noch nichts erzählt. Warte! Doch nein, die Namen fallen mir jetzt nicht mehr ein. Doch lass ich sie. Stefan muss ja bald da sein. Dann soll er sich die beiden vornehmen, falls sie dann noch immer da draußen herumdefilieren.

(sie liest; dabei werden Stimmen von Gassenbuben immer lauter, die das Stockspiel spielen)

Hier nun also schreibt er: "In der Zwischenzeit machten wir uns auf nach St. Paul vor den Mauern, eine der vier Hauptkirchen Roms, eine fünfschiffige Basilika mit einem herrlichen Mosaik in der Apsis auf goldenem Grund. Es stellt den lehrenden Christus dar im Kreis einiger seiner Apostel. Wenn man vom Haupteingang eintritt, bekommt man gleich einen wunderbaren Gesamteindruck des Ganzen. Ein Inneres, ja Innerstes tut sich auf und ein solches Glück überströmt und überwältigt einen, als ob der Herr schon gekommen wäre in großer Macht und Herrlichkeit und er nur eben noch auf uns gewartet hätte. Und doch, als ich mir die Männer eine Weile angeschaut hatte und ich sie so sah, wie sie dastanden, so lebendig und doch zugleich so unerschütterlich ruhig, so heiter und ihrer Sache sicher wie auch so geheimnisvoll unergründlich: da regte sich in mir der Wunsch, mich mit einem von ihnen zu unterhalten. Ah wie schön wäre gewesen, nur du wärst noch bei mir gewesen, Liebste, wir beide ganz allein. Und dann hätten wir den Herrn gebeten und er hätte es zugelassen und der Völkerapostel hätte seinen Platz auf dem Altarbild verlassen und wäre zu uns herabgestiegen. Zuallererst würden wir ihn dann wohl beschworen haben, uns Auskunft zu erteilen über Gott. Zeig uns Gott! Oder, wenn dies unmöglich ist, da er sich ja gewiss nicht in Raum und Zeit hinein bannen lässt: so sag uns, dass und auf welche Weise du die Gewissheit gewonnen hast, dass er ist. Wir wollen ja nicht nur mit den Lippen unseren Glauben aufsagen, wir wollen ihn mit wissendem Herzen bekennen! Nachzusagen, was die Leute einmal unter dem Joch der römischen Herrschaft sich ausgemalt und für wahr gehalten haben, das genügt uns nicht, zumal da das wissenschaftlich aufgeklärte und moderne Denken, aber auch unsere fatale Konstitution für diesen so einzigartigen Glauben kaum mehr Platz hat. O Liebste, als Erstes müsste uns der Apostel bestätigen, dass es den Gott des Lebens gibt und dass er ihn wahrhaft gefunden hat. Und dann, was uns dann gewiss nimmer schwer fiele, würden wir Jesus als den Christus preisen, den er als den Herrn des Lebens über uns eingesetzt hat.

2. Szene: Die Buben

(Man hört zwei Buben, sieht sie vielleicht auch)

Erster Bub: Jetzt aber tät ich der Prof. Jählich sein. Ich bekomm dann den Stock und du den Hut. Hier!

Zweiter Bub: Und du kommst jetzt auf mich zu. Also los, mach schon!

Erster Bub: Aber ich wohne schließlich hier. Also gehst du ein Stück weit weg und kommst hier auf mich zu.

Zweiter Bub: Will ich mal eben kein Spielverderber sein, wiewohl dieser Jählich schon die längste Zeit Hüte von den Köpfen geschlagen hat. Der Widerstand armiert sich, sagt mein Vater.

Frau Jählich: Freilich ahne ich, auf welche Weise der Apostel die Gewissheit und Süße des Glaubens zu gewinnen gesucht hat. Sicher hat er es sich viel kosten lassen, hat viel darum gelitten. Nur wer leidet, weiß ja zu preisen. Verkündigung ohne Leiden, was ist das wert? Was kann dabei herauskommen? Vielleicht eine Kanzelpredigt oder ein Festvortrag oder ein Dokument der Sprachbeherrschung und der Kunst. Aber wären auch seine Briefe Dokument der höchsten Kunst und erntete er damit den größten Applaus der Welt, so blieben sie für den Apostel doch nur ein wertlose Dokumente. Hätte ich die Liebe nicht, ich wäre doch nur ein Nichts. Auch wir wollen ja, was immer uns abverlangt werden mag, in diesem Sinn begreifen. Aber auch damals schon hast du ja gelitten, Liebster!" (sie küsst den nächsten Brief und hält inne)

Beide Buben: (sie singen) Stock und Hut, steht ihm gut; Hans war wohlgemut.

Erster Bub: Das genügt. Und nun komm her!

Beide: (sie singen) Aber Hänschen weinet sehr, hat ja nun kein Stöckchen mehr ?

Erster Bub: Mein Herr, wäre es nicht schicklich für Sie, ihren Hut abzuziehen, wenn Sie dem Professor Jählich begegnen?

Zweiter Bub: Wer ist Prof. Jählich? Jählich? Noch nie gehört.

Erster Bub: Nobelpreisträger Jählich. Aber wenn das so ist, dass man achtlos an den Säulen des Staates vorübergeht, so wollen wir ein kleines Exempel statuieren. Hier mein Herr! (schlägt ihm den Hut vom Kopf) Und nun weiß er, wer Prof. Jählich ist!

3. Szene: Weitere Briefe

Frau Jählich: Zwei Buben, die sich auf der Gasse vergnügen. Besser als die beiden Büttel. Bei Kindern weiß man, dass sie nur spielen und aus ihrem Spiel noch keinen Ernst machen. Wiewohl es allemal am besten ist, wenn überhaupt nicht von einem in der Öffentlichkeit die Rede ist, nicht einmal im gut gemeinten Sinn. (nachdem sie sich vom Vorhang zurückgezogen hat, nimmt sie sich den besonderen Brief)

Und dann dieser Brief hier. (sie küsst ihn noch einmal; dann liest sie) "O ich kann mich in Rom nicht glücklich fühlen. Ganz abgesehen davon, dass mich in der Fremde stets ein übermäßiges Verlangen nach Haus überkommt, als gäbe es hier kein Bleiberecht für mich, nagt auch noch die Schuld an mir, dich allein zurück gelassen zu haben. O du Liebste! Wäre ich allein hier in Rom, ich wär ja schon aufgesprungen und nach Haus zurückgekehrt, zu dir Liebste, nach Haus, um dich zu trösten. Oder meinst du, ich hätte dich vergessen und erachtete es als nichts, ohne dich abgereist zu sein? Oder wäre unsere Liebe denn so, dass du nur empfingest, ich aber nur gäbe in schenkender Gebärde? O Liebste! Sag nicht, jetzt fängt er an zu theoretisieren, nachdem er im Praktischen versagt hat. Hättest du damals, als ich dir erzählte, nach Rom fahren zu wollen, hättest du mir damals auch nur ein Wort gesagt, ich hätte mich ja glücklich gepriesen. Doch war das ja unmöglich, einmal wegen deines Examens, sodann wegen der Verhältnisse bei dir zu Hause. Aber vielleicht hätte ich abwarten und hier in deiner Nähe bleiben sollen. Glaub mir, Liebste, wenn ich wohl auch nicht alle Rücksichtnahmen durchgespielt habe, zumal den Schmerz, dass du daheim bleiben müsstest, so habe ich dich ja nicht verlassen, habe dir ja nur etwas mehr Raum geben wollen zur Vorbereitung für die vielen Prüfungen. O du unergründliche Liebe. Da stehst du gleich einem Baum und breitest deine Äste über uns aus, uns Schutz zu geben am heißen Mittag. Und ich hätte die Sehnsucht vergessen, die sich sehnt in Glauben und Hoffen? Verweigere mir den Aufenthalt, wenn ich nicht würdig bin, in deinem Schatten zu liegen! Jag mich von dir weg, ins Ödland, wenn ich es nicht besser verdient habe. Vertreib mich in die Wüste, dass mir die Kehle vertrocknet. - Und doch ist es ja wahr, dass ich mich vergangen habe an deiner Freude: weil ich nicht vorherbedacht habe, dass eine Saite zerreißen müsste unter fremdem Himmel. Verzeih mir meine Kälte, Liebste, und lass mich heimkehren zu dir! Krank, ein Kranker, komm ich zu dir zurück, in der Sehnsucht, mich einschließen zu lassen in deine Arme, wenn ich das noch verdiene!"

(es schellt)

Was ist denn nun schon wieder?

4. Szene: Der Kollege

(draußen am Gartentor steht Prof. Katzendorf)

Katzendorf: Gnädige Frau, wie schön, dass ich Sie sehe. Der Himmel in seiner Allwissenheit muss es so gefügt haben. Denn wenn ich auch nur das schöne Wetter ein wenig hatte ausnützen wollen, um mich von der immer mal wieder etwas anstrengenden Geistesarbeit zu entspannen, so möchte ich doch fast sagen, dass es des Himmels Providenz war, die mich unter dieses ihr Fenster geführt hat. Seien Sie mir von daher herzlich willkommen!

Frau Jählich: Gestatten Sie, mein Herr, dass der Willkommensgruß bei mir liegt, dass ich aber überhaupt nicht weiß, mit wem ich es zu tun habe.

Katzendorf: Ach so. Ich dachte, Ihr Mann hätte schon einmal etwas von mir erzählt. Katzendorf ist mein Name. Prof. Katzendorf.

Frau Jählich: Ich höre den Namen eben jetzt zum ersten Mal.

Katzendorf: Aber von der Feierstunde am Tag der Freiheit haben Sie doch schon etwas gehört?

Frau Jählich: Gewiss.

Katzendorf: (pfeift, die beiden Büttel Ratz und Spatz tauchen auf) Meine Herren, hierher! Fuß! (sie stellen sich neben ihn; er packt sie an den Ohren) Kennen Sie wenigstens diese beiden alten Knaben?

Frau Jählich: Ich hatte die Ehre, in der Mittagspause von den beiden Herren gestört zu werden.

Katzendorf: Was muss ich da hören? Dabei wollte ich sie als Gewährsleute präsentieren, die Ihnen wahrscheinlich machen, dass ich zu den bedeutenden Köpfen der Universität gehöre!

Frau Jählich: Ich zweifelte nicht daran.

Katzendorf: Gehört das zu euren Dienstpflichten, Witwen und Waisen zu drangsalieren?

Frau Jählich: Ich bin weder Witwe noch Waise.

Katzendorf: Was aber die Herren nicht im Mindesten entlastet. Gebt Antwort, wenn ich euch etwas frage.

Beide: Sag du es. - Nein du!

Katzendorf: (zu Spatz) Du sprichst zuerst!

Spatz: Auch wenn Ratz der Missetäter ist? Möge sich eure Prominenz daran erinnern, dass sie ihm den Befehl erteilt hat.

Ratz: Eure Impertinenz sollten ihm nicht glauben.

Katzendorf: (zu Spatz) Du sprichst zuerst, habe ich gesagt! Du sagst jetzt haargenau, weshalb ihr euch habt einfallen lassen, die gnädige Frau zu stören.

Spatz: Ratz sagte, dass wir hier auf und ab zu gehen hätten, bis Sie kommen.

Ratz: Aber du warst es doch, der mir gesagt hat, ich sollte dich daran erinnern, dass wir hier auf und ab zu gehen hätten, bis Prof. Katzendorf kommt.

Katzendorf: Genug, meine Herren. Und nun schert euch in die Uni. Und schippt dort die Kohlen in den Heizkeller! Bis ich zurück bin und nachschaue, ist alles getan! Verstanden?

Beide: Jawohl, Herr Professor Katzendorf! ( beide ab)

Frau Jählich: Ich bin erstaunt, mein Herr!

Katzendorf: O nein. Keine Ursache. Wo ich helfen kann, da helfe ich auch.

Frau Jählich: Ich meinte, wegen der beiden Herren!

Katzendorf: Das meine ich ja. Wenn wir diese Elemente frei springen ließen, wo kämen wir da hin? Diese Leute haben ja ein widerliches Verlangen, Sklavendienste zu verrichten. Wie sollen wir sie da zur Freiheit eines Staatsbürgers erziehen? Was aber die Rede angeht, gnädige Frau, ich meine die Rede zum Tag der Freiheit, so wird sie jedenfalls ihr Mann halten. Glauben Sie mir, noch nie seit die Welt besteht, ist eine Rede zur Freiheit so verlockend gewesen.

Frau Jählich: Zwanghaft verlockend wohl gar noch? Nur nicht für meinen Mann.

Katzendorf: An seiner Befähigung kann es nicht liegen. Allenfalls an einer gewissen Unlust. Aber da werden Sie schon das Ihre dazu tun. Vergessen Sie nicht, was groß am Giebel unserer Universität zu lesen ist, dass uns die Wahrheit frei machen wird.

Frau Jählich: Und was ist das?

Katzendorf: Das ist die Erschaffung einer freien Gesellschaft.

Frau Jählich: Von der wir allerdings noch weit entfernt sind.

Katzendorf: Eben das ist es ja, was wir zu beklagen haben.

Frau Jählich: Wenn der Verfolgte gegen seine Verfolger spricht ?

Katzendorf: Wenn es sein muss? Warum nicht!

Frau Jählich: Nur wie wird man auf den Verfolgten hören, wo man stets nur dorthin hört, wo die Macht spricht?

Katzendorf: Unsere Gesellschaft braucht Vordenker, mutige Vordenker, keine utopischen Schönredner, noch auch Träumer von Sicherheitsmechanismen. Die Köpfe aber, auf die es ankommt, werden dann schon hören; wie die Gesetzgeber und die Verfassungsrichter und die Männer und Frauen, wie sie alle noch heißen.

Frau Jählich: Mag sein. Gleichwohl bin ich mir nicht sicher, gesetzt auch, dass mein Mann ein exzellenter Denker ist, dass er damit auch schon begabt ist, in der Öffentlichkeit das große Wort zu machen.

Katzendorf: Wie ich merke, interessiert Sie das nicht. Das soll es ja geben. Dafür aber Ihren Mann umso mehr.

Frau Jählich: Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?

Katzendorf: Apropos, dass ich es nicht vergesse. Ehe ich wieder gehe, möchte ich Ihnen doch noch einen kleinen wohlgemeinten guten Rat geben. Ich möchte Sie aber bitten, ihn sehr vertraulich entgegenzunehmen. Nehmen Sie doch einmal Ihren Mann, wenn Sie ihn zu Hause bei sich haben, bei Seite. Sie können ja zuerst die Läden herunterlassen und die Türen gut verschließen. Dann stellen Sie ein Tischchen zwischen sich und Ihren Mann, auf das Sie eine brennende Kerze stellen. Ihren Mann, nachdem Sie ihm das passende Stöckchen in die Hand gegeben haben, postieren Sie in die eine Ecke des Zimmers. Sie selber, bekleidet mit einem hübschen Hütchen stellen sich in die andere Ecke, ihm gegenüber. Und dann spielen Sie, verstehen Sie, dann spielen Sie, rein zu Ihrem Vergnügen das Hut-ab-Spiel, bis Sie Bescheid wissen. Mag sein, dass Ihr Mann Einwände macht und nicht mitspielen will. Doch das lassen Sie nicht gelten. Nein, Sie lassen nicht locker, zu welchen Mitteln Sie auch greifen, und sei es unter Androhung, ihn zu verlassen, bis Sie ihm das Geheimnis entlockt und ihn davon befreit haben. Glauben Sie mir! Immer muss der Mensch erst durch eine enge Pforte, bis er zu einem großen Dasein gelangt. Ich habe die Ehre! (ab)

5. Szene: Wieder zurück

(Jählich kommt zurück)

Frau Jählich: Es gibt Menschen, da bedarf es kaum einer flüchtigen Bekanntschaft, da weht es dich kalt an. Ja, schon bei der Begrüßung wehte es mich kalt an. Was mag dieser Mensch im Schild geführt haben? Schickt uns doch ganz offenbar diese beiden Büttel vorauf, um sich dann in allerlei Ansichten, bald schöngefärbten, bald absichtlich widerlichen, zu verbreiten. Selbst die an und für sich brauchbaren Sätze werden aus dem Mund eines solchen Mannes unbrauchbar. Und dann zum Schluss dieser kleine vertrauliche Ratschlag mit der Bemerkung, und sei es auch unter Androhung, ihn zu verlassen. Wie ekelhaft. (sie packt die Briefe wieder zusammen) Da kann ich jetzt keinen Brief aus Rom mehr lesen. Ich würde ja nur immer wieder durch die Erinnerung an diesen Menschen gestört werden. Gebe es Gott, dass er bessere Pfade findet, sein Leben zu meistern!

Jählich: (ins Haus eintretend) Mütterchen, Liebste, wo bist du?

Frau Jählich: Aber wo soll ich denn sein, Liebster? Hier bin ich und warte auf dich! Oder hast du gedacht, ich renne dir davon?

Jählich: Du Liebste! ? Das war doch Katzendorf eben. Was suchte er hier?

Frau Jählich: Eigentlich nichts. Er störte mich nur ein wenig.

Jählich: In der Tat scheint es Leute zu geben, die zu nichts Besserem geboren werden, als einen zu stören. Doch sag an, was war!

Frau Jählich: Ach, es nützt doch nichts. Es beunruhigt dich nur. Und zum Schluss haben wir nur unsere Seele beschmutzt. Das lohnt sich wirklich nicht.

Jählich: Du hast ja recht. Sich die Seele zu beschmutzen lohnt nicht. Das sollte auch ich längst wissen. Damals, als ich das erste Buch geschrieben hatte! Und dann freilich auch die vielen Begegnungen mit den Ärzten, die nichts weiter können, als sich an deiner unheilbaren Krankheit zu bereichern. Und endlich die in letzter Zeit schwelenden Stockgeschichten.

Frau Jählich: Aber jetzt bist du gut über den Weg gekommen?

Jählich: Alles ist gut gegangen, bis auf das Gesicht dieses Katzendorf.

Frau Jählich: Hauptsache, es ist kein Hut heruntergeflogen.

Jählich: Zum Glück hatte er keinen auf. Doch nun sag mir, was war, Liebste. Es nützt uns ja nichts, den Vogel Strauß zu spielen. Wir müssen wissen, was sich hinter unserem Rücken tut, damit wir uns drauf einstellen können.

Frau Jählich: Zuerst waren es die beiden Pedelle, die vor unserem Haus auf und ab flanierten

Jählich: Flanierten?

Frau Jählich: Oder patrouillierten. Als warteten sie auf dich. So dachte ich, als ich sie erkannt hatte.

Jählich: Elendes Gesindel. Doch diese Leute tun nichts von allein. Die werden geschickt und nur in einer höheren Mission sind sie unterwegs. Doch wer hat sie geschickt? Katzendorf? Oder Käslein? Oder etwa gar der Rektor? Vermutlich ist es nicht einer. Einer allein wäre zu feige, so etwas auszurichten; da müssen schon immer mehrere zusammen kommen. Jedenfalls ist etwas im Untergrund in Bewegung.

Frau Jählich: Liebling, lassen wir uns doch nur nicht unsere Ruhe rauben!

Jählich: Immerhin ist die Dummheit so klug, dass sie sich nichts daraus macht, sich als Bestie hernehmen und missbrauchen zu lassen. Doch dann?

Frau Jählich: Dann zog ich mich vom Fenster zurück.

Jählich: Und dann kam Katzendorf?

Frau Jählich: Zuerst kamen noch ein paar Jungen, gänzlich heruntergekommene Gassenbuben, die das Stockspiel spielten. Sie spielen nach, was man ihnen vormacht. Aber da dachte ich, wenn du da wärst, müsstest du auch darüber lachen.

Jählich: Und dann kam Kollege Katzendorf, katzenfreundlich? Wahrscheinlich kann er es nicht verwinden, dass ich die Rede halten soll. Und weil er das für unmöglich hält, kam er hier vorbei, sich nach dem neuesten Stand zu erkundigen. Hättest du zu ihm gesagt: "O Herr Professor Katzendorf, wie gut, dass Sie gekommen sind. Auf Sie habe ich gewartet. Hier hat mir nämlich mein Mann ein Schreiben übergeben, das ich Ihnen aushändigen soll. Darauf bezeugt er, dass er die Festrede nicht halten wird, sondern dass er ganz dringend darum bittet, sie Professor Katzendorf halten zu lassen." Aber ich habe mir schon ganz fest vorgenommen, sie nicht zu halten.

Frau Jählich: Ein Erfolg in der Öffentlichkeit ist zwar noch nie auf unserer Wunschliste gestanden, immerhin aber könnte er uns entlasten, falls von irgend einer Seite Forderungen auf uns zukommen sollten, wegen mutwilliger Sach- oder gar Körperbeschädigung.

Jählich: Aber Else!

Frau Jählich: Liebster, ich will dir ja nicht wehtun. Das weißt du doch. Ich denke nur, dass wir es noch einmal schaffen könnten, in den Schutz der Anonymität zurückzukehren; und zwar über einen Erfolg in der Öffentlichkeit, so paradox es auch klingen mag.

Jählich: Da bin ich mir nicht sicher. Ich bin mir überhaupt nicht mehr sicher. Ich kann keinen Stock mehr beherrschen und wahrscheinlich auch mich selber nicht mehr, falls ich es jemals gekonnt habe. Und wenn es laut um mich herum braust und dröhnt, dann hör ich zugleich ein Schweigen, das noch tausendmal lauter brüllt. Dann vergesse ich selber noch, dass ich nicht einmal mehr weiß, dass ich nichts weiß. Dann möchte ich nur noch ausrufen: ihr Berge fallet über uns, ihr Hügel bedeckt uns. Aber das kommt ja alles schnell genug auf uns zu. Unsere letzte Freiheit, uns im Grab verstecken zu dürfen! O Du! Wenn ich nur für dich noch etwas tun kann. Nie, das weißt du ja, nie habe ich mich beklagt und ich wünschte, mir würden Arme und Beine abgehackt werden, wenn ich auch nur in einem verborgenen Winkel meiner Seele daran dächte, dass mir deine Pflege zu viel werden könnte. (er küsst sie)

Frau Jählich: Da hab ich doch dich, Liebster, und alle die lieben Dinge, die mich an dich erinnern, wie hier die lieben Briefe aus Rom!

