{ Vertreibung aus dem Paradies }

Literatur von Martin Ganter

Inhalt

1. Kapitel: Prolog

2. Kapitel: Wie man bei Siegfried vom Tod seiner Schwester erfährt

3. Kapitel: Luitgard und Erhard vor dem Aufbruch zur Totenmesse

4. Kapitel: Wie der Sarg in die Kirche getragen wird.

5. Kapitel: Wie Kriemhild in die Kirche schleicht und mit der toten Elli das Gespräch aufnimmt

6. Kapitel: Pfarrer Abel wird von Kriemhild ins Gebet genommen

7. Kapitel: Erhard und Luitgard kommen in die Kirche mit anderen Eberdingern

8. Kapitel: Wie die Totenmesse beginnt und Siegfried und Kriemhild und Brunhilde die Kirche verlassen

9. Kapitel: Auf dem Kirchhof vor der Beisetzung

10. Kapitel: Wie Siegfried auf Kriemhilds Anweisung ins Grab springt und wie Luitgard auf Siegfried einen Stein wirft

11. Kapitel: Wie Luitgard von der Polizei abgeführt wird.

12. Kapitel: Wie Erhard am Rand der Selbstbeherrschung nach dem Vater ruft

13. Kapitel: Wie Siegfried und Kriemhild den Friedhof verlassen

14. Kapitel: Wie Brunhilde an den Felsen genagelt in den Himmel hinauf brüllt

Personen

Der alte Vater Eusal

Siegfried

Erhard

Elisabeth

Luitgard

Kriemhild, Frau Siegfrieds

Brunhilde, zweites Kind

Luise, Erstgeborene

Pfarrer Abel

Mesner

Organist

Rechtsanwalt von Erhard, Dr. Eilber

Rechtsanwalt von Siegfried, Dr. Raubal

Richter Dr. Michaelis

Zwei Totengräber, die dann unbemerkt als Bestattungsleute wieder auftauchen.

Joggel, Alteingesessener von Eberdingen

Frau Rüstig

Gemeindemitglieder

Polizisten

 

1. Kapitel: Prolog

Luise (singt und begleitet sich dabei auf einer Gitarre):

Es war einmal ein Elternpaar,

das hatte viele Kinder,

die waren alle schrecklich lieb

im Sommer, wie im Winter

 

Die Kinder taten alles gern

den Eltern zu Gefallen,

ein jedes war ein goldener Stern

in ihres Hauses Hallen.

 

Da aber, eines Tages, kam

ein böses Weib gegangen,

der Brüder einen ohne Scham

ins Netz sich einzufangen.

 

Dass er sie holt vom breiten Stein

hat Satan ihn geritten.

So kam er, stets zu Willen zu sein,

nach Haus mit ihr geschritten.

 

Und eine Hochzeit ward hernach

mit großem Prunk gehalten,

den Brautstuhl trug er ins Gemach,

wo sie seitdem tut walten.

 

Geboren wurden diesem Paar

zwei Töchter, ich die eine,

doch meine Schwester, das ist wahr

ist´s Musterkind alleine.

 

Zwei Jahre jünger wusst sie sich

stets trefflich einzuschmeicheln,

von Mutters Schürze nie sie schlich,

die Mutter tät sie streicheln.

 

Das blieb so, bis wir beide groß

und mannbar worden waren,

da ward ein Kampf um Mutters Schoß,

drauf ließen sie mich fahren.

 

Seitdem durchwandre ich die Welt,

erfahre aus der Ferne,

was sich zuhause alles tut

als wie auf fremdem Sterne.

 

Dass meine Schwester stürzt vom Pferd,

das in Galopp geraten,

das schrieb man mir, als wär ich schuld

und freute mich am Schaden.

 

Seitdem entschlüpfte dort das Glück,

als wär es nie gewesen,

die Schwester aber schrumpft zurück

zu einem bösen Wesen.

 

Heim sollt´ ich kommen, schrieb man mir,

die Kranke zu betreuen,

damit noch nach der Eltern Tod

als Magd sie könnt erfreuen.

 

Gar manches ist seitdem geschehn,

das Spiel wird es euch sagen

und euch gar manches lassen sehn,

was wert wär, zu beklagen,

 

Genug, eh eine blinde Kraft

hin durch die Leidenschaften

aus Menschen Ungeheuer schafft,

schöpft Kraft, sie zu verkraften!

