{ Vor den Toren der Nacht }

Literatur von Martin Ganter

Personen

Hans Aschberger

Benjamin Froschmann

Thomas Köpfer vom Assberg (berühmter Liederdichter)

Minos (Schwiegervater von Aschberger, ehemals Präsident am Landesgericht)

Zwei Söhne des Minos

Schneeweißchen (die jüngste Tochter des Minos, die Gattin des Hans Aschberger und von Minos als Verlobte vorgesehen für Dr. Rest. Sie trägt ein weißes Wickelkleid und immer weiße Handschuhe.)

Die Schwiegermutter von Aschberger

Staatsanwalt Dr. Rest

Beisitzer im Gericht

Wächter

Niklas, Schwiegersohn von Aschberger

Ein Herold

Ein Ingenieur im Hades

Ein Alter

Zwei alte Gauner Rapsch und Batsch

Herrmann Herder, Buchhändler

Dr. Günther Karst, Philologe

Rabimer, Theaterkritiker

Literaturkritiker

Oberstudiendirektor Dr. Justinus Kleckser

Sängerinnen und Tänzerinnen

Inhalt

1. Kapitel: Oberhalb der Unterwelt, beim Eingang in den Hades. Abend.

1. Abschnitt: Wie Aschberger auf das Tor der Unterwelt zukommt.

2. Abschnitt: Aschberger trifft den Wächter des Eingangs zur Unterwelt.

3. Abschnitt: Hadesknechte kommen

4. Abschnitt: Aus dem Flugzeug wird der Sarg des Thomas Köpfer vom Assberg getragen.

5. Abschnitt: Arzt, Anwalt und Journalisten

6. Abschnitt: Wie es Aschberger in den Hades zieht.

2. Kapitel: In der Unterwelt

1. Abschnitt: Wie Aschberger vom Froschmann eingeholt wird und wie Froschmann aus seinem Leben erzählt

2. Abschnitt: Schneeweißchen holt den Froschmann ab. Teichoskopische Kirchenführung.

3. Abschnitt: Aschberger gelangt in eine dunkle Gasse, wo Köpfer bereits erwartet wird

4. Abschnitt: Aschberger gelangt vor die drei Tore, golden, silbern, bleiern

5. Abschnitt: Aschberger bekommt das Zeichen, dass er als Nächster drankommt.

3. Kapitel: Niklas, der Schwiegersohn, nachts auf der Deponie.

1. Abschnitt: Wie Niklas, der Schwiegersohn, durchs Tor tritt und den Berg der Literatur besteigt.

2. Abschnitt: Ein Mediziner auf der Suche nach Nahtoderfahrungen kommt herbei. Dann ein Literaturkritiker

3. Abschnitt: Ein Buchhändler kommt angerannt.

4. Kapitel: Das Totengericht.

1. Abschnitt: Abermals vor dem Gerichtssaal.

2. Abschnitt: Wie man Aschberger vor Gericht empfängt; erste Vernehmung

3. Abschnitt: Vernehmung der Zeugen und Experten

4. Abschnitt: Zwischenspiel. Der Oberstudiendirektor Dr. Justinus Kleckser

5. Abschnitt: Das Urteil des Minos

5. Kapitel: Die Anamnese

1. Abschnitt: Die kranke Frau

2. Abschnitt: Aschberger spricht davon, in Minos seinen Schwiegervater erkannt zu haben.

3. Abschnitt: Ein Bankett für die Verlobung

4. Abschnitt: Wie Froschmann in Schneeweißchens Schoß gelegt wird.

5. Abschnitt: Wie der Staatsanwalt die Hand von Schneeweißchen begehrt, Aschberger dazwischen kommt und Minos Schneeweißchen abholt

6. Kapitel: Auf der Deponie

1. Abschnitt: Wie Rapsch und Batsch zur Deponie kommen

2. Abschnitt: Wie Aschberger zur Deponie gelangt; es ist kurz vor Morgengrauen.

1. Kapitel: Oberhalb der Unterwelt, beim Eingang in den Hades. Abend.

(Herbstlandschaft. Eine Schafherde ist am Grasen. Ein dunkles, verschlossenes Tor in der Ferne. Eine Lampe, die dort hängt und unnötig Licht spendet. In Umrissen sieht man auch einen Apparat, eine Art Guillotine. Vor dem Eingang ein Wächter mit schwarzem Bart und schwarzer Tatarenmütze. Seitwärts ein Galgen oder Kreuz, an dem Froschmann hängt, von dem aber niemand Notiz nimmt. Ein alter Mann, der mit seinem Uhu, einem Modellflieger, spielt.)

1. Abschnitt: Wie Aschberger auf das Tor der Unterwelt zukommt.

Aschberger: (er reibt sich die Augen) Träumt mir? Wie? Bin ich noch oder bin ich nicht mehr? Allein scheine ich nicht zu sein. Denn ich seh Leute rings um mich herum und Tiere und eine Wiese und Bäume darauf, die sich zum Himmel erheben. Zugegeben, es ist eine geheimnisvolle Welt, diese Welt des Seienden, die auch uns umschließt. Wenn man ist, bemerkt man diese Welt zumeist nicht als besonders auffällig, weil man sich an sie gewöhnt hat; und wenn man nicht mehr ist, kann man sie nicht mehr sehen. Was aber ist, ist geheimnisvoll; und was nicht ist, läßt sich nicht denken. Sollten wir also einmal nicht mehr sein, und nichts scheint mir gewisser, so werden wir auch über uns selber nicht mehr nachzudenken vermögen. Selbst der herrlichste Metaphysiker, der sich jetzt vielleicht noch mit der Frage nach dem Grund des Seienden wichtig macht, wird sich keinen Lapp und keinen Bapp mehr darum kümmern. -

Entschuldigen Sie, mein Herr! Ist das dort drüben das Tor zur Unterwelt?

Alter: Das Tor zur Unterwelt? Gibt es das denn? Ich dachte immer, das hätten sich die Alten nur so eingebildet, als sie noch nichts von der Welt verstanden.

Aschberger: Aber Sie sehen es doch ... Oder sehen Sie nichts? Dort, bei dem alten Mann, ist da nicht ein Eingang?

Alter: Dort befindet sich ein Eingang zu einem stillgelegten Stollen. "Der tote Mann" heißt er, weil man dort vor Jahrhunderten vergebens nach Silbererz geschürft hat.

Aschberger: Und der alte Mann?

Alter: Was den alten Mann betrifft, so läßt man ihn am besten in Ruhe, denn er ist im Kopf nicht mehr ganz recht. Nur wenn mir einmal mein Uhu dort abstürzt, nähere ich mich ihm.

Aschberger: Und was ist das da?

Alter: Wo?

Aschberger: Dort, neben dem Eingang!

Alter: Zwei Männer, Schäfer vielleicht, die einen Jungschäfer begleiten!

Aschberger: Und was tun sie?

Alter: Alte Bräuche beim Schurfest vielleicht.

Aschberger: Jetzt ziehen sie ihm den Hals lang. Oder zieht er sich den Kopf vom Hals?

Alter: Ich weiß nicht, was Sie sehen.

Aschberger: Jawohl, den Kopf zieht er sich aus wie ein Hemd. Und jetzt hält er den Kopf in die Höhe!

Alter: Ich kann nicht auf alles achtgeben, mein Herr. Die Materie, mit der ich mich befasse, ist zu schwierig. Wenn ich mit meinem Uhu zusammen bin, hab ich nur noch acht auf die Gesetze, die uns die Natur vor Augen führt. Nur dann nämlich, wenn wir die Wissenschaften vorantreiben, gehört uns die Zukunft. (er geht weiter mit seinem Flieger)

2. Abschnitt: Aschberger trifft den Wächter des Eingangs zur Unterwelt.

(Der Kopf eines Schafs oder Esels, der einem Menschenkopf ähnelt, mitsamt einer Schale Blut werden eben in die Unterwelt getragen.)

Aschberger: (für sich) Ha, wie sich der Mann beeilt, zu verschwinden. (laut) Mein Herr! Ist das Törchen da aus billigem Lehm, wo ich den Kopf einziehen müsste, um durchzupassen? – Als ob jemand Verlangen trüge, da einzudringen! – Warum sagt er nichts? Weiß er nicht, wozu er da steht?

Wächter: Was will er denn?

Aschberger: Kann er mir sagen, wohin man gelangt, wenn man hier hindurch geht?

Wächter: Wohin man kommen kann, weiß man erst, wenn man angekommen ist.

Aschberger: Das ist nicht viel!

Wächter: Genug für den Ankömmling!

Aschberger: Widerspricht er sich nicht?

Wächter: Nicht dass ich wüßte!

Aschberger: Immerhin nennt er mich einen Ankömmling. Da ich aber nicht weiß, wo ich hier bin, bin ich hier noch nicht angekommen!

Wächter: Jeder, der hierher kommt, ist ein Ankömmling, um den ich mich kümmere.

Aschberger: Und wie, wenn ich fragen darf, kümmert er sich?

Wächter: Ich frage z.B. nach Alter und Stand.

Aschberger: War das schon eine Frage an mich?

Wächter: Oder ob er geschieden ist? Wenn er aber glaubt, ich, persönlich, wollte etwas von ihm wissen, so täuscht er sich. Durch solche Fragen geb ich nur dem Ankömmling Gelegenheit, sich zu erleichtern.

Aschberger: Damit sich niemand zu Tode grübelt, ehe er sich im Reich des Todes wiederfindet? – Der Mann mit dem Modellflieger meinte, Sie hätten ein Gesicht wie eine Gefängnistür. – Vermutlich ist er nicht recht bei Verstand. Er verfolgt nur seine Wissenschaft.

Wächter: Solche Leute pflegen nur das zu sehen, wovon sich ihre Schulweisheit etwas träumen läßt.

Aschberger: So konnte man den Mann sehen, der seinen Kopf in die Höhe hielt?

Wächter: Auch Leute sind zu sehen, die ihre Kinder als lebendige Drachen an Schnüren in der Luft herumfliegen lassen.

Aschberger: Sie erlauben sich Scherze.

Wächter: Bedenk er, mein Herr, dass einer, wenn er einmal den Kopf verloren hat, ihn nie mehr verliert!

Aschberger: Er spottet noch immer.

Wächter: Pass er auf, mein Herr! Denn jetzt red ich ernst! Ohne den alten Kopf aufgegeben zu haben, kann man nicht zur Jugend zurückverwandelt werden. – Aber ich kann ihm auch etwas zeigen, dessen Zutreffen er selber bestätigen kann. So sag ich ihm, dass keiner, wenn er einmal bei mir angekommen ist, von hier wegkommt.

Aschberger: Er meint wohl, es sei spannend hier? – Aber was ist das? Ich lass mich von ihm nicht verhexen! Glaub er nur nicht, ich lass mich von ihm verhexen. Hat er gehört? – Aber ich hab ja auch noch nicht wegwollen. Oder? Können Sie mir sagen, ob ich schon echt hab weggehen wollen von hier?

Wächter: Mein Herr! Es ermüdet, auf alle diese Sätze einen Kommentar abzugeben.

Aschberger: Wie? Will ich und kann aber nicht? Ich kann doch wohl wieder gehen, wenn ich will. Und wenn ich auch nicht gleich jetzt will, so kann ich doch wollen, wenn ich wieder tüchtig Luft getankt habe. Ich werds ihm beweisen. Doch sag er mir, warum er bei dieser hochsommerlichen Hitze eine so dicke Tartarenpelzmütze trägt! Wärs nicht besser, er legte die Mütze ab? Wenn es wenigstens das Barett eines Domkapitulars wäre! Oder darf er die Dienstmütze nicht ausziehen? – Gut, gut, ich verstehe, auch darüber darf er nichts sagen. Die Mütze gehört zum Umkreis seiner Pflichten. (für sich) Dann kann ich jetzt wohl wieder gehen! Doch warum geh ich nicht? Sollte es so sein, dass ich will und nicht mehr kann? Zum Teufel. Aber ich will doch! Wenn nur nicht daraus folgt, dass ich nicht mehr kann, was ich doch können muss! (stand er zuvor noch etwas beiseite, so zieht es ihn jetzt ganz unmerklich auf den Eingang zu.)

3. Abschnitt: Hadesknechte kommen

(Sie schließen von innen ein Gitter auf und rollen dann einen roten Teppich aus. Dann hängen sie silberne Glöckchen ans Tor und goldene Kugeln etc.. Blasmusik ist zu hören. Ein Helikopter landet. Ein Herold eilt aus dem Helikopter auf den Eingang zu.)

Herold: Einmal muss man dem ganz Großen begegnet sein, um zu ermessen, was Menschsein bedeutet.

Wächter: Wer ist der Herr, der da kommt?

Herold: Der Liederdichter Thomas Köpfer vom Assberg.

Wächter: Der Liederdichter Thomas Köpfer?

Herold: Was wäre die Welt ohne einen Thomas Köpfer vom Assberg? Kaum einer hat je so viele wundervolle Lieder gedichtet wie dieser Mann. Jawohl, er hat sich einen Namen gemacht, der so schnell nicht mehr vergessen werden wird.

4. Abschnitt: Aus dem Flugzeug wird der Sarg des Thomas Köpfer vom Assberg getragen.

(Der Sarg ist aus purem Gold. Ihm folgen passend dazu gekleidete Sängerinnen und Tänzerinnen.)

Aschberger (für sich): Was für ein Prunksarg. Was für eine Staffage an Begleiterinnen! Was für eine Eleganz! Was für ein Lebensgefühl! Für König Salomo könnte das nicht prunkvoller sein.

Herold: Glücklich der Mann, der von sich sagen kann, dass er nicht umsonst gelebt hat! Im Ruhm wird er weiterbestehen. (zu den Sängerinnen und Tänzerinnen) Ein Glück, dass sie es noch geschafft haben, sich rechtzeitig anzuschließen. (Der Sarg wird vor den Wächter getragen und dort von dem Herold geöffnet) Walten wir nun unseres Amtes und fragen den Ankömmling, ob er einzuziehen begehrt in das Reich des unvergänglichen Ruhmes?

Aschberger (zum Wächter): Was für eine Frage? Ist ein Toter denn fähig, darauf zu antworten?

Wächter (zu Aschberger): Sieht er nicht, wie sich der Tote in seinem Sarg aufrichtet? Gleich wird er den Kopf heben! Und das bedeutet zumindest, dass er eingelassen zu werden wünscht.

Aschberger: Als ob er eine Wahl hätte!

Wächter: Mein Herr! Es gehört Größe dazu, ins Reich des Jenseits einzuziehen! Doch still! Er will sprechen!

Köpfer (zum Herold und zu den Hadesknechten): Meine Herren! Sehen Sie her! (er hält sich den Hut etwas in die Höhe, um sich ihn dann wieder korrekt aufzusetzen)

Herold: Ein freier Kopf, nie umschwirrt von Fliegen lästiger Gedanken.

Aschberger (für sich): Nennt man das, den Kopf in der Hand haben, wenn man den Hut lüftet?

Tänzerinnen: O du, unser Thomas! Wie gut, dass wir dich wieder haben. Sag uns etwas Liebes, uns deinen Lieblingen!

Köpfer: O ihr Lieben! Meint ihr denn, ich hätte euch vergessen!

Herold: Was für ein Mann! Er könnte jetzt ärgerlich sein, weil sein Flugzeug beim Flug nach New York abgestürzt ist und er seinen besten Freund nicht mehr erreicht hat. Wär er kein Genie, er würde jetzt gegen die Vorsehung aufbegehren! Er aber, der fleischgewordene Ruhm der Welt, nimmt sich nun auch noch die Zeit, von diesen Damen Abschied zu nehmen.

Aschberger (für sich): Warum nur hab ich meinen Hut zu Haus liegen lassen? Dann könnt auch ich demonstrieren, dass ich den Hut lüpfen kann.

Köpfer: Hier, schaut her! Dieses kleine Photo habe ich noch bei mir! Nichts macht mir mehr Freude, als euch noch meinen Freund zu zeigen bei seinem Weltrekord. Ich wollte mich mit ihm in New York treffen. Da schaut her! Das ist das Zielphoto seines sagenhaften Weltrekords! Das da, neben der Zeitangabe und der Angabe des neuen Weltrekords, das ist er. Und dort, da hinten, das sind seine Konkurrenten.

Tänzerinnen: Weit ab, keuchen sie hinter ihm drein; so weit abgeschlagen, dass einem ist, als liefen sie noch immer.

Köpfer: Als er die Ziellinie passiert hatte und zurückschaute, da bedünkte es ihm, als wären es nur kleine Mäuse, die ihm folgten. So groß war der Abstand. Dabei hatte er, wie er mir erzählte, an jenem Tag noch nicht einmal alles gegeben. Tags zuvor hatte er nämlich noch seinen Geburtstag gefeiert. Seine Freunde hatten zu ihm gesagt: Nun musst du aber zu Bett gehen und dich tüchtig ausschlafen; er aber lachte sie nur aus.

1. Tänzerin: Ja, das ist großartig. Großartiger kann ein Sieg gar nicht sein, herrlicher kein Triumph!

3. Tänzerin: Man brauchte da überhaupt keine Stoppuhr und keinen Anzeiger.

2. Tänzerin: Wie man als Verlierer nur so weit abgeschlagen ankommen kann? Muss man sich da nicht in Grund und Boden schämen, wenn man bedenkt, dass man auf immerdar so festgehalten bleibt?

3. Tänzerin: Als wär man verurteilt, bis zum jüngsten Tag dem Sieg nachzurennen!

Köpfer: Bis ich in New York wäre, wollte ich noch eine Ode auf ihn verfassen. So hatte ich mirs vorgenommen.

Hadesknecht (Köpfer Kuchen reichend): Jetzt aber bekommt er noch das schönste Stück von unserem frisch gebackenen Honigkuchen.

1. Tänzerin: Und wir? Wir wollen auch etwas vom Kuchen.

2. Tänzerin: Oder haben wir uns nicht eigens für ihn so adrett zurecht gemacht?

( Inzwischen gibt der Wächter den Weg frei. Der Sarg wird durchs Gittertor hereingetragen)

Tänzerinnen: Aber so warten Sie doch!

Wächter: Meine Damen! Wenn sie wirklich auch etwas vom Kuchen mitbekommen wollen, so wenden sie sich an den Automaten da. Sehen Sie, da, den Automaten! (Im Eingang ist eine Guillotine zu sehen) Jede Minute saust das Beil herab. Sie müssen nur ihren Kopf aufs Polster legen. Dann fassen sie mit beiden Händen ihren Kopf. Und wenn das Beil herabgesaust ist und Sie merken, dass sie frei über ihren Kopf verfügen, dann halten Sie ihn nur recht fest und bringen ihn hierher. Dann sperren Sie den Mund auf und drücken die Augen zu. Und dann wird man auch Ihnen etwas vom himmlischen Manna auf die Zunge legen, worauf wir Sie hinter ihrem geliebten Meister durchlassen.

3. Tänzerin: Hast du Lust?

2. Tänzerin: Lust schon. Aber Lust müsste lustiger sein. Oder ist es lustig, wenn man sich den Kopf abhacken läßt wie einem Huhn oder einem Lamm?

5. Abschnitt: Arzt, Anwalt und Journalisten

(Ein geschäftstüchtiger Arzt und ein Anwalt beim Näherkommen, dahinter Medienleute)

Arzt: Wer eine solche Karriere gemacht hat wie unser Köpfer vom Assberg, der muss schon als Sieger zur Welt gekommen sein.

Anwalt: Kann das ein Mediziner beurteilen?

Arzt: O ja. Sehr oft kommen diese Leute mit einem Helmlein zur Welt.

Anwalt: Mein Herr, bleiben Sie mir nur ja vom Leib mit Märlein von anno dubak. Ich weiß, dass es für einen modernen Mediziner nichts Schöneres geben kann, als sich sagen zu dürfen, dass alle Laborwerte bei ihm stimmen.

1. Tänzerin: Ihr Herren! Helft uns! Man raubt uns den Liederdichter Thomas Köpfer vom Assberg.

2. und 3. Tänzerin: Ja, bitte! Helfen Sie uns!

Anwalt: (zum Wächter) Was geht hier vor sich? Lassen Sie den Mann, bis wir den Fall geklärt haben..

Wächter: Was gibt es da zu klären? Er hat sich verabschiedet und betritt nun das Reich des Gewesenen.

Arzt: Wer ausser einem Arzt kann entscheiden, ob er sich verabschiedet hat?

Anwalt: Und wer ausser dem Gericht, ob etwas freiwillig geschehen ist oder aus Zwang? Aber wir werden den Fall schon klären. Mit einem richterlichen Befehl werden wir den Toten herausholen.

Arzt: Und dann werden wir die Art und Weise seines Todes klären.

beide: Und Sie können Gift darauf nehmen, dass dabei auch für uns etwas Zuckerbrot abfällt.

Wächter: Die Damen hier wissen Bescheid. Sie waren die ersten, die ihn aufgefunden haben.

2. Tänzerin: Was soll gewesen sein? Sein Flugzeug stürtze ab, auf dem Hinflug nach New York.

Anwalt: Sie waren es doch, die ihn tot aufgefunden haben!

1. Tänzerin: Das sieht ja aus, als ob wir an seinem Tod Schuld trügen!

Anwalt: Das muss alles geklärt werden. Momentan haben wir nichts als eine Menge Behauptungen.

Arzt: Meine Damen, was schneiden sie da für Gesichter?! Sind das nicht Schuldgesichter?

1. Tänzerin: Trauergesichter sind das.

2. Tänzerin: Wir, die wir die Lieblinge des Dichters waren, was können wir sonst als trauern?

Anwalt: Als ob Lieblinge nicht zu manchem fähig wären. Leicht kann man auch nach einem kleinen Mord große Trauer tragen!

1. Tänzerin: Aber nicht wir.

Arzt: Ganz so groß aber kann eure Liebe nicht gewesen sein, sonst wärt ihr mit ihm ins Reich des Todes eingezogen.

2. Tänzerin: Sassen wir mit ihm im Unglückgsflugzeug?

Anwalt: Das und alles weitere wird sich herausstellen. Machen Sie sich auf jeden Fall schon mal auf eine Anklage gefasst.

1. Tänzerin: Ist es nicht schrecklich, sich solche Sätze anhören zu müssen?

2. Tänzerin: Und niemand hilft uns!

3. Tänzerin: Was nützt einem alle Schönheit, wenn man dem Glück nicht in die Stirnlocke zu fassen vermag?

Anwalt: Alles wird ans Tageslicht kommen. Verlassen Sie sich darauf!

3. Tänzerin: Wir, die wir keiner Fliege etwas zu Leide tun.

Anwalt: Jeder Reiche ist ein virtuelles Opfer der Habsucht des Armen.

1. Tänzerin: Und der Arme ist ein virtuelles Opfer der Habsucht des Reichen.

2. Tänzerin: Überhaupt! Hat man uns etwas vererbt, dass wir bemüht wären, es zu bekommen?

3. Tänzerin: Untersuchen Sie uns doch!

Anwalt: Das wird schon kommen. Verlassen Sie sich darauf! – (zum Wächter) Rufen Sie den Mann zurück!

Wächter: Das geht nicht.

Anwalt: O das geht schon. (will den Wächter mit Geld schmieren; umsonst)

Wächter: (auf die Guillotine weisend) Wenn Sie mit Herrn Köpfer sprechen wollen, müssen Sie sich hier Ihre Eintrittskarte holen.

Anwalt: Nun, dann gehen wir eben.

Arzt: Ja, gehen wir.

Anwalt: Aber wir kommen zurück! Verlassen Sie sich drauf.

Arzt: Sie, meine Damen hätten uns sehr viel Arbeit erspart, hätten sie uns den Liederdichter gleich in die Praxis gebracht! Schon manch einen haben wir aus einem todähnlichen Zustand wieder ins Leben zurückgeholt. Nun aber obliegt Ihnen, den Beweis zu erbringen, dass Sie mit seinem Fall nichts zu tun haben.