Jählich: Die wir damals vor 40 Jahren ausgetauscht haben!

Frau Jählich: Ich habe darin gelesen und mich unserer Liebe versichert; was freilich nicht nötig wäre, was aber dennoch sehr gut tut. Auch Briefe haben ja ihre Geschichte. Zumal unsere Briefe.

Jählich: Diese Geschichte ist allerdings eine andere und bessere Geschichte als die Geschichte, die meine wissenschaftlichen Bücher genommen haben. In unseren Briefen haben wir nicht unsere Seele beschmutzt, geschweige denn, sie verraten. Wir haben sie teuer erkauft, gewiss, aber sie waren den Preis wert. Bei den Büchern spähst du immer auf den späteren Erfolg, bei den Briefen aber liegt das Geheimnis in ihrer Entstehung. Dabei spielt selbstverständlich eine ganz entscheidende Rolle, wem du deinen Brief schreibst. Aber ich hatte ja damals schon dich. Goethe konnte aus Rom nur an seine Freunde schreiben, ich aber schrieb an meine einzig Geliebte. Was auch ist ein Brief wert, der nicht in der Liebe geschrieben wird? Nur die in der Liebe geschriebenen Briefe sind wert, geschrieben zu werden. So wie du sie mir so lieb geschrieben hast, hab dann auch ich mich versucht, dir zu schreiben.

Frau Jählich: Es sind Zeugnisse unserer Liebe.

Jählich: O ja Liebste. Jeder Brief an die Liebste ist ja doch ein Gebet an sie. Mir ist fast, als hätte ich das damals schon gewusst. - Wie schön du sie geordnet hast! Und da hast du eben drin gelesen? Laokoon hast du da drauf geschrieben. Die Laokoongruppe, die wir in den Vatikanischen Museen uns angeschaut haben.

Frau Jählich: Zu dem Brief bin ich noch gar nicht gekommen.

Jählich: Gewiss, wenn man gestört wird.

Frau Jählich: Ich wusste damals noch nichts von diesem Laokoon. Jetzt aber weiß ich, dass es etwas Schreckliches ist, was sein Leben umkreist.

Jählich: Vielleicht war er auch so ein Stockkünstler wie ich.

Frau Jählich: Ach du.

Jählich: Sein Stock war sein Speer, mit dem er die Flanke des hölzernen Pferdes durchbohrte, um die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Aber nicht allen Göttern gefiel diese Absicht. Nach Ansicht des Vergil muss Athene dahinter gestanden haben, die Lügengöttin, dass die Wahrheit verborgen blieb. Denn sie hielt es stets mit den Griechen. In dem Pferd saßen ja schließlich Leute, mit denen sie es gut meinte; allen voran ihr Odysseus. Und so schickte sie denn von Tenedos zwei riesige Seeschlangen herüber, damit sie den Laokoon, den Priester des Apollon, zusammen mit seinen beiden Söhnen erwürgten. Und dann war da auch schon Sinon, ein griechischer Spion, zur Stelle, der den Trojanern einredete, Laokoon habe sterben müssen, weil er seine Landsleute daran habe hindern wollen, das Pferd in Herberge zu nehmen. Dabei muss es damals schon ein Orakel gegeben haben, wie Homer uns erzählt, das Laokoon kannte, dass eben diese Übernahme des Pferdes zum Untergang der Stadt führte. Aber man glaubte ihm nicht. Athene schlug die Feinde mit Blindheit.

Frau Jählich: Das erinnert auch an Kassandra.

Jählich: Ja gewiss. Und die Prophetie vom Tag des Falls des heiligen Ilion erinnert ans Ende der Welt. Und auch hier herrscht Blindheit bis auf den heutigen Tag. Aber vielleicht überleg ich mir es noch einmal und befolge deinen Rat und gehe zwei Semester früher in Pension. Dann kann ich dich rund um die Uhr betreuen, wenn du aus der Klinik kommst. Jetzt habe ich ja endlich den Termin.

Frau Jählich: Und wann wird er sein?

Jählich: Morgen, Liebste.

Frau Jählich: Es wird alles gut werden.

Jählich: Wenn wir es nur noch ein Weilchen zusammen treiben können.

Frau Jählich: Und zu Hause kannst du ja dann auch noch manches ausrichten, bist aber keinem mehr etwas schuldig, sodass du auch zu Hause bleiben kannst, wenn du nicht weg willst.

Jählich: Außerdem bin ich zu alt geworden, als dass ich mich weiter noch wichtig nehmen sollte, und bin doch zugleich noch immer viel zu jung, als dass ich etwas zu sagen hätte, was wert wäre, behalten zu werden.

Frau Jählich: Wir werden uns die Zeit schon gut zu vertreiben wissen.

Jählich: Das Leben, Liebling, ist ein Rätsel. Wir werden es niemals restlos erkunden. Der größere Teil wird uns immer verborgen bleiben. Nur dass man davon keine direkte Kenntnis nimmt, weil das uns für immer Verborgene für uns nicht anders existiert denn als das Nichts.

Frau Jählich: Aber wir glauben doch an die Auferstehung der Toten und an das ewige Leben.

Jählich: Aber Liebste, das weißt du doch!

5. Akt: Im Wald

1. Szene: Beim Försterhaus

(Beim Försterhaus, von wo aus es bergaufwärts in den Wald geht. Auf der Balustrade stehen Jäger mit Instrumenten, die auf ein Zeichen warten, mit ihrem Spiel zu beginnen. Der Kapellmeister vor dem Haus. In der Ferne Lichter von Straßen und Häusern, aus deren Richtung Leute kommen, die in den Wald hinein ziehen.)

Kapellmeister: Hier, meine Damen und Herren, geht es in den Wald, falls Sie noch in Erinnerung haben, was ein Wald ist. Falls aber nicht, so lassen Sie es sich von mir sagen, dass das ein Raum ist, der dazu bestimmt ist, dass man sich in ihm verliert, die einen etwas früher, die anderen etwas später. Dass man sich verliert in den Verschlingungen seiner Pflanzen, sie mögen sich oberhalb der Erde befinden oder im Erdreich, wie auch in den Verschlingungen seiner Tiere, nachdem sie einen zermalmt haben. Wer aber einmal verschlungen ist, der ist freigemacht. Man könnte freilich auch sagen, wer einmal dem Wald angehört, der gehört zu den Verlierern. Nun ist aber die Aussage, zu den Verlierern zu gehören, durchaus nicht immer nur schlecht. Etwas Gutes und Liebes und Kostbares zu verlieren, das freilich ist herb und das schmerzt. Indessen Leiden aller Art zu verlieren, schlechte Freunde, böse Erfahrungen, Schulden und Unglück jeglicher Art: das alles zu verlieren ist durchaus kein Übel. Wer das Leben lieb hat und ängstlich umsorgt als einen unvergänglichen Besitz, der wird es schmerzlich verlieren. Wer es aber aufgibt und verliert um eines Größeren willen, der kann durchaus sogar etwas gewinnen. Nur der Angsthase fürchtet sich vor dem Verlieren. Wer aber freiwillig alles aufgegeben hat und nichts mehr gewinnen will, der fürchtet sich auch nicht mehr vor dem Verlieren. Die Freiheit des Waldes ist die Freiheit von jeglichem Besitz. Besitzlos glücklich zu sein, was wissen wir davon? Mitunter, wenn wir davon sprechen, wunschlos glücklich zu sein, kommen wir diesem Ideal nahe. Von daher kann man auch sagen, der Wald ist das Ende der Welt.

(ein kurzes Stück Blasmusik)

2. Szene: Trauermann mit Anwalt und Fotograf

(Es kommen herzu der Trauermann mit seinem Rechtsanwalt und einem Fotografen.)

Kapellmeister: Kommen Sie, meine Herren! Kommen Sie!

Trauermann: (mit Zylinder) Wohin gehen wir? In den Wald? Aber ich lebe doch noch.

Anwalt: Kommen Sie! Sie hören und sehen es doch, wir werden erwartet. Vertrauen Sie nur Ihrem Rechtsanwalt! Das Vertrauen ist das A und O. Jawohl, das ist das Entscheidende, das Einzige, worauf alles ankommt. Was bei den Römern der Patron war, ja, mehr noch, was in der Kirche die Heiligen sind, die Namenspatrone, das bin ich für Sie.

Trauermann: Und hier stellen wir den Stockprofessor?

Anwalt: Hier werden wir ihn überlisten und fotografisch ablichten, dass er sich nicht mehr so schnell an die Stöcke machen soll!

Trauermann: Ist der Wald dafür der rechte Ort?

Anwalt: Nur keine Sorgen! Sind wir nicht zu dritt? Und machen nicht drei ein Kollegium? Überhaupt, wo ist ein Rechtsanwalt zu Haus, wenn nicht rechts am Wald? Kommen Sie! (sie verschwinden im Wald) Ich müsste ein schlechter Anwalt sein, wenn ich mich nicht auf Menschenfang verstünde. Auch ohne Gewehr haben wir keinen schlechten Schuss. Oder ist es nicht so, Herr Reporter?

(wieder ein kurzes Stück Blasmusik)

3. Szene: Die Frau mit der Tochter

(Es kommen herzu eine ältere Frau mit ihrer schwerbehinderten 30jährigen Tochter.)

Kapellmeister: Auch Sie, meine Dame, seien Sie uns mit ihrem Töchterchen herzlich willkommen!

Tochter: Was hast du Mutter, dass du weinst?

Dame: Meine Schwester ist mir gestorben; hier schreibt es ihr Mann.

Tochter: Und was schreibt er?

Dame: Wie glücklich er war ... Wie soll ich es dir sagen ... Weißt du, es gibt Männer, denen es ein Bedürfnis ist, über ihre Frau zu herrschen. Es gibt aber auch Männer, die es bevorzugen, ihre Frau zu verehren. Mag ihre Frau auch noch so krank sein und von der Welt als hinfällig missachtet werden, so sehen sie stets das Leuchten der Augen, das sie mit Dankbarkeit und Bewunderung erfüllt und sie sind verwundert, wenn sie einmal einem Foto aus der Hand eines Dritten begegnen, das ihnen ihre Frau hinfällig zeigt. Und wenn dann bei solch einer Verehrung einmal ? Aber Kind, ich kann nicht weitersprechen; es bedrückt mich zu stark.

Tochter: Ich glaube, dich zu verstehen, Mutter.

Dame: Ich nannte ihn einmal ihren Rosenkavalier. Daraufhin schrieb er mir, dass er sich diesen Titel nicht erkämpft oder erworben habe; sondern dass er ihn von seiner Liebsten geschenkt bekommen habe für alle Zeit.

Tochter: Einen solchen Mann habe ich mir auch immer gewünscht. Was nützt es uns auch, Millionen zu beherrschen, die uns nicht das Mindeste bedeuten? Gib mir einen Menschen, in dem ich mich wiederfinde und der sich in mir wiederfindet. Gib mir einen Menschen, der mir alles bedeutet und dem ich alles bedeute! Gib mir einen Menschen, der das Leuchten meiner Augen entzündet! Oder kann es ein größeres Glück geben, als von einem einzigen Menschen als wunderbar erkannt und als liebenswert erfunden zu werden?

(wieder ein kurzes Stück Blasmusik)

4. Szene: Großmutter mit Enkeln

(eine Großmutter kommt mit drei Enkeln)

Ein Fremder: (eilt ihr nach) Bleib stehen, Mutter, und sag mir, warum du noch lebst, wo mir meine Frau gestorben ist! Meinst du, es erfreut mich, wenn ich sehe, wie die Alten immer älter und noch älter werden und die Jungen sterben derweilen weg?

Großmutter: Es dauert ja nicht mehr lange. Schon bin ich ja beim Wald angelangt, um mich nach einem Plätzchen für mich umzusehen. Hab noch das Bisschen Geduld.

Fremder: Was für ein Unglück! (verschwindet wieder)

Kapellmeister: Kommen Sie, meine Dame! Kommen Sie! Das sind wohl Ihre Enkel, denen Sie zeigen, wo Großmütterchen fortan wohnt? Und die niedliche Kleine hat schon ihr Körbchen bei der Hand, der Großmutter etwas Gutes in den Wald hinaus zu bringen? Du weißt ja, liebes Kind, immer schön auf dem Weg bleiben. Aber wir haben hier ja noch unsere Jäger. Und auch draußen im Wald haben sie die Hochstände besetzt und halten Wache, dass kein Wolf sich etwas Ungebührliches einfallen lässt.

5. Szene: Jählich

(Jählich kommt)

Kapellmeister: Und nun sehe ich auch schon Prof. Jählich kommen. Er hat seine Frau in die Klinik gebracht, wo sie schlecht und recht versorgt wird für die Reise durch die letzten Tage ihres Lebens. Nun will er sich hier bei uns im Wald noch ein wenig vorbereiten auf seinen großen Probeauftritt im Auditorium Maximum! Seien Sie uns willkommen!

Jählich: Ich komme, um etwas Luft zu schöpfen und dem Wald Adieu zu sagen.

Kapellmeister: Was soll das? Sie sind gekommen, um Luft zu schöpfen und dann der Welt zu zeigen, was in Ihnen steckt!

Jählich: Ich habe nichts mehr zeigen. Heraus ist, was in mir steckt. Jetzt ist nichts Gutes mehr in mir. Die Zeit ist vorbei.

Kapellmeister: Das ist die Einsamkeit, die ihn zu uns hinaus getrieben hat und die noch immer in ihm steckt. Doch ihr darf man sich nicht ausliefern. Verscheuchen Sie das Unwohlsein! Denken Sie daran, dass das den Professoren in der Universität und in der Klinik völlig egal ist! Schlagen Sie ihnen lieber mit dem Stab Ihrer Worte die Hüte vom Kopf! Entzaubern Sie sie in ihrer Gleichgültigkeit! Lassen Sie sie innewerden, dass sie nichts sind als Vogelscheuchen, die tanzen, wie der Wind ihnen beliebt! Ja, warten Sie noch ein Weilchen, bis Sie sich im Waldesgrün ein wenig die Füße vertreten haben, dann werden Sie sehen, wie Ihnen das alte Element wiederkehrt.

Jählich: Wenn ich bald im Gefängnis sitze oder in der Irrenanstalt, was auf dasselbe herauskommt, hat der Spuk ein Ende, zumal, wo meine Frau so schwer krank daniederliegt. Wer eine kranke Frau zu Hause hat, die er liebt, der ist ein leicht verwundbares Tier.

Kapellmeister: Mein Herr! Wagen Sie den Versuch! Betreten Sie den Wald wie ein kühner Hirsch! Und lassen Sie es sich gesagt sein von einem Waidmann: Leben heißt kämpfen und sich durchsetzen! Kämpfen Sie also und geben Sie sich nicht auf! Noch ist nicht die Zeit, unterzugehen.

(Während Jählich weitergeht, sieht man zwei Alte aus der Ferne auf den Wald zu kommen. Es sind die Eltern seiner Liebsten, die er aber nicht sieht.)

6. Szene: Zum Hochstand

(Jählich dringt in den Wald ein und läuft auf einen von Jägern besetzten Hochstand zu.)

Jählich: Immer habe ich dieses Thema weit von mir geschoben, was sein wird, wenn nicht mehr ist, was eben jetzt noch ist, weil mich ängstigte, mit solchen Fragen etwas in Gang zu bringen, was noch nicht spruchreif war und was auch durch kein Nachfragen spruchreif gemacht werden sollte. Und doch kommt die Zeit, ja sie rückt spürbar heran, wo die Tage gezählt sind, an denen ich mein Liebchen noch halten und mich an sie drücken kann. Doch was dann? Was ist dann? Was ist dann, wenn ich hier stehe und hinüber schaue zu den Wohngebieten der Menschen, abends, wenn die Lichter entzündet werden und man sich traut zusammensetzt? Was, wenn nur du es bist, der draußen steht und dem das alles verwehrt ist? Sind das etwa nur eingebildete Versuchungen und Einflüsterungen des Satans oder ist es nicht die herbe Wirklichkeit, dass du dann nichts mehr brauchen kannst und nichts mehr haben möchtest, weil dir dein Liebstes fehlt? Ah bleibt mir doch vom Leib mit euren schönen Gesängen und Trostsprüchen, die ihr euch im Fett des Lebens wälzt und alles habt, was das Leben nur bietet! Was nützt dir, dich in großartigen Werken der Kunst oder der Wissenschaft zu produzieren, was die Lobsprüche beim Gelingen eines richtungsweisenden, technischen Meisterwerks, was selbst, wenn du dich mit dem Stein der Weisen in den Geschichtsbüchern fändest, hättest aber dein Liebstes nicht mehr?

7. Szene: Jäger

(Jäger auf einem Hochstand)

Jäger: (auf einem Hochstand) Mein Herr! Wie Sie dahergeschlichen sind! Fast hätten wir Sie für einen Rehbock gehalten.

Jählich: Dann gibt es wohl nicht viel zum Jagen hier.

Jäger: Keineswegs. Die Saison beginnt ja jetzt erst. Aber nicht alles, was einem vor die Flinte kommt, muss man auch gleich erledigen.

Jählich: Haben Sie auch schon einmal auf einen Menschen geschossen?

Jäger: Wir schießen nur auf Tiere der Wildnis. Da mag wohl ab und zu auch einer von den Menschen dabei gewesen sein. Aber das liegt dann schon lange zurück.

Jählich: Aber es ist nicht unmöglich.

Jäger: Irgendwann einmal hat jeder sein Leben verwirkt.

Jählich: Vielleicht aber haben Sie nicht einmal so Unrecht. Mein Kostüm ist ja auch rau. Doch warten Sie noch; noch bin ich nicht ganz so weit, mich dieses Kostüms zu entledigen. Vielleicht aber, wenn ich zurückkomme.

Jäger: O, mein Herr! Mischen Sie sich unter die Leute und seien Sie Mensch unter Menschen! Dann wird bei Ihnen etwas Ruhe einkehren; und auch hier wird die Ruhe einkehren, die wir nötig haben, um mit der Jagd zu beginnen.

8. Szene: Lichtung mit Lehrer und Kindern

(Jählich geht etwas weiter und kommt zu einer Lichtung. Dort trifft er auf einen Lehrer mit Kindern und auf die Frau mit der behinderten Tochter)

Jählich: (bleibt stehen)

Lehrer: Wie sagten Sie, gnädige Frau? Ihre Schwester ist Ihnen lieb? Wie kann Ihnen ihre Schwester lieb sein, wenn sie nicht mehr ist? Selbst wenn Sie gesagt hätten, dass sie Ihnen noch immer lieb ist, wäre der Satz nicht korrekt. Nur in einem gewissen Sinn, wie man etwa sagt, das liegt mir im Sinn, könnte man den Satz eben noch dulden. Aber für unsere Schulanfänger sind solche Spitzfindigkeiten nicht der rechte Weg zum Sprachverständnis und damit zum Verstehen der Welt. Erst lernen wir die Grundregeln kennen; dann erst kommen die Grauzonen und die Ausnahmefälle! (zu den Kindern) Wie muss es also heißen? Nicht, dass ihr die verstorbene Schwester lieb ist, sondern ?

Kind: Dass ihr die Schwester lieb war.

Lehrer: Jawohl, so muss es heißen. Du warst mir immer lieb. Du warst mir die Liebste. Wofür auch haben wir das Präteritum? Wofür die Regeln der korrekten Grammatik?

Jählich: (für sich) Was für eine henkersgenaue Umsetzung der Schulgrammatik. Man tut ja schon so, als gäbe es mein Liebchen nicht mehr. Das ist ungeheuerlich.

Lehrer: Oder hat jemand etwas dagegen einzuwenden?

Jählich: (für sich) Ich gratuliere!

Lehrer: Jawohl, so ist es! Auf das Verstehen kommt alles an. Drum sage ich: Was ist, das ist; und was nicht ist, das ist nicht. Alle zusammen!

Alle Kinder: Was ist, das ist; und was nicht ist, das ist nicht.

Jählich: (für sich) Und ich sage, dass ich tiefen Respekt habe vor der Dame dort, zumal wenn sie sagt, dass ihr ihre Schwester lieb ist, mag sie auch auf tausendfache Weise nicht mehr da sein.

Lehrer: Wer aber die Regeln der Grammatik in Frage stellt, ist das nicht ein Irrer?

Ein Kind: Wer die Regeln der Grammatik in Frage stellt, ist ein Irrer.

Lehrer: Ein Stein ist ein Stein. Und wenn ein Stein kein Stein mehr sein will, tut das nichts zur Sache. Dann bleibt er dennoch ein Stein. Oder bezweifelt jemand, dass es falsch ist zu sagen, das ist ein Stein, wenn ein Stein vor ihm liegt? - Was ist ein Stein?

Kind: Ein Stein ist ein Stein.

Lehrer: Und weiter?

Ein Kind: Und wenn etwas kein Stein ist, dann sagen wir: das ist kein Stein. Damit haben wir dann das Nicht-sein näher bestimmt.

Ein anderes Kind: Und wenn ein Stein kein Stein mehr sein will, dann lachen wir ihn aus; denn ein Stein kann überhaupt nicht wollen, kein Stein mehr zu sein. Er ist eingesperrt in seinem Steinsein.

Lehrer: Optime! - Und wer das verstanden hat, der darf mit Fug von sich behaupten, dass er sich in der Grammatik auskennt und dass ihm nichts mehr darin verborgen ist.

9. Szene: Mit der Großmutter

(Großmutter mit den Enkeln kommt dazu)

Das andere Kind: Oder wird aus einem Stein ein Mondstein, wenn er nachts vom Vollmond bestrahlt wird? Keineswegs. Im Märchen vielleicht; aber ein Märchen, das gibt es ja nicht. Weil es die Gesetze nicht gibt, die man da voraussetzt.

Lehrer: Sehr gut, gesagt! Haben Sie es gehört, gnädige Frau?

Großmutter: Großmutter hört nicht mehr gut, mein Herr. Großmutter sucht nur noch nach einem Plätzchen, sich leise zu verstecken.