 

 

2. Kapitel: Wie man bei Siegfried vom Tod seiner Schwester erfährt

(Siegfried – er ist schwerhörig – bei der Zeitungslektüre. Es ist Abend. Kriemhild am Häkeln für Brunhilde. Brunhilde in einer Kinderwiege)

Kriemhild: Eia popeia, was raschelt im Stroh? Das sind die sieben Gänslein, die haben keine Schuh.

Brunhilde: Das will ich aber nicht!

Kriemhild: Eia, popeia willst du nicht mehr hören? Es war doch dein Lieblingslied vor dem Schlafengehen!

Brunhilde: Ich mag das aber jetzt nicht mehr hören.

Kriemhild: Willst du ohne ein Liedchen schlafen gehen?

Brunhilde: Dass die lieben Gänslein keine Schuhe haben, regt mich auf. Das macht mir kalte Füße.

Kriemhild: Aber du bist doch kein Gänslein.

Brunhilde: Winchester Gänslein hat mich einmal einer genannt. Das ist zwar schon lange her; und doch ärgert es mich noch immer, so oft ich daran denk.

Kriemhild: Das war ein großer Dummkopf.

Brunhilde: Als ob ich nicht wüsste, dass man die Huren in Wincester als Gänslein bezeichnet.

Kriemhild: Mag auch die ganze Welt verhurt sein, wir sind es nicht. Da darfst du ganz stolz dein Haupt erheben.

Brunhilde: Und jetzt muss ich wieder daran denken, wie all mein Elend mit dem Sturz vom Pferd begonnen hat.

Kriemhild: Denk nicht daran!

Brunhilde: Und dann hieß es von Seiten der Ärzte, ich sei mit dem Reitlehrer zusammen im Bett gewesen. Er hätte mir meine Perle durchbohrt.

Kriemhild: Das ist eine ungeheuerliche Unterstellung. Aber da soll uns nur noch einmal einer kommen! O, mein Täubchen, dem kratz ich die Augen aus! Jawohl, da lassen wir uns nichts mehr gefallen.

Brunhilde: Meine Perle, was für ein hässliches Wort!

Kriemhild: Nichts als Hurenböcke, so weit das Auge reicht!

Brunhilde: Überhaupt, warum ist die Welt so schlecht? Der Dings da war doch auch mal ein Freund von mir. Und jetzt, nachdem ich krank geworden bin, ist mir auch nicht ein Freund von früher geblieben!

Kriemhild: Denk nicht daran!

Brunhilde: Muss es überhaupt Männer geben?

Kriemhild: Eigentlich nicht!

Brunhilde: Sag Siegfried, dass er sich nicht hinter der Zeitung verstecken soll, wenn er sieht, wie ich leide. Das will ich nicht! Da mein ich, er lacht mich aus!

Kriemhild: Er sieht nur nach, ob es etwas gibt, was wir wissen müssen.

Brunhilde: Das kann er zu einer anderen Zeit tun.

Kriemhild: So stört er uns schon nicht.

Brunhilde: Muss ich mich nicht schämen, wenn ich ihn mir ansehe? Wie er da so bäuerlich plump dasitzt und in die Zeitung glotzt? Und wenn er dann hervortaucht, um einem etwas Besonderes mitzuteilen, und er einen dabei anstiert, dass die Augen nur so hervorquellen, dass man meint, man wär vor einem Ochsen, möchte man da nicht am liebsten über alle Berge?

Kriemhild: Immerhin ist er dein Vater.

Brunhilde: Ich gäb was drum, ich hätte einen anderen Vater oder, noch besser, gar keinen.

Kriemhild: Aber mein Kind!

Brunhilde: Im Übrigen ist es ungebührlich, wenn sich einer in Anwesenheit einer Dame hinter einer Zeitung versteckt.

Kriemhild: Hast du gehört, Siegfried?

Siegfried: Was denn?

Kriemhild: Brunhilde wünscht nicht, dass du in ihrer Gegenwart die Zeitung liest.

Brunhilde: Ahhh

Kriemhild: Nur still! Er legt ja die Zeitung weg!

Siegfried (die Zeitung beiseite legend): Ich hab da was gelesen, was auch euch interessieren dürfte. – Es ist aber nichts Erfreuliches. – Meine Schwester Elli ...

Brunhilde: Hat sie sich aufgehängt?

Siegfried: In der Tat, sie ist tot.

Kriemhild: (sie nimmt die Zeitung an sich) Das darf doch wohl nicht wahr sein!