6. Abschnitt: Wie es Aschberger in den Hades zieht.

Aschberger (indem er heimlich, aber vergebens, versucht, dem Tor des Hades zu entfliehen): Mir ist, als wär ich eine Maschine! Eine Maschine, die sich frei zu sein wähnt und die doch so gelenkt wird, dass sie nicht anders mehr wollen kann, als wie ich eben nicht will! – Doch nein, ich bin keine Maschine. Ich bin noch nicht einmal mehr eine Maschine. Ich bin nur noch Staub. Und eine Maschine befasst sich mit mir. Ein Staubsauger holt mich zu sich und sammelt mich auf, um mich da drunten in den Staubbeutel zu leeren. Das ist es! – So weit keine Freiheit herrscht, bin ich nicht Ich. Aber ich denke, und das heißt, ich denke mich frei, und also bin ich. Oder denkt es in mir, und also bin ich nicht? Oder kann ich nicht so denken, dass ich bin? Kann ich nicht denken, dass ich von meiner Freiheit Gebrauch machen kann? Oder kann ichs zwar denken, kann aber keinen Gebrauch davon machen? Wie? Kann ichs nun oder kann ichs nicht? Was ist das? Mein Kopf! Hier bitte, der sitzt doch immerhin noch fest ... Es ist ein Irrtum. Ich gehöre nicht hier herein ... Meine Herren.. (der Anwalt aus der Ferne schüttelt den Kopf) Meine Herren, ich gehöre hier nicht herein! Warum eilt mir niemand zu Hilfe?

Wächter (für sich, den Kopf schüttelnd): Es ist allerdings ein Irrtum!

Der Alte (sein Uhu landet eben vor dem Tor; zum Wächter): Hat der Herr endlich begriffen, dass sein Weg da hinein geht?

Wächter: Wir haben ihn nicht um Mithilfe gebeten!

Alter: Und dennoch ist meine Mithilfe wertvoll. Und Mithelfen macht Spaß! (er geht wieder)

2. Kapitel: In der Unterwelt

1. Abschnitt: Wie Aschberger vom Froschmann eingeholt wird und wie Froschmann aus seinem Leben erzählt

Aschberger: Da bin ich nun also! Verfrachtet ins Dunkle und Unbekannte, ungefragt und unfrei. Hier ist nicht gut sein, doch was kann ich tun? Wohin ich auch das Ohr halte, ich höre nichts als das Geräusch von Vögeln. Vielleicht sinds Fledermäuse, die die Leichenstille durchschneiden, vielleicht auch die Träume, die sich einen Ausgang suchen, je nachdem, ob sie wahr sind oder falsch. Und mein Kopf? Lässt er sich abheben vom Rumpf? Kann ichs oder kann ichs nicht? (man sieht, wie er seinen Kopf vom Hals entfernt) Was für ein Können, wenn man sich überprüft und feststellt, dass man etwas kann, was man nicht können will.

Froschmann: (dicht im Dunkel neben ihm) Hallo, ist da wer?

Aschberger: Wer ist da?

Froschmann: Ich bin da!

Aschberger: (für sich) Dass ausgerechnet jetzt mich jemand stören muss! (laut) Wer sind Sie?

Froschmann: Kennst du mich nicht?

Aschberger: Woher auch? Nenn mir deinen Namen!

Froschmann: Benjamin

Aschberger: Wie?

Froschmann: Ja, sehen Sie! Wenn mich niemand nach meinem Namen fragt, meine ich, ihn zu wissen. Aber sobald ich danach gefragt werde, verwirrt sich mir alles. Ich heiße doch Benjamin oder nicht?

Aschberger: Das musst du selber wissen.

Froschmann: Schau her! (er hebt sich den Kopf vom Rumpf.) Kann er das auch?

Aschberger: Ah, wie häßlich! Muss er auch noch seinen Kopf verlieren?

Froschmann: Wenn wir nichts mehr haben, finden wir wieder nach Haus.

Aschberger: Und das da! Was ist denn das da? Was für rote Striemen hat er da am Hals?

Froschmann: Bis vor 5 Minuten hing ich noch am Galgen.

Aschberger: So war er der Galgenschwengel? Gehört das auch dazu?

Froschmann: Was meint er?

Aschberger: Für die Eintrittskarte nach Haus?

Froschmann: Wär ich nicht in der Dunkelheit auf ihn gestoßen, so hätt ich ihn gewiß nicht belästigt. Wenn mein Bruder es aber nicht verschmäht, so will ich ihm mein kurzes Leben erzählen.

Aschberger: Wenn es ihm ein Bedürfnis ist, so erzähl er!

Froschmann: Sobald ihm zuviel wird, sag er mirs nur. Dann bin ich augenblicklich wieder still.

(sich neben Aschberger setzend) Für etwas muss man sich doch wohl entscheiden, sagte ich mir, als ich das Alter erreicht hatte, in dem man sich für Berufe zu interessieren beginnt. Und da ich meinte, mit der Wahl des Augenblicks sei bereits alles getan, entschloß ich mich, mich der Literatur als einem großen und bedeutenden Arbeitsfeld zu widmen. Vermutlich vermocht ich damals noch nicht einmal, zwei Sätze aufeinander folgen zu lassen; doch was will das für einen jungen Menschen schon heißen? Muss er nicht bloß wollen; und schon steht er da in einer Größe, die keiner mehr ihm zu rauben vermag? Ich musste ja nur die Augen schließen, da hörte ich schon das Raunen um mich herum und sah, wie mich selbst die Leute, die mir noch nie etwas zugetraut hatten, plötzlich voll Hochachtung anstaunten! Dass einmal aus mir kleinem Wicht ein solches Genie hervorgehen sollte, das hätten sie nie gedacht. Den Entschluß zum Schriftsteller fasste ich freilich nicht in einem besonderen Augenblick. Eine Berufung hat es nie gegeben. Es sei denn, dass du das als eine Berufungsgeschichte auffassen willst, als ich das elterliche Haus verließ. Das war an einem Ostermontag. Der Tag hatte so schön und sonnig begonnen, dass man sich entschlossen hatte, nach der Winterpause das Mittagessen erstmals wieder im Freien einzunehmen. Mutter stand noch in der Küche bei der Arbeit, als ich von einem Spaziergang zurückkehrte. Pünktlich zum Mittagsgeläut, das von der benachbarten Kirche herüberklang, schritt ich durchs Gartentor. Solange nämlich hatte man mir eine Ausgangszeit eingeräumt. Die Mutter kam eben aus der Haustüre, das Geschirr zur Veranda hinüber zu tragen und mit den Vorbereitungen zum Mittagsmahl zu beginnen. Natürlich unterließ ich es nicht, ihr meine Hilfe anzubieten. Doch sie hatte, wie sie sagte, nicht viel Arbeit für mich. Eigentlich sei schon alles getan. Wenn ich nur hier draussen wartete, bis die anderen da wären, der Vater und die Brüder, so müßte sie nicht auch noch nach mir rufen. So stand ich also da, bald die Sachen betrachtend, die die Mutter auf den Tisch gestellt hatte, bald mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, ohne sonst weiter zu etwas gut zu sein. Nun aber hatte die Mutter eine Fischspeise zubereitet, wie es Brauch war in hiesiger Gegend, die in einer größeren Terrine vor mir stand und mit einer hauchdünnen, feindurchsichtigen Geliermasse versiegelt zu sein schien. Vornehmlich diese Fische hatten es mir angetan. Ein besonderer Reiz war es für mich, nur flüchtig auf sie zu schauen, schienen sie sich dann doch wie in einem Aquarium aufzuhalten, bereit schon im nächsten Augenblick die Richtung zu wechseln und eine neue Bahn einzuschlagen. Die letzten Glockenschläge der 12-Uhr-Betglocken waren eben am Verklingen, als einer der obersten, mir benachbarten Fische sich zu bewegen begann. Natürlich wollte ich das nicht wahrhaben. Während ich aber genauer hinsah, kamen nun auch schon die Nachbarfische in immer erregtere Bewegung, einer nach dem andern. Wenn ihnen jetzt nicht der Ausstieg gelänge, würden sie ihn nimmermehr schaffen! So schienen sie sich in der Terrine zu bewegen: zuerst unsicher und ängstlich, dann aber immer hartnäckiger und zielsicherer, wobei sie ihre Mäuler nach oben richteten und gegen die Geliermasse stießen, ein Loch hindurch zu bohren. O, mein Herr! Was soll ich die Erzählung ins Unerträgliche dehnen? Genug, dass es den Fischen damals gelang, sich zu befreien! Doch was war das für eine Freiheit, als sie nun auf dem Boden der Veranda lagen und nach Wasser schnappten! Dass das Mittagessen damit ein vorzeitiges Ende gefunden hatte, versteht sich von selbst. Der Vater geriet ausser sich; und da er den Vorfall mir und meiner Unachtsamkeit, ja meiner Gleichgültigkeit anlasten zu sollen glaubte, so war die größte Familientragödie wie aus dem Nichts geboren. Seltsamer Weise ließ ich damals alles geschehen, ohne mich auch nur im mindesten zur Wehr zu setzen.

Aschberger: So waren die Glocken auch über ihm gegossen?

Froschmann: Am Abend jenes Tages hatte ich das elterliche Haus verlassen. Doch wusste ich nicht, wozu ich es verlassen hatte. Mochte ich auch auf mich aufpassen, so viel ich nur wollte, ich lief doch nur wie ein Verfluchter in die Welt hinaus. Weil ich nicht verstanden hatte, was sich um mich herum abgespielt hatte, versuchte ich es von nun an mit dem Aufnotieren der Tagesereignisse. Wenigstens nachträglich wollte ich einen Leitfaden haben, der mich durchs Labyrinth meines Lebens führte. Und so notierte ich nun die kleineren Vorfälle des täglichen Lebens, von denen ich Zeuge war oder bei denen ich selber eine Rolle mitgespielt hatte. Natürlich waren meine Aufzeichnungen alles andere als wohlgelungene Meisterwerke. Um mich als Autor voranzubringen wäre wohl manch ein Wort der Aufmunterung und der Anregung nötig gewesen. Doch hatte ich das Schreiben ja nur für mich begonnen, ohne größere Ambitionen. Wo immer ich aber einmal etwas vorlas, geschah es, weil ich dachte, dass es in seiner Allgemeinheit auch andere interessieren könnte. Zumeist aber erntete ich nur ein kaltes Schweigen, dem dann im besten Fall noch ein paar Entschuldigungsfloskeln folgten. Aus den auf mich gerichteten Blicken aber tauchte immer wieder die Frage auf, wie ich nur auf eine so verrückte Idee kommen konnte, einen Schreibstift zur Hand zu nehmen. Eigentümlicher Weise aber regte mich das eher zum Weitermachen an, als dass es mich gelähmt hätte. Ich konnte und wollte mir gar nicht vorstellen, dass man so kalt aneinander vorbeigehen könnte. So erinnere ich mich noch gut daran, wie mir einmal einer gesagt hatte, meine Sprache sei unverwechselbar mein eigen. Ich nun hatte dabei ein Kompliment herausgehört, das meiner Seele unendlich wohlgetan hatte. In Wahrheit aber hatte mir der Betreffende nur sagen wollen, dass ihm Literatur in dieser mangelhaften Qualität sonst nirgends bekannt sei. So dauerte es denn eine längere Zeit, bis ich die letzte Sicherheit hatte, wie alles zu deuten war. Genauer gesagt dauerte es so lange, bis mein jugendlicher Übermut und die Hoffnung aufgezehrt waren. Und als ich mich an meine nächsten Angehörigen, meine Brüder, wandte, denn meine Eltern waren bereits kurz nach meinem Auszug verstorben, wollten auch sie nichts von mir wissen. "Wenn wir denn unbedingt etwas hören müssen," sagte einmal einer von ihnen, "dann machs kurz! – Du musst nämlich wissen", fuhr er dann fort, "dass wir Manns genug sind, uns unsere eigene Literatur zu erstellen, sofern uns danach gelüstet. Wenn wir aber dir zu Gefallen uns etwas anhören sollen, so gib uns bitte nur eine ganz kleine Probe und dann lass uns wieder gehen!" Und dann fügte er noch leise hinzu "aus psychohygienischen Gründen!"

Aschberger: Was wollte er damit sagen?

Froschmann: Wenn ich das wüßte! Aber ich wills auch gar nicht wissen. So sagte er eben. Gewiß war kein Kompliment dahinter.

Aschberger: Was uns nicht weiterbringt, ist allerdings nicht viel wert.

Froschmann: Mag es auch Torheit gewesen sein, um deretwillen man verlacht werden darf, ein Verbrechen war es wohl nicht, wenn ich gehofft hatte, alsbald schon mich auf eine Weise auszudrücken, wie es vor mir noch keiner getan hatte. Damals begann ich noch einmal wie besessen weiterzuarbeiten. Zugleich aber wuchs etwas um mich wie eine eherne undurchdringliche Zelle und ich begann zu begreifen, dass es für mich keinen Himmel gäbe; und ich begann, trotz kleinerer Erfolge, mich selber nur immer abschlägiger zu beurteilen. Wenn ich mir einredete, mir würde etwas gefallen, so wußte ich spätestens am nächsten Tag, dass es nichts war als Blendwerk. Ja, kaum jemals verging auch nur ein halber Tag, dass nicht die Zweifel derart überhand nahmen, dass alle zuvor verspürte Freude verschwand. Selbst unter dem, was ich für das Vollkommenste hielt, quollen alsbald schon die Fehler hervor, gewiß, kleine, gemeine Ausläufer zuerst; doch die wuchsen und wurden immer häßlicher, dass ich mich ihrer nicht mehr zu erwehren wußte. Wie die frische Milch, wenn man sie längere Zeit sich selber überläßt, sauer wird, so wurde mir alles sauer und fehlerhaft. Zumal wenn ich früh am Morgen die Bauern auf ihre Felder und die Handwerker zu ihren Gewerken eilen sah, schämte ich mich, wenn ich sah, wie träge und faul ich zuhause saß, zu nichts nutz, als dem Tag entgegenzugehen, wo ich mir meinen Lebensunterhalt von der Allgemeinheit würde erbetteln müssen. Morgens in der Früh schon kam der Teufel daher und blieb bei mir bis zum Anbruch der Nacht. Und oftmals selbst noch die Nacht hindurch war er da. Dabei verlangte er keine Besoldung. Keinen Stundenlohn. Nichts. Um Gotteslohn arbeitete er, auf dass der ewigen Gerechtigkeit gedient wäre. Damals war es denn auch, dass der Versucher an mich trat, die unnütze Menschheit in mir abzustrafen. Und wenn ich einmal auch ganz hoch hinaus hatte kommen wollen, so verschwanden, nachdem ich dem elterlichen Haus den Rücken gekehrt hatte, alle die hochfahrenden Pläne, einer nach dem anderen. Und wenn ich auch das eine und andere Mal noch Bewunderung einheimste, indem ich mir zujubeln zu sollen vermeinte, so war das für mich doch schon am folgenden Tag ein Gegenstand tiefster Verachtung.

Der einzige Strohhalm, an dem ich mich alsbald noch festzuhalten vermochte, war meine Schwester. Dabei müssen Sie wissen, dass ich überhaupt nie eine Schwester hatte. Ich bildete mir nur ein, dass ich eine hätte. Ja, ich hatte sie gleichsam zu meinem Schutzengel auserkoren. Ich liebte sie zärtlich und muss sie wohl auch immer wieder aufgesucht haben. Sie wohnte in einer fast armseligen Blockhütte am Saum eines Walds. Und doch! Mich zu ihr auf den Weg zu machen war mir eine größere Wonne als wenn ich in ein Schloß mit fürstlicher Bedienung eingeladen worden wäre. Und wenn ich gesagt habe, dass ich damals das Schreiben eingestellt hatte, so stimmt das nicht ganz. Nachts in meinen Träumen hatte ich immer noch weitergeschrieben. Und wenn ich dann meine Schwester besuchte, konnte ich ihr keine größere Freude bereiten, als wenn ich ihr ein Liedlein mitbrachte. Aber das war längst nicht alles.

Die gesamte Zeit des Tages hatte sie sich streng eingeteilt, um sie für mich und meine Arbeit zu verwenden. Vornehmlich alle Texte, die ich neu erstellt hatte, nahm sie sich so fürsorglich an, als wären es neugeborene Kinder. Sie machte sich Notizen und schrieb Erläuterungen an den Rand, versteht sich, stets so, dass selbst der hochempfindsamste Dichter nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte. Am größten aber war ihre Freude, wenn wir zusammen kamen, um eines der im Entstehen befindlichen Werke zu besprechen. Den leitenden Gedanken möglichst nach allen Seiten hin offen zu legen und zu beleuchten, die dazu geeigneten Charaktere und Handlungen zu bedenken und dann im passenden Stil zu Werke zu gehen: all das würde mir gewiß ohne sie nie so viel Gefallen bereitet haben. Wie weit wär ich überhaupt in meinen Forschungen ohne sie gekommen? Sie fragte mich nie: Willst du mir etwas vorlesen?, und schon gar nicht in dem Ton, dass sie dann zum Opfer des Zuhörens bereit wäre. Sie fragte aber auch nicht: "Hast du etwas zum Vorlesen?", als hätte sie Lust und Bedürfnis auf ein Schiedsrichteramt. Selbst "es würde mich freuen, wenn du mir etwas vorlesen würdest!" hätte sie als allzu drängend empfunden und vermied es darum zu sagen. Allenfalls, dass sie sagte, dass sie gespannt sei auf den Fortgang der oder jener Arbeit oder dass sie mich um meine Fortschritte befragte, wobei sie an das eine und andere Ergebnis aus unseren früheren Unterhaltungen anknüpfte. Ja, wie dachte das liebe Kind mit mir! Wie schaffte es mit mir! Und wie litt es mit mir, wenn mir etwas nicht recht gelingen wollte!

Wenn ich einmal gänzlich ratlos war, führte sie mich durch ihren kleinen Garten. Hier hatte sie ein paar Rosen gepflanzt. Eine sehr empfindsame Edelrose aber, um die sie sich lange bemüht und die sie ihr Lieblingskind genannt hatte, war ihr daselbst eingegangen. Vermutlich hatte sie am Waldrand zu wenig Sonne erhalten. Überall im Garten waren an ihrer Stelle Hundsrosen aufgegangen. Meine Schwester war davon sehr betroffen. Das Besondere braucht eine besondere Pflege, und für das ganz Besondere muss man sich wohl ganz besonders hingeben, sagte sie dann leise zu mir. Mich aber beschlich dann oftmals die Frage, ob es nicht besser wäre, wenn man diese so empfindsamen Pflanzen überhaupt nicht anpflanzte und sich mit den gewöhnlichen robusten Arten begnügte.

All das genügte aber nicht, den Wildwuchs zu besiegen, der längst in mir wucherte. Während mir meine Schwester immer wieder zärtlich zu Gehör zu bringen suchte, dass ich zu etwas Großem bestimmt sei, wollte es mir immer weniger gelingen, die Anfechtungen zu unterbinden. Mag sein, dass ich unter dem Schutz meiner Schwester einige Fortschritte machte. Doch was war das schon gegenüber dem Schönen, das ich zu erreichen suchte? Immer schneller wuchs und blühte es in mir auf, so dass ich mit meinen kleinen Fortschritten das Nachsehen hatte. Und an die Stelle der Fiktion, nichts wert zu sein, trat immer unerschütterlicher das Bewußtsein einer unüberwindbaren Wertlosigkeit. Wenn ich jetzt an meine Wertlosigkeit dachte, dachte ich nimmer: du darfst nie daran denken, nichts wert zu sein. Ich dachte jetzt nur noch daran, dass ich nicht daran denken durfte, nichts wert zu sein, dass es mir aber nichts mehr nützte, da der Tatbestand dadurch ja nicht zu beheben war.

Schrecklich war mir die ganze Zeit über auch der Gedanke, ich müßte einmal erfahren, dass sich das liebe Kind bei der Pflege meiner Literatur zugrunde gerichtet hätte! Wiewohl ich damals vermutlich die schönsten und größten Fortschritte machte, die mir jemals zu machen beschieden waren, war ich fast gar unglücklich darüber. Ich schämte mich und grämte mich und stellte mir vor, wie sich das Leben für sie entwickelt hätte, wenn sie jemanden kennen gelernt und geheiratet hätte und wenn sie nun eine Familie besäße und zwei oder drei liebe, lebendig lachende Kinder an ihren Armen hingen. Eines Tages endlich, statt wie versprochen, sie aufzusuchen, schrieb ich ihr einen Brief. In jenem Brief hatte ich ihr mitgeteilt, sie möge sich fortan nicht mehr um mich bekümmern. Und das war wahr. Des weiteren hatte ich ihr mitgeteilt, dass ich mich in ein anderes Mädchen verliebt hätte und sie jetzt nicht mehr brauchte. Und das war nicht wahr. Das hatte ich ihr nur geschrieben, weil ich eingesehen hatte, dass es so nicht bleiben konnte. Ich wollte ja nicht, dass sie ihr blühendes Leben für mich opferte. Für mich Wertlosen, der es ja doch zu nichts brächte. Das Briefende hatte ich dann wieder der Wahrheit gemäß, wiewohl etwas mißverständlich gestaltet. Wenn ich das alles bedenke – hatte ich ihr geschrieben -, rätsele ich darüber nach, ob es nicht besser gewesen wäre, meine Eltern hätten mir anstelle der einen Schwester meine Brüder hinterlassen, auch wenn ich an ihnen nicht mehr gehabt habe, als dass ich sie hatte.

Aschberger: Und dann?

Froschmann: Dann war ich in der Welt herumgeirrt, ohne dass ich es wusste, auf der Suche nach den Eltern und der Heimat. Ja, gewiss, was auch immer geschehen mag: Eltern sind einem doch das Süßeste. Und mag man es auch nicht begreifen, solange sie zusammen mit einem leben. Mir aber war plötzlich, während ich so in der Welt herumirrte, als hätte ich sie für immer verloren, wenn ich sie nicht augenblicklich suchen ginge. Wie lang ich suchte, weiß ich nicht mehr. Eines Tages aber geschah es, dass es mich wieder nach Hause verschlug. Den Ort hatte ich plötzlich wiedergefunden, von wo aus ich mich einst auf den Weg gemacht hatte hinaus in die Welt. Wo aber der Eltern Haus gestanden hatte, stand kein Haus mehr. Nur der Schutt davon war zu sehen. Das Haus hatte man abgebrochen und den Schutt beiseite geschoben. Aber auch die Kirche in unmittelbarer Nähe war nicht mehr die alte. Zwar stand sie noch mitsamt dem Turm, als ich mich dann aber darinnen umsah, erkannte ich sie nicht wieder. Kein Weihwasserkessel an den Portalen, kein Altarbild im Chorraum und auch sonst von den religiösen Gegenständen war nichts mehr vorhanden. Die Wände, die einst mit ihren Fresken in der morgendlichen Sonne aufgeleuchtet hatten, waren mit einer gelbbraunen Ölfarbe überstrichen, dass man sich an öffentliche Anstalten erinnern mochte. Und während ich noch so dastand und über die Wechselfälle der Zeit nachsann, kam ein Mann auf mich zu, der Tabletten austeilte. Als ich ihn fragte, wofür das gut sei, gab er mir zur Antwort, die Auslöschung der Menschheit stehe kurz bevor. Von einer solchen Auslöschung hatte ich noch nie etwas gehört. Er sagte, bis zum Jahr 2044 müsse der letzte Mensch die Erde verlassen haben. Dieser Verpflichtung zur Selbstauslöschung gelte es, jetzt gleich in einem ersten Schritt gerecht zu werden. Mit diesen Tabletten nämlich werde jede weitere Nachkommenschaft unterbunden. Ich hatte Angst und überlegte, wie die Auslöschung des weiteren geschehen solle, wagte aber nicht, danach zu fragen. Zwar hatte auch ich schon öfters Berechnungen angestellt, wie lange sich wohl die Menschheit noch auf diesem Planeten halten könne und hatte ihr, gemessen an der Lebensdauer der genetischen Materie, nie allzu viele Jahre mehr eingeräumt. Dass es nun aber schon in den nächsten 35 Jahren mit ihr zu Ende gehen sollte und dies, aus eigenem freiem Entschluß, traf mich zutiefst.

Aschberger: Und dann?

Froschmann: Sodann erklärte er, dass bis dahin auch noch 200 Milliarden Euro zusammengebracht werden müßten zur Tilgung der Schulden der Welt.

Aschberger: Und dann?

Froschmann: Natürlich war ich fest entschlossen, die Tablette nicht zu schlucken. Doch am Abend des nächsten Tages hatte ich mich erhängt.

Aschberger: Hatte er nie an eine solche Lösung gedacht?