Jählich: (für sich) Bei uns ist es ja auch nicht anders als bei den Kindern. Auch uns umtost noch immer ein Meer von Unverständlichem und Rätselhaftem. Aber auch wir richten unsere Aufmerksamkeit und unser Augenmerk auf das uns Vertraute, mit dem Erfolg, dass wir uns das große Meer der Geheimnisse aus den Sinnen und aus dem Denken verlieren.

Großmutter: Kommt jetzt, Kinder!

Enkelin: Lass mich noch ein Lied vortragen, Großmutter.

Großmutter: Wo hast du es gefunden?

Enkelin: In den Büchern des Urgroßvaters. Ich habe es auswendig gelernt. Hör mich an! So heißt es! (Die beiden Alten stehen jetzt ganz dicht bei der Enkelin.)

Was sollte mir im nächsten Jahr noch blühen,

wenn es dein holdes Lächeln nicht umstrahlt,

o Liebste, worum sollte ich mich mühen,

wenn nur ein Nichts mir meine Mühen zahlt?

 

Schau ich zurück auf unsres Lebens Fahrt,

ward kaum der Blick jemals zurück gerichtet,

zumeist bewohnten wir die Gegenwart,

und auch der Zukunft Wald ward nicht gelichtet.

 

Wir wussten ja, dass was von Schönheit glänzt

umstrahlend Augen, Stirn und holde Wangen,

so schön nur glänzt, weil es die Lieb ergänzt,

die mächtig sehnsuchtsvoll brennt im Verlangen.

 

O Liebste du, mein allerliebstes Weibchen,

mein einzig Kind, o du, mein Herzenstäubchen.

Hat der Urgroßvater das nicht schön gesagt, Großmutter?

Großmutter: Gewiss! Ein andermal will ich dir auch sagen, auf was man alles zu achten hat, sowohl bei sich selber als dann auch bei einem jungen Mann, ehe man sich mit ihm fürs Leben verbindet, damit du auch ein solches Glück erlebst wie der Urgroßvater und die Urgroßmutter. Doch nun kommt! (sie geht mit den Enkeln weiter)

10. Szene: Entdeckt

(Jählich wird entdeckt)

Wieder ein Schulkind: Stimmt es, Lehrer Lämpel, dass das, was im Märchen erzählt wird, einmal war; und dass deshalb alle Personen schon tot sind, die da vorkommen?

Lehrer: Das Leben ist dazu da, in Erfahrung zu bringen, wer wir sind. Dazu dienen auch die Märchen.

Noch ein Kind: Aber das kann doch nicht sein, dass etwas Totes vorkommt.

Lehrer: Bedenkt, dass wir nur insofern sind, als wir wissen, wer wir sind.

Abermals ein Kind: Aber was im Märchen vorkommt, ist nie und war nie.

Noch ein Kind: Dann wissen die Figuren im Märchen nicht, dass sie sind.

Noch ein Kind: Aber dort steht ja der Stockmensch!

Wieder ein Kind: Wo?

Kind: Dort!

Ein Kind: Weiß der, dass er ist?

Lehrer: Jedenfalls ist das der Mann, vor dem wir uns alle in Acht nehmen sollen.

Ein Kind: Ist das nicht der, vor dem die Hüte vom Kopf fliegen, wenn er auf einen zukommt?

Noch ein Kind: Der heißt Jählich! Sein Name stand groß in der Zeitung.

Ein anderes Kind: Aber nur wenn man einen Hut auf dem Kopf hat, fliegt er davon.

Wieder eines: Ohne dass sonst etwas geschieht? Kann das sein, Lehrer Lämpel?

Lehrer: Wenn so etwas geschieht, muss man nach den Ursachen forschen. Keine Wirkung ohne eine Ursache! Aber es gibt Ursachen, die man nicht immer sieht. Wie bei der Schwere im Schwerefeld oder bei elektromagnetischen Wellen.

Noch ein Kind: Hat keiner einen Hut dabei? Dann soll der Mann kommen und uns seine Macht zeigen!

11. Szene: Auseinandersetzungen

(Anwalt kommt herzu mit Trauermann und Fotograf)

Wieder ein Kind: Aber da kommt ja schon einer mit einem Hut! Als hätte er uns schon heute Morgen gehört, hat er sich seinen prächtigsten Zylinder aufgesetzt!

Lehrer: Das ist der Trauermann. Sein Bild ist durch die Presse gegangen. - Zu dritt kommen sie her. Der Trauermann mit seinem Anwalt und mit einem Pressefotografen!

Ein paar Kinder: Ihr seid doch die beiden Sprösslinge von diesem Jählich! Also los! Ruft eurem Vater, dass er herkommt, wenn er kein Feigling ist! Oder wir holen ihn mit Gewalt!

Ein Kind: Aber da kommt er ja schon.

Lehrer: Los, begrüßt euren Vater!

Die zwei Söhne Jählichs: Vater!

Jählich: Was für eine Welt! Dabei hab ich doch überhaupt keine Schulkinder mehr!

Lehrer: Das hätte er wohl gerne. Aber da täuscht er sich. Kinder mögen sich von den Eltern lösen. Aber Eltern bleiben immer mit ihren Kindern verstrickt.

Kinder: Er soll uns etwas vorzaubern, wenn er kein Feigling ist!

Ein Kind: (auf ihn zueilend mit einem Stock) Meister der Stöcke! Nun zeig er uns, was er kann! (drückt ihm den Stock in die Hand)

Jählich: Lasst mich! Ich habe nichts mit euch zu schaffen.

Lehrer: Als Angeklagter würde ich leisere Töne anschlagen. Oder nicht, Dr. Habebald?

Anwalt: Lügen Sie nicht, Herr Jählich! Sehr wohl haben Sie etwas mit meinem Mandanten zu tun. Lehrer: Überhaupt muss jeder in der Gesellschaft derselben über sein Tun Rechenschaft ablegen. Deshalb kommen Sie jetzt endlich! Treten Sie näher! Zeigen Sie uns, wie Sie Hüte vom Kopf schlagen.

Anwalt: Glauben Sie aber nur ja nicht, dass wir per Gesetz verbieten, einen Hut zu tragen, nur weil Stockschläger uns unter unseren Hüten bedrohen. Wir als Gesellschaft sind stark genug, uns dagegen zur Wehr zu setzen.

Schwester: Lassen Sie den Mann gehen!

Lehrer: Halten wir ihn etwa fest? Kommt er nicht von allein auf uns zu, getrieben von seinem Gewissen?

Tochter: Auch ich meine, Sie sollten den Mann nicht behelligen. Lassen Sie ihn gehen! Gehen Sie, lieber Herr!

Jählich: Ich kann nicht gehen.

Lehrer: Da haben wir es! Die Geister, die er rief, die wird er nicht mehr los.

Anwalt: O, wir werden ihm Beine machen! Und dann wird sich zeigen, wie er Türen einbaut ins freie Feld, dass man sich bücken muss, um durchzukommen!

Kinder: Wo sind da Türen? ? Wo nichts ist, da ist nichts!

Anwalt: Wartet! Gleich sollt ihr sehen, wie er mit seinen niederen Türen über uns kommt! (zum Trauermann) Und Sie bleiben mucksmäuschenstill hier stehen! Dann wollen wir sehen, wann der Hut fällt! (Zum Fotograf) Sie sind schon am Filmen?

Fotograf: Alles, wie Dr. Habebald befohlen haben.

Anwalt: Das ist für die nächtliche Boulevard-Presse.

Ein Kind: Kann man da auch die Türen wandern sehen?

Lehrer: Warten wir es ab! Nun also vorwärts, Prof. Jählich. Zeigen Sie uns, was in Ihnen steckt!

Jählich: Ich war nicht darauf gefasst, Sie hier vorzufinden.

Lehrer: Kein Mensch ist auf den anderen Menschen gefasst. Oftmals nicht einmal auf die, die uns Liebe und Treue zugeschworen haben! Also los! Voran!

Anwalt: Denken Sie daran, wie Sie damals an der roten Ampel meinem Mandanten den Zylinder weggezaubert haben. Eben der Zylinder ist es, den er jetzt wieder trägt!

Jählich: Ich kann nicht.

Anwalt: Dann soll ihm der Trauermann helfen. Rufen Sie sich ins Gedächtnis zurück, was alles damals geschehen ist, als sich dieser Prof. Jählich einfallen ließ, Ihnen den Zylinder vom Haupt zu schlagen! Doch reden Sie so, ohne sich irgendwelchen Emotionen hinzugeben, sodass einer sagen könnte, sie hätten sich den Zylinder selber vom Kopf gestoßen! Reden Sie, wie wir es uns in manch einer Stunde als den wahren Vorgang der Sache zu Recht gelegt haben!

Trauermann: Die Bestattungsfeierlichkeiten meiner Frau waren zu Ende gegangen und ich glaubte jetzt zu wissen, dass ich den Kampf meines Lebens verloren hatte. Ich war eben aus dem Friedhof getreten und plötzlich wusste ich nicht mehr, wo ich war und wie ich nach Haus gelangen könnte. Alles, die gesamte Umgebung, war mir plötzlich fremd geworden. Noch nie war ich hier gewesen; jedenfalls konnte ich mich an nichts erinnern. Endlich sah ich wenigstens in der Ferne, im Osten, den Münsterturm, das Wahrzeichen der Stadt. Ich staunte nicht wenig, hatte ich doch meine Frau im Osten der Stadt beisetzen lassen, dem Anbruch des jüngsten Tages entgegen. Nun aber befand ich mich tief im Westen. Wie über Nacht hatte sich die Stadt bis hier heraus ausgebreitet und sich ein ganz neues Zentrum gebildet. Zu allem meinem Unglück aber stellte ich jetzt fest, dass ich kein Geld bei mir hatte. Nicht einen einzigen Pfennig hatte ich in der Tasche. Wenn ich heute noch zurückkommen wollte, müsste ich mich zu Fuß auf den Weg machen. Wiewohl das sehr weit war und meiner Schätzung nach mindestens 4 bis 5 Stunden strammes Marschieren erforderte, und das im schwarzen Anzug und mit dem Zylinder auf dem Haupt, zögerte ich keinen Augenblick. Es dauerte aber nur wenige Schritte, da musste ich einsehen, dass ich mir alles viel leichter vorgestellt hatte. Nirgends nämlich gab es einen Weg, auf dem ich in die gewünschte Richtung hätte eilen können. Wo immer ich hinkam und hinsah, waren die Wege alsbald schon durch Kanäle gesperrt, über die weder ein Weg nach ein Steg führte. Endlich sah ich mich nach einem öffentlichen Verkehrsmittel um; vielleicht dass ich da eine Sondergenehmigung erhielte! Doch auch diese Hoffnung sollte sich rasch als nichtig herausstellen. In den städtischen Bus ließ man mich überhaupt nicht herein; und bei einem Sammeltaxi, das bereits menschenüberfüllt war, bekam ich zur Antwort, er käme in zwei Stunden wieder; da sollte ich es dann noch einmal versuchen.

Anwalt: Und dann?

Trauermann: Ja und dann stand ich an jener Straßenkreuzung, ratlos, was ich weiter tun sollte.

Anwalt: Und dann ging Ihnen eine Kantate durchs Ohr.

Trauermann: Eine Kantate muss mir dann wohl durchs Ohr gegangen sein.

Anwalt: Sagen Sie uns den Text! Sie können sich damit wirklich sehen lassen! Möge uns beide ?

Trauermann: "Möge uns beide ein Engel geleiten,/ uns zusammen vor seinen Thron,/ wo sich der Tod und das Leben streiten,/ kämpfend um einen Botenlohn."

Anwalt: Und da kam dann dieser Prof. Jählich herbei und hieb Ihnen den Zylinder vom Kopf?

Trauermann: Ich weiß es nicht mehr. Ich habe es vergessen.

Anwalt: Wenn das kein Verbrechen ist an der Würde der Toten und ihrer Angehörigen!

Kinder: Der Zylinder wackelt. Gleich wird er fallen.

Anwalt: Bleiben Sie ganz schön ruhig, Meister Trauermann. Ertragen Sie alles, mit stoischem Gleichmut. Es wird wohl das letzte Mal sein! - Und Sie zeichnen alles auf, damit wir ein stichhaltiges Dokument haben.

Fotograf: Sehr wohl, Dr. Habebald.

Jählich: Meine Herren, ich habe nichts damit zu tun.

Anwalt: Das redet er sich so ein. Aber die Wirklichkeit ist eine andere!

Lehrer: Das gibt es allerdings häufig. Der Mensch ist ein Künstler, wenn es gilt, sich die Welt zu Recht zu färben.

(Ein Kind stößt dem Trauermann den Hut vom Kopf)

Kinder: (laut schreiend) Der Hut ist vom Kopf! - Er ist spazieren gegangen.

Lehrer: Das ist genug! Ihr alle habt gehört und gesehen, was geschehen ist! Mehr brauchen wir nicht.

Anwalt: Nein, mehr brauchen wir nicht! (alle bis auf Jählich sind plötzlich verschwunden)

12. Szene: Die Kollegen

(Jählich trifft jetzt auf Käslein und Katzendorf; letztere tragen Weglaternen)

Jählich: Was war das? Ist wieder ein Hut zu Boden gegangen? (wirft den Stock weg) Und ich wäre allein? Ist nicht einmal die Dame mit ihrer kranken Tochter mehr da? (er schaut sich um und steigt dann den Berg weiter empor; hinter ihm drein kommen jetzt Käslein und Katzendorf)

Käslein: Mir kommt eben ein grandioses Thema für einen meiner Doktoranden. Wollen Sie es nicht wissen?

Katzendorf: Aber sicher.

Käslein: Der Wald. Seit den Anfängen der Literatur bis in unsere Tage. Beginnend mit den Ereignissen im Zedernwald des Chumbaba, als der Wald gleichsam noch ein Labyrinth war und Chumbaba ein Herr des Labyrinths oder des Chaos. Noch die Epen des Mittelalters leben von diesen Vorstellungen der zu bezwingenden Wildnis. Ich denke da an eine profunde, religionsgeschichtliche Studie. Nichts für bezahlte Dissertationsschreiber.

Katzendorf: Aber wir müssen uns beeilen, sonst ist Kollege Jählich im Dickicht des Waldes verschwunden.

Käslein: (mit der Laterne schwenkend) Herr Kollege Jählich! So warten Sie doch!

Jählich: (bleibt stehen)

Käslein: Das hätten Sie wohl nicht gedacht, dass wir zur Stelle sind.

Jählich: Was wollen Sie von mir?

Käslein: Auf Kollegen wie uns ist eben Verlass! Aber das war ja auch etwas viel, was unser Kollege Jählich da hat ausstehen müssen. Da war es gut und taktvoll von uns, dass wir uns in diskretem Abstand gehalten und uns alles aus der Ferne mit angesehen haben. Jetzt aber stehen wir unserem Kollegen zur Verfügung, mit Rat und Tat.

Jählich: Ich wüsste nicht, dass ich jemanden brauche.

Käslein: Es geht nichts über gute Kollegen, Kollege Jählich. Ein Schuft, wer das bezweifelt!

Jählich: Besorgen Sie nichts, meine Herren! Es ist für mich eine abgemachte Sache, dass ich der Universität für das kommende Semester nicht mehr zur Verfügung stehe. Noch bevor das Semester beginnt, ja Morgen schon, werde ich meinen Platz räumen und werde alles in die Wege leiten, dass Lehrbetrieb und Forschung reibungslos weitergehen.

Katzendorf: Und die große Rede?

Jählich: Die werden Sie halten, verehrter Herr Kollege Katzendorf.

Katzendorf: O nur nicht so eilig, Herr Kollege Jählich. Wir verstehen zwar, dass Sie etwas mitgenommen sind im Zug und Druck der vielen Ereignisse und dass Sie jetzt entsprechend urteilen. Morgen schon, wenn erst die Nacht vorbei ist, sieht alles ganz anders aus.

Jählich: Wenn die Nacht aufhört.

Käslein: Aber gewiss doch. Wenn auf Tag und Nacht jeweils 24 Stunden fallen, so fallen auf eine Nacht auch nicht mehr als 24 Stunden. Das ist doch logisch. Und somit hätte jede Nacht ein Ende.

Katzendorf: Immerhin könnte er sagen: Wenn auf jede Nacht jeweils 24 Stunden fallen, dann wird es nie mehr Tag.

Käslein: Wie uns allerdings scheint, hat Kollege Jählich vergessen, was es mit dem Leben auf sich hat und mithin hat er auch das Zeitmaß verloren, wenn er es jemals besessen hat.

Katzendorf: Wohl all denen, die etwas vom Zeitmaß verstehen.

Käslein: Die Neuvermählten zumeist glauben es zu verstehen. Sie gehen in die Kirche und danken Gott für das Leben, das er ihnen geschenkt hat und das er durch sie weiter schenken will.

Katzendorf: Im Grunde genommen aber ist das alles nur eine überhöhte, schöne Paraphrase ganz natürlicher Vorgänge. Denn kommen dann, 20 oder 30 oder 40 Jahre später Krankheit und Alter und Tod, dann wird das alles ausgelöscht und wieder vergessen; und was man einmal zuvor noch gesungen hat zur Feier der Schöpfung, das kommt einen jetzt nur noch spanisch vor.

(beide bleiben im Hintergrund zurück)

13. Szene: Nacht auf dem Gipfel

(Gebirgsspitze. Vollmond)

Jählich: (er besteigt einen Turm dort droben) Nein, wir dürfen uns nicht kampflos aufgeben. Solange wir leben, wollen wir uns um ein sinnvolles Leben bekümmern! Leise, aber bestimmt, will ich sodann davon ausgehen, dass nicht auf ein sinnvolles Leben ein sinnloses Nichts folgt. Leise, aber bestimmt, will ich darauf setzen, dass für uns wie auch für unsere Nachkommenschaft gesorgt ist. Statt vom Nichts zu sprechen, dem wir anheimfallen, will ich mich wenigstens in einen schönen Schein hüllen, wie es schon unser großer Dichter getan hat. Dass auch uns dort auszuruhen bereitet ist, wo Liebchen ruht: in diesem auch für mich erfüllbaren Wunsch will ich mich zumindest zu beschwichtigen versuchen. Oder aber, noch besser, ich träume zusammen mit Liebchen den Traum, von dem wir glauben und hoffen, dass er uns erfüllt wird. Ins Unfruchtbare aber und ins Nichts vorzudringen will ich mir nie mehr gestatten. Wo keine Wahrheit auf uns wartet, dorthin will ich mich auch nicht begeben. Drum sei mir auch niemals dieses als letzte Erkenntnis im Sinn, dass wir nur zum Leiden verurteilt wären, dem nur das Nichts folgt. Weg mit dem Nichts, wenn wir es nicht als Durchgang zu verstehen vermögen! Wie einen Treuebruch, wie einen Verrat an Liebchen will ich fortan diesen Gedankenkreis meiden. Leiden ohne Gewinn sei niemals des Lebens Sinn! Ja, nur mit der Hoffnung auf neues Leben will ich in den Tod gehen und nur mit der Hoffnung auf ein neues Leben zusammen mit meinem Liebchen.

6. Akt: In der Universität

(Treppen, Gänge, Audimax)

1. Szene: Auf der Galerie

(Auf der Galerie über dem breiten Gang mit dem schwarzen Brett und den Rektoratsräumen stehen in neugieriger Erwartung Professoren und Professorinnen, so wie der Rektor, alle mit Hüten auf dem Kopf. Drunten im Gang der Verwaltungschef, ein Amtmann)

Amtmann: Einen guten Schutzgeist brauchte er wohl jetzt, dass er ihm reines frisches Wasser brächte, um sich die Augen auszuwaschen und mit klarem Blick zu sehen, wo er ist und was um ihn herum geschieht und wie er aus diesem Irrgarten wieder heraus kommt. Wenn es denn nicht schon zu spät ist. Denn viel zu lange schon hält sich dieser Mann in der Abgeschiedenheit auf, ohne Austausch mit anderen, nur noch damit beschäftigt, den Stein der Weisen zu finden, dass zu befürchten ist, dass er nicht mehr weiß, wo er steht. Statt dessen findet er Stöcke, die er, wenn wir ihn nicht daran hindern, wohl bald noch gegen sich selber schwingt. Frage nur ja nicht danach, wer du bist, wenn du nicht von einer Schar Gleichgesinnter umgeben bist. Und sind es auch nur mittelprächtige Freunde, von denen du weißt, dass sie den Rücken gegen dich kehren in der geringsten Not, so sind sie doch besser, als wenn dich nur Wasser und Wind umrauschen und die Tage und die Nächte an dir vorüberziehen. Doch ich bin nicht der Mann, der dazu befähigt oder berechtigt wäre, Empfehlungen auszuteilen. Ich bin nur der Amtmann, der Pförtner und tu und lasse, wie es seiner Eminenz gefällt. Und da ich sehe, dass er jetzt kommt, so werde ich ihnen das abgemachte Zeichen geben, auf dass sie sich zurückziehen und die geplante Szene ihren Lauf nehmen kann. (er gibt jetzt ein Zeichen, dass Jählich kommt und dass sich alle zurückziehen sollen.)

2. Szene: Traumwandlerisch

(Jählich geht wie ein Traumwandler durch die Uni auf der Suche nach dem schwarzen Brett)

Amtmann: Herr Professor Jählich, was tun Sie da? Kann ich Ihnen helfen? Sie machen ja den Eindruck, als wären Sie fremd in unserem Haus oder, wenn ich so sagen darf, als schliefen sie noch und liefen unter uns wie ein Traumwandler!

Jählich: Ich schlafe nicht und träume auch nicht.

Amtmann: Hier ist die Universität!

Jählich: Und was findet man da?

Amtmann: Haben Sie das vergessen? Dann wird es freilich schwer, hier etwas zu finden. Ich habe schon oftmals Leute durch die Universität wie durch ein Labyrinth eilen sehen. Wie sehr sie sich auch bemühten und die Gänge und Treppen durcheilten und welche Aufzüge sie auch benutzten, immer kamen sie wo anders heraus, als wohin sie wollten.