Brunhilde: Sagte ich´s nicht immer, dass es einmal so weit kommt? Kaum ein Jahr nach deiner Mutter Tod ist vergangen, da hat sich die Elli aufgehängt. Hätten sie sich etwas kooperativer uns gegenüber verhalten, es wäre nie so weit gekommen. Aber Verbrechen zahlen sich nie aus. Kaum hast du auf drei gezählt, da bist du schon selber zerbrochen. Wenn ich mir nur vorstelle, wie sich die Elli, die doch einst so sanft war, eine Schlinge knüpft und in sie hinein steigt! Als stiege sie in ihr Brautbett und die Schlinge zurrt fest! Freilich kommt dann das große Erwachen. Aber was nützt es noch, wenn man nach Luft ringt und schreien möchte und die Schlinge dabei den Kehlkopf immer fester und fester zudrückt?

Kriemhild: Das ist ein Skandal der obersten Kategorie! Aber du, mein Liebes, kannst ja nichts dafür, dass sie uns nichts gesagt haben! Nicht einmal ein Sterbenswörtchen!

Brunhilde: Der Strick war ihnen wichtiger als wir.

Kriemhild: Es war vermutlich kein Strick, an dem sich Elli aufgehängt hat. Zumindest steht nichts davon da!

Brunhilde: (schreiend) Sie hat sich nicht aufgehängt?

Kriemhild: (zu Siegfried) Warum hast du nur vom Strick gesprochen? Du hättest bedenken sollen, wie sehr das unsere arme Brunhilde angreift.

Brunhilde: Das greift mich gar nicht an! Besser gut gehängt als schlecht verheiratet!

Kriemhild: O du tapferes Kind! Schau, wie es sich martert, nur um den Strick zu vergessen. Wo in Gottes weiter Welt gibt es noch einmal ein so tapferes und frommes Kind wie unser Kind? – Deine Aussage vom Selbstmord war nichts als dummes Gerede. Und das kann ich dir auch beweisen. Gesetzt nämlich, Elli hätte Hand an sich gelegt, dann fände die Beerdigung nicht in Eberdingen statt. Das ist ja wohl klar. Denn dann könnte kein Trauergottesdienst stattfinden. Ein solcher ist bei einem Selbstmörder wider die kirchliche Vorschrift. Dann aber wäre eine Beisetzung im Dorf nichts als eine ewige Blamage. Es sei denn ...

Brunhilde: Wenn sie sich nicht aufgehängt hat, ist der Fall nur noch schlimmer. Dann hätte sie uns nämlich wirklich Bescheid geben müssen.

Kriemhild: Los, knie nieder! Das wird ihr gut tun.

Siegfried: (kniet sich vor Brunhilde nieder)

Kriemhild: Ja, das hätte sie müssen. Aber man hatte wohl gewisse Gründe, dass wir nichts sehen und nichts hören sollten.

Brunhilde: Wer hat die Annonce aufgegeben? Und stehen wir auch unter den Trauernden?

Kriemhild: Es steht überhaupt kein Name dabei. Ellis Tod läuft unter den amtlichen Bekanntmachungen! (liest) "Beerdigung am soundsovielten des soundsovielten abends, also morgen Abend, nach dem Totenamt in Eberdingen in der elterlichen Gruft." Das ist alles, was dasteht!

Brunhilde: Ahhh

Kriemhild: Fürs erste gilt es jetzt, einen klaren Kopf zu behalten. Oder ist es nicht skandalös, dass wir von der Sache über die Zeitung erfahren haben? Das sieht ihnen gleich, clam heimlich hinter unserem Rücken ihre schmutzigen Geschäfte zu betreiben!

Brunhilde: Denen ist egal, ob ich verhungere!

Kriemhild: Uns aber ist das nicht egal! Glaube mir nur, mein Liebling! Wir werden alles dafür tun, dass du immer dein Auskommen findest, wenn wir einmal nicht mehr sind! Und das sollst du schon morgen sehen, mag sich Elli auch hundertmal feige im Tod verstecken! Und wenn die glauben, sie hätten bereits die Beerdigung morgen unter Dach und Fach, so sollen sie sich täuschen.

Brunhilde: Was willst du damit sagen?

Kriemhild: Damit will ich zuerst einmal sagen, dass die Beerdigung auf keinen Fall in der elterlichen Gruft in Eberdingen stattfinden darf, ehe wir nicht das Testament aufs Genaueste überprüft haben.

Brunhilde: Haben wir das nicht schon?