Froschmann: Ich hielt das nie für eine Lösung, und schon gar nicht für eine Erlösung. Es war etwas Zwanghaftes, was sich zwar wohl schon seit langem in mir vorbereitet hatte, was jetzt aber, als niemand kam, mir das Haupt zu trennen vom Leib der Qual, ganz plötzlich über mich kam.

2. Abschnitt: Schneeweißchen holt den Froschmann ab. Teichoskopische Kirchenführung.

(Froschmann und Aschberger gelangen jetzt in eine Innenstadt mit einem Brunnen. Es regnet ein wenig in den Abend. Die Strasse glänzt dunkel und die Bremslichter der Autos erzeugen darauf rote Flecken. Kaum mehr Fußgänger sind unterwegs. Alle sind nach Geschäftsschluß nach Haus gegangen. Während sie sich unter den Arkaden auf der Nordostseite befinden, hört man von der gegenüberliegenden Strassenseite aus Rufen.)

Schneeweißchen: (ruft) Benjamin!

Aschberger: Da ruft dir wer. Eine Dame.

Froschmann: Wo?

Aschberger: Dort drüben, auf der gegenhüberliegenden Strassenseite.

Froschmann: Ich kenne die Dame nicht.

Schneeweißchen: (ruft) Benjamin!

Aschberger: Du kennst sie nicht? Aber sie ruft doch deinen Namen.

Froschmann: Es wird noch einen anderen Benjamin geben.

Aschberger: (mehr für sich) Wie kurios. Hieß ich Benjamin, keinen Augenblick würde ich zaudern, dass sie mich meint.

Froschmann: Oder sie hat sich im Namen getäuscht und meint dich.

Aschberger: (schubst ihn etwas von sich) Nun, auf wen von uns beiden schaut sie?

Schneeweißchen: (ruft) Benjamin! Kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin doch Schneeweißchen!

Froschmann: Mein Fräulein!

Schneeweißchen: Komm herüber zu mir! Wir wollen alles tun, dein krankes Gemüt wieder zu erwecken.

Aschberger: Nun geh schon!

Froschmann: Ich weiß nicht.

Aschberger: Du hast doch keine Angst, über die Strasse zu gehen?

Froschmann: So geh ich denn?

Aschberger: Es ist wirklich nur die Fahrbahn, die das Auge narrt, wenn sie im Dunkel so schimmert.

Froschmann: (geht zögerlich)

Aschberger: Jetzt geht er. Doch wie unschlüssig, wie ungläubig. Als müsste er über den See Genesareth schreiten. (für sich) Wenn sie meinen Namen gerufen hätte, ich hätte sie sofort als meine Braut, als mein Schneeweißchen wiedererkannt.

Schneeweißchen: Komm nur! Ich möchte dir etwas sehr Schönes zeigen.

Froschmann: Gnädiges Fräulein! (zu Aschberger) Sie nehmen es mir doch nicht übel?!

Aschberger: Gehen Sie nur!

Lied:

Komm o komm, auf meine Wege

liebe Seele halte still,

Länger nicht musst Leid du hegen,

Länger nicht musst Leid du hegen,

wo das Glück dir nahen will.

Aschberger: Nun ist er drüben angekommen und wird von ihr empfangen. Sie zeigt ihm etwas, zeigt auf etwas. Im Dunkel, hinter einer Reihe hochgewachsener Pappeln kommt ein Gebäude zum Vorschein. Was für ein Haus, das wie aus sich selber durch die Nacht leuchtet! Immer wenn der Wind gegen die Pappeln fährt, wird ein Stück frei. Und während sie ihn nun auf dieses wundervolle Gebäude zuführt, werden Stimmen von Mädchen vernehmbar. Oder sind es nicht diese Stimmen selber, die ihn nun mit sich ziehen und dem Gebäude entgegenführen?

Lied:

Komm o komm, auf meine Wege

liebe Seele halte still,

Länger nicht musst Leid du hegen,

Länger nicht musst Leid du hegen,

wo das Glück dir nahen will.

Aschberger: Mein Bruder hat sich umgesehen, aber noch keines der Mädchen erblickt. Erst jetzt wird er ihrer gewahr, wie sie von dem Haus, von den Stufen zum Portal her kommend auf ihn zueilen. Trunken vor lauter Staunen hält es ihn kaum mehr auf den Füßen. Geneigt, fast wie in einem Bette liegend, die Füße voraus, gestützt oder getragen von seinen Begleiterinnen nähert er sich dem Eingang. Die Vorderseite des Hauses mit dem Portal fest im Blick ist ihm, als schwebe er nun die Stufen empor. Kaum dass er Zeit hat, das Portal mit seinen geviertelten Flächen sich näher anzusehen, wo die Heilsgeschichte der Menschheit aus Bronze herausgearbeitet erscheint, da öffnet sich auch schon dasselbe und aus dem Innern bricht ein Übermaß des herrlichsten Lichts. O wie es ihn trifft, wie benommen er ist von dem taghellen Glanz, der ihm aus dem weit geöffneten Eingang entgegenströmt. Und er senkt die Augen, als wollte er sagen: dieses Haus habe ich nicht erbaut! Ja er weiß, er wäre zu einem so wundervollen Bau niemals fähig gewesen. Würden die Mädchen ihn nicht von beiden Seiten aus unterstützen, er würde jetzt rücklings niedersinken. Doch sie geben ihm Halt und es ist, als trügen sie ihn die Treppenstufen hinauf, wo ihn das Innere der Halle erwartet. Indes, es ist zu viel, was alles sich jetzt an ihn herandrängt. Wundervoll ist der Marmorboden mit den sorgfältig angeordneten Mosaiken, wundervoll auch die Wände mit ihrem architektonischen Aufbau und der Eingliederung ins Bauensemble, wundervoll die Stützpfeiler und die Pilastern mit all ihrem Zierrat bei der Wandgestaltung. Doch für alles das hat er jetzt noch keinen Blick. Einzig die Decke, die mit ihren Kassetten wie ein Sternengewölbe die Halle überdeckt, ist es, die ihn magisch anzieht und wo sich seine Blicke verlieren. Auf den Kassetten aber findet er Szenen der Weltgeschichte dargestellt. Doch tut er sich schwer, das alles zu erfassen! Eilends blickt er bald auf eine einzelne Kassette, bald versucht er, den Sinn der Bilder insgesamt zu begreifen. Doch ihm ist, als habe er nur wenig Zeit. Müde senkt er den Kopf; und während sich der Kopf senkt, löst sich eine der Kassetten aus dem Deckengewölbe und fällt zu Boden. Und doch, welch ein Wunder! Kaum dass sie den Boden erreicht hat, liegt sie vor ihm, nicht anders als wär nur ein Herbstblatt herniedergetaumelt, unbeschädigt und unversehrt zu Füßen. Da aber erkennt unser Freund die Gunst der Stunde. Kaum dass er ein paar Zeichen gegeben hat, eilen auch schon Leute von überall herbei. Ausgerüstet mit dem nötigen Werkzeug umringen sie ihn und scheinen nur auf einen Wink zu warten, sich an die Arbeit zu machen. Und während sich sein Blick von ihnen abwendet und aufrichtet und aufwärts steigt, wo die Decke schadhaft geworden, steigen sie auch schon auf ihren Leitern empor und fügen die niedergefallene Kassette an der leer gewordenen Stelle wieder ein. Und abermals, wie in schweren Gedanken versinkend, neigt sich ihm der Kopf. Und wieder löst sich eine der Kassetten. Noch aber ist sie nicht am Boden, da sind auch schon wieder Leute zur Stelle, die sie aufheben und in die Höhe steigen! Und nun wiederholt sich das Schauspiel immer wieder. Und während seine Blicke aufwärts steigen und abwärts gleiten, werden Stücke des Deckengewölbes nach oben geschafft und fallen nach unten, und ob sie die herniederfallen oder in die Höhe geschafft werden: alles bildet ein großes, beinahe unendliches Gleichgewicht!

(er eilt weiter)

3. Abschnitt: Aschberger gelangt in eine dunkle Gasse, wo Köpfer bereits erwartet wird

(Zuerst ist nur der Ingenieur zu sehen.)

Ingenieur: (er steht neben dem Weg in einem Vorgarten bei einem künstlichen Kopf, wo er eine Laterne anzündet) Du bist der Letzte, den ich noch installiere. Und dann ist Schluß. Früher einmal, da hatte ich auch noch hoch hinaus wollen. Nichts Geringeres als ein Pygmaleon wollte ich werden. Kräftige, lebendige Figuren wollte ich erschaffen, titanisch prometheisches Leben ihnen einhauchen. Vielleicht wär mir´s auch gelungen. Doch was hätt´ ich auch davon gehabt, wenn mir die Kinder meiner Kunst ihr Elend und ihr Wehe in dieser Öde nachgeschrien hätten? (er stellt eine Musikbox im Kopf an.)

Lied:

Ich kann manierlich lächelnd

aussinnen Sätze schön,

wenn Mädchen zierlich fächelnd

im Tanz sich vor mir drehn.

Aschberger (von der Musik herbeigelockt, während die letzte Strophe noch abläuft): Mein Herr, was für eine Musik hier im Dunkeln.

Ingenieur: Da stimmt etwas noch nicht! Die Synchronisation ist noch nicht korrekt.

Aschberger: Wenn ich an Musik denke, denke ich an hellerleuchete Konzertsäle mit festlich gekleideten Musikern und hellklingenden Instrumenten. Übrigens, mein Name ist Aschberger. Doch sagen Sie mir: ist das hier der Kopf des Liederdichters Köpfer? – Sie sind ein guter Freund von ihm?!

Ingenieur: Ich bin Ingenieur.

Aschberger: Man ist versucht, den Kopf für echt zu halten. Mich würde nicht wundern, wenn man sich mit ihm unterhalten könnte! (den Kopf anredend) Mein Herr! – Er hat jetzt wohl keine Lust, sich zu unterhalten?

Ingenieur: (mit der Laterne schwenkend) Entschuldigen Sie! Ich muss nachsehen, ob ich nicht noch ein passendes Teil finde. (er geht etwas abseits und läßt die Lampe neben dem Kopf hängen)

Aschberger: (den Kopf abermals anredend) Mein Herr? – Der gibt auch keine Antwort! Dabei schaut er mich an, als würde er mich verstehen! Probier ichs noch einmal! – Mein Herr!? – Nein, der gibt keine Antwort. Oder verweigert er mir nur die Antwort? – Alter Golem, harmloser Lehmkoloss! Pass auf, dass ich dir nicht zu nahe komme und du in deine armseligen Bestandteile zerfällst! (zum Ingenieur, der zurückkommt und repariert) Mein Herr, könnten Sie mir verraten, ob diese Gestalt zu reden vermag? Oder ist sie nur ein Luxus in der Fata morgana des Todes?

Ingenieur: Schauen Sie doch hin! Auch wenn die Lampe nicht mehr Licht von sich gibt als ein ewiges Licht, so sehen Sie hinter den schmalen Vorgärtchen die Hütten dicht nebeneinander.

Aschberger: Und?

Ingenieur: Wie es andernorts Köpfe als Brückenköpfe gibt, so gibt es hier Köpfe als Häuserköpfe. Aber diese Köpfe sind nur noch ein Zopf aus langvergangenen Zeiten.

Aschberger: Dann wäre das Haus da hinten für Köpfer bestimmt?

Ingenieur: Bald freilich ist es auch damit aus. Dann wird es eng werden hier. Auch jetzt kommt es schon vor, dass einer zu seinem Haus zurückkommt und ein anderer hat von ihm Besitz genommen. Doch dann wird es mehr Anwärter geben als Häuser.

Aschberger: Und das Gespräch der Großen und der Geistestitanen?

Ingenieur: Was für ein Gespräch?

Aschberger: So findet ein solches nicht mehr statt? Ist es also das, was im besten Fall übrig bleibt von einem, wenn er es geschafft hat, sich einen Namen zu setzen?

Ingenieur: Die meisten liegen nur noch in ihren aschgrauen Pechhütten, ohne noch etwas zu wissen von sich und von den hohen früheren Idealen. Die singenden Köpfe, das ist alles, was von ihnen übrig ist. Aber dafür interessiert sich niemand mehr. – Doch still. Da kommt wer!

Aschberger: Der Köpfer?

Ingenieur: Doch nein. Es scheint der alte Iltis zu sein, dem es in letzter Zeit gefällt, mir zu mißfallen. – Willst du gleich, du elende Bestie!

Aschberger: Gibt es hier viele von diesen nachtaktiven Tieren?

Ingenieur: Sehr viele.

Aschberger: Nirgends ein bißchen Grün. Und von taufrischem Lotosgrün keine Spur!

Ingenieur: Wie sollte es auch, ohne Photosynthese! Das einzige, was uns hier noch an Schönem erblüht, sind diese bleichen Christröschen. – O mein Herr, es gibt kaum einen größeren Irrtum und kaum ein falscheres Bild, als sich auszuhecken, hier wäre ein Platz, sich mit Rosen zu bedecken. Hier gibt es nichts als Behausungen des Staubs und des Nichts. Eigentlich ist das auch nicht anders zu erwarten. Doch nun bin ich fertig. Mag der Köpfer kommen! – Es heißt, er habe die Sprache so systematisch ausgebaut, dass sie, könnte sie reden, gestehen müßte, er habe sie zum Verstummen gebracht.

Aschberger: Dann wird er sich wundern, wenn er hier ankommt!

Ingenieur: Machen wir noch eine allerletzte Probe!

Lied:

Ich kann manierlich lächelnd

aussinnen Sätze schön,

wenn Mädchen zierlich fächelnd

im Tanz sich vor mir drehn.

 

Ich kann manierlich lächelnd

ausdichten kleine Lieder,

wenn Mädchen zierlich fächelnd

sich bei mir lassen nieder.

 

Ich kann manierlich lächelnd

singen mit meinem Lieb,

wenn Mädchen zierlich fächelnd

lang schon der Wind vertrieb.

Aschberger: Soll das vom Köpfer sein?

Ingenieur: Vielleicht hat´s auch ein anderer geschrieben. Aber darauf kommt es nicht mehr an. Nur dass die Technik stimmt, ist für mich entscheidend. Aber selbst dies ist nur noch von nebensächlichem Wert. Für gewöhnlich wird nichts mehr abgespielt. Es genügt den Herren Weltliteraten zu wissen, dass ihr großes Werk hier abgespeichert ruht. Ja, manche sind insgeheim wohl froh, dass sie sich die vielen Fehler, die sie begangen haben, nicht immer wieder anhören müssen.

Aschberger: Das ermüdet, wenn man sich im Stillen immer wieder sagen muss, wie fehlerhaft man gearbeitet hat, während man sich von aller Welt bewundern läßt!

Ingenieur: (er drückt wieder auf den Knopf. Die Statue beginnt wieder zu singen): Nun dann! Adieu!

(man hört abermals das letzte Liedchen)

4. Abschnitt: Aschberger gelangt vor die drei Tore, golden, silbern, bleiern

Aschberger: Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann? So sangen wir als Kinder. Und dann versteckten wir uns, so schnell wir nur konnten. Jetzt aber möchte ich meinen Füßen am liebsten den Befehl erteilen, so schnell zu laufen, wie sie nur können und nicht eher mit dem Laufen aufzuhören, als bis sie diese Gegend hinter sich gebracht haben. (davoneilend) Lauft, lauft, ihr meine lieben Füße. Seid gewiß, dass euch mein schönstes Lob erreicht, wenn es euch gelingt, mich schnell in eine schönere Gegend zu tragen.

(Licht, das von einem Brunnen kommt, aus dessen Wasser neben einer Fontäne immer wieder lichtglänzende Goldfische auftauchen)

Aschberger: Hier ist es jedenfalls etwas heller. Ein freier Platz mit einem Brunnen. Und lichtglänzende Goldfische, die aus ihm auftauchen und wieder drin versinken! Aber da liegen drei tote Fische am Brunnenrand. (Er geht auf den Brunnen zu) Doch was ist das? Kein Strahl schiesst mehr in die Höhe. Und auch kein Fisch taucht mehr auf? Nur die toten Fische liegen noch immer da! Und das Wasser! Aber es ist nun im Becken zur Ruhe gekommen. Und Bilder seh ich auf dem Grund, auf Kartons aufgezeichnet! Meines Lebens Bilder, die da im Wasser untergegangen sind. (er holt die Bilder heraus aus dem Brunnen und betrachtet sie)

Seine Schwiegermutter: (sie kommt plötzlich herbei und schaut, was er da macht)

Aschberger: (mit Bildern in der Hand, neben denen sich, ohne dass er es beachtet, auch eine Brille befindet, halblaut, fast für sich) Mutti!? So darf ich Sie doch noch immer begrüßen?

Seine Schwiegermutter: Was machst du da?

Aschberger: Darf ich das etwa nicht?

Seine Schwiegermutter: (davoneilend) Wenigstens meine Brille könntest du mir lassen.

Aschberger: (für sich) Und nun ist sie schon wieder weg. (er geht auf die Türen zu und untersucht sie) Doch was ist das? Alles aus Lehm? Nichts als Attrappen? Übertüncht mit verschiedenen Farben. Ist das alles? Und der Mensch bekäme so noch einen letzten Wunsch erfüllt? Dass der auf Unsterblichkeit Versessene die goldene Pforte durchschreitet? Der aber stets nur klein von sich gedacht hat, durchs bleierne Tor geht, als ob dahinter die Bleikammern Venedigs auf ihn warten? Mit was für einer billigen List sich doch alles zu Ende denken läßt!

(Ein Wächter kommt aus dem Gerichtssaal; hinter ihm der Liederdichter Köpfer vom Assberg.)

Wächter: Was tut er da?

Aschberger: Ich?

Wächter: Jawohl er!

Aschberger: Es ist nicht viel, was man hier tun kann.

Wächter: Mein Herr, das ist strengstens verboten. Er hat hier keine Proben anzustellen!

Aschberger: Was? Auch hier noch, in dieser Höhle, wäre etwas verboten? (für sich) Im Himmel mag es verboten sein, heilige Namen leichtfertig auszusprechen und Gotteslieder gedankenlos zu singen. Aber hier!?

Wächter: (zum Köpfer) Und nun kommen Sie, mein Herr! Hier geht Ihr Weg weiter. Es steht Ihnen frei, durch welche Türe Sie gehen wollen! (geht zurück in den Saal)

Köpfer: (steht da und beschaut sich die Tore)

Aschberger (für sich): Für welches Tor wird sich nun wohl unser verehrter Liederdichter Köpfer entscheiden? Wartete auf ihn noch eine Zeit der Prüfung und winkte ihm im Hintergrund ein himmlisches Glück, mag sein, dass er sich dann für das Blei der Erprobung zu entscheiden hätte. Hier indes wird ja längst nichts mehr erprobt. Wo alle Wege für ihn dort hinten in der dunkeltrüben Sackgasse enden, kann von einer Freiheit der Wahl unmöglich mehr die Rede sein. Und doch, dafür steh ich, wird ein Köpfer hier keineswegs gleichgültig durchs erstbeste Tor stolpern. Selbst wenn nichts dahinter steht, so steht er doch davor wie eine Welt. Oder wofür sonst sollte er sich entscheiden, wenn er in einem goldenen Sarg angereist kommt, als für das golden angestrichene Tor? Sich für das silberne zu entscheiden, hieße ja wohl nur, dass man aller Welt zu verstehen gäbe, dass man den Schein durchschaut hätte. Und was hätte er davon? Was anderes, als dass er sich am Ende seines Lebens als Possenreißer offenbarte? Wie viel ein Köpfer auch spielt, bis zum letzten Augenblick seines Verschwindens, wird er Wert darauf legen, so zu spielen, dass aller zu Tage geförderter Schein als Sein gilt. Aus alledem aber folgt für einen Köpfer niemals, dass er sich der Bitterkeit zu überlassen und für das bleierne Tor zu entscheiden hätte. Nein, das wäre nichts für einen Köpfer. Ein Köpfer gibt nicht auf, er glaubt an ein ewiges Leben, selbst auch dann noch, wenn schon alle Welt diesen Glauben aufgegeben hätte. Ein Köpfer steht zu sich und hält sich die Treue. Und weil er dem Schein die größte Hochachtung bezeugt, wird er das Spiel mitspielen und sich auch nicht für das silbern angestrichene, sondern für das goldene Tor entscheiden.

Köpfer (bereit durchs goldene Tor zu gehen): Nun denn!

Aschberger (er memoriert, etwas lauter dabei werdend): Nun denn Unendlichkeit, nun bist du mein???

Köpfer: Was murmelt er da?

Aschberger: Sind Sie nicht der große Liederdichter Köpfer vom Assberg?

Köpfer: Was wollen Sie damit sagen?

Aschberger: Nichts.

Köpfer: Wer meine Größe erkannt hat, weiß, dass ich ein Monument errichtet habe, das den großen Pyramiden in nichts nachsteht und das sich als dauerhafter als Erz erweisen wird.

Aschberger: Sie haben Ihren Fall überstanden?

Köpfer: Niemals stand ein Fall zur Diskussion.

Aschberger: Aber Sie kommen doch aus dem Gerichtssaal!

Köpfer: Ich wusste, dass alles für mich glänzend ausgehen würde. Oder habe ich jemals etwas anderes vollbracht als glänzende Taten? Selbst wenn mir eine meiner Arbeiten nicht gefallen sollte, so verlange ich gleichwohl von meinen Kritikern, dass sie sie wundervoll finden.

Aschberger: (für sich) Auch ich hatte mir vorgenommen, das Beste auszuarbeiten, was mir überhaupt möglich wäre. Aber selbst, wenn es mir gelungen wäre, hätte ich nie geduldet, dass es einer als ein unsterbliches Werk oder gar als der Menschheit bestes Werk gepriesen hätte. Zu viel Misstrauen hegte ich gegen mich selbst.

(laut) Mein Herr! Eine allerletzte Frage noch, wenn Sie gestatten! Sehen Sie, ich kann mir den Kopf vom Rumpf heben. Das ist mir zwar außerordentlich peinlich, doch sagte man mir, das muss jedermann können, der in dieses Reich da herab kommt.

Köpfer: Mein Herr! Was hab ich mit Menschen zu tun, die es nicht gelernt haben, bedingungslos hinter sich zu stehen? Was mit Menschen, die nicht verstehen, ihre Talente ins rechte Licht zu rücken? Wer nicht gelernt hat, stolz das Haupt zu erheben, und nicht versteht, sich seiner Verdienste zu rühmen, wird nirgends gebraucht. Heb er sich den Kopf vom Rumpf, so viel er will! Doch lass er mich in Frieden! (er geht durchs goldene Tor)

5. Abschnitt: Aschberger bekommt das Zeichen, dass er als Nächster drankommt.

Wächter (eine Lampe überreichend): Mein Herr! Der nächste, der drankommt, ist er. Halt er sich bereit! Und dass ihm nur ja nicht die Lampe ausgeht! (er geht zurück in den Gerichtssaal)

Aschberger: (für sich) Wozu soll ich mich bereit halten? Ich kann nicht umhin, grimmig aufzulachen, wenn ich bedenke, dass selbst die herrlichsten Dichter vom Schlag eines Thomas Köpfer in der dunklen Gasse enden. Doch nein. Da vergeht einem das Lachen. Oder sage mir doch einer, wenn er es weiß, wofür ein Köpfer vom Assberg gut ist, wenn man nach kurzer Zeit auch von ihm nur noch weiß, dass er war! Er, der so genau wie sonst niemand wußte, dass einer verloren ist, wenn er an seinem Triumphzug zweifelt.

Letztendlich aber ist nur eines ewig: das Nicht-Sein! Und doch entstehen diese Köpfer und müssen wohl entstehen, solange es den Menschen gibt, weil wir nicht ohne die Idee von etwas Großartigem, von einem Thron, bestehen können. Wenn die Idee von etwas Großartigem, einem Thron, ausstirbt, stirbt auch das Großartige und stirbt auch das Verbrechen aus. Keiner mehr wird dann zu sich sprechen: Such dir etwas Großartiges aus und wolle es! Vermutlich würde dann der Jüngling überhaupt nicht mehr das Mannesalter erreichen. Ja wahrscheinlich würde man dann bereits den Kindern ein jedes Lob als allgemeingefährlich und welt- und menschheitsgefährdend vorenthalten. Auf diesem Weg könnte man wohl die gesamte Menschheit von Grund auf auslöschen. Oder weiß ich nicht, der ich viele Kinder unterrichtet habe, wie notwendig das Kind Belobigungen braucht? Weiß ich nicht aber zugleich auch, dass jedes Lob und jede Auszeichnung und jeder Preis aus uns einen Übermütigen und Gewalttätigen macht, einen Missachter der Gleichheit und der Mitmenschlichkeit, einen Köpfer vom Assberg? Hier freilich, wo man um keinen Thron mehr sich bemühen und um keinen mehr einen Frevel begehen kann, hier, wo nichts mehr zu erobern ist, muss jedes Leben erlöschen. (Er schläft ein.)