Jählich: Man darf sich nicht jagen lassen; man muss nur innehalten; dann kommt das auf einen zu, was man sucht. (man hört bald etwas wie Gejammer, bald wie Deklamation hinter einer Türe) Was ist das? Ist da wer?

Amtmann: Das wissen Sie doch. Das ist der alte Philosoph.

Jählich: Eingesperrt?

Amtmann: Was für eine Sprache! Eingesperrt! Nur verwahrt haben wir ihn hier. Auf eigenen Wunsch hier verwahrt. Erinnern Sie sich nicht mehr? Er wollte nur noch die große Philosophie, die Philosophie aller Philosophien zur Vollendung bringen, das Buch der endgültigen und umfassenden Weltweisheit schreiben, dass nichts mehr zur Erforschung übrig bliebe. Sie glauben mir nicht? Bitte! (er schließt die Türe auf, schiebt den alten Philosophen heraus und nach dem Sonett wieder in die Kammer)

Der alte Philosoph:

Die Wissenschaft und Kunst einst überschätzt,

als würden Ewigkeiten sie erschaffen,

von keinem Stein und keinem Keim verletzt

und keinem Geistzerstörer wegzuraffen,

 

Sie alle müssen heute eingestehen,

dass nichts der Zeiten Uhrwerk überdauert,

mag´s als Natur, als Werk Hephaist´s entstehen,

und hätt´s der Geometergott gemauert.

 

Der Gott der Zeit, Zeus selber, wird verschwinden,

sobald er sich als Macht der Zeit verschwendet

und keiner mehr im Erdenrund wird finden

den Fels, an dem der Menschengeist geendet:

 

Hin durch erinnerungstrübe Dämmerungen

wird er von des Vergessens Nacht verschlungen.

Jählich: Lassen Sie mich. Ich habe nichts damit zu schaffen.

Amtmann: Ich sagte ja, dass hier nur der verrückte Philosoph lauert.

Jählich: In die Klinik habe ich meine Frau gebracht, wo sie heute noch operiert werden soll. Und jetzt wollte ich nur noch schnell am schwarzen Brett vorüber, damit ich mir meinen Arbeitsplan für das nächste Semester zu Recht legen kann.

Amtmann: Sie suchen das schwarze Brett?

Jählich: Ich suche das schwarze Brett.

Amtmann: In der Tat, wo soll es sein, wenn nicht dort, wo es immer war?

Jählich: Und wo ist das?

Amtmann: Da ist es doch! Sie stehen davor! Wenn Sie nach Ihren Veranstaltungen suchen, nach den Hörsälen und den Zeiträumen, hier steht alles!

Jählich: Ach ja, da ist es ja.

Amtmann: Und hier sind die Räume seiner Exzellenz, des Herrn Rektor. Das alles war schon immer so. Aber Sie haben wohl etwas schlecht geschlafen heute Nacht. Da waren Sie sich jetzt unsicher, ob das neue Semester schon begonnen hat?

Jählich: Das mag sein.

Amtmann: Aber das wird alles besser, wenn nun bald das Gesetz der Anwesenheitspflicht der Professoren in Kraft tritt. Dann können Sie Ihrem großen Leitsatz leben, den Sie Ihren Studenten zu verkündigen nicht müde geworden sind, dass wir die Welt nur finden, wenn wir sie in uns finden. Denn dann sind Sie immer bei sich und zugleich auch hier im Haus des Geistes und der Wissenschaft zu Haus. - Hier sind übrigens alle Veranstaltungen verzeichnet, die auch für Gäste geöffnet sind. Das sind gar nicht wenig. Hier, sehen Sie, da stehen Sie an erster Stelle. Mit Ihrer Veranstaltung "Über eine neue Mechanik", Vorlesung mit Übungen. Schon sehr viele Leute haben mich gerade auf diese Veranstaltung hin angesprochen und ein reges Interesse bekundet.

Jählich: Habe ich das so angegeben?

Amtmann: Wer soll es denn sonst gewesen sein? Deshalb haben wir uns auch entschlossen, Ihnen den großen Hörsaal zur Verfügung zu stellen.

Jählich: Das Audimax?

Amtmann: Jawohl.

Jählich: Auch wenn ich es nicht mehr brauche?

Amtmann: Können Sie das wissen? Glauben Sie mir, das Interesse ist ungeheuerlich.

Jählich: Ich habe meiner Frau versprochen, in Pension zu gehen und mich ausschließlich ihrer Pflege zu widmen; denn sie ist schwer krank.

Amtmann: Das kann aber doch nicht Ihr Ernst sein. Soviel ich weiß gibt es viele Doktoranden, die selbst auch ihre Ehe zu Grund richten, nur um ihren akademischen Ehrentitel zu bekommen und Professoren gibt es und Professorinnen, die um ihrer Karriere willen selbst das Leben ihres Ehepartners für nichts erachten.

Jählich: Mörder?

Amtmann: Man muss nicht gar so hart ausdrücken, was so oft vorkommt.

Jählich: Und doch geht mich das alles nichts an.

Amtmann: O in gewissem Sinn geht uns alle das etwas an.

Jählich: Etwas ist faul im Staate Deutschland.

Amtmann: Eben deshalb müssen wir alle an unseren Aufgaben festhalten. Wir müssen sie ernst nehmen. Wir müssen vorangehen in vorbildlichem Handeln.

Jählich: Immerhin könnten Sie mir die Unterlagen zur vorzeitigen Pensionierung zuschicken. Wenn Sie mir heute diese noch zuschicken, liegen Sie morgen der Verwaltung vor und ich bin übermorgen ein freier Mann.

Amtmann: Das geht leider nicht alles so leicht. Als Präsident der Verwaltung obliegt es mir nicht, irgendjemandem Unterlagen zuzuschicken; und wäre es selbst seiner Exzellenz; das ist Sache meines Vice; und der befindet sich noch im Urlaub. Aber selbst wenn mein Vice wieder da ist, wird auch er nicht blindlings Ihren Wunsch erfüllen können. Bedenken Sie doch nur, wer dann Ihr riesiges Lehrangebot übernehmen soll! Und Lehre und Forschung müssen gewährleistet sein. Das wissen Sie ja selber.

Jählich: Im schlimmsten Fall übernehme ich die Lehre noch solange, bis mein Nachfolger gefunden ist. Das dürfte weiter nicht schwer sein. Oder haben Sie jemals erlebt, dass für einen Professor, einen Bundespräsidenten oder für das Amt eines Erzbischofs kein Nachfolger zur Verfügung gestanden hätte?

Amtmann: Aber, Prof. Jählich, bei Ihnen ist das doch etwas ganz anderes. Kommen Sie! Lassen Sie es sich zeigen!

3. Szene: Studenten

(Während der Amtmann den Jählich sanft auf das Audimax zu mit sich zieht, kommen zwei Studenten und zupfen ihn von hinten)

Erster Student: Mein Herr. Wir sind Studienanfänger und warteten auf Prof. Jählich. Wiewohl der Vorlesungsbeginn längst überschritten ist, ist Prof. Jählich noch immer nicht zu uns gekommen. Das macht sich freilich nicht gut, zumal zum Semesterbeginn. Nun hat uns die Studentenschaft abgeschickt, nachzusehen, wo der Professor steckt.

Zweiter Student: Aber das ist er doch.

Erster Student: Das ist Prof. Jählich?

Zweiter Student: Wer denn sonst? Herr Professor, sagen Sie diesem Ignoranten, dass Sie sind, der Sie sind!

Jählich: Ist denn schon Vorlesungszeit? Hat das Semester schon wieder begonnen?

Amtmann: Aber sicher!

Jählich: Sprachen Sie nicht vorhin noch von der semesterfreien Zeit? Und dass Ihr Beistand sich noch in Urlaub befände?

Amtmann: Was war nicht alles vorhin. Aber jetzt ist jetzt. Mein Herr, wachen Sie endlich auf! (Der Amtmann verschwindet wieder.)

Zweiter Student: In der Tat, jetzt ist jetzt.

Erster Student: Wir wollten eben Ihr Fernbleiben auf dem Rektorat melden.

Zweiter Student: Das hätte sich freilich nicht gut gemacht.

Erster Student: Professoren, die ihre Lehre nicht sorgfältig wahrnehmen, können unmöglich für uns Jugendliche leuchtende Leitsterne sein. Das weiß auch der Rektor.

Zweiter Student: Doch kommen Sie!

Jählich: Wo gehen wir hin?

Beide Studenten: Ins Audimax.

Erster Student: Wir dürfen doch hoffen, dass Sie einigermaßen vorbereitet sind und dass Sie auch ein paar passende Schauversuche parat haben.

Zweiter Student: Professoren, die ratlos lächelnd an der Tafel herumstehen und dann die Studenten in der Klausur durchfallen lassen, dulden wir nämlich nicht länger!

Beide: Ist alles nur gut einstudiert, läuft auch der Laden wie geschmiert.

Erster Student: Hier, sehen Sie, ist auch schon der große Hörsaal, mit so weit aufgerissenem Maul, sodass man selbst noch die Verdauungsorgane bei ihrer Arbeit vernehmen kann.

Zweiter Student: Was mich angeht, so heiße ich übrigens Stab. Das mag weiter noch nicht von großer Bedeutung sein, da ja außer mir noch niemand wissen kann, dass ich einmal ein Stern erster Klasse sein werde; gleichwohl aber kann man sich bereits einprägen, dass mein Name mit einem kurzen "a" gesprochen wird. Ich heiße also Herr Stab, nicht Herr Staab. Und wenn ich bald promoviert bin, heiße ich Dr. Stab. Und als Professor wird man mich Prof. Dr. Stab nennen.

Erster Student: Bei mir geht die Leseart gerade anders herum. Ich nenne mich Herr Raab, mit einem langen "a", wiewohl der Rabe ja bekanntlich noch immer nur mit einem a orthografisch korrekt zu beschreiben ist.

Zweiter Student: Ursprünglich wollte ich übrigens auch Theologe werden. Als ich dann aber bedachte, dass man da keinen Nobelpreis bekommen, dass man bestenfalls Dekan oder Rektor werden kann, da überlegte ich es mir anders.

4. Szene: Beim Audimax

(Eintritt ins Audimax)

Erster Student: (er legt einen Perserteppich vor den Eingang, über den zu schreiten er Jählich nötigt) Nun aber kommen Sie, Herr Prof. Jählich!

Zweiter Student: Was haben Sie? Wo denken Sie hin? Wovor schrecken Sie zurück? Jeder große Gast wird mit einem Teppich geehrt. Und nun am Vortag des Festes der Freiheit. Da kann es doch nichts Geschmackvolleres geben, als über so einen von Purpur prunkenden Perserteppich zu schreiten.

Erster Student: Wir könnten auch sagen, über einen Läufer zu schreiten, wenn Sie diesen Sprachgebrauch lieber mögen.

Zweiter Student: Sie wollen noch immer nicht? Scheuen Sie vor dem Purpur? Erinnert Sie das etwa an ungerecht vergossenes Blut? Denken Sie an die Helden von Marathon und Salamis, wie sie sich gegen Kyros die Freiheit erkämpften!

Erster Student: Oder an den Stock und an den Stab, die Zuversicht verleihen. Wer denkt heutzutage dabei nicht an Ihre große Forschung, Prof. Jählich! Gehen Sie mutig voran! Seien Sie uns ein Vorbild! Schließen Sie die Augen, damit den anderen die Augen aufgehen!

Beide Studenten: (sie fassen ihn an den Armen und ziehen ihn über den Teppich) Wie über den Teppich der Fuß, so schreitet das Leben über uns hinweg. Purpurschimmernd voll Ehren dem einen, purpurschimmernd voll Blut dem andern. Aber das Gewebe, Zettel und Einschlag, es versteht keiner, weder, wenn es geknüpft wird, noch wenn es zu nichts wird, im Dunkel.

5. Szene: Im Audimax

(Das Audimax ist mit Studenten und Professoren gefüllt. Eine Lehrkanzel in der Höhe, mit einem Drahtgitteraufzug dabei. Unter den Zuhörern eine kleinere Kanzel, wie zum Disput für einen kleineren Rivalen. Sie wird aber beim Vortrag wachsen. Darin befindet sich Käslein. Jetzt sind die Professoren und Professorinnen mit ihren Hüten zu sehen. Auch die meisten Studenten tragen Hüte. Ein Maler sitzt bereit, den historischen Augenblick festzuhalten. ? Die verschiedenen Zwischenrufer, die sich im Folgenden zu Wort melden, werden nicht einzeln unterschieden.)

Die beiden Studenten: (sie führen Jählich zu dem Aufzug, der Jählich in die Rednerkanzel hinauf bringt)

Käslein: (von der etwas niederer postierten, im Auditorium befindlichen, offenen Kanzel aus. Dort ist auch seine Weglaterne wieder zu sehen) Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Stellen Sie doch bitte für einen Augenblick Ihr Gerede ein, damit wir unserem Festredner, Prof. Jählich, einen würdigen Empfang geben! Denn er ist jetzt im Kommen. - Meine Damen und Herren! Hätten Sie die Güte, ein wenig Platz zu machen? Jawohl, auch Sie meine ich, Sie Grünschnäbel! Alles zu seiner Zeit! So steht es schon im Kohelet. Wenn nur mal drei oder mehr Dummköpfe beisammen sind, glauben Sie, sie hätten die Welt gepachtet; und jeder Entgegenkommende müsste einen großen Bogen um sie machen. Und nun kommen Sie, Prof. Jählich! Seien Sie so gut! - Meine Damen und Herren! Ich bitte um einen Augenblick erhabenen Schweigens! ? (zu Jählich) Mein Herr, kommen Sie! Und nun besteigen Sie unsere große Kanzel, den Berg der Berge! Und erfüllen Sie die Schluchten des Weltalls mit dem Gesang der Wahrheit!

(die Studenten stoßen ihn in den Aufzug und setzen ihn in Bewegung.)

Käslein: (ins Plenum) Wie Sie sehen, ist es uns gelungen, nach langem Suchen den Star unserer Veranstaltung, Prof. Jählich aufzuspüren und ihn zum Sternhimmel unseres Auditoriums zu befördern.

Erster Student: Dabei dachte er, einen gähnend leeren Hörsaal vorzufinden.

Käslein: Seien Sie jetzt bitte ganz still, damit Prof. Jählich beginnen kann!

Zwischenrufer: O, unser Interesse ist riesengroß.

Käslein: Und nun sprechen Sie, Kollege Jählich. Teilen Sie uns mit, was Sie erforscht haben! Schütten Sie uns Ihr ganzes Forscherherz aus!

Jählich: Meine Damen und Herren, was wollen Sie? Was soll ich hier?

Zwischenrufer: Wie war das? Soll eine derart wichtige Veranstaltung so ohne Form und Stil beginnen, wo sich sämtliche Kollegen der Universität einschließlich der Dekane seiner Magnifizenz und nicht zuletzt auch seine Magnifizenz eingefunden haben?

Käslein: Ganz Recht! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich als den waltenden Dekan der vereinigten Fakultäten, lassen Sie mich im Namen all der eben genannten Herren und Damen unseren Festredner begrüßen und lassen Sie mich wenigstens so viel vorausschicken, dass ich unser aller Dank aussprechen möchte, dass wir jetzt in der Lage sind, uns seinen epochalen, wegweisenden Vortrag anzuhören. Sagen Sie uns also, Prof. Jählich, was Sie der Vollversammlung dieser ehrenwerten Männer und Frauen zu sagen haben.

Jählich: Ich wüsste nicht, dass ich etwas zu sagen hätte.

Käslein: Alles aber kommt offenbar so überraschend für ihn, dass er noch etwas Zeit braucht, sich auf seine Rede zu besinnen. Gestatten Sie mir also, meine Damen und Herren, Ihnen, während Prof. Jählich im Geist erwacht, noch ein paar Worte vorauszuschicken. Woher rührt das, so frage ich Sie, verehrte Damen und Herren, dass uns die Wissenschaften und ihre technischen Umsetzungen heute so große Angst einjagen, dass viele bereits die Apokalypse, das große Inferno der Menschheit auf uns zukommen sehen?

Zwischenrufer: Mir jagen sie keine Angst ein. Ich glaube an die Prädestination.

Käslein: Spotten Sie nur nicht. Dass uns ein Inferno bedroht, wird niemand mehr leugnen. Um aber diesem Sachverhalt auf den Grund zu kommen, muss auch ich als Theologe tief in die Zeiten zurückgehen.

Zwischenrufer: Dann gehen Sie nur mal zurück, wenn auch bitte nur so weit, dass Sie auch noch den Rückweg vor dem Weltuntergang schaffen.

Zwischenrufer: Auch Schwimmen und Eintauchen sind erlaubt, wenn es sein muss!

Käslein: Damals, zur Zeit der Weisheit, die über ein paar Jahrtausende hinweg die Menschheit bewegte, gab es immerhin noch den Glauben an eine feste Ordnung. Dem Menschen als Ebenbild Gottes kam es zu, zumal in seinen höchsten Repräsentanten, diese feste und ewige Ordnung aus göttlichem Mund zu vernehmen und sie in Gehorsam zu respektieren.

Zwischenrufer: Das ist doch Unsinn.

Rektor: Ich bitte die Herren, überlassen Sie jetzt unserem Redner das Wort.

Käslein: Nur noch einen Satz, wenn ich bitten darf! - Das kulturell geformte Ich ?

Zwischenrufer: Aber wenn seine Exzellenz sagt, Sie sollen still sein, Käslein?

Rektor: Lassen Sie ihn noch diesen Satz zu Ende bringen. Also, Prof. Käslein! Das kulturell geformte Ich ?

Käslein: Das kulturell geformte gesellschaftliche Ich, so meine ich, sollten wir sorgfältig trennen vom animalisch triebhaften Ich! Meist indessen hält sich das individuelle Ich in seinem Stolz für frei und ist doch, ohne es zu bemerken, von der Meinung der Mehrheit abhängig.

Zwischenrufer: Sehr richtig. Bis in die Urteile unserer höchsten Gerichte!

Rektor: Und nun gestatten Sie, dass wir das Wort an Prof. Jählich übergeben! Jawohl, Prof. Jählich! Reden Sie jetzt! Reden sie jetzt kraftvoll, im Geist und in der Nachfolge unserer Dichter und Denker, gleichsam als eine Art Vorlauf und Probelauf, als eine Art Generalprobe zur großen Schillerfeier, zum Festtag der Freiheit, auf dass wir dem Ministerrat eine entsprechende Empfehlung weiterreichen können. Erzählen Sie uns etwas über die Freiheit und von der Befreiung!

Zwischenrufer: Als ob nur unter den Tyrannen und den absolutistischen Herrschern und unter den Diktatoren der jüngeren Geschichte Unfreiheit bestanden hätte. Da hat die allgemeine Unfreiheit nur ihre unrühmliche Spitze gefunden. Aber auch heute noch, selbst in den besten aller Demokratien, grassiert die Unfreiheit, gepaart mit dem Unfrieden und vielen anderen Übeln.

Zwischenrufer: Weiter, weiter, Prof. Jählich! Bis jetzt haben Sie noch kein falsches Wort gesagt.

Jählich: Jeder von uns hat bei sich selbst zu beginnen!

Käslein: Weiter.

Jählich: Es genügt sicher nicht, von einem Traum der Befreiung zu träumen.

Zwischenrufer: Freilich genügt es nicht. Darum soll man uns jetzt nur nicht länger hinhalten.

Käslein: Alles, was uns abhält, so zu sein, dass ein himmlischer Vater uns als seine Söhne und Töchter anzunehmen vermag, gehört zum Bereich der Unfreiheit. Nur, was hält uns ab?

Zwischenrufer: Nur keine frommen Exkurse!

Zwischenrufer: Immerhin hat Schiller, als er sich noch in den Klauen der Schwabenfürsten befand, und sich ihm seine Räuber unter den Händen formten, immer auch neben dem Vater des irdischen Hauses an den himmlischen Vater gedacht. Wie anders hätte Amaliens Liebe sonst so aufblühen können!

Zwischenrufer: Wenn man die Prämissen recht bedenkt, wenn man sie also nicht fasst als etwas, was auch anders hätte sein können, wenn man nicht an veränderbare politische Systeme denkt und nicht an soziales Elend und alles dies, was Menschenverstand und Brüderlichkeit ändern können, sondern an etwas zutiefst im Menschen Verwurzeltes: so kommt Schiller in seinen Räubern der griechischen Tragödie am nächsten. Hier dann waltet das Schicksal in aller seiner Unentrinnbarkeit. Hier dann begegnet man dem Menschen in schicksalsvollem Verhängnis.

Zwischenrufer: Freiheit, sagte die Maus, Freiheit erringt man nur, indem man die Katze als Gottheit fromm verehrt, mag sie auch mit einem tun, was ihr gefällt. Das wusste schon Sophokles.

Zwischenrufer: Gut wäre wohl, wenn wir auch die späteren Stücke, zumal die Millerin, den Tell und den Don Carlos im Licht der Räuber weiter bedächten, auch wenn Schiller zumal in Weimar als Künder des klassischen Schönheitsideals diesen Grundgedanken vergessen zu haben scheint.

Zwischenrufer: Jawohl, damals beglückte den jungen Schiller noch die Ahnung, dem wahren Menschen zu begegnen. Heute aber macht es keinen Leben stiftenden Sinn mehr, Räuber zu werden. Und bleibt auch noch ein gewisser Rest bestehen, für eine bessere Welt zu kämpfen, so rücken doch die beiden Welten, des irdischen und des himmlischen Vaters immer weiter auseinander. Und wenn es der Tod ist, der die Grenzen des Freiheitsbegriffs sprengt.

Kaulkapp: Nur keine Angst, mein Herren! Der Freiheitsbegriff ist immer schon ein sozialer und politischer Begriff gewesen und hat nichts mit dem Tod zu tun. Der Einzelne hat nur ein Anrecht auf freie Meinungsäußerung, auf Wahlfreiheit, Glaubensfreiheit etc., insofern er sich als Angehöriger der Gesellschaft zu deren Freiheit bekennt.

Käslein: Wir alle aber sind Brüder und Schwestern ?