Kriemhild: Ich meine nicht das Testament von Siegfrieds Vater. Ich meine das Testament von seiner jetzt verstorbenen Schwester Elli.

Brunhilde: Das haben wir ja noch gar nicht gesehen.

Kriemhild: Das ist es ja gerade! Wir hätten da wohl manch ein Wörtchen mitgesprochen. Schließlich ist das eine Familienangelegenheit und betrifft uns somit alle. Wenn die nun aber geglaubt haben, ohne uns die Sachen abwickeln zu können, so haben sie sich getäuscht.

Brunhilde: Hätte man uns hinzugezogen, so wüssten wir über alles Bescheid.

Kriemhild: Selbstverständlich werde ich es mir nicht nehmen lassen, den Hals für den Fall des Falles genauer anzusehen.

Brunhilde: Und hat sie sich auch nicht selber aufgehängt, so wär's nicht weniger reizvoll, wenn wir Erhard und Luitgard wegen Mordverdacht vors Gericht brächten.

Kriemhild: Das Wichtigste ist jetzt freilich, dass wir uns vergewissern, was in Ellis Testament steht. Schließlich steht im Testament von ihrem Vater, dass das Erbe im Besitz der Familie bleiben soll. Da nun aber außer uns keines seiner Kinder Angehörige oder Kinder hat, so ergibt sich zwangsläufig, dass Elli dann und nur dann im Sinn des Vaters verfährt, wenn sie ihren Besitz auf unsere Kinder, und das heißt, da sich Luise von uns als Kind getrennt hat, dass ihren Besitz auf dich überschreibt.

Brunhilde: Nur, wie kommen wir bis morgen Abend an das Testament?

Kriemhild: Selbstverständlich gelingt uns das nicht. Deshalb müssen wir erst unseren Widerspruch gegen eine Beerdigung im elterlichen Grab einlegen. Dafür haben wir einige ernst zu nehmende Argumente. Erstens, dass Elli nicht in Eberdingen wohnt, also auch kein Anrecht hat auf ein Grab auf dem dortigen winzig kleinen Friedhof. Sodann, dass, selbst wenn Erhard auf seinen Grabplatz im Elterngrab verzichtet, Siegfried´s Zustimmung dazu gegeben sein muss. Beide sind schließlich auf gleiche Weise Sohn. Siegfried aber kann nie und nimmer zustimmen, solange er nicht weiß, ob Elli auch des Vaters Wunsch erfüllt hat. Immerhin hatte sie sich auch seinerzeit, als sie den Türken heiratete, über des Vaters Wünsche, ihn als zum Christentum konvertierten Türken zu heiraten, hinweggesetzt. Und der liegt auf dem Hamburger Hauptfriedhof begraben.

Brunhilde: Alles in allem scheint man die Beerdigung in Eberdingen nur dazu arrangiert zu haben, um uns zu ärgern.

Kriemhild: Wenn nicht noch mehr dahinter steckt. Gesetzt, man begräbt Elli, ohne dass sie dich in ihrem Testament gebührend bedacht hat, im elterlichen Grab, und wir protestieren nicht, da könnte dann einer kommen und sagen, wir hätten ja zugestimmt und hätten damit anerkannt, dass Elli des Vaters Wünsche erfüllt und mithin den Platz an seiner Seite verdient hat.

Brunhilde: Und was tun wir jetzt?

Kriemhild: Ich schlage vor, dass Siegfried sich sogleich per Telefon an den Pfarrer von Eberdingen wendet. Er kennt ihn ja. Und wenn auch Erhard den Pfarrer nicht minder kennt, ja selbst wenn der vielleicht sogar den Erhard lieber hat als unseren Siegfried, so muss er ihm sagen, dass aus den eben geschilderten Gründen eine Beerdigung in Eberdingen unmöglich stattfinden kann, und zwar auf eine solche Weise, dass dem die Lust vergeht, auch nur irgendwas auf eigene Faust zu unternehmen.

Wir aber wenden uns dann gleich morgen in aller Frühe an unseren Rechtsanwalt, dass er uns beim Gericht eine einstweilige Verfügung erwirkt. Dann kommt sie eben nochmals für ein paar Tage ins Kühlhaus und wir verlangen derweilen Einsicht in ihr Testament.

Brunhilde: Hast du nicht gehört, Siegfried?

Siegfried: Was ist?

Brunhilde: Hol das Telefon und telefonier dem Pfarrer von Eberdingen und sag ihm, dass morgen keine Beerdigung in Eberdingen stattfindet!