3. Kapitel: Niklas, der Schwiegersohn, nachts auf der Deponie.

(Eine Überwachungslampe strahlt das Gelände aus, es gibt aber kein Personal.)

1. Abschnitt: Wie Niklas, der Schwiegersohn, durchs Tor tritt und den Berg der Literatur besteigt.

Ein Wächterturm unbesetzt gibt etwas Licht.

Niklas (indem er in die Deponie eintritt und dann den Berg des Nachlasses des Aschberger besteigt, um oben Platz zu nehmen. Dann holt er ein langes Messer hervor und ein Honigglas, tunkt das Messer ein und lutscht genüßlich Honig): Niemand ist da. Kein Sachverständiger für neueres Theater und kein Literaturkritiker für die deutsche Sprache, ganz zu schweigen von den Herren der Akademie! Dacht ich´s doch. Wer auch interessiert sich schon für einen solchen Haufen von tollbeschriebenem Zeug? Ich wär ja an ihrer Stelle auch nicht gekommen. Eine wohlwollende, charmante Geste war es, nichts weiter! Leider konnt ich das nicht mit tödlicher Sicherheit wissen. Sonst wär ich in meinem wohlig-lebendigen Bett geblieben! Das heißt, ich konnte es schon wissen, wollte aber, meiner Frau zu Gefallen, für alle Fälle doch eben da sein. O, ich könnte mich dafür eigenhändig verprügeln. Aber so ist das, wenn man der einzige Schwiegersohn ist, und wenn man es als solcher richten soll. Immerhin ist es alles andere als vorbildlich, zumal wenn man weiß, dass unsere Welt gute Vorbilder braucht, wenn man einen derartigen Wust von Blättern zurücklässt, um sich davonzustehlen ins Haus des faulenzenden Hades. Nun soll ich also dazu da sein, die Grobarbeit zu besorgen! Da lob ich mir doch hundert Mal mehr, wenn ich einen sehe, der für die Kleinen schönes Kasperletheater dichtet, das er dann auch selber aufführt, so wie ich das tue! Aber dass nur niemand meint, ich ließe mir meine Künstlernachtruhe stehlen, zumal jetzt, wo die Geburt meines dritten Kindes nahe bevorsteht. Ich tu´ nur meine Pflicht. (er hat nun genug Honig gelutscht, sitzt jetzt da und versucht zu schlafen.)

2. Abschnitt: Ein Mediziner auf der Suche nach Nahtoderfahrungen kommt herbei. Dann ein Literaturkritiker

Mediziner: Mein Herr!

Niklas: Nein, nein. Lassen Sie sich nicht stören. Bedienen Sie sich nur! Mich aber lassen Sie, wenn Sie die Güte haben, völlig in Ruhe. Ich bin nämlich hundemüde und muss morgen in aller Herrgottsfrühe wieder zur Arbeit.

Mediziner: Ich bin Mediziner und suche etwas ganz Spezielles.

Niklas: Suchen Sie, was immer Ihnen beliebt. Nur lassen Sie mich in Ruhe!

Mediziner: (sucht weiter)

(Ein Literaturkritiker kommt herbei)

Literaturkritiker: Mein Herr! – Mein Herr! Hat es hier Literatur?

Niklas: Ich verstehe nichts von Literatur.

Literaturkritiker: Deshalb können Sie trotzdem wissen, ob es Literatur hier hat. (während er ein paar Blättchen aufhebt und zu sich steckt) Hier ist nichts. Und hier? – Kontoauszüge, also auch nichts. Doch hier. Was ist das? (er liest) "Hier", sagte der Tote zum Totenrichter, "hier liegen die Zeugnisse, die mich als Schriftsteller ausweisen!" Und wies auf einen großen Haufen beschriebener Papiere. Und fuhr dann fort: "Und hier liegen die Sachen, die mir unübertrefflich gut und vollkommen gelungen sind!", wobei er auf den benachbarten Platz wies, wo nichts als die rohbehauenen nackten Steine zu sehen waren. "Wozu ist dann aber der viele Ramsch gut?" fragte der Totenrichter, den Haufen der bechriebenen Papiere bedeutend? Da neigte der Tote ehrfurchtsvoll sein Haupt und sagte: "Das ist nur, damit Euer Gnaden nicht meinen, ich hätte aus meinen spärlichen Talenten nichts zu machen versucht!"- Nein, das ist auch nichts, nichts als das Zeugnis einer pathologischen Schwäche. Hier ist nichts zu finden. (ab)

Mediziner: Mein Herr, kennen Sie sich aus in Nahtoderfahrungen? – Er gibt keine Antwort! – Sie müssen ja nicht selber schon einmal scheintot gewesen sein. Es genügt mir auch, wenn Ihr Herr Papa oder Schwiegerpapa solche Erfahrungen gemacht oder wenn er Aufzeichnungen darüber hinterlassen hat. Oder ist er selber scheintot? O, das wäre was. (er nähert sich)

Niklas: Lassen Sie mich!

Mediziner: Mein Herr. Mir geht es um nichts Geringeres als um den Nachweis der Unsterblichkeit, jenes wundervoll gelösten Zustands der Seele, dem wir alle zustreben. Ja wer einmal so weit ist, wer diesen heiter gelösten und entspannten Zustand erreicht hat, der bedauert, wenn er nochmals ins Leben zurückkehren muss.

Niklas: Dann stören Sie mich nicht, damit ich nicht Ihnen zu verdanken habe, vorzeitig wieder ins Leben zurückzukehren.

Mediziner: Wie? Ist hier nichts? Und die Wurzel Mandragora kennt er auch nicht? Das ist eine Wurzel, die man unter dem Galgen findet. Wenn man den Gehenkten abhängt, kann man sie entdecken. Sie lässt sich zum Leben erwecken. Dann kann man sie befragen über das jenseitige Leben. Dass der Gelehrte doch stets ein unglücklicher Mensch werden muss! (nimmt einen Zettel aus dem Haufen) Wollen doch sehen, was das ist? (er liest, eventuell mit Hintergrundsmusik)

Lied:

Der Weg führt nicht mehr aus dem Haus,

nur noch durchs Fenster dringt der Blick nach draußen,

was jung und lebenslustig war, zog lang schon aus,

bestrebt in Ländern fern sich einzuhausen.

 

Die Schwalben nur, zurück von ihren Reisen,

umkreisen altvertrauter Wiesen Pracht.

Die Alten sinnen nach, was einst die Weisen

von ihren langen Reisen heimgebracht.

 

Mediziner: Das ist nicht das, was ich hier gesucht habe. (er geht weiter)

3. Abschnitt: Ein Buchhändler kommt angerannt.

Buchhändler: Meine gottlose Unart, zu meinen, wenn ich irgendwohin unterwegs bin, alle Welt teilte mit mir das Ziel und ich käme zu spät. Dabei liegen hier so viele Blätter herum, dass man eher noch was dazulegen möchte, als etwas davon nehmen. Feines ist wertvoll und kostbar und liegt nicht in solch billigen Massen herum. – O, aber da droben thront ja wer. Ein Wächter etwa? – Mein Herr? – Er sagt nichts. Da müssen wir unterscheiden. Entweder schläft er; dann ist er ein trottelhafter Nachtwächter, der nichts hört und nichts sieht. Oder er schläft nicht. Dann könnte er mich hören, könnte es aber vorziehen, sich schlafend zu stellen. – Nun, mach ich eine kleine Probe. (er hebt einen Zettel auf) Das läßt er geschehen. Er könnte also schlafen. Oder aber wach sein. Eines von beidem. Tertium non datur. Fahren wir fort! Sehen wir nach, ob etwas Lesbares auf dem Wisch steht! "Mir gehts doch verdammt gut. Zu jedem feinen Glück auserkoren!"

Wozu gehört das? Zu einem Prosastück oder zu einem Theater? Und hier! "Morgens hab ich noch halbwegs Kraft. Da ist noch das Vertrauen wach, dass die Kräfte ausreichen.. aber am Abend ..." Nein, das ist nichts. Das ist keine feine Literatur. Feine Literatur hätten wir, wenn wir das blutige Herz des Autors sähen, das der Gott Amor seiner Geliebten zum Aufessen gäbe! Aber davon sind wir hier noch meilenweit entfernt. – O, Sie glauben es ja gar nicht, meine Damen und Herren, wie viele Leute uns Tag für Tag bestürmen mit der Bitte, Ihnen zu bestätigen, dass sie nichts anderes sind als Weltliteraten. Dabei sind sie ja so bescheiden, so anspruchslos, so liebenswert! "Sie müssen ja nichts von mir lesen. Gott bewahre! Bestätigen Sie mir nur, dass ich ein Weltliterat bin, ein Weltliterat von Kopf bis Fuß! Damit bin ich ja vollauf zufrieden!" Doch damit ich den Weg hier herauf nicht umsonst gemacht habe, so gestatten Sie mir, dass ich noch eine Probe mache!

(er greift ein Blatt und liest.)

Lied:

Die Glocken läuten aus der Fern,

zur Sonntagsmesse ging ich gern

mit dir, mein Liebchen, an der Hand,

wie einst, als uns die Liebe fand.

 

War´s damals auch mal nass und finster,

wir schritten dennoch froh ins Münster

unter dem schönsten Licht dahin,

dein Regenschirm uns bunt umschien.

 

Herzliebchen wart, sag noch nichts, du!

Schließ nur die lieben Äuglein zu!

Dann lass´ mich dir nochmals erzählen,

als wärs der Tag, an dem wir uns vermählen.

 

Ein wollweiß Mützchen dich umfing,

als es zur Kirch, zur Brautmess ging

Den Brautschnatz drunter hübsch und fein

hatt´ dir gerichtet s´Mütterlein.

 

Und sprach, dich an sich drückend: "Kind,

das Glück, es bleib dir hold gesinnt,

den du dir ausgesucht zum Mann,

er nehm sich treulich deiner an!"

 

Dann wischt sie dir ein Tränlein aus

und führt als Braut dich aus dem Haus,

Und alle wünschten Gutes dir.

Auch Väterchen trat vor die Tür.

 

Wie glänzend hell war doch dein Haar,

das war vor einundvierzig Jahr,

Da konntest gehn du noch umher.

Die Füße waren noch nicht schwer,

 

Wie unbeschwert, wie leicht beschwingt,

ist doch das Leben, das uns bringt,

bleibt böses Unheil uns erspart,

durch´s Traumgebild der Gegenwart.

Buchhändler: Was für ein stumpfsinniges Geleier von Worten! Nichts als Worte, fehlerhaft, schlampig, zum Wegwerfen! Überhaupt sollten Autoren ruhiger auf ihre Stunde warten und sich nicht immer gleich so pompös kaprizieren. Ehe sie ein großes Thema überkommt, sollten sie so vernünftig sein, sich einem gediegenen Brotberuf zu widmen. Wenn jeder Adept eine ganze Müllhalde vollschreiben und die gesamte Gesellschaft es lesen und verdauen muss, bis ihn das erste Geistesblitzchen überkommt, wo kommen wir da hin! – Mach ich noch eine Probe! Nicht weil ich hoffte, noch einen besseren Fund zu machen, nur zum Beweis, dass hier wirklich nichts zu holen ist. (er liest)

Auch ich, feins Liebchen zu erwarten,

Stünd immer noch geduldig gern im Garten

Wie einst in jenen ersten frühen Tagen,

Als noch das Herz Bedürfnis hatt zu klagen.

 

Nun aber, seh ich Baum und Blum erblühen,

Sinne ich nach dem einstigen Bemühen,

Was uns belebt die ersten frühen Tage:

Das Herz geht still, vergangen ist die Klage.

Buchhändler: Mich dauert der liebe Gott, wenn er zum jüngsten Tag alle diese Versager aus dem Meer fischen muss, um ihnen zu sagen, dass sie keinen Pfennig getaugt haben! – Mein Herr! Heda! Ihn mein ich!

Niklas: Was hat er? Was will er?

Buchhändler: Was sagen Sie zu dem Zeug da?

Niklas: Lassen Sie mich in Ruhe!

Buchhändler: Aber Sie hüten doch diese Blätter.

Niklas: Ich hüte überhaupt nichts und ich versteh auch nichts!

Buchhändler: Dann halten Sie es wie die Christen, die ihre Bibel am liebsten verschlossen verehren?

Niklas: Sie können alles haben, wenn Sie mich nur schlafen lassen.

Buchhändler (plötzlich sich umschauend): Was für eine spaßig kuriose Idee mich eben überschleicht! Hören Sie!

Niklas: Was haben Sie noch immer?

Buchhändler: Gesetzt, es würde sich hier um ein Schauspiel handeln und wir spielten dabei mit!

Niklas: Wenn wir wüßten, wo wir überall mitspielen ...

Buchhändler: Ja dann Adieu, mein Herr Nachtwächter! Hüten Sie Ihre Schätze nur weiter so hübsch fleißig und passen Sie gut auf, dass Ihnen nichts abhanden kommt! (er geht wieder)

Niklas: (ihm nachrufend) Und wenn er den Müllwagen antrifft, so sag er dem Fahrer, er soll rasch kommen und mich von dem verdammten Zeug befreien!

4. Kapitel: Das Totengericht.

1. Abschnitt: Abermals vor dem Gerichtssaal.

(Man sieht Aschberger träumend dasitzen und hört das folgende Lied, das von überall leise hertönt.)

Lied:

Hört ihr einst aus der Hölle hallen

ein psaltersüßverrücktes Lied,

mit Himmelsglück gesegnete Vasallen,

wundert euch nur nicht, was geschieht!

 

Ich bin´s, der seine Frau erschlagen,

nachdem ihn schlug all ihre Pein,

drum darf ich mich auch nicht beklagen

und will als Höllensohn zufrieden sein.

 

Ein Doktor zwar, die Tür passieren,

sah ich, zu helfen, wie er sagt,

zuerst indes wollt er kassieren,

da hab ich ihn davongejagt.

 

Und was an Freunden noch hinieden,

war keiner fähig und bereit.

Sie sangen lieber: Gott im Frieden

sei hochgelobt, gebenedeit.

 

Ja, weil ich hass´ des Siechtums Schweigen,

durchlärm ich jetzt der Hölle Nacht,

als würden mir drei Engel geigen

zu süßverrückter Psalmen Pracht.

2. Abschnitt: Wie man Aschberger vor Gericht empfängt; erste Vernehmung

(Das Gericht tagt hinter einem großen Tisch. Minos trägt zum Zeichen seiner Würde ein mit Goldfäden durchwirktes purpurnes Mäntelchen. Auf dem Tisch steht eine Wodkaflasche, die Köpfer mitgebracht hat. An Seitentischen stumme Kanzlisten.)

Wächter (aus dem Gerichtssaal tretend; er ruft): Herr Aschberger!

Aschberger (wie aus dem Traum gerissen; das Licht der Lampe ist erloschen): Hat mir jemand gerufen?

(Wächter mit Aschberger in den Gerichtssaal tretend)

Wächter: Hohes Gericht! Hier bring ich den Angeklagten!

Minos: Wo ist er?

Aschberger: Hier!

Minos: Er ist der Aschberger?

Aschberger: Jawohl, so heiß ich, sofern ich der bin, den man hier erwartet.

Staatsanwalt: Haben wir ihm nicht gesagt, er soll auf das Licht achten, mein Herr!

Aschberger: Ich weiß nicht, was hier vorgeht und was man von mir will.

Staatsanwalt: Erkläre er sich!

Aschberger: Ich war verheiratet und war Lehrer und bin seit einigen Jahren in Pension, wie es die Beamtenordnung vorsieht. So weit zu Stand, Alter, Beruf.

Staatsanwalt: Er pflegte aber auch noch feinere Neigungen, künstlerische Bestrebungen?!

Aschberger: Was die feineren Neigungen, die künstlerischen Bestrebungen angeht, so möchte ich sagen, dass ich seit den Tagen der Jugend davon angetan war, einmal etwas sehr Schönes, künstlerisch Hochwertiges, ja Vollkommenes zustande zu bringen. Andererseits aber habe ich diesem Trieb erst recht nachgegeben, seitdem ich pensioniert bin.

Staatsanwalt: Kann er sich an kein großes Ereignis aus den Tagen seiner Kinder- oder Jugendzeit erinnern?

Aschberger: Ich erinnere mich, wie ich als Kind gestaunt habe, während sich eine Schneeflocke, die mir in die Hand gefallen war, zu einem Wassertröpfchen verwandelte.

Staatsanwalt: Ist das nicht lächerlich?

Aschberger: Ich habe mich nie für etwas Besseres als die anderen gehalten, wiewohl ich stets besessen war von dem Gedanken, etwas Großes zur Entfaltung zu bringen.

Staatsanwalt: Er hielt ein Leben lang daran fest, zu etwas Großem berufen zu sein?

Aschberger: Jedenfalls gab ich nie auf.

Staatsanwalt: Und wenn er in die Zukunft hätte schauen können und gesehen hätte, dass er es nie zu etwas brächte?

Aschberger: Auch dann hätte mich das nicht gehindert, auf dem eingeschlagenen Weg fortzufahren. Solange ich noch nicht wußte, was das Große war und wo ich es zu finden hätte, war noch nichts verloren. Nie hätte ich mich davon beirren lassen, an etwas Gutes zu glauben, zu dessen Entstehung ich mithelfen könnte.

Staatsanwalt: Und was stützte ihn in diesem Glauben? Genügte ihm seine ungeheuere Einbildung, seine Selbsttäuschung, sein Narrentum auf eigene Faust?

Aschberger: Freilich war ich enttäuscht, wenn ich feststellte, wie wenig mir gelang. Doch warum sollte ich deshalb aufhören, meine Talente zu entwickeln. Wenn ich auch kein großes Fenster in diese unsere rätselhafte Welt würde brechen können, ein Fensterlein wollte ich schon werden.

Staatsanwalt: Aber er war Lehrer; er verdiente sich also das Geld zum Leben durch Unterricht in einer öffentlichen Schule.

Aschberger: So ist es.

Staatsanwalt: Und hätte gerne den Schuldienst an den Nagel gehängt, um als freier Künstler weiterzuschaffen?

Aschberger: Wer wird nie versucht? Ob ich´s aber getan hätte, wenn man mir´s angeboten hätte, ich weiß es nicht.

Staatsanwalt: Warum das?

Aschberger: Wie sehr ich die Kunst auch liebte, so sehr misstraute ich ihr doch auch.

Staatsanwalt: Weil er sich nie selber erprobt hatte, noch auch zur Selbsterprobung andere hinzugezogen hatte. – Kam es vor, dass sein Gewissen protestierte, wenn er alle Zeit und alle Kraft für den Schuldienst hingab?

Aschberger: Das war nur selten der Fall. Nur wenn es schriftstellerte, wär ich in der Lage gewesen, die Schule und die ganze Welt für die Schriftstellerei hinzugeben.

Staatsanwalt: Wenn es bei ihm schriftstellerte? Das hört sich an wie eine Naturgewalt, die sich in ihm Bahn zu brechen suchte.

Aschberger: In jedem Menschen sucht immer wieder einmal etwas sich Bahn zu brechen; davon bin ich ganz fest überzeugt, wenn auch viele davon nichts merken mögen, weil sie jedes leise Zeichen in sich ersticken.

Staatsanwalt: Fühlte er sich als unüberwindbare Burg, wenn es in ihm schriftstellerte?

Aschberger: Anfangs wohl schon. Doch auch hier wußte ich ja nicht, ob es sich nicht nur um eine Versuchung handelte. Im übrigen tat ich, was ich schon immer getan hatte und mithin kraft der Gewohnheit tun musste. Wie die Nachbarin täglich ihren Garten bis ins späteste Spätjahr hinein pflegte, so pflegte auch ich mein Gärtlein.

Staatsanwalt: Dürfen wir ihn nun wohl nach seinen Meisterleistungen befragen?

Aschberger: Wie gesagt, ich schrieb zwar auf, was mir die Tage und die Nächte entgegenbrachten, versagte mir aber jedes größere Projekt.

Staatsanwalt: Gab es Leute, denen er seine Kleinigkeiten zeigte?

Aschberger: Gewiß, meiner Frau zeigte ich manches.

Staatsanwalt: Mitunter auch einem Freund oder einem Kollegen?

Aschberger: Nur selten.

Staatsanwalt: Drängte es ihn nicht in die Öffentlichkeit? Hatte er Angst?

Aschberger: Angst nicht unbedingt. Eher Scheu und Scham. Immerhin waren meine Sachen allesamt sehr privat, private Kleinigkeiten, wie der Herr Staatsanwalt richtig bemerkte.

Staatsanwalt: Dachte er nie daran, mit einem Schlag Leser und Bewunderer zu bekommen, wenn er in einem renommierten Verlag erschiene und gute Kritiken bekäme?

Aschberger: Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn das eine und andere gedruckt worden wäre. Aber für so wichtig habe ich das dann auch wieder nicht erachtet.

Staatsanwalt: Ist denn nicht schön, sich in den Auslagen der Buchhandlungen ausgestellt zu sehen?

Aschberger: Wenn es nicht die Seele beschmutzt.

Staatsanwalt: Was will er damit sagen?

Aschberger: Ich hatte einmal ein Sachbuch geschrieben; nichts Besonderes, aber immerhin doch ein Buch, auf das ein Debütant zumeist stolz zu sein pflegt. Der Verlag, es war einer mit kleinem Budget, war auf meine Mithilfe bei der Werbung angewiesen. Da ich aber kein Mann für Geschäfte bin, musste ich alsbald schon erfahren, wie gemein ich mich dabei machte und meine Seele verkaufte.

Staatsanwalt: Versuchten Sie damals, Leute zu zwingen, Ihr Buch zu kaufen?

Aschberger: Es ist mir peinsam, daran zurück zu denken. Das Wichtigste war mir, dass das Geld der Leute durch die Ladenkasse der Buchhandlungen floß, auf dass die Unkosten meines Verlegers beglichen würden.

Staatsanwalt: Immerhin kann ein Autor nicht gelesen werden, wenn seine Schriften nicht der Öffentlichkeit vorliegen. – Sie schrieben Romane, Erzählungen, Schauspiele und Gedichte?

Aschberger: Ich sagte schon, dass ich mich nur in kleinen Essays oder in Anekdoten übte. Manchmal mochte wohl auch ein Gedichtchen dabei gewesen sein, von der Qualität freilich, wie es jedermann zu schreiben vermag.

Staatsanwalt: Sie haben mithin nie ein Gedicht an eine Zeitung eingereicht?

Aschberger: Nur einmal, da war ich noch jung, eben 20 Jahre alt. Ich habe darauf keine Antwort erhalten. Immerhin war ich ja der Zeitung unbekannt. Ich hätte ja Gott weiß von wem was klauen können, z.B., um die Redaktion des Feuilletons zu kompromittieren.

Staatsanwalt: Könnte der Chefredakteur neidisch gewesen sein? Ein neidischer Mitschüler oder Jugendfreund?

Aschberger: Das weiß ich nicht und bekümmert mich nicht.

Staatsanwalt: Kann er eines seiner Gedichte auswendig?

Aschberger: Fragen Sie, ob ich eitel bin?

Staatsanwalt: Gut, dann frag ich, ob es einen gibt, der eines seiner Gedichte auswendig gelernt hat?

Aschberger: Meine Mutter.

Staatsanwalt: Sonst niemanden?

Aschberger: Auch meine Frau und später auch meine Tochter und zwei von meinen Enkeln.

Staatsanwalt: Sonst niemand?

Aschberger: Ist das nicht genug? Ich habe mich nie so wichtig genommen, dass ich glaubte, alle Welt müßte meine Liedlein auswendig können.