Zwischenrufer: Jawohl, Herr Käslein! Der spätere Schiller als Dichter der Erziehung zur Freiheit und Weltverbesserung hat nichts mehr mit jenen Bereichen zu tun, die jenseits des Todes liegen. Der Begriff Freiheit bezieht sich für ihn nur noch auf ein humanes, sozial ausgerichtetes Miteinander, auf eine Akzeptanz von Herrschaft, sofern sie ohne Knechtschaft und Versklavung auskommt.

Zwischenrufer: Sehr richtig! Mag man nämlich auch vor dem Grab eines Freiheitshelden in Ehrfurcht innehalten und den Hut abziehen, so wird doch der Tod nicht weiter als eine Pforte bedacht, die den Helden zu einem neuen Leben führt.

Zwischenrufer: Wenn die Weltgeschichte das Weltgericht ist, so ist der Tod des Helden ausschließlich in der Geschichte der Völker zu vermessen. Der Soldat im Krieg lässt sein Leben für sein Vaterland. Die kommenden Generationen sollen bedenken, dass der Held für eine bessere Zukunft sein Leben zum Opfer gegeben.

Zwischenrufer: In diesem Sinn verlangt dann auch weiterhin die Willkür weltweiter Staatsterrorismen ihre Opfer.

Zwischenrufer: Ein Todesopfer gibt es nicht mehr, auch wenn sich Kleist, zumal in seinem Homburg, noch einmal ernsthaft damit befasst hat. Schiller deutet es zum Schluss in seinen Briefen über Don Carlos ja selber an, dass sich der Held, der in den Tod geht, "in die Größe seiner Tat hüllt, um keine Reue darüber zu empfinden." Das lässt sich nicht mit dem Konzept einer freiheitlich gesinnten Seele verbinden, die es gelernt hat, allen Widrigkeiten des Schicksals zu trotzen und in sich zu ruhen.

Zwischenrufer: Ja, was ist denn der Mensch?

Rektor: Lassen Sie nun aber doch bitte endlich auch Prof. Kollege Jählich zu Wort kommen! Lassen Sie uns wissen, Prof. Jählich, was es mit dem Gesetz der Freiheit auf sich hat!

Zwischenrufer: Sagen doch Sie es uns, Majestät!

Zwischenrufer: Und doch wissen wir dann noch immer nicht, was es mit dem Menschen auf sich hat!

Käslein: Meine Herren! Bleiben wir auf dem Boden der Tatsachen! Entschweben wir nur nicht in die nebelhaften Gefilde der Paradoxe, die mit der Neuzeit in unsere Welt Einzug gehalten haben!

Zwischenrufer: Keiner von uns kann sich die Freiheit mit der Schöpfkelle schöpfen!

Rektor: Fahren Sie fort, Kollege Jählich!

Jählich: Wir alle sind Brüder und Schwestern, und gehören als solche zusammen, weil wir uns alle auf der Suche befinden nach einem Hort der Sicherheit, der Geborgenheit und der Freiheit.

Zwischenrufer: Bei Schiller lesen wir: "Die Tugend handelt groß um des Gesetzes willen, die Schwärmerei um des Ideales willen; die Liebe um des Gegenstandes willen. Aus der ersten Klasse wollen wir uns Gesetzgeber, Richter und Könige, aus der zweiten Helden, aber nur aus der dritten unseren Freund erwählen." Ob wir hiermit nicht etwas anfangen können bei unserer Schillerfeier?

Zwischenrufer: Zur Tugend heraufblicken, um dann mit dem Marquis Posa auf Don Carlos, den Freund, melancholisch herunter zu blicken?

Zwischenrufer: Wer mag es wissen, ob nicht hinter manch einem Verbrechen noch ein großes Glück schlummert, das nur so erweckt wird!

Zwischenrufer: Dann nur mal hinauf auf die Guillotine!

Zwischenrufer: The genius of deep crime refuses to be alone. Jawohl, meine Damen und Herren, nicht nur der Verbrecher sucht in der Masse unterzutauchen, die Masse selber, inklusive der bürgerlichen Gesellschaft, ob sie sich auch für etwas Besseres hält, ist ein Verbrecher und zeugt Verbrechen am laufenden Band.

Zwischenrufer: Dann auf die Guillotine mit der bürgerlichen Gesellschaft!

Käslein: Wir sehen zwar nicht alles, was der Weltgeist sieht, doch verirren wir uns nur nicht auf peinlichen Gebieten!

Katzendorf: Weiter, weiter Kollege Jählich!

Zwischenrufer: Dass die Tugend groß handelt um des Gesetzes willen, wird heute gewiss niemand mehr behaupten.

Zwischenrufer: Ich frage mich schon lange, wenn ich die Herren des obersten Gerichts sehe, wie man aus dem Grundgesetz etwas heraus geheimnissen kann, was überhaupt nicht drin steckt.

Katzendorf: Fragen Sie sich bitte zu Hause!

Rektor: Bitte, Prof. Jählich, fahren Sie jetzt fort, ehe der Zug davongefahren ist!

Käslein: Wenn Sie das Wort an die Masse scheuen, so haben wir volles Verständnis. Dann ziehen Sie sich bitte die Scheuklappen auf, die auf Ihrem Katheder liegen. Dann kann Sie nichts mehr irre machen.

Zwischenrufer: Nur Mut, Herr Jählich. Und die Scheuklappen auf! Und zu Käslein aufgeschaut!

Käslein: Wir sind dabei, zu erörtern, was ein Gesetz heute noch vermag, um es für die Welt der Freiheit fruchtbar zu machen.

Zwischenrufer: Der Fortschritt in der Beschreibung der naturwissenschaftlichen Gesetze könnte uns zeigen, wie auch gesellschaftspolitische Gesetze sich weiterzuentwickeln hätten.

Zwischenrufer: Bis hin zu einem Gesetzbuch von Scheuklappengesetzen.

Zwischenrufer: In der Tat bedeuten die Gesetze in unserem Staat, so zufällig und willkürlich, wie sie gefasst sind, nicht mehr viel. Sie gehen nicht darauf aus, uns zu unserem Selbst, sondern uns zur Kasse zu bitten. Gesetze, von denen echte Handlungsimpulse ausgehen, gibt es längst nicht mehr.

Zwischenrufer: Drum weiß man auch nicht, ob man lachen soll oder weinen soll, wenn man Leute des Staats hört, wie sie um schickliches Verhalten und vorbildliches Benehmen werben.

Zwischenrufer: Von daher darf man sich fragen, ob nicht nur ein Heer von vorprogrammierten Predigern das Wort ergreift, wenn wir uns zum Festtag der Freiheit versammeln.

Zwischenrufer: Man stelle einen Popanz auf und lasse ihn predigen!

Kaulkapp: Meine Herren! Überlassen Sie diese Spezialfelder bitte den Spezialisten.

Käslein: Was sagen Sie dazu, Prof. Jählich?

Zwischenrufer: Was für eine dumme Frage, Herr Käslein. Als ob einem da nicht auch noch das letzte Wort im Hals stecken bliebe!

Jählich: Ich bin müde, meine Damen und Herren!

Käslein: Dabei haben Sie noch nichts gesagt.

Jählich: Ich merke, dass ich mich einem Ort nähere, wo man sich nicht mehr so leicht ausspricht.

Käslein: Was gesagt werden muss, muss gesagt werden! Dazu sind wir da! Ringen wir deshalb im Kampf um die Wahrheit!

Jählich: Dazu brauchten wir einen archimedischen Punkt.

Käslein: Nennen Sie uns diesen Punkt! Sie haben ihn gewiss längst gefunden!

Katzendorf: Heraus mit der Sprache!

Zwischenrufer: Schon bei Shakespeare lesen wir, dass Tugend groß ist, wenn sie versiegelt ist durch das eigene Gewissen.

Käslein: Überhaupt, Prof. Jählich, warum verbieten Sie sich nicht endlich alle diese undisziplinierten Zwischenrufe? Oder gefällt er sich in der Rolle als Mäeutiker, als ein zweiter Sokrates, so eine Art Zungenlöser?

Zwischenrufer: Wo sich aber die Zunge nicht lösen will, hilft er mit seinen Stöcken nach.

Käslein: Da hören Sie es, was für Beiträge Sie dem Auditorium entlocken.

Zwischenrufer: Herr Jählich ist so klug und weise, dass er weiß, dass wir kein Verlangen tragen nach professoraler Maßregelung.

Käslein: Das Meiste von diesen Beiträgen ist dummes Zeug von dummen Grünschnäbeln. Drum reden Sie jetzt! Nennen Sie uns den archimedischen Punkt.

Jählich: Ich weiß nicht, was ich dazu noch zu sagen hätte.

Zwischenrufer: Da haben Sie es. Eine direkte Mitteilung schickt sich eben nicht!

Käslein: Aber Sie machen jetzt eine Ausnahme, Prof. Jählich! Nur für uns, damit wir nicht unglücklich nach Hause gehen müssen.

Jählich: Ich habe diesen Punkt im gegenseitigen Austausch von Mann und Frau gefunden. Doch das gilt nur für mich.

Käslein: Dann hätten wir uns also mit der Familie zu befassen. Da aber ist schon hervorragende Arbeit geleistet worden. Wir müssen nicht vom Nullpunkt anfangen. Nicht wahr, Prof. Kaulkapp!

Kaulkapp: Das will ich meinen. Nur schade, dass Prof. Jählich meine bahnbrechenden Arbeiten nicht studiert hat. Sonst wüsste er, dass man zwar im Zusammenhang von Mann und Frau nach einem Ideal suchen kann, dass aber von hier aus kein Weg in die Gesellschaft führt. Das Verhältnis von Mann und Frau mag im Idealfall durch wechselseitiges Erkennen, Anerkennen und durch Verehrung bestimmt sein, aber schon bei den Kindern kann davon nicht mehr die Rede sein. Ein Kind muss sich behaupten, und dies zuerst einmal und gerade gegenüber seinen Eltern; es pocht also gleichsam auf die Rechte der gesellschaftlichen Freiheit: auf freie Meinungsäußerung und Selbstbestimmung und ist weit davon entfernt, am Ideal seiner Eltern teilzunehmen. So lässt sich auf gar keinen Fall die Familie als Keimzelle der Gesellschaft verstehen. Was die Liebe angeht, so muss sie zwischen zwei jungen Menschen, wenn sie sich entschließen, fast wieder ganz von vorn anfangen.

Käslein: Haben Sie es gehört, Kollege Jählich?

Zwischenrufer: Auch Sie, Herr Käslein, sollten sich merken zumal als Theologe, dass Kunst und Wissenschaft frei zu halten sind von jeder Bevormundung durch ein christliches Credo.

Rektor: Meine Herren! Ich darf Sie doch bitten! Herr Kollege Jählich, sagen Sie uns nun alles das, was Sie uns noch zu sagen haben!

Zwischenrufer: Am besten alles mit einem Wort!

Jählich: Was soll ich noch sagen?

Zwischenrufer: Fehlt nur noch das Wort zum Sonntag.

Zwischenrufer: Aber das kann uns ja Herr Käslein mitteilen, der ein anerkannter Prediger ist.

Käslein: Wir sind hier nicht in der Kirche!

Zwischenrufer: Ein christlicher Theologe ist überall in der Kirche. Denn das Weltall ist die Kirche Gottes.

Rektor: Herr Kollege Jählich?

Jählich: Man muss den Gedanken an den Tod auslöschen, um leben zu können. Sonst habe ich nichts mehr zu sagen. Ich bin so weit. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.

Katzendorf: Ist das alles?

Käslein: Wie es scheint.

Katzendorf: Dann sehen Sie ja, werter Kollege Jählich, dass Sie uns nicht viel Bedeutendes mitzuteilen in der Lage waren.

Zwischenrufer: Nur her mit dem Schirlingsbecher, wir wollen sehen, wie er ihn aussäuft.

Rektor: Möchten Sie uns nicht noch eine Empfehlung auf den Weg geben, Prof. Jählich? Nicht?

Käslein: Ja, dann danken wir Herrn Prof. Jählich für seine unglaublich bedenkenswerte Suada zum Lob der Freiheit.

Zwischenrufer: Vielleicht, dass Sie noch dafür sorgen, dass man den Herrn Redner aus diesem Käfig heraus lässt! Sie sehen doch, wie er nach einem Ausgang sucht!

Käslein: Haben Sie noch einen kleinen Augenblick Geduld, Prof. Jählich. Es ist nämlich bei uns so guter Brauch, dass wir die hervorragenden Vertreter der Universität porträtieren lassen, worauf sie in der Galerie des großen Senatssaales einen entsprechenden Platz finden. Die Galerie, das ist nämlich das Album der Ewigkeit. Aber das können Sie ja nicht wissen, da Sie schon seit Jahren keine Senatssitzung mehr besucht haben.

(Universitätsmaler porträtiert Jählich)

Jählich: Mir pressiert aber.

Maler: Es dauert nur ein paar Augenblicke. Das ist die ganze Wahrheit. Ein paar Augenblicke ruhig halten, das genügt schon!

Zwischenrufer: Sie sehen doch, dass er keinen Wert drauf legt, porträtiert zu werden.

Jählich: Meine Frau liegt im Krankenhaus und stirbt.

Käslein: (dessen Kanzel gewachsen ist und Jählichs Kanzel weit überragt) O, da kommt sie schon wieder heraus. So schnell stirbt keiner. Überhaupt ist Prof. Wolf ein ganz vorzüglicher Operateur.

Katzendorf: Denken Sie sich, Sie wären jetzt tot und lägen im Grab. Da müssten Sie auch drin bleiben.

Zwischenrufer: Oder hat er Angst, einen kleinen Hochstapler zu Gesicht zu bekommen, wenn er sein Porträt sieht?

Käslein: Prof. Jählich weiß, was er zu sehen bekommt. Nur ein Dummkopf ist ängstlich gespannt, ob er sich als Genie ansichtig wird!

Maler: So, nun haben wir es aber auch gleich! War das ein Hexenwerk? Hier ist es, meine Damen und Herren!

Katzendorf: Was für ein zauberhaftes Porträt! In zwei Varianten hat es uns der Künstler hinterlassen. Für die Hochfeste und für den Werktag.

Käslein: (während der Student den Käfig öffnet) Und nun kommen Sie heraus, Prof. Jählich!

Zwischenrufer: (Während Jählich zu Fuß die Treppe herabgeht und den Hörsaal verlässt) Was für ein Abgang, was für ein Desaster!

Kaulkapp: An Jählichs Stelle hätten wir uns allerdings auch nicht vorgedrängt zu einer Probevorlesung. Selbst seine Magnifizenz, der Rektor, muss zur Kenntnis nehmen, dass wir auf den Falschen gesetzt haben.

Käslein: O mein Herr, machen Sie Beine! Springen Sie, so schnell Sie nur können! Doch halt! Warten Sie! Sie haben ja Recht, wenn Sie sich Zeit lassen. (einem Studenten die Laterne gebend) Leuchten Sie ihm auf dem Weg, damit sein Fuß an keinen Stein stößt!

Studenten: (wieder mit Hüten auf dem Kopf bilden eine Gasse, durch die Jählich läuft, hinter ihm der Student mit der Laterne, und deklamieren; dabei lassen sie die Hüte vom Kopf fallen)

Nun zieht er hin, des Weltalls letzter Wächter!

Die ganze Menschheit zollt ihm ein Gelächter!

7. Akt: In der Klinik

1. Szene: Im Patientenzimmer

(In einem Zweibettzimmer. Neben Frau Jählich eine alte Frau, die unablässig monologisiert. Professorenvisite von Prof. Wolf)

Prof.: Meine Damen und Herren. Hier nun kämen wir also zu einer Patientin, der wir ein PEG zu legen haben. Wir mussten noch die Entscheidung des Amtsgerichts abwarten. Es kann aber gut sein, dass sich unsere Arbeit, die wir auf morgen festgesetzt haben, als überflüssig herausstellt. ? Ja, meine Damen und Herren, so sieht das aus heutzutage in der medizinischen Versorgung. Mögen es die Ärzte richten! So heißt es überall.

2. Patientin: Fritz, ich hab dir doch gesagt, mach das Fenster zu! Mich friert. Amalia, dann tu du mir den Gefallen! Das bist du deiner Mutter schuldig.

Stationsärztin: Ich komme gleich zu Ihnen, Frau Hösler. Wenn Sie sich nur einen kleinen Augenblick noch gedulden!

2. Patientin: Ja wo bin ich denn? Hat man mich eingesperrt? Man hat mich eingesperrt!

Prof.: Frau Jählich? Frau Jählich können Sie mich hören? Warum sagen Sie nichts? Können Sie mich nicht hören? ? Nun gut! Dann darf ich Frau Dr. Lolly bitten, uns die Diagnose vorzutragen!

Stationsärztin: Wir haben es hier mit einer Multiplen Sklerose zu tun, Encephalomyelitis disseminata, mit primärchronischen Verlauf, mit Angabe einer akuten Exazerbation oder Progression. Ausbruch der Krankheit vor etwa 40 Jahren. Lebenserwartung von etwa 30-40 Jahren nach der Erkrankung.

Prof.: Die Patientin müsste also schon tot sein.

Stationsärztin: Die Patientin wurde von ihrem Ehemann wegen Verschlechterung des allgemeinen Zustandes und zunehmender respiratorischer Insuffizienz in unsere internistische Ambulanz gebracht.

Prof.: Warum vom Ehemann?

Stationsärztin: Man scheint keinen Hausarzt zu haben.

Prof.: So? Gibt?s das denn heute auch noch?

2. Patientin: Man hat mich eingesperrt. Hört mich niemand!

Stationsärztin: Ich komme gleich zu Ihnen, Frau Hösler. Wenn Sie sich nur einen kleinen Augenblick noch gedulden!

2. Patientin: Man hat mich eingesperrt. Hört mich niemand?

Prof.: Kann Sie nicht endlich still sein?

2. Patientin: Man hat mich eingesperrt. Hört mich denn niemand!

Prof.: Auch eine katholische Klinik ist kein gelobtes Land.

2. Patientin: Fritz, hol mich hier heraus!

Prof.: Man schiebe die Patientin aus dem Zimmer! Mag sie draußen auf dem Gang warten, bis wir fertig sind! Und nun zu Ihnen Herr Oberarzt, Dr. Kornfeld!

Oberarzt: Die Patientin hat uns viel Kopfzerbrechen gemacht.

2. Patientin: (beim Nach-Draußen-Schieben) Fritz, ich hab dir doch gesagt, mach das Fenster zu! Amalia, dann tu du mir den Gefallen! Das bist du deiner Mutter schuldig.

Prof.: Und sonst?

Oberarzt: Wie auch jetzt ist die Patientin meist schläfrig, nur schwer erweckbar. Wegen der Atemnot ist auch nicht sicher zu beurteilen, ob die Patientin orientiert ist.

Prof.: Ist sonst noch was zu sagen?

Schwester: Wenn mir das Wort gestattet ist, Herr Professor, so möchte ich als Oberschwester darauf hinweisen, dass die Patientin ist in einem hygienisch sehr bedenklichen Zustand eingeliefert wurde. Allein den Mundraum zu säubern hat Schwester Erika, eine meiner besten Fachkräfte, eine volle Stunde gekostet!

Prof.: Das kennen wir. - Und Dekubitus?

Schwester: Ansätze sind allerdings auch schon vorhanden.

Prof.: Gut. Gehen wir!

Stimme der 2. Patientin: Fritz, hol mich heraus! Das ist entsetzlich hier!

2. Szene: Vor dem Krankenhaus

(Vor dem Krankenhaus Begegnung mit dem Sekretär des Ministers.)

Käslein: Dort, Herr Ministerialdirigent Dr. Korkes, der Mann mit dem Strauß Rosen, das ist er.

Korkes: Verehrter Herr Prof. Jählich! Darf ich Sie für einen Augenblick stören? Mein Name ist Korkes, Ministerialdirigent Dr. Korkes. Ich komme im Auftrag des Forschungsministers, also gleichsam dienstlich. Wir dachten uns, es wäre in Ihrem Sinne, wenn wir Ihrem Fall kein zu großes Gewicht beimessen. Sie kennen ja das geflügelte Wort: Quod est in actis, est in mundo. Wenn wir uns hier unauffällig und gleichsam nebenbei unterhalten, versteht sich, ohne protokollarische Umstände, dann bringen wir etwas zuweg, ohne doch etwas getan zu haben. Sie verstehen?

Jählich: Eigentlich nicht.

Korkes: Setzen Sie sich. ? Sie sind doch der berühmte Professor Jählich.

Jählich: Hier in der Klinik bin ich ein Nichts und meine Frau ist ein medizinisches Objekt.

Korkes: Was auch wissen Ärzte, selbst Professoren der Medizin, von einem Forscher Jählich? Das werden Sie doch wohl niemandem dieser Herren verargen. Hier dürfen wir doch mit Fug sagen, dass es gut ist, wenn sich selber jeder der Allerwichtigste ist. Wenn aber mir der Name Jählich einfällt, denke ich an den Forscher, dem es gelungen ist, die Energie des Geistes auf eine ganz neuartige Weise zu bündeln, dass man schon beinahe den Tag vorhersehen kann, an dem sich das Gesicht der Welt verändert. Mein Herr, was wenden Sie sich ab?

Jählich: Ich hatte nie vor, das Gesicht der Welt zu verändern.

Korkes: Ich meine es aber gut mit Ihnen. Jawohl, ich bin einer, der Macht hat und Einfluss; und wenn Sie nicht dumm sind, so lassen Sie sich nicht den glücklichen Augenblick entgehen, der sich Ihnen in der Begegnung mit mir bietet.

Jählich: Mein Herr, ich bin im Augenblick nicht in den glücklichen Umständen, es mit mir gut zu meinen, noch auch mir einen glücklichen Augenblick entgehen zu lassen.

Korkes: Sie wissen aber, dass wir Sie für die große Rede am Tag der Freiheit vorgeschlagen haben?

Jählich: Wollen Sie mir damit sagen, dass man mich zwar vorgeschlagen, den Vorschlag dann aber widerrufen hat?

Korkes: In diesem Zusammenhang sind jedenfalls viele Dinge zu Tage getreten, zu viele, möchte ich sagen, als dass der Herr Minister noch länger hätte schweigend zuschauen können.