Siegfried: Soll ich, jetzt?

Kriemhild: Selbstverständlich!

Siegfried: Und was soll ich sagen?

Brunhilde: Ja hast du nicht aufgepasst?

Siegfried: Ja, doch, schon.

Brunhilde: Also das sagst du ihm.

Siegfried: Und wenn er nicht drauf eingeht?

Kriemhild: Wenn du es richtig sagst, geht der drauf ein. Als letzten Trumpf kannst du dir ja noch in der Hand behalten, dass es uns leid täte, wenn er sich trotz unserer Warnung mitschuldig machte.

Siegfried: Wenn das gut geht. Wär es nicht besser, du würdest ihn anrufen?

Kriemhild: Es ist das Grab von deinen Eltern und es handelt sich um deine Schwester. Genug, dass ich vor dem Berufungsgericht habe auftreten und dich dort für krank erklären müssen. Aber da ging es ja auch um Sein oder Nicht-Sein, während wir dem Pfarrer, wenn er sich bocksbeinig stellen sollte, schon noch Beine machen wollen. Ja, das würde ihnen so passen, dass wir alles stehen und liegen lassen und nichts zum Austrag bringen. Doch sie sollen sich irren und nimmt auch alles ein böses Ende!

Siegfried: Es meldet sich niemand.

Kriemhild: Probier´s noch einmal.

Siegfried: Wahrscheinlich ist der Pfarrer nicht zuhaus.

Kriemhild: Woher willst du das wissen? Was wir wissen ist nur, dass niemand abnimmt. Vermutlich ist er von Erhard für diesen Fall vorbereitet. Wenn der jetzt unsere Nummer sieht, verleugnet er sich. Aber das ist gut so. Bei dem Telefonat wär doch nichts herausgekommen als Ärger und Frust. Schon nach deiner Mutter Beerdigung letztes Jahr war dieser Pfarrersmensch die reinste Katastrophe. Wie er da anrief und uns beschwor, nicht wegen des väterlichen Testaments zum Gericht zu gehen! Das war ungeheuerlich! Es ist eben schön und leicht und gottwohlgefällig, anderen Leuten fromme Ratschläge zu erteilen. Aber das soll ihm nichts nützen.

Siegfried: Was machen wir jetzt?

Kriemhild: Jetzt schreiben wir ihm eine E-Mail.

Siegfried: An den Pfarrer Abel in Eberdingen?

Kriemhild: An den Pfarrer Abel in Eberdingen!

Siegfried: Und ich soll schreiben?

Kriemhild: Jawohl, du sollst schreiben.

Siegfried: Und was soll ich schreiben?

Kriemhild: Betreffs der morgen stattfindenden Exequien

Siegfried: "Betreffs der morgen stattfindenden – Exequien". Exequien? Was ist das?

Kriemhild: Das ist das für die feinere Gesellschaft reservierte Wort für Totenfeierlichkeiten. Wenn man den Leuten nicht immer wieder gnadenlos zeigt, dass man sie in den Sack steckt, begehren sie auf! Also, schreib! Betreffs der morgen stattfindenden Exequien ... nein, schreib: betreffs der von Ihnen für morgen Abend geplanten Exequien an meiner Schwester Elisabeth möchte ich Ihnen die folgenden Mitteilungen machen!

Siegfried: "die folgenden Mitteilungen machen!"

Kriemhild: Mögen Sie es mit dem Totenamt halten, wie Sie wollen! Aber ins Familiengrab kommt meine Schwester nicht! Das haben nicht Sie zu bestimmen und auch nicht mein Bruder Erhard alleine. – Hast du´s?

Siegfried: "nicht mein Bruder Erhard alleine."

Kriemhild: Das ist ein gemeinschaftlicher Gegenstand der Familie und somit kann die Familie darüber nur gemeinsam verfügen.

Siegfried: "nur gemeinsam verfügen!"

Kriemhild: Eine Begräbnisstätte in Eberdingen ist mithin augenblicklich nicht möglich. Ich möchte nicht hoffen, dass es zu einer Pflichtverletzung kommt, die Sie teuer zu stehen käme. Lassen Sie uns bitte umgehend wissen, dass wir uns auf Sie verlassen können und dass Sie in unserem Sinn verfahren.

Siegfried: "Lassen Sie uns bitte umgehend wissen, dass wir uns auf Sie verlassen können und dass Sie in unserem Sinn verfahren!"