Staatsanwalt: Dann können wir auch davon ausgehen, dass kein Musiker ein Lied vertont hat. – Wie nun aber haben Sie Ihren Beruf und Ihre Freizeitinteressen koordiniert? Hat nicht das eine das andere behindert?

Aschberger: Mag man es mir als Hochmut auslegen, wenn ich meinen beruflichen Verpflichtungen als Lehrer ziemlich leger gegenübertrat. Ich wollte und konnte mich nicht damit abfinden, meine Tage, die morgens mit Unterricht gefüllt waren, auch mittags noch mit akribischem Hefte-Korrigieren und Verwaltungsarbeiten zuzustopfen. Welchem Schüler oder welcher Gerechtigkeit war auch nur das Kleinste geholfen, wenn ich mir besondere Waagen anschaffte, um auch noch den Bruchteil eines Bruchteils an Fehlerhaftem, denn darum ging es meist, nur um der lieben Objektivität willen, ausfindig zu machen? Auch dem lieben Gott legt es keiner zur Last, wenn er die einen etwas begabter als die anderen in die Welt schickt. Mir war wichtiger, die Schüler aufzumuntern und an sich selber glauben zu lehren, wenn freilich ich nicht immer alles so hinbekommen habe, wie ichs wollte ...

Minos: Ich denke, das genügt. Kommen wir zur Vernehmung der Zeugen und Experten! Um wie viele Leute handelt es sich da?

3. Abschnitt: Vernehmung der Zeugen und Experten

Staatsanwalt: Wie viele Leute warten draussen auf den Zeugenstand?

Wächter (ruft hinaus): Wie viele warten auf den Zeugenstand?

Stimme: Warten Sie!

Staatsanwalt: Sind es mehr als eine Handvoll?

Stimme: Etwa 20.

Minos: Hab ich nicht gesagt, eine Handvoll sind genug? Lassen Sie die abtreten, die keinen Satz von Aschberger auswendig können.

Stimme: Alle abtreten, die keinen Satz von Aschberger auswendig können! – Meine Herren, Beeilung! Bitte Beeilung!

Minos: Wie viele sind noch übrig?

Wächter: Der letzte ist eben gegangen!

Minos: Dann rufen Sie drei von den Leuten zurück und schicken Sie uns den ersten davon herein!

Stimme: Mein Herr! Warten Sie.

Stimme des Buchhändlers: Was gibts denn noch?

Wächter: Hier gehts lang, mein Herr! (mit dem Buchhändler eintretend) Das hier wäre Nr.1.

Buchhändler: Lassen Sie mich!

Staatsanwalt: Sind Sie sicher, dass Sie keinen Satz von dem Angeklagten auswendig können?

Buchhändler: Ganz sicher!

Staatsanwalt: Wie ist Ihr werter Name?

Buchhändler: Ich heiße Herder, Herrmann Herder, und war Buchhändler in der gleichnamigen Buchhandlung.

Staatsanwalt: Als Besitzer und Miteigentümer der Buchhandlung?

Buchhändler: Leider nicht.

Staatsanwalt: Immerhin machen Sie durchaus einen bemerkenswerten Eindruck.

Buchhändler: Mein Herr! Ich war eben dabei, mir einen unsterblichen Namen zu machen, und es wär mir gewiß auch gelungen, hätten sich mir nicht widrige Umstände in den Weg gestellt. Sie müssen nämlich wissen, dass ich, ich war damals nur wenig älter als 20 Jahre, als Juror für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels vorgesehen war, eine Ehre, die vor mir in so zartem Alter noch keinem zuteil geworden. Einem Neidhammel aber hab ichs zu verdanken, dass nichts daraus wurde.

Staatsanwalt: Erinnern Sie sich an diesen Herrn?

Buchhändler: An den Neidhammel?

Staatsanwalt: An den Angeklagten hier.

Buchhändler: Wie sollte ich auch? – Doch erschrecken Sie nur nicht, Angeklagter! Ich werde nichts über Sie aussagen, was nicht niet- und nagelfest ist.

Staatsanwalt: Haben Sie ein Buch von ihm dabei?

Buchhändler: Vom Angeklagten? Wo denken Sie hin? Ich weiß ja noch nicht einmal, ob solch ein Buch existiert.

Staatsanwalt: Er hat aber schon mal Texte von diesem Herrn in der Hand gehabt?

Buchhändler: Nur von dem, was droben in der Deponie herumfährt.

Staatsanwalt: Nun fahren Sie fort! Wie weit reicht Ihre Erinnerung zurück?

Buchhändler: Ich erinnere mich noch genau daran, das war vor 40 Jahren, eine Woche vor meinem 30. Geburtstag. Es war ein stürmischer Vorfrühlingstag.

Staatsanwalt: Nur keine Einzelheiten!

Buchhändler: Einzelheiten können aber für das Gericht von großem Interesse sein.

Staatsanwalt: An wen erinnern Sie sich? An diesen Mann?

Buchhändler: Vor 40 Jahren kann er ja wohl nicht so wie heute ausgesehen haben.

Staatsanwalt: Was hat der Angeklagte dazu zu sagen? Hat er dem Buchhändler da einen Gedichtband gebracht?

Aschberger: Ein Freund von mir hatte einmal ein Bändchen in eine Buchandlung gebracht. Ein mir befreundeter Graphiker hatte das Design übernommen. – Doch darf ich fragen, weshalb man mich Angeklagter nennt?

Staatsanwalt: Seien Sie nur nicht überempfindlich. Jedes Gericht nimmt Klagen entgegen. Und gegen wen sich eine Klage richtet, den nennen wir kurz einen Angeklagten. Das heißt aber noch lange nicht, dass ein Angeklagter auch schon schuldig ist.

Aschberger: Ich fände es besser, wir verzichteten auf derlei Benennungen. Wer am Morgen angeklagt ist, ist am Abend verurteilt.

Buchhändler: Ohne Zweifel! – Er ist es. Kein renommierter Verlag, nicht einmal ein Afterverlägchen hätte die Publikation eines solchen Mannes übernommen.

Staatsanwalt: Und Sie nun sollten für den jungen Mann einen Verlag finden?

Buchhändler: So war es. Lebhaft erinnere ich mich noch daran, wie der junge Mann zu uns in die Buchhandlung hereingestürmt kam. Ich hatte das Werkchen kaum aufgeschlagen, da sollte ich ihm auch schon um den Hals fallen!

Staatsanwalt: Sie können kein Gedicht mehr auswendig?

Buchhändler: Ich erinnere mich an dieses Bändchen deshalb so genau, weil ich an ihm meine Begabung als Kritiker erweisen wollte. Ich sagte Ihnen doch von dem Jurorenamt, das ich damals fast erlangt hätte. Nichts Geringeres verfolgte ich nämlich damals, denn an Hand dieses Bändchens zu zeigen, wie Jugend sich der Sprache bedient und welche Fehler ihr dabei unterlaufen. Und ich bin mir sicher, wär mir nicht dieser Neidhammel in den Weg gekommen, es gäbe heute ein Werk, das auch noch in 1000 Jahren als Leitfaden für Deutschlehrer und Universitätsprofessoren durchstudiert würde, von den wundervollen Literaten ganz zu schweigen.

Minos: Hat Herr Aschberger noch etwas dazu zu sagen?

Aschberger: Ich habe auch mal so gegen jemanden gewettert, bedauerte es aber schon sehr bald zutiefst.

Minos: Sie können jetzt gehen.

Buchhändler: Was soll das heißen? Jetzt, wo wir uns zu verstehen beginnen und wo es erst anfängt, so recht spannend zu werden? Geben Sie mir ein Gedicht und ich zerreiß es Ihnen nach Strich und Faden!

Staatsanwalt: Sie können gehen, hat der Präsident gesagt. Und das heißt, dass Sie gehen können! Und zwar unverzüglich.

Buchhändler: (im Gehen, für sich) Das ist ungeheuerlich. Neidhammel, so weit das Auge reicht! Selbst noch hier drunten.

Minos: Der Nächste bitte.

Staatsanwalt: Wie ist ihr werter Name?

Karst: Dr. Günther Karst. Ehemals Gymnasialprofessor und Philologe für die neuere deutsche Literatur am Köpfergymnasium.

Staatsanwalt: Wenn Sie auch nicht mehr zu sagen haben als Ihr Vorgänger, dann sagen Sie es uns gleich.

Karst: Ich wußte nicht, dass ich am Schlüsselloch hätte mithören sollen.

Staatsanwalt: Sie kennen Herrn Aschberger?

Karst: Wie man es nimmt.

Staatsanwalt: Was soll das heißen? Sie waren doch Kollege dieses Herrn!

Karst: In den Büchern zur neueren deutschen Literatur findet man kein Wort über ihn. Das heißt, er hat nichts publiziert und damit kenne ich ihn nicht als namhaften Autor.

Staatsanwalt: Sie kennen keine Schriften von Aschberger? Nichts?

Karst: Wir haben miteinander Sport getrieben. Kollegensport. Über seine Eigenschaften als Sportler könnte ich so manches sagen.

Staatsanwalt: So sind Sie Sportsfreunde?

Karst: Sportsfreunde, wie es alle sein sollten, die regelmäßig zum Sport zusammenkommen!

Staatsanwalt: Aber Sie wissen doch etwas von Aschbergers Literatur. Oder haben Sie nie Zeugnisse in Ihrer Hand gehabt?

Karst: Sie meinen, literarische Produkte von Herrn Aschberger?

Staatsanwalt: Das meinen wir.

Karst: Einmal hatte ich ein paar Zeilen in der Hand, aber durchaus nicht, weil ich danach Verlangen getragen hätte. Er hatte sie mir gleichsam aufgezwungen. Da konnt ich nicht anders, als das Ding in die Hand zu nehmen. Ich sagte ihm aber, ich hätte meine Lesebrille nicht dabei. Wer mich kennt, weiß, was das bedeutet. Und als er mich nötigte, das Blättchen mitzunehmen, hab ich in aller Deutlichkeit zu ihm gesagt, dass das zu den Sportsachen kommt.

Staatsanwalt: Und später?

Karst: Wie meinen Sie?

Staatsanwalt: Haben Sie nie einen Ton zu dem Blättchen gesagt?

Karst: Ich hab kein Lob ausgesprochen und keinen Tadel. Denn ich hatte mich nicht so intensiv damit befasst. Zweitens aber hab ich mich nie für einen Genieentdecker gehalten. Mithin, das darf ich wohl sagen, hab ich mich korrekt und nobel verhalten.

Staatsanwalt: Aber Sie haben das Dokument noch? – Das Blättchen?

Karst: Meiner Frau zulieb hab ich´s nicht weggeschmissen, so dass es wohl noch immer irgendwo bei den Sportsachen herumfahren muss.

Minos: Um was für ein Blättchen handelt es sich denn?

Karst: Um ein Blättchen mit einem kleinen Gedicht.

Minos: Wie niedlich!

Karst: Übrigens pflegen einem alle Dichterlinge mit diesen Worten ihre Erstlinge in die Hand zu drücken! "Möchten Sie nicht die Freundlichkeit besitzen, einen kurzen Blick darauf zu werfen? Es ist nur ein kleines Gedicht!" – Dabei sind das die Kunstprodukte, die ich am meisten hasse, weil man da die Autoren besonders schonend behandeln muss.

Staatsanwalt: Es war etwas Gereimtes?

Karst: Jawohl.

Staatsanwalt (zu Karst): Können Sie das kleine Gedicht auswendig? – Nein? – Auch keine Strophe? – Keine Zeile?

Karst: L´empereur kam darin vor; daran erinnere ich mich wieder.

Staatsanwalt: Ausser dem L´empereur wissen Sie aber nichts mehr?

Karst: Den hab ich auch nur behalten, weil der Sportsfreund damals meine Frau fragte, woran sie der Empereur erinnere, worauf er vom Hölzchen aufs Stöckchen kam.

Staatsanwalt: Schade, dass Sie die Zeile mit dem Empereur nicht können.

Karst: Warum ist das schade? Wo Sie doch den Wert jener paar Zeilen überhaupt nicht kennen? – Wenn ich alle Gedichte auswendig aufsagen müßte, die man mir zu Lebzeiten geschickt hat, so müßte ich ein geschlagenes Jahr hier stehen. – Doch, meine Herren, gestatten Sie mir, dass ich meiner Verwunderung ganz offen Ausdruck gebe. Mir kommt vor, als ob ich mich hier auf der Anklagebank befände! Deshalb sagen Sie mir doch bitte, ob man anders Freund sein kann, als indem man darauf verzichtet, Dokumente eitler Selbstgefälligkeiten auszutauschen?

Minos: Gut, dann können Sie gehen.

Beisitzer (indem er aus der Wodkaflasche ein Gläschen für Minos, den Staatsanwalt und sich einschenkt): Dann sind wir ja bald fertig. Früher freute man sich an einer solchen Stelle bereits auf das anschließende feine Diner im Foyer, auf ein Steak mit kleinen Pilzchen, Pfifferlingen und kleinen Karotten mit einer Zwiebelsauce, schön gedünstet die Zwiebel.. und einem leckeren Glas Bier ... Uns hier muss ein Gläschen von Köpfers Wodka genügen.

Minos: Jetzt noch die Nummer 3!

(Rabimer tritt ein)

Minos: Wer sind Sie, wie heißen Sie und was haben Sie uns zu sagen?

Rabimer: Ich bin Rabimer und heiße Rabimer und habe als Kritiker jedem etwas zu sagen, der sich mit Literatur beschäftigt.

Minos: Kennt er etwas von diesem Herrn?

Rabimer: Von diesem Komödianten, wollten Sie doch sagen! – Oder sieht er nicht aus wie die heilige Fastnacht? Meine Damen und Herren, beschauen Sie sich doch nur bitte diesen Herrn! Und wenn Ihnen das nicht genügt, dann passen Sie auf, wenn wir nun zur Befragung des Angeklagten schreite! Als ob wir keine subtilen Methoden kennten, einen Komödianten zu entlarven! Angeklagter! Passen Sie auf, meine Damen und Herren. Jetzt rücken wir dem Angeklagten auf den Leib. Ich sag es so offen, weil ich nichts zu befürchten habe. Denn wie sehr sich auch dieser liebe Herr da wappnen und wehren wollte, es würde ihm nichts nützen. Durch keine Masche unseres Netzes schlüpft er uns. Im Gegenteil, je mehr er nach einem Ausgang sucht, um so mehr verstrickt er sich nur.

Minos: Zur Sache, mein Herr!

Rabimer: Gewiß, gewiß! Zur Sache also, Herr Angeklagter. Sie haben es ja gehört. Das hohe Gericht bittet mich, mit ihnen kurzen Prozeß zu machen. Beginnen wir also kurz und bündig. Sagen Sie uns, Angeklagter: Haben Sie in Ihrem Leben einmal mit Anfechtungen zu kämpfen gehabt, weil Sie ein Ihnen vorgeschriebenes Ziel nicht erreicht haben? – Haben Sie einmal etwas aufgeschrieben, der Art, dass Sie glaubten, es korrekt und auf´s Beste gemacht zu haben, um dann festzustellen, dass Sie sich schrecklich getäuscht hatten? – Da macht z.B. einer Besorgungen in der Stadt, er hat alles ordentlich zuwege gebracht und ist schon wieder zuhaus, zufrieden über seine erfolgreiche Rückkehr: da schellt es, und vor dem Haus steht die Polizei. Wohnt hier Herr Aschberger? – O Ja. Was gibt es? – Wo ist er? – Ich bin es selber. – Sie waren vorhin mit dem Auto in der Stadt? – So ist es. – Wissen Sie, dass Sie einen Unfall gebaut haben? – Wie? – Sie haben einen Unfall gebaut. – Davon weiß ich nichts. – Wie kann man davon nichts wissen, wenn man einen Unfall gebaut hat? – Das muss ein Irrtum sein. – Ist das nicht Ihr Auto? – Man zeigt Ihnen ein Photo, das Sie in Ihrem Auto bei dem Unfall zeigt. Und dann stellt sich heraus, dass Sie just den Vater des Schülers zu Tode gefahren haben, der Ihnen das Leben so schwer gemacht hat?

Aschberger: Sie versuchen, mir ein schlechtes Gewissen einzuflößen?

Rabimer: Nur keine Ablenkmanöver! Sie haben doch gehört, dass der Herr Gerichtspräsident sich einen kurzen Prozeß wünscht! Warum, so frage ich ihn also, warum ist er nicht in der Schule geblieben? Denken Sie an den Vater jenes Schülers!

Aschberger: Was soll das? Erstens gibt es keinen solchen Vater! und zweitens bin ich in der Schule geblieben. Mit 65 Jahren wurde ich pensioniert, wie es die Ordnung für Lehrer vorsieht. Im übrigen gehöre ich nicht zu den Leuten, die sich für schuldig bekennen, wenn sie es nicht sind.

Rabimer: Und würden es auch nicht tun, wenn Sie dadurch der lieben Gerechtigkeit ein Dienst erweisen könnten?

Aschberger: Und würde es auch nicht tun, wenn ich dadurch der lieben Gerechtigkeit ein Dienst erweisen könnte.

Rabimer: Der Herr weiß aber, dass er sich eine feige Flucht, ja ein böses Vergehen hat zuschulden kommen lassen, indem er sich neben der Schule mit Literatur abgab? Denn was heißt das anderes, als dass er nicht mit Leib und Seele und mit allen seinen Kräften der Schule und den Schülern und dem Staat gedient hat? Erinner er sich nur, wie er oft des Nachts im Bett erwachte und wie ihm dann so hundsmiserabel zu Mut war! Bin ich wirklich so schlecht? fragte er sich dann. Öfters aber kamen auch präzise Bilder hinzu. Denk er nur nach, warum es so oft vorkam, dass er erst in der allerletzten Sekunde in die Schule angesaust kam! Denk er nur nach! War es nicht, weil er mehreren Herren diente? Oftmals wußte er nicht einmal mehr, in welche Klasse er musste, geschweige denn, dass er seine Versuche ordentlich aufgebaut hatte. Denk er nur daran, wie er dann zum schwarzen Brett schlich, um sich weiter weisen zu lassen! O der Herr Oberstudiendirektor hätte ihn da beileibe nicht sehen dürfen! Das wäre sein Aus gewesen. Und wenn er dann endlich wußte, in welche Klasse er musste, dann wußte er doch sehr oft noch immer nicht, wo die Klasse untergebracht war. Als ob er nicht Zeit genug gehabt hätte, zumal in den schier unendlich langen großen Ferien, sich das Gebäude einzuprägen mit allen Räumen und Gegebenheiten. Und wenn er dann endlich so weit war, dass er die Schüler hörte, wie sie in den Klassenraum zurückrannten und sein Herannahen ankündigten: dann war er immer noch nicht aus dem Gröbsten. Denn dann musste er sich überlegen, was zu tun wäre und wie er schnell ein paar Sachen organisierte und improvisierte. Einmal, um ihm nur einen Fall in Erinnerung zurückzurufen, sah er, wie die Parallelklasse bereits die schönsten Versuche in Gang hatte. Da hieß er die Schüler warten, er gehe nur sein Rollwägelchen holen; und dann eilte er kopfüber aus dem Haus, gelangte hinüber zu den Chemikern, wo er die nächstbesten Sachen sich ausborgte, einen Erlmeyerkolben und ein paar Thermometer und Gaskartuschen. Und dann, auf dem Rückweg, verirrte er sich auf der Strasse. Und da hat er dann in die Hose gepinkelt.

Aschberger: Wird man auch dafür zur Rechenschaft gezogen?

Rabimer: O, es gibt berühmte Leute, die behauptet haben, man solle einem Brotberuf nachgehen, um am Feierabend nach getaner Arbeit den großen und herrlichen Gegenständen in Kunst und Wissenschaft nachzugehen. Aber diese Leute haben die Dinge nicht gründlich genug durchdacht. Sonst wäre ihnen nicht entgangen, dass man als kleiner Mann mit seiner beruflichen Arbeit hinreichend ausgelastet ist.

Aschberger: Es gibt aber auch Lehrer, die neben ihrem Unterricht allerbeste Literatur erstellt haben.

Rabimer: Mein Herr, was soll der Einwand? Diese Leute waren die berühmten Ausnahmen, keine Schwachköpfe. Ein normalbegabter Lehrer aber, der schreibt, macht sich eines Vergehens schuldig. Für ihn ist es tausendmal besser, wenn er Tennis spielen geht oder Spaziergänge unternimmt und sich auf jegliche Weise von dem anstrengenden Schuldienst erholt. Und wenn er sich geistiger Anstrengungen unterzieht, so darf das nur sein, wenn es seiner Schulmeisterei zugute kommt!

Minos: Gehen Sie da nicht etwas zu weit, Herr Rabimer? Da überteffen Sie ja noch den Herrn Staatsanwalt!

Staatsanwalt: In der Tat! Wer kann im voraus ermessen, was für uns das beste ist?

Rabimer: Lassen wir doch den Studiendirektor zu Wort kommen!

(schnippt mit dem Finger. Eine Separattüre öffnet sich und Dr. Justinus Kleckser tritt ein)

4. Abschnitt: Zwischenspiel. Der Oberstudiendirektor Dr. Justinus Kleckser

Rabimer: Meine Herren, hier bring ich Ihnen den Oberstudiendirektor Dr. Justinus Kleckser, den Leiter des Köpfergymnasiums von Schopfloch.

Kleckser: Jawohl. Der war ich über 20 Jahre, bis zu meiner Pensionierung.

Rabimer: (auf Aschberger weisend) Sie erinnern sich noch an diesen Lehrer?

Kleckser: An jeden Lehrer, der unter meiner Aufsicht unterrichtet hat, erinnere ich mich noch.

Rabimer: Wär es Ihnen möglich, uns in zwei, maximal drei Minuten das Wichtigste über diesen Mann zu sagen?

Kleckser: Selbstverständlich! – Was diesen Mann da angeht, so war er scheu und zurückgezogen. Oft fiel auf, dass er zerstreut und in Gedanken einherging. Es waren aber nicht die Gedanken eines um seine Schüler und um die beste Vermittlung des Schulstoffs besorgten Lehrers. Nie hat er es sonderlich genau mit den Aufgaben eines Lehrers genommen, obwohl er doch für sie da war und bezahlt wurde! Wenn ich nur daran denke, wie er Klassenarbeiten in Mathematik korrigierte. 30 Hefte in einer einzigen großen Pause. Das geht entschieden zu weit. Und mit den Versuchen, die er als Lehrer für die Naturwissenschaften durchführte, stand es auch nicht besser. Nichts als Katastrophen wurden da produziert, nicht eben vorbildlich für die jüngeren Lehrer. Oft hatte er keinen einzigen Versuch aufgebaut; oder er hatte nur die Hälfte aufgebaut und die andere Hälfte hatten dann noch die Schüler aufzubauen, oder es stand zwar alles da, aber es funktionierte nichts. Dieser Mann neigte nicht zu besonderem Fleiß. Daraus resultierte, dass er Schüler anschrie, wenn sie einmal Ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten oder sonst etwas nicht wußten. Dieser Mangel an Fleiß fiel vor allem auch dann auf, wenn Aufgaben der Verwaltung anstanden. Noch nie habe ich einen Menschen gesehen, der sich derart grimmig schweigend und arbeitsscheu aufgeführt hätte. Mitunter wenn ich ihn so sah, fragte ich mich, ob sich ein Vorfahr vor 300.000 Jahren so aufführen würde, wenn wir ihn heute in einer Kommission unter uns hätten. Oder meinen Sie, einem solchen Mann hätte man auch nur die kleinste und unbedeutendste Aufgabe in die Hand legen können? Gleichwohl aber hielt ich mich zurück, so weit ich das mit meinen Verpflichtungen als Schulleiter in Verbindung zu bringen vermochte. Ja, meine Herren. Wenn ich es in einem Satz zusammenfassen darf, so sorgte ich mich mehr dafür, dass Herr Aschberger sich nicht lächerlich machte, als dass ich gerechtfertigt geblieben wäre. Eines Tages aber war das nimmer möglich. Der Angeklagte erinnert sich doch wohl noch, als er den Vater eines Schülers zu Tode gefahren hatte!? Oder nicht? Aber wir kennen ja doch noch seinen Namen! Der Schüler hieß Zaoral. O ja, das war ein Schüler, der ihm, wie er damals zu Protokoll geben zu sollen vermeinte, das Leben schwer gemacht hatte.