Jählich: Darf ich Sie bitten, mich nun alleine zu lassen?

Korkes: Ist das Ihr letztes Wort?

Jählich: Das ist mein letztes Wort.

Korkes: Schade. Doch dann lassen Sie auch mich noch ein letztes Wort sagen! Nach Ihrer missglückten Rede vergangene Nacht hat mich seine Magnifizenz, der Rektor der alma mater gebeten, unverzüglich Klarheit in Ihre Angelegenheiten zu bringen. Wiewohl viel auf dem Spiel steht, war das sehr wohlwollend gemeint. Wie ich aber feststelle, wollen Sie das nicht. Sehen Sie immerhin zu, dass Sie sich nicht als Gegner unserer demokratisch geordneten Gesellschaft herausstellen! (ab)

3. Szene: Bei der Auskunft

(Beim Auskunftsbüro im Krankenhaus)

Jählich: Jählich ist mein Name. Bin ich hier recht im Lorettokrankenhaus?

Auskunft: Mein Herr, das steht doch überall zu lesen, was wollen Sie?

Jählich: Meine Frau möchte ich besuchen. Frau Dr. Jählich.

Auskunft: Liegt sie stationär bei uns?

Jählich: Ja, stationär.

Auskunft: Frau Jählich, sagten Sie. Das haben wir gleich. Sie liegt bei Prof. Dr. Wolf? Da gehen Sie hier entlang, dann eine Treppe hoch; dann durch die Glastüre links, auf Station 3, Zimmer 12. Ein Zweibettzimmer.

Jählich: Das kann nicht sein.

Auskunft: Weshalb nicht?

Jählich: Ich hatte ein Einbettzimmer gewünscht.

Auskunft: Das ging dann wohl nicht anders. Jawohl. Laut Prof. Wolf ging das nicht anders. Man kann eben nicht alles haben, verehrter Herr. So sagt Prof. Wolf! Haben Sie sonst noch Fragen?

Jählich: Der kleine Eingriff ist gut über die Bühne gegangen?

Auskunft: Welcher kleine Eingriff?

Jählich: Die PEG.

Auskunft: Die ist erst auf morgen anberaumt.

Jählich: Warum erst auf morgen? Das war doch für heute früh verabredet.

Auskunft: Heute, so sagt Prof. Wolf, beobachten wir noch Ihre Frau und morgen folgt die Operation. Haben Sie sonst noch Fragen?

Jählich: Das ist vorerst genug!

Auskunft: Seltsamer Mann! (zu einem jungen Mann in der Auskunft) Geh ihm unauffällig nach!

4. Szene: Im Krankenzimmer

(Jählich betritt das Krankenzimmer)

Jählich: Mütterchen! Liebste!

2. Patientin: Fritz, ich hab dir doch gesagt, mach das Fenster zu! Mich friert. Amalia, dann tu du mir den Gefallen! Das bist du deiner Mutter schuldig.

Jählich: Da hat man dich also in dieses Zweibettzimmer gelegt. Dafür dass wir zwei Wochen haben warten dürfen bis zur Aufnahme.

Frau Jählich: Es ist ja gut, Liebster. Wir haben es bald geschafft; morgen kommt der kleine Eingriff dran und übermorgen sind wir wieder zu Hause.

Jählich: Erst morgen? Morgen kommt erst der Eingriff dran? Hat das der Herr Wolf gesagt? Mag doch dieser Herr Wolf zum Teufel fahren.

2. Patientin: Fritz, hörst du nicht? Ich will hier heraus? Warum hilft mir niemand?

Frau Jählich: Dieser Dr. Wolf war früher einmal ein junger Kollege von mir. Das war noch damals im Schwäbischen. Ich sage das nur, um dir zu zeigen, wie klein die Welt ist und dass du dich beruhigst.

Jählich: Aber hier, in Baden, hat er sich zum Professor der Medizin gemausert?

Frau Jählich: Wir waren ja, wie du weißt, als Lehrkrankenhaus der Universität Tübingen angegliedert. Da konnte man schon Karriere machen.

Jählich: Aber das beruhigt mich nicht. In Tübingen, da gab es doch auch schon so einen Oberprofessor.

Frau Jählich: Ach Liebster.

Jählich: Der ganze Leidensweg von dir ist gepflastert mit arroganten und extravaganten Medizinprofessoren.

Frau Jählich: Lassen wir das doch, Liebster. Die Zeit ist uns doch zu kostbar, als dass wir sie uns dadurch stehlen lassen.

Jählich: Du hast ja Recht, Liebste.

2. Patientin: Fritz, ich hab dir gesagt, mach das Fenster zu! Fritz, hörst du nicht? Auch Amalie hat es dir doch gesagt!

Jählich: Aber dass du diesen Singvogel auch noch auf dem Hals hast! Ging das nicht anders?

Frau Jählich: Ein Rotkehlchen; die singen noch im Spätherbst, das weißt du doch.

Jählich: O, ich bin so unglücklich.

Frau Jählich: Liebster, komm her zu mir! Komm, setzt dich zu mir aufs Bett. Mein Schatzibutz! Hier, siehst du, stört uns niemand.

Jählich: Niemals, Liebste, hab ich mir gestattet, in die Zukunft zu schauen. Das Weiteste war stets das Morgen, in dem ich uns wie in einem neuen Heute wiederzufinden hoffte. Auch wenn es immer schlimmer wurde mit deinem Leiden und du immer mehr meinen Händen entglitten bist. O du Liebste!

2. Patientin: Fritz, hörst du nicht? Auch Amalie hat es dir doch gesagt!

Jählich: Wenn ich nun aber auch merkte, dass es nur immer schlimmer wurde, so gab ich mir doch die größte Mühe, dich nichts davon merken zu lassen. Nicht dass ich geglaubt hätte, du merktest selber nichts von deinem schrecklichen Leid, o ganz und gar nicht; indem ich mir selber aber nichts anmerken lassen wollte, so versuchte ich damit doch, den Blick auf das Schlimmste möglichst von uns fern zu halten. Es ist wie ein schreckliches Tier, das man weckt, wenn man nach ihm ausschaut, und das man auf solche Weise auf sich aufmerksam macht. Lässt man den Blick auf das Schlimmste zu, so gibt man ihm gleichsam auch freie Bahn. Angst erfüllte wohl immer wieder meine Seele, aber ich redete sie mir klein, nannte sie Anfechtung. An jene große andere Verwandlung auch nur zu denken wies ich als Liebäugelei mit dem Verderber, als gemeinen Verrat zurück.

2. Patientin: Amalie! Ich halt das nicht mehr aus!

Jählich: Mütterchen, wenn ich bedenke, dass ich dich einmal muss allein lassen: das Herz schnürt es mir zu, dass ich mich fast schon frage ?

Frau Jählich: Liebster, du. Mein alles Du!

Jählich: Ich bin dabei, mir zum Rätsel zu werden.

Frau Jählich: Lass uns nicht die Not vergrößern, Liebster! Lass uns zusammenhalten! Ich komm ja wieder nach Haus zu dir. Dann wird alles wieder gut. ? Schau, da hab ich mir eigens deine Aufzeichnungen mitgenommen, die du mir aufgeschrieben hast nach unserem Gespräch am letzten Silvester.

Jählich: Ich weiß ja nicht mehr, in was für einer Welt wir leben.

(Stationsärztin und zwei Pfleger kommen)

Stationsärztin: (zur 2. Patientin) Und jetzt gehen wir ins Computerzentrum. Und lassen uns ein Tomogramm ausdrucken, damit wir sehen, was da eigentlich noch tickt in unserem Gehirn.

5. Szene: Gespräch

Frau Jählich: Wir hatten uns damals besonders gut unterhalten. Immer noch muss ich daran denken. Lass mich dir den Anfang deines Textes vorlesen, der ja auch vom Anfang der Welt handelt und der, wie bei Sokrates, Platon und Plotin immer auch mit den Dingen des Endes zu tun hat.

Jählich: Wenn es dir gefällt, Liebste.

Frau Jählich: Was immer auch im Anfang gewesen sein mag und wie er ausgeschaut haben mag, so waren doch auch wir damals bereits im Blickfeld gewesen. Ja, Liebste, alles lächelte uns zu, wenn es Wesen gab, die lächeln und in die Zukunft schauen konnten. Auch wenn meilenweit noch nichts von uns zu sehen war und ein unwissender Zuschauer nichts anderes gesehen hätte als Ströme und Katarakte von Energien, überall nichts als Szenerien tödlich-gigantischer Physik, so waren wir doch damals bereits zu sehen. Oder sind wir denn nicht? Sind wir nur Schattengestalten und Gespenster, weil wir damals noch nicht zu sehen waren und weil wir auch schon bald einmal nicht mehr zu sehen sein werden? Wissen wir auch nicht, was Seiendes ist, und wissen wir noch weniger um das Sein des Seienden, dass wir eigentlich noch nicht einmal fragen können, warum es Seiendes gibt, so haben wir uns doch gefunden im Anschauen und im Durchwandern und im Gestalten einer Welt, die wir hier und jetzt als etwas Geordnetes und zu Ordnendes gefunden haben. Die Welt, die Natur, der Mensch, wir beide als Mann und Frau, eine solche Welt haben wir gefunden, vor allem aber uns beide, so dass wir nicht angestanden haben, die Welt einen Kosmos zu nennen. Ja, Mütterchen, mit dir habe ich mich geschmückt und Mühe habe ich mir stets gegeben, dass auch du dich mit mir schmücken könntest. Und selbst, wenn Zufälliges etwas ausgerichtet haben sollte in dieser langen Zeit der Entwicklung auf uns hin, so standen doch auch nur begrenzte Auswahlereignisse zur Disposition, ebenso wie man mit einem Würfel keine sieben würfeln kann, dass man auch dann sagen kann, dass wir programmiert waren. ? So hast du deinen Text begonnen. Und dann haben wir noch über die Gottesbilder gesprochen und über den Gott unserer Liebe.

Jählich: Ja, Liebste.

Frau Jählich: Ist es nicht wichtig für uns, alles zu sammeln und soweit möglich, zu überdenken, auf dass wir ruhig dem Kommenden entgegensehen? Der Gott, der uns damals zugelächelt hat, er hätte uns gewiss nicht zugelächelt, hätte er nicht weiter gesehen als bis zum heutigen Tag. Da bin ich mir aber ganz sicher, Liebster, dass er uns zugelächelt hat, weil er wusste, dass alles gut würde, was mit uns geschehen sollte. Und unser Leben war doch gut, Liebster.

Jählich: Sehr gut sogar, Liebste.

Frau Jählich: Lass uns an das Lächeln glauben! Lass uns auf dieses Lächeln vertrauen, das uns beiden gegolten hat und das ja doch noch immer uns gilt! Trotz allem.

Jählich: Ja, das ist es, was so anstrengt: dieser Riesenberg mit all dem vielen "Trotz-allem"!

Frau Jählich: Auch wir gehören ja ein wenig mit zu diesem Berg.

Jählich: Du nicht, Liebste! Du nicht!

Frau Jählich: O, auch ich, Liebster. Was immer von Menschenhand überliefert ist, selbst das Edelste und Beste, gehört wohl immer auch ein Stück weit mit zu diesem Riesengebirge. Nimm zum Beispiel den Sokrates auf seiner Suche nach dem Guten. Dessen Suche nach dem Guten ist ja schließlich auch nichts anderes, als was uns am Herzen liegt, wenn wir hinüber schauen über das Ende der Zeiten.

Jählich: Aber die Erforschung des Göttlichen hat er nicht sonderlich weitergebracht. Die Erwägungen zumal im Blick auf das auf uns zukommende Ewige sind doch nicht ganz so beruhigend, wie es fürs Erste den Anschein haben mag. Und es scheint mir auch nicht unbedingt etwas Wahres widerzuspiegeln, wenn ich es mit dem Symposion vergleiche, zumal mit der Rede des Aristophanes. Ich denke hier vor allem an seinen Vorschlag, das Leben nach unserem Tod betreffend. Logisch korrekt beginnt er mit der Alternative: dass noch etwas ist oder dass nichts mehr ist. Wenn noch etwas ist, kann es nur etwas Gutes sein, zumal für die, die sich um das Gute bemüht haben. Wenn aber nichts mehr ist, so ist, wie er meint, auch ein traumloser Schlaf nichts Übles.

Frau Jählich: Was hättest du da gern anders?

Jählich: Beide Möglichkeiten kranken etwas. Nimm z.B. den traumlosen Schlaf. Was ist das für ein Schlaf? Ein Schlaf, in welchem du allein und einsam, nur für dich daliegst? Man möchte fast meinen, man könnte sehen, wie alles, die eigene Geschichte und das Leben immer mehr um unseren Sokrates herum verschwindet, bis nichts mehr von ihm übrig ist, weder etwas Materielles noch ein einziges Molekül von einem Gedächtnis. Was war dann das Leben des Sokrates? Was sonst als eine Gespenstertragödie? Und nimmst du den Fall, dass er drüben Gesprächspartner findet: o, da hat doch unser Sokrates schon im Diesseits genügend Erfahrungen gemacht, dass er weiß, dass es im Zusammentreffen mit Menschen nicht immer nur edel und gut zugeht. Ja, dass auch der Wille nach der Wahrheit nicht so unbedingt ausgeprägt ist, dass er Freundschaften unberührt ließe. Oder haben wir nicht Beispiele dafür, wie schon zu des Sokrates Zeiten, Freundschaften zerbrachen, weil man sich um die Wahrheit gestritten hat? Und hätte auch einer, etwas Wunderbares gefunden oder sich selber aufs Herrlichste in einer Kunst vervollkommnet, muss er dann nicht mit Neidern rechnen und Feinden aller Art? Ja selbst das Streben nach Heiligkeit und Vollkommenheit und nach dem Guten wird zum Anlass von Entzweiung. In einer solchen Welt leben wir. Und das gehört eben auch zu dem Riesenberg mit all seinem "Trotz-allem"! Da könnte man fast verzweifeln.

Frau Jählich: Wenn wir nicht selber noch da wären. Wo Mann und Frau in Liebe beisammen sind, gibt es ein solches "Trotz-allem" nicht. Da ist dann doch etwas erreicht, was zu jenem Lächeln am Anfang der Zeiten passt. Findest du nicht auch?

Jählich: Ja Liebste. Ich wüsste auch nicht, wo wir uns je wegen etwas beneidet hätten. Ich erinnere mich daran, wie sehr du mich stets im Guten aufgemuntert und befördert hast, auch damals schon, als ich doch noch kaum mehr vorzuweisen hatte als meinen Willen.

Frau Jählich: Dann wäre es der Gott der Liebe, den wir zu suchen haben und an den wir uns als Mann und Frau wenden sollen.

Jählich: O ja, Liebste. Und ich halte das auch für keine Notaufgabe, sondern für eine ganz herrliche, auch wenn wir sie nicht ganz zu lösen vermögen.

Frau Jählich: Haben wir nicht schon die Spur eines Wegs? Des Weges nämlich, den wir doch beide bereits zusammen gegangen sind?

Jählich: Weil du für uns immer daran gedacht hast, ohne dich von dem vielen, uns Entgegentrotzenden, ablenken zu lassen.

Frau Jählich: Selbst wenn niemand mit uns unterwegs wäre, würden wir den Weg gehen, Liebster.

Jählich: O ja, Liebste. Wie liebe ich deine Unerschrockenheit und Kühnheit, deinen Mut und deine Begeisterung. - Wenn ich freilich in die Geschichte der Menschheit schaue, so finde ich in der Tat nur wenig, was da Mut macht. Am frühesten aufzufinden sind die Gottheiten der Natur im Kreislauf des Lebens. Da ist der Einzelne noch überhaupt nicht im Blickfeld. Später dann kommen die Gottheiten der menschlichen Geschichte hinzu, die Gottheiten der Völker und der Religionen. Der Gott von Mann und Frau kommt da stets etwas stiefmütterlich weg. Selbst das erste Testament kann uns da nicht restlos überzeugen. Zuerst werden zwar Mann und Frau erschaffen, dann aber aus dem Paradies verstoßen. Vielleicht weniger wegen einer Sünde als vielmehr um die Bahn frei zu machen für die außerparadiesische, geschichtliche Zeit. Der Gott der Völker und der Völkergeschichte betritt nach der Sintflut den Plan, in der Absicht, etwas besser zu machen, als es vor der Flut war, und alles wird doch von nun an nur noch schlimmer. Und machen wir einen Sprung bis in unsere Tage, so braucht längst kein Gott mehr sich um die Geschichte der Menschheit zu bekümmern; sie weiß selber, welchen Weg sie einschlagen muss, um ins Nichts zu sausen. Schiller hat die Weltgeschichte wie eine Art französischer Revolution gelesen. Und dann kam Darwin hinzu und die modernen anthropologischen Wissenschaften und jetzt fehlt nur noch, dass auch die Erde nicht erst in 5 Milliarden Jahren verschwindet, sondern schon viel früher.

Frau Jählich: Aber das kann uns nicht verwirren.

Jählich: Im Gegenteil. Mögen sie alle dazu beitragen, dass fast schon bewiesen ist, dass nicht sein kann, was unserer Hoffnung schmeichelt, so wollen wir es gleichwohl als unser großes Paradox hochhalten und feiern. Den Gott des Lächelns wollen wir feiern, dem Mann und Frau am Herzen liegen. Und wenn er uns auch sterben lässt, damit wir eine Schuld abbezahlen, wie noch die Alten glaubten, da wir ja stets schon dadurch, dass wir für uns und für die Unseren Sorge tragen, andere des Existenzrechts beraubten oder es ihnen schmälerten, oder damit wir auch noch den letzten Schritt auf dem Weg zur Vollkommenheit tun, den Weg der Entäußerung, der ja zugleich der letzte Schritt in den Anfang ist, so wollen wir ihn doch feiern als den Weg in die uns bevorstehende Freiheit.

6. Szene: Visite

(Chefarzt, Oberarzt, Stationsärztin und Pfleger treten jetzt ins Zimmer; sie bringen die 2. Patientin zurück und kommen, Frau Jählich abzuholen)

Frau Jählich: (ohne sich um die Eintretenden zu kümmern) Zusammen, Liebster, werden wir alles tun. Zusammen haben wir das Abbild Gottes gefeiert. Und zusammen werden wir vor ihn hintreten, als Mann und Frau, als seine Schöpfung. Immer zusammen mit dir, Du und ich.

Jählich: Liebste! Und wenn ich jemals etwas Gutes geschrieben oder sonst erarbeitet habe, so mag es der Gott des Lebens vernichten, wenn er mir dafür nur dich lässt.

Frau Jählich: Er wird mich dir nicht nehmen.

Jählich: Wenn ich aber bedenke, dass ich mir einmal vorwerfen muss, dass ich etwas versäumt habe, dich zu erfreuen, Liebste, da überfällt mich maßlose Trauer.

Frau Jählich: Aber das musst du doch nicht, Liebster. Wie lieb hast du mich doch durch alle die Tage getragen! Da wäre schon ich an der Reihe. Schließlich hab ich dich geheiratet mit dem Versprechen, dass es dir nie an etwas fehlen soll.

Jählich: Mütterchen, hab ich nur dich, so hab ich ja alles. Wenn du nur erst wieder bei mir zu Hause bist, dann will ich dir singen und dich weitertragen, dass selbst noch ein Orpheus bei uns lernen soll! Aber auf dich will ich niemals verzichten.

Chefarzt: Darf ich nun die beiden Herrschaften bitten, das Gespräch zu beenden?

Oberarzt: Und Sie, mein Herr, bitten wir jetzt, das Krankenzimmer zu verlassen.

Stationsärztin: Sie müssen jetzt gehen.

Jählich: Weshalb muss ich gehen?

Stationsärztin: Wir sind Ihnen keine Rechenschaft schuldig.

Frau Jählich: Wir beide, Liebster, bleiben beisammen.

Stationsärztin: Wie dem aber auch sein mag, so wissen Sie denn: Wir müssen mit Ihrer Frau ins Computerzentrum. Eine Anordnung von Prof. Wolf.

Jählich: Ein Tomogramm auszudrucken, damit Sie sehen, was da noch im Gehirn tickt?

Chefarzt: Wenn Sie gestatten. Eine Anordnung von mir, mein Herr! Prof. Dr. Wolf.

Jählich: Jählich.

Chefarzt: Sie sind also der Mann dieser Dame? Dachte ich´s mir doch. Man hat in der Zeitung über Sie gelesen.

Jählich: Zu gütig.

Chefarzt: Was meinen Sie?

Jählich: Weiter nichts, Herr Professor! Lassen Sie sich nur nicht in Ihrem Konsilium stören, Herr Professor! (er geht)

8. Akt: In einer Wirtschaft

1. Szene: Beim Kaffee

(Es ist früh am Morgen; an einem ersten Tisch sitzen ein alter Mann, ein Biologe und ein Astronom bei einem Kaffee. Die übrigen Tische sind noch nicht besetzt)

Biologe: Und Sie haben sich nach Planeten in unserem Sonnensystem umgesehen?

Astronom: Wir haben bereits einige Tausende gefunden und untersucht; aber noch keinen mit vitalen Bedingungen gefunden.

Ein alter Mann: Dann wird es schwer werden für einen, der in dieser Welt keinen Platz mehr findet, sich anderswo umzusehen?

Astronom: O, wir haben Planeten entdeckt, vor denen man das Grausen bekommen kann. Wohin man schaut, nirgends reckt sich eine andere als eine lebensfeindliche Welt, dass man fast zweifeln möchte, ob wir wirklich einen grünen Planeten bewohnen. (er zeigt Photos)

Der alte Mann: Dann wohl uns, wenn wir nicht nach einer anderen Heimat zu suchen haben.

Biologe: Und die Aufnahmen!

Astronom: Alles aufgenommen aus Sonden aus dem All.

Der alte Mann: So sind wir auf dem Weg uns nur immer noch weiter zu verlieren?

Biologe: Zuerst mussten wir durch Darwin und die Evolution zur Kenntnis nehmen, dass wir nichts weiter sind als denkende Tiere, was dann auch die Psychologie und die übrigen anthropologischen Wissenschaften bestätigt haben.