Kriemhild: Damit haben wir das Spiel wieder in der Hand. Mit vorzüglicher Hochachtung Siegfried Eusal.

Siegfried: "Damit haben wir das Spiel wieder in der Hand."

Kriemhild: Dummkopf! Das gehört nicht in den Brief. Schreib: Mit vorzüglicher Hochachtung Siegfried Eusal.

Siegfried: "Mit vorzüglicher Hochachtung Siegfried Eusal."

3. Kapitel: Luitgard und Erhard vor dem Aufbruch zur Totenmesse

Luitgard (am Fenster): Wie der Schnee so blau auf den Wiesen dahindämmert.

Erhard (an einem Pult, Papiere suchend): Das ist immer so nach einem so hellen Wintertag.

Luitgard: Was suchst du noch?

Erhard: Den Totenschein für Elli. Ohne den ist keine Beerdigung möglich.

Luitgard: Mein Gott, wie viel Umstände. Nicht einmal tot sein lassen sie einen. Fehlt jetzt nur, dass Siegfried den Totenschein geklaut hat.

Erhard: Ich halte ihn zwar für vieles fähig, aber bei uns einsteigen und den Totenschein klauen, dafür nun doch noch nicht. Was auch könnte er damit anfangen?

Luitgard: Kann man es wissen? Doch reicht nicht schon, dass die Kleine den Teufel reitet und sie von ihm eine Mutprobe verlangt?

Erhard: Außerdem müssen sie erst mitbekommen haben, dass Elli verstorben ist. Keiner von uns hat es ihnen gesagt.

Luitgard: Die können es ebenso gut im öffentlichen Anzeiger lesen wie jedermann sonst auch.

Erhard: Geb´s Gott, dass sie ihn nicht lesen!

Luitgard: Und wenn sie kommen?

Erhard: Muss man denn immer den Eintritt des schlimmsten Falls befürchten?

Luitgard: Ich gehe fest davon aus. Eines aber sag ich dir! Wenn die mir in den Weg laufen, und sei es in der Kirche, dann sag ich, und zwar so laut, dass es auch der Letzte in der Umgebung hört, Elli habe sich noch auf dem Totenbett gewünscht, sie bei ihrer Beerdigung nicht zu sehen.

Erhard: Tu das bitte nicht!

Luitgard: Warum nicht? Hast du Angst vor denen, weil sie mit den Gerichten herumhuren?

Erhard: In meiner Rede, wie ich mit dem Pfarrer Abel ausgemacht und ihm versprochen habe, werd ich zum Verhältnis der Geschwister auch nicht ein Wörtlein sagen, das Gott und unsere Eltern betrüben könnte. Was dann freilich das Leichenmahl angeht, kommt Siegfried nicht dazu. Dafür will ich schon sorgen.

Luitgard: Ich habe keine Scheu, der Wahrheit Zeugnis zu geben. Und wenn der Fall ist, dass sie Elli umgebracht haben, so will ich´s hinausschreien in alle Welt.

Erhard: Mir ist genug, wenn ich keinen mehr sehen und bald schon an keinen mehr denken muss.

Luitgard: Dass alles so kommen musste! Dass wir uns unseres eigenen Bruders schämen müssen! Nichts als ein Hund ohne Rückgrat, den man prügeln, nichts als ein Schlappschwanz, auf den man treten kann, ist von ihm übrig geblieben.

Erhard: Du musst das alles vergessen oder verdrängen und sei es mit Gewalt!

Luitgard: Dabei sagte er noch, als Mutter noch lebte und er seinen Freund drüben noch besuchte: Den wolle er aber nicht verlieren. Warum sagte er das? Natürlich deshalb, weil seine Kleine, dieses Mistvieh, keinen Freund mehr hatte und deshalb, wie sie meinte, auch ihr Vater keinen Freund mehr brauchte. Und der Schwägerin war es recht. Seinem Freund gegenüber sprach er, wie ich hörte, damals auch nur noch von seiner Frau, während man sich über 50 Jahre mit dem Vornamen angeredet hatte.

Erhard: Elli hat es jedenfalls geschafft. Für sie ist das Tal der Tränen vorbei.

Luitgard: Fast möchte man meinen, sie habe es jetzt gut.

Erhard: Manchmal, wenn ich im Leichenhaus neben Elli stand und ihr die Hand hielt, hab ich sie in der Tat ein wenig beneidet. Nach den Querelen mit Siegfried und nach den schweren Operationen schien sie mir fast ein wenig zuzulächeln.