Aschberger: (verneint stumm)

Kleckser: Wenn sich Herr Aschberger nicht mehr daran erinnern kann oder erinnern will: ja dann rufen wir doch den Vater herbei!

(Vater und Schüler dringen wie durch einen Nebel in den Raum, doch Minos schickt den Wächter, der die beiden wieder aus dem Raum drängt)

Minos: Wir danken auch Ihnen, Dr. Kleckser. Auch Sie können wieder gehen!

Kleckser: Es war mir eine Ehre, Exzellenz eine kleine Freude bereiten zu können. (Kleckser geht)

Rabimer: Ja, meine Herren, Sie staunen, wie gründlich ich die Sachen angepackt habe. (zu Aschberger) Und Sie, mein Freund, merken Sie sich: wenn man etwas werden will, so genügt keineswegs, davon zu träumen. Wie viele haben schon in ihrer Jugend davon geträumt, für die Ewigkeit zu arbeiten und etwas Großes und Bedeutendes zu werden und haben nichts hinterlassen als einen Klumpen Lächerlichkeit. Wer es schön findet, fliegen zu können, der kann noch lange nicht fliegen! Und wer einmal etwas im Traum geschafft hat, der täuscht sich, wenn er glaubt, er könne es auch ausserhalb des Traumes. Wenn man etwas werden will, so ist Träumen zwar nicht verboten, man muss aber wissen, dass das niemals ausreicht. Unbedingt an sich glauben und denen, die eben das Sagen haben zu gefallen, das ist das erste. Und dann gilt es zu arbeiten, emsig, stetig, dauerhaft, mit der Lust des künftigen Siegers, der dann freilich auch noch weiß, wie weit er gehen kann und wie weit er gehen muss.

Minos: Genug jetzt!

Rabimer: Hat der Angeklagte schon einmal dem Jahrhundert den Spiegel vorgehalten? Warum versucht er sich vornehmlich in solchen Sachen wie in dem jetzt uns auferlegten Stück, das einem grimmes Bauchweh beschert, statt um uns mit Komödien aufzuwarten, wo wir uns den Bauch vor Lachen zu halten haben? Hätte ihm das nicht auch viel besser getan? – Warum sagt er nichts?

Staatsanwalt: Genug jetzt.

Rabimer: Ich wollte, Sie alle, meine Damen und Herren, verstünden etwas von der Komödie, wo auch das Docere vorkommt. Heute reicht niemand mehr der Welt einen Spiegel. Es gibt ja überhaupt keine Spiegel mehr. Nicht einmal einen philosophisch gebildeten Narren gibt es mehr. Keiner vermag uns mehr geistreich wie die Sklaven und die Narren früherer Tage zu sagen, was es mit uns auf sich hat. Nur noch Vorlieben und Vorstellungen und Illusionen von der Wirklichkeit geistern um uns herum. Und wenn es noch Spiegel gibt, so sind es solche der Absurdität und der Gräuelmärchen, an die wir uns gewöhnt haben, als brauchten wir sie nicht ernst zu nehmen. Was will denn der Herr Angeklagter? Wenn wir nicht mehr wissen, was wir wollen, was soll uns dann noch ein Schauspiel, was dann die Literatur? Darf ich wenigstens noch nachfragen, ob er noch einen deus ex machina in der Komödie für möglich hält? Damit ließen sich mit einem Schlag alle Fragen zur geistigen Befähigung dieses Mannes klären.

Staatsanwalt: Genug jetzt. Jetzt ist genug!

Rabimer: Was soll das heißen?

Beisitzer: Dass der Herr Gerichtspräsident Minos jetzt genug hat und dass Sie gehen sollen, mein Herr!

Rabimer: Ich?

Beisitzer: Ja Sie!

Rabimer: Verabschiedet man so einen Mann des Geistes? (er geht)

5. Abschnitt: Das Urteil des Minos

Minos: Meine Damen und Herren: Die Verhandlung ist geschlossen. Was das hohe Gericht betrifft, so darf ich sagen, dass wir zufrieden sind, dass sich uns das Urteil inzwischen bis auf die kleinsten Nuancen herausgeschält hat. Und so lautet es denn! Im Namen des Volkes! Wir verurteilen den Angeklagten, Herrn Aschberger, weil es ihm nicht gelungen ist, sich in der Sozietät einen festen Platz zu verschaffen, weder als Lehrer am Gymnasium noch auch als freischaffender Künstler. Wir verurteilen ihn, weil er glaubte, andere müßten für ihn leisten, was er selber zu leisten gehabt hätte, nämlich zu beweisen, dass er etwas kann und dass auf ihn Verlass ist. Wo einem selbst in einer schlechten Gesellschaft nichts anderes übrig bleibt, als sich in ihr zur Darstellung zu bringen, um wie viel mehr in unserer Gesellschaft, die einem jeden so viel Freiheit läßt wie noch nie! Wir verurteilen ihn, weil es ihm zu viel gewesen zu sein scheint, sich vor sich selber wie auch nach außen hin so darzustellen, dass er als Maß und Vorbild deutlich geworden wäre. Ohne diesem recte facere nachzukommen entpuppte er sich in Beruf und Leben durchweg als ein Versager, weswegen wir ihn auf einen der Wege schicken werden, wo wir ihn am bequemsten vergessen können!

Aschberger: Recte facere! Dass ich nicht lache!

Minos: Ja, lach´ er nur. Wer darauf wartet, dass ihm die anderen sagen, wie bedeutend er ist, der ist total unbedeutend.

Aschberger: Hab ich denn das?

Minos: Was sonst. Sonst stünd er nicht vor unserem Gericht.

Aschberger: Nie hab ich es mir angekegen sein lassen, mich wie eine kleine Maschine in den Gang einzupassen, den man die Weltmaschine nennen könnte oder die Weltgeschichte, was nötig ist, um Karriere zu machen.

Minos: Genug jetzt davon. Wenn er will, mag er noch was dazu sagen, sofern ihm noch was Bedeutendes dazu einfällt. Ich aber werde jetzt gehen, mich zu stärken. Die Sitzung war lang. (er geht mit dem Schreiber und dem Wächter auf die Wand zu, die sich vor ihm öffnet und sie durchläßt, um dann wieder als Wand zu erscheinen.)

5. Kapitel: Die Anamnese

1. Abschnitt: Die kranke Frau

Staatsanwalt: Zur Sache also, wenn ich bitten darf, und zwar mit Eile, sofern der Angeklagte noch etwas zu sagen hat. Denn auch ich bin nur ein Mensch und auch mich verlangt nach einem guten Mahl.

Aschberger: Ich frage mich allerdings, wie Sie es fertig bringen, den Einzelnen zu beurteilen, wenn Sie ihn nur im Kollektiv der Sozietät erkennen.

Staatsanwalt: Lassen Sie das nur unsere Sache sein.

Aschberger: O, mein Herr! Mag ich auch nicht viel gut gemacht haben in meinem Leben, so darf ich doch ein wenig stolz auf mich sein, weil ich weiß, dass meine Frau stolz auf mich war. Das glauben Sie mir nicht? Rufen Sie meine Frau! Ich weiß, dass sie sich hier in der Nähe aufhält.

Staatsanwalt: Die Staatsanwaltschaft macht die Partei des Angeklagten darauf aufmerksam, dass sie zwar noch einmal die Gelegenheit hat, das Wort zu ergreifen. Zugleich aber macht sie darauf aufmerksam, dass das hohe Gericht das Urteil bereits öffentlich und mithin rechtskräftig gemacht hat, so dass eine weitere Zeugenvernehmung gegen jede Prozeßordnung verstieße. Wenn also der Verurteilte noch von der Möglichkeit Gebrauch machen möchte, etwas zu sagen, so sollte er nicht vergessen, dass er dies ausschließlich der unbegreiflichen Güte dieses Gerichts verdankt und dass das Urteil davon völlig unbehelligt bleibt.

Aschberger: So sage ich denn, dass ich mich nie vorgedrängt habe, mir einen klingenden Namen zu erwerben, und dass ich, was ich geworden bin, durch meine Frau geworden bin. Durch ihre Anteilnahme, ihre Pflege, ihr uneingeschränktes Vertrauen zu mir.

Staatsanwalt: Das haben Sie alles bereits erzählt.

Aschberger: Nur dass unsere Verbindung nicht allzu lange Bestand hatte. – Kurz nach meiner Verheiratung erkrankte meine Frau. Wie man mir mitteilte, handelte es sich um eine fortschreitende, unheilbare Krankheit. In den ersten 10 bis 20 Jahren spottete ich noch der Krankheit. Ich wollte mit dem Ungemach schon zurechtkommen. Da und dort ein paar kleinere Einschränkungen, was hatte das schon zu bedeuten? Wir richteten uns ein, so gut es ging. Ich hatte zwar eine kranke Frau, aber immerhin doch noch immer meine Frau. Das heißt, ich stand noch im Leben und empfand das Leben und freute mich am Leben. Damals freilich überlegte ich mir schon, auf welche Weise wir unsere Tage gestalten und wie ich sie aufmuntern könnte. Wenn ich mir aber auch vieles einfallen ließ, so vermochte ich es doch nicht, den Fortgang der Krankheit auch nur um ein weniges aufzuhalten. Da war´s nicht damit getan, dass man sein Soll erfüllte, tagaus, tagein. Kaum dass eine Woche herum war, hatte man neue Lektionen zu erlernen. Wiewohl es mir selber leidlich gut ging, wurde ich, angesichts der immerfort neu hinzukommenden Maläsen, immer unleidlicher und unerträglicher. Niemanden wollte ich alsbald mehr sehen. Von niemandem etwas wissen. Wenn ich zum Fenster hinaus schaute und dem Treiben der Menschen zusah, war mir, als schaute ich in weite Ferne oder als schaute ich auf Menschen, als lebten sie vor vielen tausend Jahren und ich hätte nichts mit ihnen zu tun. Wenn ich z.B. sah, wie der Nachbar seiner Frau die Post brachte – sie saß auf der Treppe in den Garten und rauchte –, da war mir, als schaute ich in eine zauberhaft vergangene Welt. Vollends in der Ferienzeit, wenn sich alle Welt auf Reisen begab, sich in der Fremde zu vergnügen, und wir waren die einzigen, die noch zu Hause weilten, was ließ ich mir da nicht alles einfallen, um mich davon abzulenken, dass ich nicht merkte, dass ich wie ein Gefangener zu Hause angeschmiedet saß! Mochte auch ein noch so schöner Tag anbrechen, da fragte keiner mehr: was fangen wir nur mit dem herrlichen Tag an? Er kam und er ging und die Krankheit schwang dazu das Zepter. Wenn mich aber einmal das Fernweh allzu sehr überkam, lehnte ich mich ins Fenster und sah dem Gras zu, wie es der Wind hin und hertrieb; und dann bildete ich mir ein, dass es sich nirgends auf der weiten Welt eindrucksvoller hin und her bewegte als hier bei uns. Alles das konnte aber nicht verhindern, dass eine immer größere Müdigkeit von mir Besitz nahm. Wann immer ich mich aufs Sofa legte, fielen mir die Augen zu und ich schlief ein. "Kennst du mich denn nicht mehr?" erkundigte sich immer wieder der eine und andere meiner Blicke, ohne aber eine Antwort zu erhalten. Je mehr die Krankheit von uns wegfraß, um so dringlicher schien mir die Aufgabe, dass wir uns auf´s Unerlässliche besännen und es festhielten. Ja, mitunter war mir, als hätten wir uns verloren und wir müßten uns aufs neue kennen lernen. Manchmal aber, wenn das Fenster offen stand und von draussen der Geruch frisch geschnittenen Grases ins Zimmer drang, war mir, als befände ich mich auf dem Friedhof, wie ich ihn als Kind erlebt hatte.

Wenn ich meiner Frau etwas Gutes tat, einer kleinen Besorgung nachkam oder sonst etwas tat, wovon ich dachte, dass sie sich darüber freuen könnte, gab sie kaum mehr einen Laut von sich. Von einem schwachen Lächeln abgesehen waren weder Zeichen der Freude mehr zu vernehmen, noch auch einmal ein Zeichen des Schmerzes und Unwohlbefindens. Ihr fehlte einfach die Kraft, sich zu äußern. Alles versank immer mehr ins Innere, in eine bodenlose Tiefe.

Immer wieder fasste mich die Wut, wenn ich dachte, dass dies noch der einzige Weg war, den wir zu gehen hätten. Zumal bei Arbeiten in der Pflege, bei denen ich meine letzten Kräfte zu mobilisieren hatte, wenn manches nicht so gelaufen war, wie ich es mir vorgestellt hatte – und wie oft kam das nicht vor! –, geschah es, dass ich die Selbstbeherrschung verlor und aufbrüllte ob dieser gottlosen Krankheit. Ja gleichsam, als ob die Krankheit mir wie ein Feind gegenüberstünde – ich nannte sie "schweigender Satan!" –, forderte ich sie höhnend heraus, indem ich den Tag in Aussicht stellte, wo sie einmal ihr gesamtes Repertoire erschöpft hätte. Wenn sie dann alles getan hätte, was sie mir an Leid antun konnte, dass auch kein Stäubchen mehr zu wünschen übrig bliebe: ja dann wollte ich sie mit Spott und Hohn überschütten und endlich so totschlagen, dass sie nimmer das Haupt erhübe.

Ein Kind, das tut, was man ihm sagt, ein Kind, das einem kleinere Wünsche erfüllt und das sich gar daran freut, sie einem erfüllen zu können, das nennt man lieb. Einen Kranken aber, der von seiner Krankheit beherrscht wird, ein Kranker, dessen Krankheit sich einen Dreck schert um die Wünsche des Pflegers, eine Krankheit, die macht, was sie will: wann nennt man die lieb? Jedenfalls scherte die Krankheit sich nicht um meine Deklamationen. Gegen die Tiefe ihrer Weisheit, die unerschöpfliche Kenntnis ihrer Wege und die Unbegrenztheit ihrer Einfallskraft kam kein einziges Wörtchen von mir an. Nur manch blauer Fleck am Körper meiner Liebsten erinnerte mich noch Tage später daran, wie weit es bereits mit mir gekommen war. Ja bei solch einer Gelegenheit hätte ich am liebsten ein Beil genommen und die gesamte Welt gesegnet. Manchmal wär mir wohl auch nicht unlieb gewesen, die Polizei oder die Mediziner wären gekommen und hätten mich abgeführt. Kurze Zeit danach aber, wenn Liebchen wieder einen Versuch machte und mich beschwichtigend anschaute, beinahe als hätte sie nichts von meinem wahnsinnigen Ausfall mitbekommen, dann schaute auch ich sie an, als wollte ich sagen: "Ja, das war nun wieder mal nichts. Und das mit der Polizei und mit der Irrenanstalt, das vergessen wir am besten wieder. Denn dann hättest du ja niemanden mehr, der dich pflegte!" Und Tränen verzweifelten Lachens rannen mir übers Gesicht.

Unterdessen aber verschlimmerte sich die Krankheit so sehr, dass ich vor dem trübseligen Hintergrund kaum mehr etwas sah. Endlich, als auch schon eine Unterhaltung über Alltägliches nicht mehr möglich war und als auch meine Selbstbelügungen, als verstünde mich meine Frau immer noch, mir nicht mehr weiterhelfen wollten, trug ich mich mit dem Gedanken, ein neues Leben zu beginnen. Oft saß ich neben ihr am Krankenbett, wobei sie nichts anderes tat, als mir immer wieder einmal schweigsam zuzulächeln, während ich mir überlegte, ob sich nicht etwas finden ließe, ein großes Bild, eine große Szene, vielleicht auch eine stille Gebärde, in der wir uns zusammen mit der Menschheitsfamilie widergespiegelt fänden. Mitunter ging ich auch den Gang meines Lebens zurück, wobei ich aber an keine Aufrechnung oder Abrechung dachte. Selbst den Feinden, die mir das Leben verbittert hatten, gedachte ich mit Duldsamkeit zu begegnen. Waren wir Menschen nicht samt und sonders geplagte Wesen?

(Der Staatsanwalt ist längst aus dem Raum gegangen wie zuvor Minos.)

2. Abschnitt: Aschberger spricht davon, in Minos seinen Schwiegervater erkannt zu haben.

Aschberger: (Er ist jetzt nur noch von stummen Schreibern umgeben, die ihn anschauen und Notizen machen. Er stellt sich aber schon gleich vor den leergewordenen Platz des Minos und redet, als ob er noch immer da wäre.) Wie ich sehe, sind wir allein unter uns, meine Herren! So kann ich Ihnen denn nun noch kurz mitteilen, was aus meinen Erwartungen geworden ist, mit denen ich hierher gekommen bin! Auf eine königliche Gestalt, auf einen großen Richter, ja auf ein großes Gespräch hatte ich einmal gehofft, wenn ich hier ankäme! Vielleicht hätten wir uns noch darauf geeinigt, dass ich es noch zu etwas Gutem hätte bringen können, wenn ich nur ein paar Menschen angetroffen hätte, die mir immer wieder einmal gern zugehört hätten. Ja vielleicht wären wir noch ein Stück weiter gekommen, indem wir uns klar geworden wären, dass es dem Zeit- und Weltgeist vollkommern einerlei ist, ob einer ein Talent zum Vorschein bringt oder nicht, und dass wir eben zu sehen haben, wie wir uns durchschlagen. Doch auf wen stieß ich? Wen habe ich angetroffen, sowohl im früheren Leben als auch hier? (zu den Kanzlisten) Meine Herren, wenn Sie den Auftrag haben, meine Rede zu protokollieren, dann geben Sie gut acht. Und da ich keine Angst habe vor irgendwem und irgendwas, so will ich Ihnen zuerst verraten, wer sich unter dem Purpurmäntelchen des Herrn Gerichtspräsidenten Minos versteckt hält. Am liebsten hätte ich es ihm selber gesagt. Da er es aber vorgezogen hat, clam heimlich die Stätte des Gerichts zu verlassen, so sage ich denn Ihnen: dass der Herr Gerichtspräsident Minos kein anderer ist als der frühere Gerichtspräsident am Landesgericht zu R., und dass er kein anderer ist als mein Herr Schwiegervater, ein unberechenbarer, launischer und schwieriger Mann! Doch das ist noch nicht alles. Passen Sie auf, denn jetzt pack ich vollends aus. Und dann lasst uns sehn, was sich das hohe Gericht einfallen läßt, um mich den Rest meines Lebens mit der Gnade seiner allerhöchsten Ungnade zu verfolgen!

Da hab ich nun also geglaubt, einem ordentlichen Richterkollegium gegenüber zu treten, hab geglaubt, großen Männern zu begegnen, die wissen, wozu das Leben gut ist! Nun aber tauchte ein Mann auf, der selber froh sein kann, wenn man ihn nicht auf die Anklagebank setzt. Oder ist es nicht ein Witz, dass just der Mann mich richten sollte oder richten wollte, der mir mein Leben so schwer gemacht hat! Er, der sich nie dazu durchringen konnte, seiner Tochter und mir den Segen zu geben? Was denn trieb ihn dazu, sich so bockig und quer zu stellen? Was haben wir uns zuschulden kommen lassen? Oder war das die ihm vorbestimmte Aufgabe, dass das Töchterchen nicht im bräutlichen Schnatz zur Kirche gehen konnte, war das seine Aufgabe, das frohe Fest der Jugend zu verderben, war das seine Aufgabe, uns unser Leben mit dem Fluch zu verderben? Waren wir nicht fertig mit unserem Studium und standen beide im Beruf, auf eigenen Beinen? Mag sein, dass der Herr Schwiegerpapa einigen Grund hatte, sein Töchterchen zu behüten vor einem jungen Mann, in dem es wenig geheuerlich rumorte. Mag sein, dass ihm vor dem Einhorn bangte, das er nur durch eine schöne äußere Form gebändigt zu sehen glaubte. Zumal da der junge Mann selbst im grimmigsten Winter vor seinem Haus nur sandalenbeschuht auftauchte, erinnerte er ihn mehr an einen Wilden als an die Cortegianos ehemals glänzender Höfe Italiens oder an die wie aus dem Ei gepellten Gerichtsreferendare, die bei ihm praktizierten. Hinzu kam endlich noch, dass Schneeweißchen sein jüngstes Töchterchen war. Niemals sollte mit der jüngsten Tochter das Heiraten beginnen. Das war schon immer so. Mag aber auch nie die Grumt vor dem Heu kommen, und mag man den Hafer nie vor dem Korn schneiden, und mag Laban seine Rachel nicht vor der Lea weggeben, was konnte meine Freundin dafür, dass sie ältere Schwestern hatte?

Mag sein, dass ich ihm sein Töchterchen geraubt habe, weil es Vätern seit alters im Blut liegt, als ob ihnen ein gewisses Besitzrecht über ihre Töchter zukommt. Mag sein, dass er mithin ein gewisses Recht gehabt hat, mir Vorwürfe zu machen. Aber hatte er ein Recht darauf, seine Tochter für immer für sich zu behalten? Einmal mussten seine Vorwürfe der Einsicht weichen, einmal musste er seinen Segen geben, wie lange und wie kalt er ihn auch hinausgezögert hatte, einmal musste er damit aufhören, auf den Nimmerleinstag zu vertrösten, wann er seine neuen Möbel beisammen hätte! Oder glaubte er, ewig Rache halten zu müssen, weil ich seinem Haus ohne seine Erlaubnis genaht war? Einmal, es war schon nach Mitternacht, als ich sein Töchterchen ins elterliche Haus zurückgebracht hatte, wir hatten kaum den Hausflur betreten, kam er wie ein wilder Stier aus dem Zimmer gerannt, den jugendlichen Eindringling hochkant aus dem Haus zu werfen. Nur dass der junge Mann sich zur Wehr setzte und es zu einer handfesten Auseinandersetzung kam. Das mag dann wohl die Ursache gewesen sein für eben jene ewige Rache.

Von unserer Hochzeit aber will ich überhaupt nicht reden. Nicht nur dass er und seine Frau fehlten, auch seine beiden wackeren Söhne blieben zu Hause. Natürlich fiel ihnen das nicht weiter schwer. In Nebensachen tat man stets und anstandslos, was immer der Tyrann wollte. Auch die beiden restlichen Töchter hätten selbstverständlich gefehlt, hätte er sie nicht ausgesandt, wenn freilich auch nur als Späher und Spione mit fest umrissenem Auftrag. O wie seh ich sie noch, wie sie etwas erhöht auf einer Treppe standen wie steinerne Hochzeitsgäste und unseren Auszug aus der Kirche verfolgten! Unschwer war aus ihren Gesichtern zu lesen, wie unfassbar das alles für sie war, was da geschah. O und dann kam die erste Schwangerschaft, eine Schwangerschaft, die doch an und für sich schon mühselig genug ist! Selbst noch, als das Töchterchen im Wochenbett lag, glaubte der Vater, an seinem Ingrimm festhalten zu sollen. Das Äusserste, wozu er sich durchringen konnte, war, dass er der Mutter einen Besuch erlaubte! War das nicht schön von ihm, dass er, während er darunter litt, vom Vater zum Großvater zu avancieren, doch immerhin seiner Frau erlaubte, die Tochter im Wochenbett – es war das erste Enkelkind – zu besuchen? Damals begann die schreckliche Krankheit, die uns ein Leben lang begleiten sollte! Haben Sie es aufnotiert? (inzwischen sind die Schreiber abgezogen und verschwunden) Wie? Ich bin allein, ich rede allein, keiner hört mir zu? Keiner schreibt etwas auf, dass man es auch morgen und übermorgen noch nachlesen kann?

(Er eilt in Richtung auf die Wand, wie zuvor Minos und Rest, scheint sich dort aber zu verirren und verschwindet.)

3. Abschnitt: Ein Bankett für die Verlobung

Ein großer festlicher Saal. Auf der einen Seite ein Festtagstisch mit Gedecken etc. Hier nehmen nun Platz: Minos und Schneeweißchen in ihrem weißen Wickelkleid und mit weißen Handschuhen, flankiert von seinen beiden Söhnen, sodann Staatsanwalt Dr. Rest, Dr. Kleckser, Köpfer. Sie werden von den Sängerinnen und Tänzerinnen bedient. Auf der anderen Seite, etwas später, machen sich zwei Prügler oder Schulbüttel an die Arbeit.