Der alte Mann: Und nun wird uns auch noch das bisschen Erde unheimlich gemacht. Versteht sich, dass es uns trifft, wenn wir in die Geschichte der Wissenschaften herunterblicken. Schließlich glaubten wir einmal mehr zu sein als Katze und Maus.

Astronom: Den Himmel haben wir ja schon seit Kopernikus und Kepler verloren.

2. Szene: Imbiss der Honoratioren

(Rektor kommt mit den Herren, die sich nun gleich auf die restlichen Tische verteilen. An einem zweiten Tisch nehmen Platz: die Professoren: Käslein, Katzendorf, der Rektor und der Anwalt Dr. Habebald; an einem dritten Tisch der Maler, ein Fotograf, Kaulkapp und Hauber. An einem kleinen, vierten Tisch im Hintergrund, wo noch zwei weitere kleine Tischchen stehen, der Justizsekretär. Alle nehmen sie vor der Feier noch einen Imbiss zu sich.)

Wirt: Meine Herren, treten Sie ein!

Käslein: Schön von Ihnen, Herr Wirt, dass Sie uns die Tische frei gehalten haben.

Astronom: Wünschen die Herren, dass wir verschwinden?

Rektor: Aber ich darf Sie doch bitten. Bleiben Sie ganz ruhig sitzen und stören Sie sich nicht an uns! Es ist genug Platz da für uns alle.

Wirt: Allerdings. Hier hat es noch nie an Platz gemangelt.

Katzendorf: Zumal heute am Tag der Freiheit, am Tag der Freude! "Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt."

Rektor: Setzen wir uns hierhin! Und die Herren dahin? Und der Herr Justizsekretär geht nach da hinten in die sichere Deckung? Das hat dann auch den Vorteil, dass sich die beiden restlichen freien Tischchen gleich daneben befinden.- Sitzen wir nun alle gut?

Katzendorf: Bis auf Jählich.

Rektor: Für den haben wir noch die Plätze da hinten.

Katzendorf: Wenn er kommt.

Käslein: Nur Geduld, meine Herren! Wir haben uns mit Prof. Wolf verabredet; sobald es ihm möglich ist, wird er mit seinen Leuten kommen und ihn in Gewahrsam nehmen. Auf jeden Fall aber wird das noch vor Beginn der Feierlichkeiten geschehen.

Hauber: Und wenn der Herr Professor Wolf kommt und kein Jählich ist da?

Katzendorf: Was meinen Sie? Wird Jählich kommen?

Wirt: Ich bin zwar kein Prophet; doch ist er bislang noch immer gekommen, sowohl auf dem Weg in die Universität als auch ins Krankenhaus.

Anwalt: Es sei denn, er riecht die Falle.

Katzendorf: Die riecht er nicht. Er wird schon kommen. Wenn nicht in die Universität, da heute das Fest der Freiheit stattfindet, so doch ins Krankenhaus, seine Frau besuchen.

Käslein: (sich bekreuzigend) Die wird er so schnell nicht mehr besuchen.

Rektor: Herr Wirt, bringen Sie uns nun zuerst mal einen guten Kaffee mit einem guten Kipferl; das haben Sie doch?

Wirt: Allen Herren?

Rektor: Allen Herren bis auf den Herrn da hinten. Dem bringen Sie ein Bier. So wünschten Sie es sich doch, Herr Justizsekretär.

Sekretär: Jawohl, so wünschte ich es mir.

Rektor: Mit einer Wurst und einem Wecken?

Sekretär: Wenn das Budget dazu reicht?

Rektor: Das wollen wir doch hoffen.

Käslein: Auch wenn uns durch Jählich die erhofften Millionen ausbleiben.

Rektor: Und Sie wissen, dass Sie notfalls darauf zu achten haben, dass uns Herr Jählich nicht entweicht?

Sekretär: Es wird mir eine Ehre sein.

Rektor: Und die Rede ist fertig?

Katzendorf: Eigentlich schon, wenn man auch nie weiß, wann man die allerletzte Feile angesetzt hat, zumal da ich nun doch etwas in Zeitnot geraten bin.

Käslein: Das ist bei uns Predigern nicht anders. Nie weiß man, wann man das Amen sagen soll, weil einem der Geist ja immer noch einen Wink geben kann.

(am dritten Tisch)

Maler: Wenn Sie wollen, meine Herren, können Sie sich hier die Bilder ansehen, die ich von Jählich angefertigt habe. Was sagen Sie dazu?

Hauber: Was für ein tief erschrockenes, peinliches Gesicht.

Käslein: So stürzt der Mensch hinab ins kalte Nichts.

Maler: Vergessen die Herren auch nicht, dass ich gleichsam gezwungen war, in Windeseile zu arbeiten.

Katzendorf: Mich erinnert das ein wenig an ein Bild aus einer typologischen Versammlung der Laster.

Rektor: Immerhin, Respekt, Respekt vor dem Malertalent.

Maler: Und da, die Hüte! Das konnte ich mir nicht verkneifen. Die mussten noch drauf.

Hauber: Wärst du behütet unter deinem Hut, du trügst den Kopf allezeit hochgemut.

Kaulkapp: Wenn man nicht weiß, wo man ist, gerät einem wohl manches durcheinander.

Fotograf: Da, schauen Sie sich das an, Magnifizenz!

Rektor: Respekt, Respekt.

Fotograf: Dabei wollen es einem die Leute gar nicht glauben, dass sie so aussehen, wie sie nun mal aussehen. Zumal Leute, die sich bereits feste Bilder gemacht haben, sehen, wenn man Ihnen ein Foto zeigt, meist überhaupt nicht, was doch objektiv zu sehen ist, sondern überblicken und überblenden das Bild mit ihrem inneren Bild, dass sie verwundert sind, wenn man es ihnen dann bei anderem Anlass abermals zeigt.

Katzendorf: Und wo kommen die Bilder jetzt hin?

Rektor: Zuerst einmal ins Rektorat. Da bleiben sie dann vorerst für den Fall des Falles.

(am ersten Tisch)

Der alte Mann: Man hat sich angewöhnt, von Kultur zu sprechen und die Natur des Menschen zu leugnen, als ob wir ihr für immer zu unseren Gunsten entflohen wären.

Biologe: Dabei wüten noch immer die Kriege, seien es die Kleinkriege um Geld, Macht und Ansehen in der Gesellschaft, seien es die Kriege unter den Völkern. Immer wieder treten Utopisten auf und Schwärmer, die glauben, das Rezept für einen Frieden gefunden zu haben.

Der alte Mann: Und doch brauchen wir die Utopie und den Idealismus. Selbst Goethe sagte schon, dass nur das Fruchtbare wahr ist. Dieses Fruchtbare aber wird keine neurologische Wissenschaft analysieren.

Astronom: Gehört der Begriff des Fruchtbaren nicht zu einer Teleologie?

Käslein: Jeder Glaube hat nur in einem teleologischen System seinen Platz.

Biologe: Fakt ist auf jeden Fall, dass die Menschheit Acht geben muss, dass sie sich nicht für einen Friedhofsfrieden blind macht. Denken Sie an das Bild eines Blinden, der gleichsam die totale Freiheit gepachtet hat! Überall kann er hingehen, weil für ihn jede Richtung gleich bedeutend bzw. unbedeutend ist.

Katzendorf: Und Sie, meine Herren, vergessen Sie nicht, dass wir eingebunden sind in einer Kultur. Und diese Einbindung, dieses Gesetz, wird uns die Freiheit geben.

Biologe: Dabei sind doch die Naturwissenschaften längst dabei, zu zeigen, dass selbst der kleine Saum der uns möglichen Handlungsfreiheit dahinschmilzt wie der letzte Schnee im Frühling.

3. Szene: Jählich kommt

(Jählich kommt herein mit einem Wanderstab; er nimmt an einem freien Tisch Platz)

Käslein: Ja siehe da! Kollege Jählich! Seien Sie uns willkommen!

Rektor: Herr Kollege Jählich. Seien Sie uns willkommen!

Katzendorf: Was für ein schöner Zufall, der Sie nun auch zu uns geführt hat, Herr Kollege Jählich!

Rektor: Darf ich Sie zu einem Tässchen Kaffee einladen?

Katzendorf: Oder hätten Sie lieber ein Glas Wein?

Käslein: Ein gutes Glas Tempranillo, aus der Mancha, wäre gar nicht so übel. Das erinnerte uns dann daran, dass immer mal wieder ein Ritter auch durch unsere Landschaft ziehen sollte, uns gute Sitten beizubringen. Jawohl, meine Herren, davon wird Ihnen auch nie eine Hirnforschung erzählen.

Katzendorf: Warum sagen Sie nichts?

Jählich: Was soll ich sagen, wo ich nicht einmal weiß, wovon hier die Rede ist?

Käslein: Ein feingeschliffener Satz, ein kräftig Wort, ist allezeit am rechten Ort.

Hauber: Erzählen Sie uns frisch, woran Sie auf dem Weg hierher gedacht haben!

Jählich: Wenn Sie es hören wollen! Dass der Mensch die große Belastung ist bei der Suche nach der Auferstehung und nach dem ewigen Leben.

Käslein: Das ist zwar kein Wort der Ermunterung und wohl auch kein Wort des praktizierten Glaubens. Und doch sind wir so frei, es gesagt sein zu lassen.

Katzendorf: Immerhin ist das Thema nicht neu. Selbst schon die Römer sagten: Homo homini lupus.

Wirt: (zu Jählich hinzutretend wegen der Bestellung) Und nun zu Ihnen, mein Herr! Was begehren Sie?

Jählich: (der eben wieder gehen will) Mein Herr! Kennen Sie mich nicht mehr?

Wirt: Irgendwann haben wir uns wohl schon gesehen. Doch müssen sie mir meine etwas vom Alter aufgeweichte pia mater verzeihen.

Jählich: Haben die Herren da drüben nicht schon ein paar Mal meinen Namen genannt?

Wirt: Ein Wirt soll nicht zuhören, wenn sich seine Gäste unterhalten.

Jählich: Und war ich nicht lange hier Stammgast, als ich noch des Morgens vor der Vorlesung meinen türkischen Mokka bestellt habe?

Wirt: Ja gewiss, jetzt erinnere ich mich auch wieder. Mir dämmert, dass Sie es waren, der immer des Morgens vor der Vorlesung einen türkischen Mokka bestellt hat. - Also einen türkischen Mokka!?

Jählich: Aber heute sind keine Vorlesungen. Heute ist ein Feiertag, Herr Wirt.

Käslein: Es geschieht viel zwischen Erde und Himmel, Herr Kollege.

Jählich: Herr Kollege? Ah ja!

Käslein:Wir nennen es Offenbarung.

Jählich: Ganz recht. Die gesellschaftlichen Bande, das ist der Alptraum, der offenbar werden soll. Er zieht den Einzelnen mit schweren Ketten auf die Erde herab und hindert ihn, zum Himmel emporzusteigen.

Kaulkapp: Ganz Recht, mein Herr. Nur im Schwarm hat das Täubchen eine Chance, zu überleben. Deshalb ist Freiheit nichts anderes als die Kunst des Lobbyisten.

Hauber: Oder des Zaren, Herr Kollege.

Käslein: Was sagen Sie dazu, meine Herren, wenn ich ihnen verrate, dass ich bei der nächsten Rektoratswahl kandidiere? Seine Magnifizenz, die nicht mehr kandidiert, hat mir dazu bereits gratuliert.

Kaulkapp: Das ist uns allerdings das Neueste.

Käslein: Einmal ist alles neu; aber glauben Sie mir, man gewöhnt sich an alles.

Kaulkapp: Und Sie meinen, Aussichten zu haben, ohne soziologische Kenntnisse und Erfahrung im Management?

Käslein: Man muss es probieren. Immerhin war ich jetzt lange Zeit Dekan. Auch dürfte ich als Theologe für Brüderlichkeit und Versöhnlichkeit stehen wie kaum einer sonst. Nebenbei hat mir auch Kulturdezernent Dr. Grimmlich seine Mithilfe zugesichert.

Kaulkapp: Aber der hat ja kein Stimmrecht.

Käslein: Unterschätzen Sie nicht, was alles Einfluss hat.

Anwalt: Man sollte aber auch nie die Möglichkeiten überschätzen, ehe sie sich einem nicht förmlich aufdrängen.

Kaulkapp: Da bin ich anderer Meinung. Wir warten nicht, bis etwas kommt; wir sehen zu, dass es kommt, weil es uns hat winken sehen.

Katzendorf: (mit seinem Vortrag beschäftigt) Was für ein ungeheuer großes und weites Verständnis zeigt doch unser Schiller. Und wie überzeugend er die Charaktere erschafft, die er uns vor Augen führt: diese Pioniere der Freiheit, diese Helden des Gedankens, diese Schöpfer einer besseren Zukunft. Was sagen Sie dazu, meine Herren! (er zitiert sich) Allerdings hat jede Gesellschaft auch Opfer zu beklagen. Doch richten wir unser Staatengebilde so ein, dass nur der zum Opfer wird, der sich schuldig gemacht hat. Sehen wir zu, dass der Gerechte zu den Gerechten, der Ungerechte aber zu den Ungerechten kommt. Dabei muss einer durchaus noch nicht geraubt und gemordet oder Brände gelegt oder vergewaltigt haben. Mörder kann man auf viel subtilere Weise werden, indem man sich z.B. weigert, am Guten mitzuarbeiten, wahrscheinlich auch schon, indem man dem Guten den Glauben versagt.

Anwalt: Das ist stark. Das gibt zu denken. Doch da müssten wir unser Gerichtswesen gewaltig verändern.

Maler: Weder von uns noch von anderen sollten wir klein denken.

4. Szene: Der Trauermann als Spielmann

(Der Trauermann kommt, der sich aber zum Spielmann verwandelt. Er trägt seinen Trauer-Zylinder. Unter seinem Mantel hat er eine Mandoline dabei)

Anwalt: Sieh einer an! Meister Trauermann kommt auch noch! Als hätte er seinen Beleidiger gerochen. Dort ist er. Ja, da sitzt er. Das ist er!

Trauermann: Was wünschen Sie, mein Herr?

Anwalt: Bleib er da stehen und wart er! Gleich wird ihm der Zylinder vom Kopf fliegen!

Trauermann: Mein Herr, wovon reden Sie? Ich darf Sie doch bitten!

Anwalt: Holla, wer bin ich, dass er so mit mir redet? Bin ich nicht sein Patron?

Trauermann: Wer Sie sind, müssen Sie selber wissen. Ich kann Ihnen nur sagen, wer ich bin; oder, noch etwas bescheidener, wer ich nicht bin. (entpuppt sich als ein Spielmann, er zieht den Zylinder ab und holt daraus einen kleinen Affen, der ihm auf die Schulter springt.) Sie täuschen sich in mir! Wenn mir der Zylinder vom Kopf fällt, so geschieht das, weil mich mein Affe wieder einmal zu heftig gelaust hat.

Anwalt: Ich bin erstaunt.

Trauermann: Was mich betrifft, so liegt mir fern, dass ich einen Patron brauche.

Sing ich, will ich lustig sein

Und nutz die Gunst der Stunde,

Liebchen bleibt doch immer mein,

geht auch die Welt zu Grunde.

Anwalt: So hätte ich mich getäuscht? Oder, besser gesagt, er hätte mich getäuscht? O mein Herr. Wehe, es stellt sich heraus, dass es gar kein Stock war, der Ihnen den Zylinder abhieb, sondern dieses Mistvieh von Affen! Und Sie hätten mich zum Narren gehalten. Das kann Sie teuer zu stehen kommen. Richter Neudeutscher macht in einem solchen Fall nicht viel Federlesen.

Käslein: Richter Neudeutscher?

Anwalt: Solche Richter fehlen uns. Aber vielleicht kommt er noch. Zwei oder drei Stichwörter gibt er vor. Das genügt ihm. Und wer sich dann nicht rechtfertigen kann, den fertigt er ab.

Trauermann als Spielmann: (an Jählich) Ist hier noch Platz?

Jählich: Mein Herr, wer sind Sie?

Spielmann: Alle Welt eilt zum Festakt. Das zog mich herbei.

Jählich: Mein Herr, spielen Sie mit diesen da Theater? Sagen Sie es ruhig.

Spielmann: Eigentlich nicht.

Jählich: Eigentlich nicht?

Spielmann: (zum Affen) Hab ich nicht Recht, Conny?

Jählich: Bevor ich hier eintrat, wusste ich gar nicht, dass heute die Feier ist. Ich dachte erst in einem Monat.

Katzendorf: Der Monat ist herum, mein Herr. Sie haben vergessen, die Tage mitzuzählen.

Jählich: Mag sein, dass mich die Tage im Krankenhaus zu sehr strapaziert haben.

Katzendorf: Was für eine Verirrung!

Jählich: Ein Krankenhaus hat doch etwas mit Kranken zu tun. Oder bezweifeln Sie das?

Katzendorf: Keineswegs.

Jählich: Wenn Sie aber meinen, die Kranken wären nur in den Krankenzimmern aufzufinden, so behaupte ich, dass sie auch in den Ordinationsräumen und in den OP-Sälen vorkommen.

Käslein: Mein Herr, passen Sie gut auf, was Sie da sagen! Denn wenn man Sie auch als Festredner abgelehnt hat, so mögen Sie zwar ob der Zurücksetzung ein wenig schmollen; die Gesellschaft anzugreifen, das aber geht zu weit.

Jählich: Ich verstehe, mein Herr! Wer nämlich die Gesellschaft für krank erklärt, wird umgehend von der Gesellschaft für krank erklärt und durch ihre Hilfstruppen bei Seite geschafft.

Anwalt: Was sagten Sie da, werter Herr? Wollten Sie mir speziell etwas sagen?

Jählich: Auch Krankenhäuser sind Gefängnisse, wenn auch nicht für alle, so doch für die Unheilbaren einschließlich deren Angehörigen, vorausgesetzt, dass sie sich ausschließlich der Pflege widmen.

Anwalt: (indem er sich Notizen macht) Das sind allerdings auch keine harmlosen Behauptungen. Das gellt im Ohr.

Käslein: Auch hier ist ein Prozess wegen Beleidigung kaum mehr aufzuschieben. Zwar könnte Sie Dr. Habebald als Pflichtverteidiger vertreten. Doch Chancen auf einen erfolgreichen Prozess gibt es da kaum mehr.

Jählich: Es sei denn, ich hätte sehr viel Geld.

Käslein: Immerhin sind hier genug Zeugen, die Sie gehört haben, Prof. Jählich.

Jählich: Vergessen Sie nur auch nicht, sich den Zeitpunkt zu notieren. Heute ist der Tag der Freiheit.

Anwalt: Auch in den freiesten aller freien Demokratien sind der Freiheit Grenzen gezogen.

Käslein: Was haben Sie dazu zu sagen, Kollege Jählich?

Jählich: Eigentlich nichts, Herr Kollege Käslein. Wenn nur Sie sich ungestört und frei Ihre eigene Meinung bilden können.

Käslein: Dabei glaubten wir einmal, Prof. Jählich wäre eine Leuchte für unseren Fuß.

Jählich: Geh ich denn jetzt!

Spielmann: (zu Jählich) Sie wollen gehen? Ist es nicht schon zu spät zum Gehen?

Jählich: Vermutlich gehören Sie auch zu diesen Leuten?

Spielmann: Denken Sie, ich wäre als Lockvogel gekommen? Wenn Sie sich noch in Sicherheit bringen wollen, dann freilich wird es höchste Zeit, dass Sie sich sputen. Denn in der Tat spürt man Ihnen auf.

Jählich: Wenn ich es noch nicht wüsste, würden mich die Gesichter dieser Herren belehren. Aber Sie haben ja Recht. Denn wohin sollte ich gehen? Das Leben ist für mich nur noch ein lebenslängliches Gefängnis. Spiel auf und sing, wenn du ein Spielmann bist und dir daran liegt, mich mein Elend vergessen zu lassen. Du musst aber wissen, dass dir das schwer fallen dürfte, da ich nicht vergessen und mich nicht trösten lassen will. Und brächtest du es fertig, mich zu trösten, ich müsste dich hassen und verachten. Ja, als Verrat müsste ich es erachten.

Spielmann: Wart ab. Ich werde schon den rechten Ton finden. (er singt)

Das Weltall, wurde jemals es ersonnen,

auf einen großen Zweck hin und vollendet,

und auf ihn hin der Schönheit Glanz verschwendet

und allen Reichtums rätselhafte Bronnen,

 

so dass der Keim des Lebens aus den Sonnen

und Wassertiefen wunderbar erstanden

und hoch und höher steigernd war vorhanden,

bis es des Lebens Hochgestalt gewonnen:

 

So, Liebste, ward in dir mir einst verkündet

des Himmels Angesicht, das mich betroffen,

dass ewiges Heil in dir ich dürft erhoffen,

ob auch viel dunkle Flut in mir noch gründet.

 

Und muss jetzt klagen, dass ich dich verloren,

als wären besser wir niemals geboren.

Anwalt: Was soll das Possenliedchen!

Katzendorf: Das stört mich allerdings ganz gewaltig.

Hauber: Katzendorf wünscht sich bei der Ausarbeitung seiner Rede keinen Katzenjammer, Herr Bänkelsänger.

Käslein: Vor allem aber muss ich als ordentlich ordinierter Theologe monieren, dass sich hier wieder einmal die Kunst mit bösen Irrlehren gemein macht. Ja, mein Herr, bedenken Sie es, solange noch Zeit ist. Ein erbärmliches Ende nimmt, wer sich Irrlehren hingibt und sich weigert, ein frommes Schaf zu bleiben.

Rektor: Doch wir sollten gehen. Die Zeit drängt. Die Musikanten stimmen sich ein und das Volk wartet auf uns. Und es macht sich nicht gut, wenn wir Honoratioren zu spät kommen. Gehen wir also! ? (zum Sekretär) Und er bleibt da!

Sekretär: (Mit Wecken im Mund postiert er sich bei der Türe) Sehr wohl die Herren.

(Die Professoren und die anderen Leute verlassen das Lokal.)