Luitgard: Hoffentlich ist sie auch richtig tot!

Erhard: Was denn sonst? Über eine Woche lag sie aufgebahrt im eiskalten Leichenhaus. Und jeden Tag hab ich sie besucht. So hatten wir es ausgemacht nach des Vaters Tod. Wenn noch ein Funken Leben in ihr geweilt hätte, er hätte entweichen müssen bei dem eiskalten Wetter.

Luitgard: Ich erinnere mich noch gut, es war kurz vor Vaters Tod, als ihm träumte, er sei gestorben und man habe ihn lebendigen Leibs beerdigt. Am nächsten Tag aber hat er unsere Mutter böse angefahren, warum sie das zugelassen habe.

Erhard: Er war davon so verwirrt, dass er Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden konnte. Mutter machte sich nach seinem Tod unendlich viele bittere Vorwürfe, sie könne ihn lebendigen Leibs haben begraben lassen. Aber soll man deshalb jeden Tag ein Grab aufgraben und den Toten herausholen und nachsehen, ob er noch lebt?

Luitgard: Besser jeden Tag ein Grab aufgraben und nachsehen, ob der Tote noch lebt, als einen Bruder zu haben, der einem selbst noch die Liebe zu den Eltern vergiftet.

Erhard: Ach, lassen wir das!

Luitgard: Und doch ist es so! Verzeih mir der Himmel, aber sobald ich an Siegfried denke, merk ich, wie mir die Liebe zu den Eltern erkaltet. Zum Glück glaub ich an nichts mehr. Und schon gar nicht an einen lieben Gott, der uns alle zu sich einlädt! Stell ich mir aber vor, wie Elli zum Vater kommt und wie sie ihm auf seine Nachfrage erzählt, was sich alles nach dem Tod der Mutter bei uns abgespielt hat, so überkommt mich ein Brechreiz.

Erhard: Man darf sich nicht dem Bösen überlassen. Das zerrüttet die Nerven.

Luitgard: Und wenn schon. Ich hab nichts mehr zu verlieren. Und dass ich dir´s nur sage! Am liebsten würd ich den Siegfried und seine Gattin bei den Haaren packen und die Motschköpfe so heftig und anhaltend aufeinanderschlagen, bis sie zerdäppert wären. Aber wenn ich das Miststück erwische, dieses Brunhildchen, das erwürg ich, das bring ich um.

Erhard: Du lieferst nichts als Beweise der Ohnmacht.

Luitgard: Besser Beweise der Ohnmacht, als dass einer glaubt, ich wäre zu feige dazu! O, ich bin noch immer erbost über den Ausgang bei der Berufung. Einer meiner Bekannten, dem ich davon erzählt habe, meinte, Vergleiche vor Gericht gehörten zwar zum Alltag, da die Richter für gewöhnlich zu faul sind, ein Urteil zu schreiben, dass aber eine Berufung mit einem Vergleich ende, nachdem doch der erste Prozess zugunsten einer Partei entschieden worden, das sei ziemlich außergewöhnlich. Wir, sagte er, seien schön blöd gewesen, als wir uns auf den Trick dieses Satansweibs hätten hereinlegen lassen, Siegfried sei krank und werde von ihr vertreten. Da hätten wir aufstehen und das Gericht verlassen sollen.

Erhard: Ich wollte das auch. Aber mein Rechtsanwalt riet mir davon ab.

Luitgard: Und als er dir anempfahl, dem Vergleich stattzugeben und dem Bruder eine gewisse Summe zu zahlen, sagtest du auch zu.

Erhard: Was blieb mir anderes übrig?

Luitgard: Dabei sagte dir dein Rechtsanwalt nie etwas anderes, als dass alles sonnenklar sei und Siegfried mit seinem Einspruch auch nicht den Hauch einer Chance habe.

Erhard: Wenn ich es noch einmal damit zu tun hätte, würde ich überhaupt nicht reagieren. Macht, was ihr wollt, würde ich den Herren Richtern sagen. Und wenn ihr es für gut findet, einen Unschuldigen ins Gefängnis zu bringen, so tut es!

Luitgard: Das Schlimmste aber, so sagte mir mein Bekannter, sei, dass sie dann den Prozess jederzeit wieder aufrollen können, was sie nicht könnten, wenn wir auf einem Endurteil bestanden hätten. Und nun hast du deinen Rechtsanwalt auch noch zum Leichenmahl eingeladen?

Erhard: Lass doch gut sein, Luitgard!