Minos: Meine Herren! Wollen Sie nicht auch gefälligst Platz nehmen, auf dass wir uns an den Delikatessen erlaben, die uns diese reizenden Damen darzureichen haben? Oder ist dies nicht der Auftakt zu einem herrlichen Gericht?

(zu Schneeweißchen, während Suppe ausgeteilt wird) Aber mein Schätzchen, ist dir nicht wohl? Sind diese Herren nicht allesamt freundlich und nett und zuvorkommend? Was hast du nur? – Nun, meine Herren, was sagen Sie zu Schneeweißchen, meiner reizenden Tochter?

einige der Anwesenden: Fehlerlos, jung und hübsch, ganz unserer Verehrung wert!

Minos: Und nun, meine Herren, lassen Sie sich´s schmecken! Eine so herrliche Suppe haben Sie noch nicht gegessen. – Und du, meines Herzens Schätzchen, geh uns mit gutem Appetit voran! Heute musst du nicht auf dein Gewicht achten.

Staatsanwalt: Ist Ihnen nicht gut?

Minos: Warum isst du nicht?

Schneeweißchen: Ich habe keinen Hunger.

Minos: (zu Schneeweißchen) Du musst aber unseren Gästen mit tapferem Appetit vorangehen. (zum Staatsanwalt) Aber auch Sie sollten sich etwas mehr aus sich heraus bewegen, Dr. Rest.

Kleckser: Zumal als Schwiegersohn in spe sollten Sie sich keine Gelegenheit entgehen lassen, durch zarte Aufmerksamkeiten zu glänzen.

Köpfer: Das sage ich auch! Als Verehrer hat man die Aufgabe, der Dame des Herzens auf immer neue und wunderbare Weise seine Verehrung zu verstehen zu geben.

Staatsanwalt: Nun, mein Fräulein? Finden Sie keinen Gefallen an dieser wundervollen Bouillon-Suppe mit den leckeren Fleischstückchen? Noch nie habe ich eine so wohlschmeckende und schöngarnierte Suppe gesehen.

Schneeweißchen: Lassen Sie es sich nur schmecken.

Minos: Du aber, Schneeweißchen, solltest ihm den Weg zu dir nicht auch noch erschweren. So wie ich dir entgegengekommen bin, als du wieder nach Haus kamst, nachdem du als kleines leichtfertiges Schneevögelchen aus dem Haus geflogen warst, ahnungslos, ohne das geringste Wissen von der Welt, so musst du jetzt auch ihm entgegenkommen.

Kleckser: In der Tat! Gibt es noch sonst wo ein so liebliches Schneeweiß, wie auf den Wangen von Fräulein Tochter? Der schönste Schnee, wenn er von den winterlichen Bergen mittags herabglänzt, reicht nicht hier heran.

(Aschberger kommt lautlos und nur von Minos bemerkt herein)

Minos: Ist da noch jemand?

Staatsanwalt: Wie?

Minos: Ist da wer zu uns gekommen?

Köpfer: Wer soll zu uns gekommen sein? Hier ist kein Stuhl mehr frei.

Kleckser: Wo waren wir stehen geblieben? Ich bitte Sie meine Herren! Will uns das niemand sagen?

Köpfer: Entschuldigen Exzellenz! Aber Exzellenz können sich mit Ihren beiden Söhnen durchaus sehen lassen! Jawohl, sie haben der Welt gezeigt, was eine Harke ist. Und wären die Zeitläufte nur noch so gewesen wie in der guten alten Zeit, sie hätten gewiss nicht gezaudert, die verletzte Ehre ihres Herrn Vater aufs Blutigste zu rächen. Meine Damen und Herren, versäumen Sie nicht die Gelegenheit, zwei Männern zu huldigen, die eine so beispiellose Entwicklung hinter sich haben, wie sie die Welt bislang noch nicht gesehen! Noch in 1000 Jahren wird man ihre Namen mit Ehrfurcht aussprechen.

Kleckser: Es lebe seine Exzellenz, Gerichtspräsident Minos. Es leben die Väter, die es schaffen, auf ihre Söhne als große Männer zu schauen. Es leben alle großen Männer wie auch ihre groß gewordenen Söhne!

Minos: Aber auch der Staatsanwalt Dr. Rest soll leben! Oder wer wäre von so tadelloser Erscheinung wie unser Staatsanwalt? Wer so dezent gekleidet wie er? Wer so des Wortes mächtig? Wer so deutlich, so schnörkellos in seinem Auftreten, so klar bis zur Verwegenheit? Jeder Prozess, bei dem er mitgewirkt hat, zeigt seine Handschrift. Wahrlich, alle Welt fühlt sich hochgeehrt, wenn wir jetzt das Fest der Verlobung von Staatsanwalt Dr. Rest mit Schneeweißchen, der Tochter seiner Exzellenz feiern.

alle: Dr. Rest und Schneeweißchen, sie leben hoch!

Minos: (für sich) Und doch fühl ich mich nicht wohl.

Staatsanwalt: Was fehlt seiner Exzellenz?

Minos: Die Suppe, auf die ich mit so viel Appetit gewartet habe, widert mich an!

Köpfer: Fehlt das Salz an der Suppe?

Kleckser: Schaut euch doch nur Schneeweißchen an! Wie bleich sie ist! Was hat das arme Kind?

Bedienung: Darf ich Ihnen noch nachreichen?

Kleckser: Wie?

Bedienung: Wollen Sie noch einen Teller?

Kleckser: Sehr gerne. Wenn Sie noch haben, geben Sie mir auch noch ein paar von den wunderbaren Fleischklößchen!

Aschberger: (für sich im Hintergrund) Was für ein Widerspruch! Dass doch das Liebste mit dem Hässlichsten so unauflöslich verknüpft ist!

Minos: Ihr alle widert mich an!

Köpfer: Was belieben Eure Exzellenz zu sagen?

Minos: Dass ihr mich alle anwidert!

Kleckser: Aber Exzellenz!?

Minos: Auch du, Schneeweißchen! Es war doch sehr brutal, wie du dich mir gegenüber verhalten hast, unverzeihlich brutal! Und auch jetzt will mir dein Verhalten nicht gefallen.

Kleckser: Immerhin ist es Ihre Tochter!

Minos: Warum versteckt sie ihre Hände in den weißen Handschuhen? Ist das hier so Sitte?

Kleckser: Vielleicht eine Marotte, durchaus verzeihbar.

Minos: Zum Essen braucht man keine Handschuhe.

Kleckser: Gewiß doch.

Minos: Es dreht mir die Eingeweide zum Hals heraus!

Kleckser (zu Köpfer): Vielleicht, dass sich Exzellenz beruhigen, wenn Sie uns etwas erzählen!

Köpfer: Man muss ja nur daran denken, dass nichts eines Gedankens wert ist, was an und für sich nichts wert ist! Denken Ihre Exzellenz doch nur daran, wie wenig man in der Jugend mit sich bekannt ist. Man sagt da zwar gerne, ich liebe dich; doch weiß man weder, wer man selber ist, noch auch wer der andere ist. Man bleibt sich total fremd. Das ist das ganze Geheimnis. Oder hab ich nicht recht, Herr Kleckser?

Kleckser: Erst im Alter, wenn man mit sich bekannt geworden ist, erkennt man, in was für einer Welt man sich eingenistet hat.

Köpfer: Deshalb nennen sie ja auch den Gott Amor blind.

Minos: Gesteh nur! Nie wolltest du meinem Feind erhören und hast es doch getan? Warum nur?

Schneeweißchen:

Ich wußte wohl, nie würdest du ihm Freund,

und liebt ihn doch, und wurde so dein Feind.

Aschberger (entfernt, für sich): Ja, teuer ist der Preis, ihr junges Leben hat sie dem Feind als Schuld dahingegeben.

Minos: Heraus jetzt mit den Händen!

Staatsanwalt: Würden Fräulein Schneeweißchen so gütig sein, uns ihre Hände zu zeigen?

Schneeweißchen: (zieht die Handschuhe aus und zeigt die entfingerten Hände)

(allgemeines Entsetzen)

Minos: Meine Damen und Herren! Gibt es hier noch etwas zu sagen?

Kleckser: Exzellenz, wir sind entrüstet!

Minos: Pfui über diesen Fraß! Wo sie mir gehört mit Haut und Haar, werd ich mich da abspeisen lassen mit diesen Fingern?

Staatsanwalt: (zu Kleckser) Es wird höchste Zeit, dass wir mit der Schau beginnen! (zu Minos) Es ist etwas im Gang, was die Würde des Gerichts befleckt.

Kleckser: (beiseite zu den Bütteln) Meine Herren, beginnen Sie, ihres Amtes zu walten! Und zwar quam celerrime! (die Büttel beginnen, Versuchsgeräte auf einem Experimentiertisch zusammenzutragen, eine bereits vielmals benutzte Zinkplatte als Grundbrett, eine Art Galgen aus Kupfer, sowie ein Kupferstab mit einer Kupferleitung, alles sehr groß. Hier wird alsbald Benjamin als Frosch im Volta-Versuch eingespannt.)

Minos: Überhaupt, warum ist diese verdammte Suppe noch nicht abgeräumt?

Aschberger: (während man die Suppe abräumt und Gläser zum Trinken bereitstellt) Was tatest du nur, Schneeweißchen, damals, als du dich dazu entschlossest, dir die Finger abzuschneiden? Du hast dein Leben dadurch nicht wiedergewonnen, da hast du es nur getilgt; getilgt und vertilgt und ausgelöscht für immer.

Staatsanwalt: Und nun bringe man den Wein! Und zwar den besten, den wir haben. Den Lieblingswein seiner Exzellenz. Den Wein, der alles vergessen läßt und der Ruhe schenkt!

Dienerin: (geht)

Staatsanwalt: Und Sie, verehrter Meister Köpfer, möchte ich bitten, sich Gedanken zu machen über ein Lied, das wir bei unserer Verlobung singen können! Vergessen Sie dabei auch nicht, dass der besagte Wein der Wein war, den Exzellenz zu trinken beliebten mit seiner Blanchette. (zu Minos gewandt) Das war doch damals, als Sie in Frankreich stationiert waren in Lyon. Als jungem Richter war Ihnen die Leitung eines großen Automobilunternehmens anvertraut. Oder ist es nicht so?

Minos: Es war eine unglaubliche Zeit. Fast als hätte mir alles nur geträumt.

Staatsanwalt: Trinken wir auf seine Exzellenz und auf Blanchette!

alle: Sie mögen leben!

Staatsanwalt: Natürlich schrieben Sie damals regelmäßig Briefe nach Hause. Aber das Leben mit seinen Tagen und Stunden war unverkennbar ein anderes geworden. Der Himmel, zumal mit seinen südlicheren Sternen, schien größer und bedeutender als der graubraune Himmel des Nordens. (auf Schneeweißchen schauend) Nicht wahr Blanchette, da warst du mit seiner Exzellenz zusammen. Die Franzosen nannten das Kollaboration. Aber das störte nicht.

Minos: Was uns angeht, so waren wir bei den Leuten beliebt. Schließlich taten wir niemandem etwas zuleid, keinem Menschen, nicht einmal einer französischen Laus. Nachbarn und Freunden meines Liebchens, wem immer sie hold gesinnt war, attestierte ich, wenn sie es nur von mir begehrten, dass sie 30 Stunden am Tag hart gearbeitet hatten. – Als der Krieg dann aus war und ich wieder nach Hause kam, trafen wir uns wieder. Nicht wahr Liebling. Warum sagst du nichts? – Wenn ich von nun an auch nicht mehr Blanchette zu dir sagte, so erkannte ich dich doch gleich wieder. Du standest ja stets als meine wundervolle Sekretärin an meiner Seite.

Staatsanwalt: Einmal freilich hattet ihr es wohl etwas zu weit getrieben.

Minos: Das war in der Not der Nachkriegszeit.

Staatsanwalt: Da brachten Sie Schneeweißchen das Festtagskleid Ihrer Frau, dieses wundervoll weiße Wickelkleid aus Lammwolle.

Minos: Was soll das? Hab´ ich nicht gesagt, dass ich davon nichts mehr hören will!

Staatsanwalt: Man kann sich vorstellen, dass Ihre Frau, als sie davon erfuhr, aus dem Häuschen war.

Minos: Kein Wort mehr! (zu Schneeweißchen ) Geh und zieh das häßliche Kleid aus! Ich mag es nicht mehr sehen! Ich hab es satt! Weiß ist die schmutzigste Farbe, die es gibt! (Schneeweißchen geht) – Und das merken Sie sich sehr gut, Dr. Rest! Wenn es um die Reize meiner Tochter geht, bin ich von einer übermäßigen Gereiztheit. Es könnte durchaus sein, dass ich Ihnen in meiner Gereiztheit als ein böser Dämon erscheine. Zwar habe ich mehrere Töchter, aber nur eine Tochter! –

Aschberger (für sich): Ah, wie es mich plötzlich wieder an jenes wohlgenährte, schwarz glänzende Tier erinnert, an diese grässlich gefräßige Krähe! Lange Zeit war sie auf einer Eiche gesessen, sich das Treiben der Menschen anzusehen. Eines Tages aber war es, genauer noch an einem sonnigen Tag im Frühling, da hob sie ab und flog davon. Du aber, Schneeweißchen, saßest im Kreis der Familie und warst mit dem Ausbessern der Winterkleidung beschäftigt. Eben hattest du damit begonnen, das weiße Wickelkleid zu säubern, als die Krähe auf dem Fensterbrett landete. Da du, Schneeweißchen, dem Fenster zugewandt sassest, hattest du das Tier gleich bemerkt und hattest wohl auch verstanden, weshalb es gekommen. Von den anderen Mitgliedern der Familie aber schien niemand von dem Tier Notiz zu nehmen. Noch hattest du nicht die Kraft gefunden, um Hilfe zu rufen: da hatte sich das Tier auch schon vom Fenstersims abgehoben und flog geradewegs auf dich zu.

Kleckser: Verehrter Meister Köpfer, vielleicht hat sich in ihrem Kopf schon ein Lied zusammengebraut, das wir bei der Feier der Verlobung singen können?

Köpfer: Ich müßte nicht der große Köpfer sein, wenn mir nicht stets die Sprache zu Diensten stünde.

Kleckser: Wie wärs, wenn wir es mal zur allgemeinen Aufheiterung probierten?

Köpfers Lied (wobei der Refrain von allen wiederholt wird):

Hei, hei, hei:

wer ratet denn im Mai?

Im Juni ist ja auch noch Zeit,

wenns heiß ist und kein Mensch gescheit.

Hei, hei, hei:

wer ratet denn im Mai?

 

Und kommt der Herbst, die kühle Nacht

gern auch die Lust zu zweien entfacht,

Kein Zweifel, gut ists, wenn zu zwein

man sich des Lebens mag erfreun,

Hei, hei, hei:

wer ratet denn im Mai?

 

Ein Schmätzchen auf den Butziwatsch,

mein Schätzchen freut´s, mach ich auch Quatsch,

und noch ein Schwänzchen hinterdrein,

das darauf brennt, sich einzureihn.

Hei, hei, hei:

wer ratet denn im Mai?

 

Die schönste Lüge, die es gibt,

ist, wenn sie niemanden betrübt,

ja wenn sie alle heiter stimmt,

auch wenn der schlimmste Winter grimmt.

Hei, hei, hei:

wer ratet denn im Mai?

 

Auf meine Lieder hört man gern

selbst noch in Asiens weiter Fern.

Mein Herz, es ist ja voll von Liedern,

weil jedes Herz sie möcht erwidern.

Hei, hei, hei:

wer ratet denn im Mai?

 

Jawohl, mein Herz von Liedern voll,

ich spür´s, ist manchmal etwas toll.

Lasst ihr es singen, wie es will,

vor keiner Grube hält es still.

Hei, hei, hei:

wer ratet denn im Mai?

Kleckser: Köpfer, Sie sind ein Genie!

Köpfer: Nun, nun.

Kleckser: O ja! Und Sie offenbaren uns auch den Weg, den Sie als Genie gegangen sind. Es gibt zwar viele, die sich den Wunsch, das größte Genie aller Zeiten zu sein, so einbilden und daran glauben, dass sie einen für einen Ketzer halten, der daran zweifelt. Aber bei Ihnen ist das etwas anderes.

Aschberger (seitwärts, für sich, ungesehen von den anderen): Vom egozentrierten Stürmer und Dränger zum selbstverliebten Spielergott, das ist der Weg des Ausnahmetalents, des Genies. Und das alles auf der Bühne und vor den Augen einer geräuschvoll blind akklamierenden Welt.

Kleckser: Wenn ich Sie fragen darf: wie viel Preise haben Sie schon erhalten?

Köpfer: O, das kann ich Ihnen nicht sagen.

Kleckser: Sehr viele also.

Köpfer: Wissen Sie, mit den Preisen verhält es sich wie mit den Titeln. Man braucht sie nur, um ganz sicher zu sein, dass man sie nicht braucht.

4. Abschnitt: Wie Froschmann in Schneeweißchens Schoß gelegt wird.

Kleckser: Mag sich seine Exzellenz nun ansehen, wie meine beiden Büttel das Experimentieren beherrschen! Das wird seiner Exzellenz wohltun. Meine beiden Alessandros sind nämlich vorzügliche Experimentatoren. – Hopp, hopp, hopp, Alessandro! Den Frosch her und weg mit aller Tünche! Den Frosch her!

(Die Büttel legen sich unter Clowneinlagen weiße Experimentiermäntel um und holen aus der Tiefe eine billige Sarg-Kiste, in welcher sich Froschmann befindet. Dahinter betritt Schneeweißchen wieder den Saal. Sie hat immer noch das weiße Wickelkleid an)

Minos: Ich wollte lachen, wenn nur der Widerwille nicht überwiegte!

Kleckser: (während die Büttel die Kiste öffnen) Und nun beeilt euch! Spannt ihn ein ins Demonstrationsexperiment! Zeigt, dass ihr euer Handwerk versteht!

1. Büttel: (zum Toten) Mein Herr, jetzt wird aufgewacht!

Froschmann: Ich bin aufgewacht.

1. Büttel: Dann halt er sich bereit! Er weiß, dass er jeden Tag seine gerechte Strafe bekommt!

Froschmann: Tut, was ihr zu tun habt! Ich bin bereit.

2. Büttel: Dann steh auf. Und nun ruhig dagestanden! (legt ihm den Strick um) – Steck er ihm die Kupferleitung ins Rückenmark! Und dann sehen wir zu, dass wir die Füße mit dem Grundbrett in Verbindung bringen!

Schneeweißchen: Sei tapfer, Benjamin. Bald hast du es überstanden!

Minos: Macht endlich!

Kleckser: Kurzschließen!

1. Büttel: Es kann sein, dass es ihm weh tut, wenn seine Beine auseinanderfahren.

Kleckser: Nur zu und genier er sich nicht!

Froschmann: Nur keine Rücksicht! Ich verdien´ es nicht besser.

Kleckser: Leider spricht er nur allzu wahr. Vergeblich versuchte ich ihm klar zu machen, dass nur die von mir praktizierte Haltung weiterträgt. Sein Benehmen hat mich erschreckt, sagte ich zu ihm; aber er ließ sich auch dadurch nicht disziplinieren; er verschmähte meine Loyalität, zu der nun mal auch die Ehrlichkeit gehört.

1. Büttel: (er tut´s; die Beine von Froschmann fahren auseinander)

2. Büttel: Quod erat demonstrandum!

Kleckser: (er glaubt in Froschmann den Aschberger zu erkennen) So weit hast du es gebracht, Aschberger! Ecce homo!

Minos: Das ist unerträglich! (er ist aufgestanden und geht aus dem Raum)

alle: Das ist unerträglich! (Dem Minos folgen die beiden Söhne und die anderen bis auf Schneeweißchen und die beiden Büttel und Aschberger. Der Staatsanwalt geht zögerlich am Schluß hinter Minos her.)

Schneeweißchen: O Bruder! Für heute hast du es überstanden. Und an morgen wollen wir noch nicht denken.

Froschmann: Dass ich etwas Schönes zustande bringen wollte, das war gewiß des Lobes wert. Dass ich dabei versagt habe, das muss ich bedauern.

Schneeweißchen: Was redest du nur? Wer auch hat die Mühen auf sich genommen, dir auf deinem beschwerlichen Weg zu folgen?

Froschmann: Wär ich nicht gescheitert, so lebten wir alle im Glück.

Schneeweißchen: Je höher wir streben, Bruder, um so schmerzlicher wird uns bewußt, wie wenig Talente wir haben. Du suchtest das Wort, doch du fandest es nicht. Du stelltest ihm Fallen, versuchtest, es zu überlisten. Kein Preis schien dir zu groß.

Froschmann: Nun zahl ich den Preis mit ewiger Krankheit.

Schneeweißchen: Bruder, du gehst zu streng mit dir ins Gericht. Dass du keinen Erfolg gehabt hast, darfst du nicht als Scheitern ansehen. Um uns als Mensch zu begreifen, müssen wir uns damit abfinden, an unsere Grenzen zu stoßen. Weil man unfähig ist zu verstehen, urteilt man ab. (zu den Bütteln) Nehmt ihn vom Streckbett herunter und bringt ihn zu mir!

2. Büttel: Das ist uns nicht erlaubt.

Schneeweißchen: Wer hat es euch verboten? – Wenn es niemand verboten hat, dann ist es erlaubt.

2. Büttel: Das mag für Sie gelten, gnädige Frau. Für uns aber gilt, dass uns verboten ist, was uns nicht eigens erlaubt worden ist.

Schneeweißchen: Dann erlaube ich es euch! Komm zu mir, Benjamin. Komm zu deiner Schwester. Leg deinen Kopf in meinem Schoß.

(Die Büttel bringen ihr den Leichnam)

5. Abschnitt: Wie der Staatsanwalt die Hand von Schneeweißchen begehrt, Aschberger dazwischen kommt und Minos Schneeweißchen abholt

Aschberger: Schneeweißchen, mein Liebchen!

Schneeweißchen: Was hast du?

Aschberger: Schon als du den armen Kerl da von der Straße weggeholt hast, hab ich dich erkannt.

Schneeweißchen: Du hast aber doch nichts dagegen, wenn ich mich auch ein wenig um deinen armen Bruder kümmere?

Aschberger: Aber Liebste!

Schneeweißchen: Sieh, wie er zerstört ist!

Staatsanwalt (zurückkehrend): Was geht hier vor sich? – (zu den Bütteln) Warum habt ihr den Mann noch nicht wieder in den Schragen gelegt?

2. Büttel: Die Dame hat es uns verboten.

Staatsanwalt: Blanchette? – Was hat sie sich da einzumischen?

Schneeweißchen: Du hast aber doch nichts dagegen, wenn ich mich auch ein wenig um deinen armen Bruder kümmere?

Staatsanwalt: Das ist nicht mein armer Bruder.

Aschberger: Nein, wahrlich, eher erinnert er mich an ein abgestumpftes Tier.

Staatsanwalt: Auch er sollte schön still sein. Hätte er sich ein Beispiel genommen an seinem Bruder! Oder glaubt er, sein Bruder hätte nicht auch das Zeug gehabt, einen Haufen so tolles Zeug zusammenzuschreiben wie er? Als ob wir uns nicht immer wieder hätten mitansehen müssen, wie er unter Bekundungen peinsam-lächerlicher Tobsuchtsanfälle noch Gott zum Satan gewünscht hat! Und hat er nicht selbst dann noch, als seine Frau schon keines Wortes mehr mächtig war, sie ob ihrer Schwächen und ihres Schweigens drangsaliert? Haben wir nicht gehört, wie er zu ihr gesagt hat: "Der Stein spricht! O Wunder!"

Aschberger: O, mein Herr!

Staatsanwalt: Ursprünglich hatten wir vor, zu schweigen und ihm alles Peinsam-Unangenehme zu ersparen. Doch das wollte er nicht. Vielmehr legte er Wert darauf, in seiner Jämmerlichkeit aller Welt offenbar zu werden. Da behauptete der Angeklagte, mittels seiner erbärmlich stümperhaften Schreibversuche das Leiden seiner Frau lindern zu wollen und fügte hinzu, die Öffentlichkeit sei ihm dabei einerlei gewesen. Nur weil er ganz genau wußte und es keinen Augenblick jemals vergaß, wie gering er herauskäme, wenn eine breite Öffentlichkeit die Proben seines Genies unter die Lupe nähme, weil er sich schämte, ob der vielen Fehler als Nichtsnutz und Scharlatan abgestempelt zu werden, begnügte er sich damit, incognito über die Erde zu schleichen. Jawohl, Angst hatte er, nur allzu berechtigte Angst, in Grund und Boden verdonnert zu werden. Wär´ er selber von seiner Kunst überzeugt gewesen, hätte er gewußt, dass ihm etwas Unsterbliches gelungen, er hätte keinen Augenblick gezögert, überall laut vernehmlich das Wort zu sprechen.