5. Szene: Ohne die Professoren

Jählich: Wie wundersam trifft mich, was du gesungen, Freund! Ich glaube, nur der singt wahr, der singt, was er erfahren hat und den es zum Singen zwingt.

Spielmann: Und freilich gilt auch, dass nur der die Schreie ausmessen und verstehen kann, wer solche Not kennt. Für die anderen sind es nichts als Worte des Wahnsinns.

Jählich: Sing, wenn du noch etwas auf Lager hast!

Spielmann: Auf Lager hat ein Spielmann noch so manches!

Jählich: Lass sehen!

Wirt: Beeilt euch aber, eh man euch als Ruhestörer holt!

Jählich: Sind wir nicht hier allein in dem Lokal?

Wirt: Es berührt mich peinlich, wenn ich bedenke, dass die Herren alle gegangen sind. Mein Lokal gehört immerhin der Öffentlichkeit. Ein Lokal ist kein Musiksaal, zumal wenn kein heiteres, fröhliches, von allen getragenes Lied erschallt.

Sekretär: Lass er sie doch, Herr Wirt. Besser sie singen, als dass sie entspringen!

Wirt: (zur Türe hinausschauend) Wo nur die Mediziner so lange bleiben?

Sekretär: Sie werden schon gleich da sein.

Wirt: (in die Küche eilend) Jedenfalls möchte ich Sie bitten, meine Herrn, die musikalischen Produktionen einzustellen. Sie hören ja doch, dass die Feier gleich beginnt; und da möchte ich die Türe ein wenig öffnen, um wenigstens so mit dabei zu sein.

Spielmann: Nur Geduld. Wir sind gleich fertig. - Ich hab gesungen und ich hab verloren ? das könnt ich noch singen?

Jählich: Sing, was du singen kannst, wenn du nur singst.

Spielmann: (singt, während man von draußen Bläser hört, die sich einstimmen)

Ich hab gesungen und ich hab verloren.

Vergebens, dass ich´s mir zu Recht mag legen:

Aus eigner Kraft werd nichts mehr ich bewegen,

Verloren harr ich bei des Lebens Toren.

 

Und wollte dich doch durch die Tage tragen,

mein Schätzchen dich, mein Kind, mein Liebstes Du.

Verloren hab in dir ich meine Ruh,

kann nimmermehr, wie ich dich lieb, dir sagen.

 

Des Orpheus Liedertafeln sind zerschmettert,

derweil der Popanz noch Gebete spricht,

er kennt den Kampf ums ewige Leben nicht.

Wer steht noch in der Zeit, die längst entgöttert?

 

Verloren hab in dir ich meine Freude.

Nur Herdenvieh grast noch auf Herbstes Weide.

Wirt: (vom Küchenfenster aus) Nur gut, wenn das mit dem dummen Vieh niemand gehört hat.

Sekretär: Dafür wär man noch vor 400 Jahren auf den Scheiterhaufen gekommen.

Spielmann: Heute kommt man dafür in eine geschlossene Anstalt. Das ist auch nicht viel besser.

Sekretär: Wenn es nach mir gegangen wäre, so hätte man alle Stöcke des werten Professors zur gerichtlichen Untersuchung beschlagnahmt; und dann hätte die Justiz das Prozedere bestimmt und alles wäre ganz anders gekommen.

Spielmann: Und wie, mein Herr?

Sekretär: Die Stöcke hätte man als Holz- und Kinderspielzeug entlarvt, wie man ja auch Holzpistolen kennt. Solche Dinge sind erlaubt, solange sie nicht die allgemeine Ruhe stören.

Spielmann: Es wäre ein Glücksfall gewesen, wenn die Menschheit nie über Holzpistolen hinaus gekommen wäre.

Wirt: Ich sage es noch einmal ganz ausdrücklich und der Herr Justizsekretär ist mein Zeuge, dass ich das gesagt habe: Nichts, was hier geschieht, geschieht mit meinem Willen.

Jählich: Man mag sich fragen, als was sich nun denn das Leben des Menschen herausstellt. Als eine Vorbereitung? Doch worauf? Als eine Bewährung? Doch wofür? Als ein Traum, eine Einbildung, eine Erfindung der Natur, die selbst nicht weiß, was sie da angestellt hat? Als Defekt der Urmaterie, indem sie mehr Möglichkeiten in sich hat hineinlegen lassen, als was dann zu verkraften war? Das Einzige, was uns das Leben lehren mag, das ist, dass wir nicht zu Streich kommen, wenn wir bedenken, was für einen Sinn wir unserem Leben hätten geben sollen. Trösten wir uns immerhin damit, dass die Welt noch nicht untergegangen sein kann, denn sonst würden wir ja nicht hier sitzen und so reden. - Doch nun spiel noch ein Lied, Spielmann, und dann mag geschehen, was immer geschieht.

Spielmann: Gut denn. Noch ein Lied, ein letztes Lied, ein Lied zum Abschied.

(er singt und geht dann hinaus)

Den Atem hören, an den Lippen liegen

Und wissen, Zug um Zug, dass du jetzt hier,

Wir könnten ohne Worte uns begnügen,

Ich wär bei dir ja und du wärst bei mir.

 

Gesprochen haben wir ja all die Worte

Und überdacht in vielen, vielen Stunden,

als wir gewandelt um des Lebens Pforte

und Leben, Liebste, viel in dir gefunden.

 

Traumloser Schlaf, o Sokrates, genügt nicht!

Allein nur bleibst du da, mit dir allein!

Einsamer Schlaf, o Sokrates, vergnügt nicht.

 

Liebste, mit dir lass mich zusammen sein.

Liebste, mit dir nur, was auch kommt, betrügt nicht!

Liebste, mit dir zusammen schlaf ich ein.

Jählich: Wie wahr das alles doch ist, was du da gesungen hast. Das hatte ich vorhin noch zu sagen vergessen. Wenn es jemals etwas Vollkommenes auf dieser elenden und gemeinen Erde gegeben hat, so war sie es. Von daher habe ich wirklich mehr erhalten, als was ich jemals mir auch nur hätte erträumen können. Liebste! Du Reis der Vollkommenheit! Dir zur Seite werde ich wundervoll ausruhen.

6. Szene: Die Ärzte

(Dr. Ratscher und seine Seilschaften sind inzwischen mit dem Professor Wolf und mit Studenten eingetreten. Die Studenten bringen einen Leiterwagen und setzen Jählich hinein.)

Ratscher: Und nun zu Ihnen, mein Herr! Sie sind doch Herr Jählich!?

Jählich: Was habe ich mit Ihnen zu schaffen?

Student: Mit uns hat er überhaupt nichts zu schaffen, nur wir mit ihm!

Eine Studentin: Sie wissen doch selber, dass Sie für die Freiheit unserer Gesellschaft eine Gefahr bedeuten.

Jählich: Jeder frei denkende Mensch ist für die Freiheit eine Gefahr. Nur als Parteigänger und als Schaf in der Hürde lebt man bequem.

Wirt: Ich habe schon immer gesagt, dass Weisheit und Wissenschaft allein nicht viel nützen. Aber er wollte keinen guten Rat annehmen. Nun muss er selber sehen.

Prof.: Und Sie haben hinreichende Beweise, dass er verrückt ist?

Ratscher: Was sonst? Vergebens werden Sie ein zweites Exemplar finden, das sich derart quer legt, wenn es gilt, sich auch nur ein bisschen anzupassen und einzugliedern. Statt dessen verspotten einen diese Leute und lassen es sich einfallen, anderen die Hüte von den Köpfen zu ziehen. Aber fragen Sie ihn doch selber, wenn Sie noch Zweifel haben! Entweder sagt er, dass wir die Mörder seiner Frau sind, oder, wenn Sie ihn zuvor etwas weicher gestimmt haben, nimmt er die Schuld auf sich und bezeichnet sich selber als Mörder.

Prof.: Aber, aber, Dr. Ratscher: Wie kämen wir dazu, Ihnen zu misstrauen?

Jählich: (der gut zugehört hat) Hätte ich nach seinen Vorschriften gehandelt, dann freilich ginge ich jetzt als Ehrenmann durch die Straßen.

Ratscher: Das genügt doch wohl.

Prof.: Das genügt allerdings.

Ratscher: Also ans Werk! Was warten Sie noch, meine Damen und Herren?

Wirt: Entschuldigen die Herrschaften. Als meinem Gast habe ich diesem Herrn noch die Rechnung zu präsentieren. Jawohl, er ist mir noch seinen Kaffee schuldig. ? 5 Euro, wenn es beliebt!

Ratscher: Es müsste uns nicht wundern, wenn er kein Geld bei sich hätte. Doch hier! Nehmen Sie! Damit jedermann sieht, dass es nicht nur habgierige Ärzte gibt. Und nun ans Werk, meine Damen und Herren!

Jählich: Jawohl, ans Werk, meine Damen und Herren. Was auch kann es Schöneres geben, als mitzuwirken, wenn alle Hand anlegen? Walten Sie nur Ihres Amtes! Auch Prof. Wolf kann sich wohl kaum etwas Schöneres wünschen, als dass ein Arzt zur Stelle ist, der einen, wenn´s Not tut, an den dafür bestimmten geeigneten Ort überweist. Dank Ihnen und Ihrer Fürsorgepflicht, lieber Doktor Ratscher, wird das nun alles möglich.

Prof.: Vergessen Sie nicht, Prof. Jählich, auch der Festtag der Freiheit macht uns nicht frei.

Jählich: Ich habe nie daran gezweifelt.

Ratscher: Das ist allerdings stark.

Jählich: Es ist nur die Wahrheit.

Ratscher: Aber es gibt Wahrheiten, die man auch in der freiesten aller Demokratien nicht aussprechen darf.

Jählich: Je größer die Macht des Amtsträgers, umso gefährlicher jede Aussage, die ihn nicht in den höchsten Tönen verherrlicht, zumal wenn er noch über viele Vasallen und vielen Einfluss verfügt.

Prof.: Seien Sie wenigstens im Abgang ein Held, Herr Prof. Jählich.

Jählich: Ich werde mir Mühe geben.

Ratscher: (Jählichs Zunge untersuchend)

Logopädin: Ich habe Ihnen doch gesagt, Dr. Ratscher, dass Herr Jählich der Medizin wie überhaupt der gesamten Gesellschaft misstrauisch gegenübersteht.

Logotherapeut: Leider liegt es auf der Hand, dass wir es hier mit einem ausgesprochenen Miesepiter, Kritikaster und Misanthrop zu tun haben.

Krankengymnastin: Und was ist denn das?

Logotherapeut: Eines der letzten Fotos von seiner Frau.

Ratscher: Zeigen Sie her!

Logopädin: Jawohl, von seiner Frau.

Wirt: (aus dem Küchenfenster) Armer Künstler, nun geh heim, wenn du dein Liebstes verloren hast!

Ratscher: Fast könnte man auf den Gedanken kommen, dass die dem werten Herrn zugebilligte Freiheit zu groß war.

Prof.: Fehlt nur noch, dass er uns erklärt, dass er es selber war, der sie umgebracht hat. Sie hat ihn wohl wahnsinnig gemacht.

Ratscher: Die Freiheit?

Prof.: Seine Frau! (sich etwas notierend) Armseliges Menschengeschlecht, das die Kunst braucht als Portal zum ewigen Leben, da ihm die Tempel und die Altäre dieses nicht mehr zu suggerieren vermögen.

Jählich: Ein kleines Gutes hat das alles aber doch immerhin noch an sich. Oder finden Sie nicht auch, Prof. Wolf?

Ratscher: Was wollen Sie denn vom Herrn Professor? Sie sehen doch, dass Sie ihn stören.

Jählich: Ich wollte nur Prof. Wolf sagen, dass ich es gut finde, dass ich nun bald auch über die Freiheit verfüge, mir keinen Dr. Ratscher mehr ansehen zu müssen.

Prof. Wolf: Was hat er gesagt?

Ratscher: Nichts als Nörgeleien, Bestätigungen unserer Diagnose. Wir hatten unlängst schon einmal so einen Patienten, den wir internieren mussten. Er sprach immer nur drohend den Anfang eines Satzes aus, um dann zu verstummen.

Prof. Wolf: Und wie hieß dieser Anfang?

Ratscher: Wer mir an diese Türe rührt ?

Prof.: Und sonst nichts?

Ratscher: Sonst nichts. Aber seine wahnsinnig weit aufgerissenen Augen jagten einem Angst ein.

Prof.: Kann er uns sagen, weshalb er seine Frau umgebracht hat?

Ratscher: Sie sollen uns sagen, welchen Zweck Sie damit verfolgt haben! ? Er sagt nichts; aber wir werden es noch herausfinden.

Ein Pfleger: Nun wären wir so weit.

7. Szene: Auf dem Leiterwagen

(Während sie Jählich mit seinem Wanderstab auf einen Leiterwagen packen und ihn nach draußen schaffen; draußen am Rand steht noch der Trauermann und schaut zu)

Ratscher: Also los.

Logopädin: Ein Hoch auf die Medizin, damit das Leben nicht sterbe!

Logotherapeut: Es sterbe das Leben, damit die Kunst lebe!

Krankengymnast: Ein Hoch auf die Kunst, die das Tote beseelt.

Die Seilschaft: Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.

Ratscher: Allons enfants de la patrie!

9. Akt: Die Feierstunde

Katzendorf: (als Festredner, draußen vor dem neuen Denkmal, wenn man mit Jählich im Leiterwagen herbeikommt. Von einer anderen Seite bringt man in einem Sarg die verstorbene Frau Jählich.) O ich rede nicht an der Streckbank für Gymnasiastenzensuren, wenn ich sage, dass die Freiheit ein unendlich kostbares Gut ist. Falls Sie es noch nicht wissen sollten, was es mit der Freiheit auf sich hat, so nehmen Sie es mir bitte ab, dass ich Sie nicht enttäuschen werde. Halten Sie bitte daran fest, dass ich mich über nichts anderes ergehen werde als über das unendlich kostbare Gut der Freiheit. Jawohl meine Damen und Herren. Fern sind wir, zu haselieren oder Sie zu harangieren! Dafür bürgt Richter Neudeutscher, den unter uns zu begrüßen wir das Glück haben. - Aber da bringen Sie ja den Kollegen Jählein. Pardon, Jählich. Kaum weiß man, dass an einem Menschen nichts ist, so hat man auch schon seinen Namen vergessen. Und neben ihm, das ist wohl seine Frau?

Sargträger: Jawohl, das ist seine Frau.

Katzendorf: Meine Damen und Herren, erachten Sie bitte diese kleine Abschweifung nicht als deplatziert an unserem heutigen Festtag. Die beiden Leutchen dort zeigen uns ein Stück Leben, das uns anregen soll, unser Leben zu bedenken.

Hauber: Sie hatten wohl wenig Glück?

Frau Jählich: (im offenen Sarg) O nein, wir hatten viel Glück.

Jählich: Aber die Krankheit setzte uns zu. Nein, nur meiner Liebsten setzte sie zu, weil sie sich Mühe gab, alles allein, für sich, auszuleiden, und mich nicht damit zu quälen. Oder noch genauer, nur mir setzte die Krankheit zu, weil mir die Leute zusetzten, die glaubten, sich um diese Krankheit bekümmern zu sollen. Wiewohl das Leiden längst schwer genug war, um nicht zu sagen, unerträglich, kam fast täglich immer noch etwas dazu, was mein Weibchen zu ertragen und ich gegen die Herren der Verwaltungen, der Krankenhäuser und der Krankenkassen auszufechten hatte. Kaum aber, dass wir uns an die kleine tückische Verschärfung gewöhnt hatten - denn gerade die kleinen Verschärfungen will man am wenigsten wahrhaben -, um nun auch sie ohne Murren auf uns zu nehmen, kam eine neue Heimsuchung.

Käslein: Ja der Preis der Freiheit ist durchaus nicht gering.

Jählich: Über 40 Jahre ging das so. Die letzten zwei Jahre lag mein Weibchen nur noch in einem Leihbett. Das ist das letzte Bett, von dem aus man, wie jeder weiß, ins Grabbett verpflanzt wird. Was für eine Leidensgeschichte, die ich gar nicht im Einzelnen schildern mag! O, und als dann die allerletzten Tage anbrachen! Als ich merkte, dass kein Stuhl mehr nachkam. O, wie lieb sich vor meinem Finger noch der Darm auswölbte, er kannte mich ja, wie zu einem Göttertempel, zum Pantheon, wölbte er sich aus und doch kam nichts mehr. Und als dann das Großhirn auch noch seine weiteren Arbeiten einstellte, als dir die Augen verklebten, die Nase verstopfte, der Mund nach Atem rang!

Trauermann: Auch eine Marionette an Schnüren genießt noch Freiheitsgrade. Vorwärts, rückwärts, einatmen, ausatmen, bis zum letzten Atemzug.

Jählich: O, als die Passion vollends ihr letztes und äußerstes Ende erreichte! Als ich dir dann noch das Sauerstoffgerät abstellte, damit du es schneller schafftest. Aber du schafftest es nicht. Auch wenn du mir dazu den Auftrag gegeben hattest ? da wurde ich zu deinem Mörder. Statt mutig mit dir in den Tod zu gehen, habe ich mich ins andere Zimmer zurückgezogen. O pfui über mich. Und weil ich mir keine Morphine zu besorgen vermochte ? vom Bruder Chefarzt, dem es möglich gewesen wäre, wollen wir nicht reden ?, musste ich noch einmal die Ärzteschaft herbeiholen. Pfui, wie sie da angebraust kamen im Notarztwagen mit ihrem Personal. Laut schallten ihre Stiefel durch den Flur und ihres Alltags Gang und Gelächter, als wär eine Kirmes bei uns im Haus! Wenn ich bedenke, was sie dann noch mit dir gemacht haben!

Frau Jählich: Liebster. Du musst dir nichts vorwerfen! Ich hab doch alles überstanden.

Jählich: O Du!

Frau Jählich: Sag dir, dass wir Glück hatten in unserem Leben und dass es uns gut gesinnt war!

Jählich: Du hast mit deinem großen Unglück für mein großes Glück bezahlt. O, du Liebste. Als ob die Krankheit nicht schon genug gewesen wäre! Aber dann kamen noch die Mitmenschen dazu. Der Wolf, der in unsere Hürden eindrang und der uns die Lämmer unseres Glücks anfiel und zerriss.

Frau Jählich: O lass sie doch, Liebster! Denken wir nicht an die anderen! Was wir nicht ändern konnten, Liebster, das haben wir uns doch so zu Recht gelegt, dass wir jetzt sagen können, dass das Leben gut so war, wie es war. Oder haben wir nicht gesagt, dass wir alles so annehmen wollen, wie es über uns verhängt ist? Und haben wir nicht gesagt, dass wir es annehmen und gutheißen können, weil wir doch alles zusammen machen?

Jählich: O Liebste! Was für ein Glück hatte ich doch in dir. Aber du!

Frau Jählich: Auch ich hatte Glück, Liebster. In dir habe ich es gefunden.

Jählich: Weil du die Freiheit erreicht hast. Die Freiheit aber hast du erreicht, weil du ohne die geringste Klage jeden Zwang ertragen hast, der dein Leben zerstört hat. O, wie hast du dich verleugnet, Liebste. Wie hast du dich gedemütigt, wie dich erniedrigt, wie dich klein gemacht und dem Würgegriff des Todes überlassen!

Frau Jählich: Komm Liebster!

Jählich: Wenn ich nur bei dir bleiben darf! Dann mag kommen, was will. Und ich nenne es Himmel und Glück und ewiges Leben.

Frau Jählich: Du darfst es, Stefan, Liebster!

Jählich: (er singt)

Ich wusste nie, wie schön mein Name klingt,

eh du ihn Liebste, mir nicht zugesprochen,

So wie die Amsel hoch vom Baum erst singt,

wenn wonnevoll der Lenz ist ausgebrochen.

 

Und wie die Fahnen wehn im Frühlingswind

Und aus den Buchten all die Segler schnellen,

zu melden, dass vom Meer im Kommen sind

die Sommervögel auf des Südwinds Wellen.

 

Nun aber, Liebste, da der Herbststurm jagt

die letzten munteren Gäste fort ins Weite,

steh abgehisst ich wie ein Mast, der klagt

um seines Sommers fernentrückte Freude.

 

Nur ein bedeutungsloses leeres Zeichen

bin ich noch da, wo du nicht zu erreichen.

10. Akt: Schlusslied

(Man sieht das Denkmal der Freiheit. Viele Leute ringsum. Neben dem Denkmal der Friedhof. Zwei Wege, nebeneinander, in die Erde, wie hinunter zu zwei frisch aufgeworfenen Gräbern. Während unter der Leitung von Ratscher Frau und Herr Jählich vor ihren Gräbern abgesetzt werden, wird unter musikalischer Begleitung leise im Hintergrund das Lied "Freude schöner Götterfunke" gesungen.)

Ratscher: Mag nun hierher wallfahren und für die beiden Herrschaften um eine gute Himmelfahrt beten, wen es danach gelüstet, wiewohl sie selber schuld sind, dass es so weit gekommen ist, da sie unsere Beihilfe verschmäht haben!

Jählich: (er legt seinen Wanderstab aufs Grab; dann spricht er das folgende Lied, wobei die beiden Alten, die Eltern von Frau Jählich, noch einmal vorbei kommen und sich tief erschrocken ansehen.)

Euch, denen einst das Liebste ward gegeben,

was je man nur vom Leben kann verlangen,

die ihr als Liebesunterpfand empfangen

ein eigenes Kind zu einem eigenen Leben:

 

Ein wunderbares Spiegelbild der Liebe

wuchs auf bei euch, anvertraut eurer Hut,

das euer Leben machte reich und gut.

Doch dann kam ich zur Nacht fast wie die Diebe.

 

Und sah die Liebste, mich ihr zu verbinden,

von diesem Kleinod bis ins Mark getroffen,

ich, nur ein Nichts, ob ich gleich durfte hoffen.

Lasst nun in eure Gräber euch verkünden:

 

Ihr habt des Lebens Liebstes einst bekommen,

doch mir ward jetzt dies Liebste weggenommen.