Aschberger: Mag man mir auch zurecht ins Gewissen reden! Dass man diesen Menschen zu Tod geschunden hat, wird er mir kaum erklären!

Staatsanwalt: Er täuscht sich, wenn er glaubt, diese Schindereien seien vom Gericht ausgegangen. Was uns angeht, so versuchten wir, Froschmann daran zu hindern. Je mehr wir ihn aber daran zu hindern versuchten, umso dringlicher bat er uns, ihn gewähren zu lassen. Keine Ruhe gab er, bis dass wir ihn aufs Streckbrett legten und ihm sein "Sei gerecht!" einnadelten. Er selber war es mithin, der uns bat, ihn zu Tod zu schinden. – Doch genug! (zu den Bütteln) Richtet dem Menschen den Schragen!

Schneeweißchen: O mein Herr. Lassen Sie doch die Liebe machen!

Staatsanwalt: Morgen vielleicht, nicht jetzt!

Froschmann: O du, mein Mütterchen!

(Die Büttel nehmen den Leichnam und legen ihn in den Sarg)

Schneeweißchen: Mein Benjamin! (nimmt in ihrem weißen Gewand wie ein Auferstehungsengel auf dem Schragen Platz) Wie gehen mir doch die Augen auf über der Wahrheit des Satzes, den ich einmal gelesen habe: Selbst auf den herrlichsten Fähigkeiten des Armen ruht ein dichtes Dunkel, die Not und das Elend sind Schatten und Wolken, die sie verdüstern, und wenn sie sich zufällig enthüllen, behandelt man sie mit Geringschätzung.

Staatsanwalt: Darf ich Sie bitten, gnädige Frau, sich den Handschuh von der Hand zu streifen, auf dass ich Ihnen meine Hand zum Unterpfand reiche?

Schneeweißchen: Mein Herr, sieht er nicht, wie schwer ich daran trage, meinen Bruder zu trösten?

Staatsanwalt: Mein Fräulein! Es ist der Wunsch Ihres Herrn Vaters. Und was diesen Menschen angeht, so vergessen Sie auch nicht, mein Fräulein, dass er sich geweigert hat, dem allgemeinen Wohl zu dienen. Stattdessen ging er den Weg des geringsten Widerstands und endete am Strick. Ein altes Sprichwort aber ist es, das da sagt: der Strick, an dem einer zappelt, deckt ihn auf! – Nun also! Darf ich auf Ihre Hand rechnen?

Schneeweißchen: Morgen vielleicht!

Staatsanwalt: Nicht morgen! Heute! Jetzt muss es sein!

Schneeweißchen: Das geht nicht.

Staatsanwalt: Ist das Ihr letztes Wort?

Schneeweißchen: Das ist mein letztes Wort!

Staatsanwalt: Ja, dann ...

Minos (erscheint jetzt wieder im Raum, wütend): Was kommen Sie nicht endlich?

Staatsanwalt: Wie kann ich kommen ohne meine Braut? Aber die Dame weigert sich, mir die Hand zu reichen.

Minos: Keine Dame und schon gar keine Braut weigert sich, wenn der Mann nur will!

Staatsanwalt: Ich weiß allerdings nicht, ob ich überhaupt noch wollen soll.

Minos: Sprechen Sie zu ihr: Mein Fräulein! Ich bitte um Ihre Hand!

Staatsanwalt: Mein Fräulein! Ich bitte ... Nein, das kann ich nicht; das kann ich nicht mehr!

Minos: Und weshalb nicht?

Staatsanwalt: Ja sehen Sie sie doch nur an! Steht ihr denn das weiße Kleid? Wenn Sie ihr befohlen haben, es auszuziehen und sie behält es an: muss ich das dann nicht als Provokation auffassen? Oder soll ich sie in Schanden zu meiner Braut machen?

Minos: Mein Herr! Sie ist das Kostbarste, was ich habe!

Staatsanwalt: Mag sein. Aber ich kaufe keine Katze im Sack. Solange ich nicht um die Hand weiß, die unter Ihrem Handschuh steckt, begehr ich ihre Hand nicht! Oder ist es nicht das Leichteste auf der Welt, für einen Augenblick den Handschuh auszuziehen?

Minos: Genug der Possen!

Staatsanwalt: Ist ein Kranker auch noch kein Verbrecher, so lebt er doch das Leben eines Verbrechers. Das wissen Sie ebenso gut wie ich.

Minos: (streng) Komm mit, Schneeweißchen!

Schneeweißchen: (erhebt sich und geht mit)

Minos (zum Staatsanwalt): Und Sie, mein Herr, mögen sich entscheiden, wie immer Ihnen beliebt!

6. Kapitel: Auf der Deponie

1. Abschnitt: Wie Rapsch und Batsch zur Deponie kommen

(Sie stehen vor dem Tor. Ein Wächterturm mit Lampe, unbesetzt. Nacht. Auf dem Nachlass seines Schwiegervaters schläft der junge Niklas.)

Rapsch: Komm endlich! Die Luft ist rein.

Batsch: Und wenn man uns sieht?

Rapsch: Die Luft ist rein, hab ich gesagt.

Batsch: Aber der da! (deutet auf den Schwiegersohn) Schau doch! Der da droben!

Rapsch: Vor einem Gammler hast du Schiss und willst selber ein alter Gauner sein?

Batsch: Woher willst du wissen, dass das ein Gammler ist?

Rapsch: Wer so schläft, kann nur ein Gammler sein!

Batsch: Bist du dir sicher, dass der schläft?

Rapsch: Was schert es uns? Komm endlich, damit wir anfangen!

Batsch: Und hier auf der Deponie wollen wir uns goldene Mäuse ergattern?

Rapsch: Der Nachlass eines großen Schriftstellers ist immer ein profunder Schatz.

Batsch: Woher weißt du, dass der hiesige Schreiber ein profunder Schriftsteller war?

Rapsch: Das ergibt sich schon daraus, dass nur wir allein hier suchen; denn das ganz Große, welches das Fassungsvermögen der gemeinen Menge übersteigt, wird nur von den ganz Großen erkannt.

Batsch: Und was verstehst du unter einem ganz Großen?

Rapsch: Das ist ein Mann, der sich selber versteht und das heißt so viel, dass er nicht verstehen kann, warum er nicht versteht und dass er darunter leidet.

Batsch: Wolltest du nicht sagen, dass er versteht, warum er nicht versteht? Was mich angeht, ich verstehe nämlich auch nicht, warum ich nicht verstehe und gehöre doch wohl nicht zu den ganz Großen. Oder?

Rapsch: Wenn einer verstünde, warum er nicht versteht, dann verstünde er auch. Aber der Verstand muss sich erst selber um den Verstand bringen, um zu sich zu gelangen und d.h., um zur Vernunft zu kommen.

Batsch: Das versteh ich nicht.

Rapsch: Weil du halt kein ganz Großer bist!

Batsch: Schon meine Lehrer früher sagten zu mir: Batsch, ich kann nicht verstehen, wie einer nur so dumm wie du sein kann.

Rapsch: Doch machen wir uns ans Werk! Es wird Zeit. Die Dämmerung rückt schon heran. Die Rotkehlchen singen.

Batsch: Was nehmen wir mit? Alles? Jedes Blatt? Das passt nicht in unsere Hosensäcke.

Rapsch: Da hast du allerdings recht. Vielleicht, dass wir erst mal nach den Filetstücken Ausschau halten.

Batsch: Und wo finden wir die?

Rapsch: Eine gute Frage.

Batsch: Sag mir, wie sie aussehen!

Rapsch: Das ist etwas, was rar ist, von allen begehrt wird und deshalb viel Geld bringt. Wenn es uns viel Geld bringen soll, muss die Nachfrage groß sein.

Batsch: Aber das kann man nicht sehen.

Rapsch: Sehen wir erst mal zu, was hier überhaupt herumfährt!

Batsch: Was also sollen wir tun?

Rapsch: Bück dich und heb ein Stück vom Geschriebenen auf! Dann wollen wir weitersehen!

Batsch: (tuts) Hier!

Rapsch: Zeig her! – "Warnung vor Schwiegersöhnen, eine Komödie".

Batsch: Steht das darauf?

Rapsch: Das steht darauf.

Batsch: Was bedeutet das? Ist das die Bezeichnung für ein Schauspiel?

Rapsch: "Komödie" kann ein Schauspiel sein. Hier aber scheint es die Bezeichnung für ein Prosastück zu sein.

Batsch: Ich dachte immer, eine Komödie sei eine Komödie und ein Prosastück sei ein Prosastück.

Rapsch: Wie soll ich dir´s sagen? Nimm´s einmal so! Ein Tor z.B. kann nicht nur ein Durchlass in einem Mauerwerk sein, sondern auch einen Menschen bezeichnen. Dabei kann der Durchlass aus der geschlossenen Wand gehauen sein; es kann aber auch sein, dass die Wand um das Nichts des Durchlasses gebaut worden.

Batsch: Ist das nicht alles ziemlich kompliziert?

Rapsch: In der Spezifizierung wird alles kompliziert. Im allgemeinen aber ist ein Tor das Fasslichste von der Welt. Um ein Tor zu sein, genügt nämlich schon, töricht zu sein. Man muss noch nicht einmal darum wissen. Hier aber ist wohl von lustigem Töricht-Sein die Rede.

Batsch: Was ist lustig?

Rapsch: Gewiß nicht, wenn man wie du so viele kurzatmige Fragen stellt!

Batsch: Wenn man lachen kann, auch wenn´s nichts zu lachen gibt?

Rapsch: Dann ist man ein Einfaltspinsel, du Narr. Aber vielleicht hast du recht; und nur ein Narrenleben ist lustig.

Batsch: Oder wenn man als Erzbischof seine krank gewordene Haushälterin eigenhändig pflegt.

Rapsch: Das ist gewiß noch nie vorgekommen. Denn der Erzbischof muss ja heilig werden! Doch pass jetzt auf!

(er beginnt zu lesen) Über der schönsten Schneedecke, die man sich nur immer vorstellen kann, war die Morgensonne aufgegangen. Die Luft stand noch still. Ausser den Rosenknospen, die die Sonne in den Schnee malte und gewissen Tappen, die an Sandalen erinnern mochten, war noch nichts zu sehen. Als nun aber der Schwiegerpapa die Rolläden vollständig in die Höhe gezogen hatte und hinaus in den Garten schaute, bot sich ihm ein Bild, dass er seinen Augen nicht traute. Mitten in seinem Garten, auf dem Gartenbänkchen, das er für sich und Schwiegermama als Ruheplätzchen für sommerliche Abendstunden aufgestellt hatte, saßen ein paar Gesellen, wie er sie sein Lebtag noch nicht gesehen hatte: ungeschlacht und wildverwegen sassen sie da mit ihren glänzendbraunen nackten Oberkörpern, kaum mehr an Bekleidung an sich tragend als alte Sandalen, nicht anders als hätte hier der herrlichste Sommer Einzug gehalten und es wär Zeit, es sich bequem zu machen. – Nun, was sagst du dazu?

Batsch: Wenn ich recht sehe, befindet sich der Erzähler bei seinen Schwiegereltern im winterlichen Garten.

Rapsch: Jedenfalls beobachtet er sie von dort.

Batsch: Und das Wilde und Ungeschlachte soll wohl lustig auf uns wirken? – Lies weiter.

Rapsch: (liest weiter) Schwiegerpapa, wiewohl er schon manches in seinem Leben erlebt hatte, hatte solche, das Auge beleidigenden Burschen noch nie gesehen. Was ihn indessen besonders in Harnisch brachte, war die Tatsache, dass diese Burschen, wiewohl er ihnen die schärfsten Blicke entgegenschickte, deren er als Oberlandesgerichtspräsident fähig war, nicht die geringste Miene machten, das Feld zu räumen. Wiewohl er wegen des ungeheuerlichen Tatbestandes eines Hausfriedensbruchs immer mehr ins Toben geriet und er sie um desselben willen bereits hinter Schloß und Riegel sah, geschah nichts weiter, als dass der Wellensittich in seinem Bauer hinter ihm erregt hin und her hüpfte und dabei sein "Wollt ihr gleich!" schrie, wie er es ihn gelehrt hatte.

Da er nun aber nicht der Mann war, selbst auch angesichts solch unverwüstlicher Robustizität der Ereignisse, dieselben als unabdingbare Tatsache zu begreifen, scheute er, selbst auch in der Unterzahl, allein gestützt auf das Recht, den Angriff nicht. Er hatte sich wahrlich keine schlechte Taktik ausgedacht und wäre gewiß als strahlender Sieger vom Platz gegangen, hätte er es nur nicht mit so gottvergessenen, jeglichen Rechtsdenkens baren Gesellen zu tun bekommen. Denn als er nun hinter dem Haus dem oberen Garten zueilte, um von dort, wie von einem unbezwingbaren Feldherrnhügel zum Sturm auf den Feind zu blasen, da hatte er wohl beides auf seiner Seite: den Mut des Tüchtigen wie auch das Recht des Gerechten: nur dass ihm das Talent fehlte, auch seine Gegner von diesen seinen Vorrechten eindrucksvoll zu überzeugen. Wie sehr er ihnen nämlich auch zuschrie, sich auf der Stelle zu verziehen, Josuas Kriegstrompeten konnten nicht schrecklicher geklungen haben, so taten die Leutchen doch, als hörten sie nicht das Geringste.

Versteht sich, dass Schwiegerpapa, wenn er einmal A gesagt hatte, auch noch B sagen musste. Und so schritt er entschlossen und würdevoll die Stufen in seinen Garten herab, wobei er sämtliche Kräfte in sich mobilisierte, nicht anders, als wär er ein Herkul, der dem Antäus begegnet. O wie er dieses Gesindel jetzt mit einem einzigen kraftdurchtränkten Schlag auf die Strasse zu befördern gedachte! Er musste ja nur wollen. Und wenn er ansonsten auch oft um des lieben Friedens willen auf den Willen des Mannes verzichtet hatte: jetzt würde er nicht verzichten! Jetzt sollten sie sehen, was er konnte und wozu er fähig war! Ja, er fühlte jetzt solcherlei Kräfte in sich aufwallen, dass er jetzt leicht einen Gebirgsbrocken abbrechen und ihn aufs Haupt dieser Wichte hätte schleudern können. Oder war er nicht der oberste Richter beim Oberlandesgericht und kannte sich aus im bürgerlichen Recht und im Strafrecht? So rückte er denn gegen sie vor und ein Strom von Galle mischte sich mit den süßesten Prinzipien der Jurisprudenz: als plötzlich einer der Gesellen, der Rädelsführer, wie an seinem zerzausten Haar zu sehen war, sich erhob und ein paar Schritte auf ihn zukam, nicht anders, als gelüste es ihn, sich im Faustkampf mit ihm zu messen, um dann aber, an ihm vorbei, den oberen Weg auf das Haus zu zu nehmen!

Mit allem Möglichen hatte Schwiegerpapa gerechnet, nur nicht damit! Was auch mochte der Kerl im Schilde führen? Was lief er auf das Haus zu? Was suchte er dort droben? Wenigstens vor Erreichen der oberen Terrasse wollte er den Burschen einholen, so hatte er es sich vorgenommen, hatte sich aber leider verschätzt. Wer nicht ständig in Übung bleibt, neigt gern dazu, einmal erbrachtes Können für seinen ewigen Besitz zu halten, zumal wenn noch hinzukommt, dass die Gerechtigkeit selbst ein solches Können gutheißt. Wie dem aber auch sein mag, weder gelang dem Schwiegerpapa den Fremden bei der Terrasse einzuholen, noch auch vermochte er, ihn daran zu hindern, auf die Haustüre hinzuzueilen und ins Haus einzudringen.

Batsch: War´s das?

Rapsch: Auf dieser Seite, ja. Aber hinten steht noch was drauf. Es ist nicht mehr sehr viel. Soll ich´s noch vorlesen?

Batsch: Ja, lies es noch vor!

Rapsch: Unterdessen hatte der wildfremde Geselle den Weg in die Küche eingeschlagen, wo Schwiegermama eben dabei war, die Brötchen für das sonntägliche Frühstück zu richten. Wer aber beschreibt, was für einen Eindruck das plötzliche Erscheinen des Wilden auf Schwiegermama machte! Sie, die bis dato gewohnt war, in ihrem Herrn Gemahl die absolute und unübertreffbare Inkarnation eines Herrschers und Helden zu sehen! Wer beschreibt, was damals alles sich zutrug in Küche und Haus, wie Hans die Polizei herbeizuholen versuchte und wie sich Antonia, seine Frau, in der Kunst der Beschwichtigung versuchte!

Geraume Zeit danach aber standen die drei, Schwiegerpapa, Schwiegermama und der Fremde, am offenen Fenster des Wohnzimmers beisammen und schauten hinaus in den Garten. Wo aber zuvor noch der wilde und ungebärdige Junggesellenverein auf der Gartenbank herumgesessen hatte, sah man jetzt nur noch den von ihren Hinterbacken festgepressten Schnee, dass Schwiegerelterchen schon wähnten, dem ärgsten Elend entronnen zu sein: als der Fremde die Augen zur Spitze des kahlen, mit Schneestreifen geschmückten Apfelbaumes, in der Mitte des Gartens hinaufhob. Als sie nun gleichfalls dort hinauf schauten, entdeckten sie eine Unzahl halbwüchsiger nackter Urwesen männlichen Geschlechts, rosarote Fleischklumpen mit buschigen Schwänzen, die sich an den Zweigen festhaltend, genüßlich in der Morgensonne schaukelten.

Jetzt aber hielt es den Schwiegerpapa nicht länger. Gut möglich, dass ihm selber entging, wie er die Beherrschung verlor, so dass seine Finger ungehindert nach den Blumentöpfen auf der Fensterbank auslangten, die er dann, schwups, einen nach dem anderen gegen die Gesellschaft im Baum schleuderte. Wenn er auch nicht traf, so lag das gewiß nicht am Eifer, den er an den Tag legte; es lag aber gewiß auch nicht an dem Aufschrei, mit welchem Schwiegermama die Vernichtung eines jeden ihrer Töpfe kommentierte, es lag doch wohl an dem Abstand bis zur Baumkrone, der für ihn einfach um ein Erkleckliches zu groß war. Ja, die kleinen Fleischkerle sassen im Baum und lachten ihm zu, als sei alles ein Spaß, auf den sie gewartet. Plötzlich aber geschah es, dass die Kerlchen kleine Bögen mit dazu passenden Pfeilchen aus der unergründlichen Tiefe ihres fleischlichen Daseins hervorholten, um den vom Schwiegerpapa eröffneten Angriff zu erwidern. Und wenn nun der Schwiegerpapa auch mit kaum zu überbietender Wut vom letzten Vorrat der übrig geblieben Töpfe Gebrauch machte, es waren allesamt nur noch sehr schwere Töpfe, so schossen die Kleinen nur immer noch frecher und ausgelassener. Ja, je wütender Schwiegerpapa sich aufbäumte, um so lustiger schienen sie ihre Pfeilchen auf seine Nase abzufeuern. Unnötig zu erwähnen, dass angesichts dieses Fortgangs des Krieges Schwiegermamas Einlenkversuche samt und sonders zum Scheitern verurteilt waren. Als nun aber auch noch der Fremde in Schwiegermamas Horn blies, indem er um den Erhalt der restlichen Töpfe flehte, war auch schon bald das Äusserste erreicht, was Schwiegerpapa in seiner Lage noch verkraften konnte. Denn nun packte er den letzten noch übrig gebliebenen Topf, eine Clivie, den absoluten Giganten unter den Blumentöpfen, und hätte ihn wohl auf die Brust des Fremden geschleudert und ihn zermalmt, hätte der nicht augenblicklich die Gefahr erkannt. So aber, mit dem Instinkt der unverwüstlichsten Natur, schwang er sich auf das Fensterbrett, von wo er sich durch einen bewundernswert kühnen Sprung zu seinen Genossen in den Apfelbaum absetzte. Nachdem er sich dort in ein rosarotes Fleischklümpchen verwandelt hatte, machte nun aber auch er sich daran, mit Pfeil und Bogen den Schwiegerpapa zu beschießen. O wie da die drei Töchterchen staunten, die eine Etage tiefer, dicht über dem Schnee, an ihren Fenstern standen und sich die Nasen platt drückten! So etwas hatten sie in der Tat ihr Lebtag noch nicht gesehen. – Hier bricht der Text ab oder wir sind am Ende.

Batsch: Bricht er nun ab oder sind wir am Ende?

Rapsch: Lassen wir die Frage und wenden uns noch dem Mann zu, ob er eine Geldkatze bei sich hat. Schließlich gehört zu unserer Profession, als Künstler im Beutelschneiden zu agieren. Oder sind wir nicht von rascher Auffassungsgabe, von leicht vergänglicher Erinnerung und starkem und langem Behalten?

Batsch: Jawohl! Wir fassen schnell, wir erinnern uns leicht und wir behalten auch lange! Und etwas sollten wir wohl schon von unserem nächtlichen Beutezug mit nach Haus bringen. Doch was ist denn das?

Rapsch: Was hast du?

Batsch: Da, schau doch her! Eine Riesenkolonne von schwarzen Ameisen. Sie kommt den Berg herauf.

Rapsch: Ungug! Beeil dich!

(sie schleichen sich heran und untersuchen Niklas auf Geld)

2. Abschnitt: Wie Aschberger zur Deponie gelangt; es ist kurz vor Morgengrauen.

Aschberger: Wir müssen es wohl erdulden, wie immer sich uns das Leben auch ausdichtet. Wir haben da keine Wahl. Doch was ist das? Mein Nachlass auf der Deponie und der Schwiegersohn schlafend als Nachlassverwalter? Und da, noch zwei Männer, die ihm assistieren?

Ratsch: Bist du durch den Hosensack durch?

Batsch: Gewiß, aber ...

Ratsch: Hast du was gefunden?

Batsch: Nichts von Belang! Einen kleinen Geldbeutel ohne Inhalt. Ich bin dafür, wir ziehen das Bramsegel auf, ehe auch uns noch die Ameisen auffressen!

Rapsch: Was du nur redest!

Batsch: Da, sieh doch! Schon haben sie ihm die Füße angefressen! Wen die Ameisen aufgefressen haben, der wird selber eine Ameise. Komm, gehen wir!

Rapsch: So warte doch! Nur noch einen Augenblick. (er sucht nach Geld)

Batsch (sieht Aschberger und schreit auf): Ah!!

Rapsch: Was hast du denn? Hat nun auch dich eine Ameise angefressen?

Aschberger: Meine Herren, wollt ihr euch gleich trollen!?

Rapsch: Was hast du gesagt?

Batsch: Ah!

Aschberger: Ich habe gesagt, ihr sollt euch trollen! Wird´s gleich!?

Rapsch: Was ist das?

Batsch: Ein Gespenst!

Aschberger: (hebt seinen Kopf wie ein Gespenst vom Rumpf in die Höhe)

Rapsch: Oh! Ein Gespenst! (sie eilen davon)

Aschberger: Was für ein Trost, wenn man als Totengespenst noch solch eine Wirkung erzielt! Und wär´s auch nur, um zwei alte Sündenböcke zu verjagen. Aber jetzt heißt´s, aufräumen! Denn was soll uns das noch alles? Mag der gesamte Plunder schleunigst verzundert werden! (er zündet die Papiere an.) Wie die Kinder, von denen man verlangt, dass sie nach dem Spielen ihre Spielsachen hübsch ordentlich aufräumen. So ist es recht, ihr Flammen! Fresst nur auf und verschlingt, dass zugrunde geht, was wert ist, zugrunde zu gehen! (Dann ruft er zum Schwiegersohn) Heda, mein Herr! Aufgewacht und sich in Sicherheit gebracht! Oder sieht er nicht? Die Achse des Weltalls hat Feuer gefangen! Das Weltall brennt!