Luitgard: Mir verschlägt es den Appetit.

Erhard: Komm! Ich bin so weit! Wir müssen gehen! Und vergiss nicht die Blumen!

4. Kapitel: Wie der Sarg in die Kirche getragen wird.

(Der Friedhof in Eberdingen ist noch ein Kirchhof, der an die Westseite der Kirche direkt anschließt. Man muss also über den Kirchhof, um durch den Haupteingang in die Kirche zu gelangen. Diesen Weg gehen nun auch die Träger mit dem verschlossenen Sarg mit Elli. Aus dem Innern der Kirche dringt ihnen Orgelspiel entgegen mit Gesang vom Organisten: Dies irae, dies illa. Während der Mesner aus dem Innern der Kirche den Leuten entgegenkommt und ihnen Anweisung gibt, wird der Sarg vor dem Altarraum auf einen Katafalk gestellt.)

2. Träger: Sollen wir den Sarg schon öffnen?

Mesner: Ich bitte darum.

1. Träger: Es könnte wohl sein, dass der Schragen sonst leer wäre?

Mesner: Ich denke nicht, dass hier der Ort ist für solche Späße.

2. Träger: Nun, was sagen Sie jetzt? Ist die Tote nicht hübsch? (man sieht Elli mit verschlossenen Augen) Statt für 73 könnte man sie für 37 halten! Wie aus dem Leben genommen, nicht wahr!? Wir haben sie auch mit einem brandneuen kosmetischen Mittel konserviert.

Mesner: Warum hat sie kein Kreuz in Händen?

2. Träger: Ist sie nicht Türkin?

Mesner: (ihr ein Kreuz in die Hände gebend) Sie war zwar mit einem Türken verheiratet, ist aber römisch katholisch geblieben bis an ihr Lebensende. Oder hätte man Ihnen sonst den Auftrag gegeben, sie in unsere Kirche zu bringen?

2. Träger: Aber der Türke hatte, wenn auch in Deutschland nur diese eine Frau, in der Türkei einen Harem.

1. Träger: Im Übrigen interessieren wir uns nicht um solche Dinge. Das fällt nicht in unsere Aufgabenbeschreibung.

Mesner: Sie können jetzt gehen!

2. Träger: Was? Ohne ein Trinkgeld?

1. Träger: Das ist nicht üblich, mein Herr. Angesichts einer Toten sollte man nicht knausrig sein. Oder meinen Sie, ohne Kreuz kein Trinkgeld? Das Gegenteil ist der Fall! Ohne Trinkgeld, das ist ein Kreuz.

Mesner: Ich sehe niemanden von den Angehörigen. Wenn Sie jemanden sehen, bitte!

2. Träger: Dann leeren Sie einen Opferstock!

Mesner: Ach, seien Sie doch still! Allenfalls, dass Sie am Eingang warten, bis die Angehörigen kommen.

2. Träger: Warten, bis jemand kommt, der Speck hat in der Tasche? Sind wir denn Bettler?

1. Träger: Überhaupt, was für eine jämmerliche Beerdigung. Nicht einmal ein kleines Winterblümchen wartet hier als Sargschmuck.

2. Träger: Gnädige Frau, leben Sie wohl. Ich, an Ihrer Stelle, würde, wenn ich noch nicht ganz tot wäre, jetzt ganz schnell sterben, um nichts von dieser erbärmlichen Armseligkeit mitzubekommen! (Sie gehen zum Ausgang)

Mesner: Doch möchte ich Sie bitten, falls der Herr Pfarrer an Ihnen vorbeikommt, ihn nicht zu belästigen. Er ist mit Aufgaben total überlastet.

2. Träger: Es könnte sonst wohl gar noch ein roter Pfennig aus Hochwürdens Hosensack fallen? Nur keine Angst!

Mesner (Ihnen nachschauend, dann die zwei Kerzen beim Sarg anzündend): Ist es das, was am Ende des Lebens übrig bleibt? Die Einsicht, dass man überflüssig war, wie sehr man sich auch mag angestrengt haben und dass es besser gewesen wäre, nicht auf die Welt zu kommen?

Alle Kunst und Geistes Gabe,

was du bist, trägt man zu Grabe,

wertlos sind sie für die andern,

sollen drum ins Grab abwandern.

 

Alle Kunst, all inneres Wesen,

alle Sprache auserlesen,

der Gedanken Sätz und Lieder:

nur ins Grab mit ihnen nieder!

 

Was du bist, nur ab ins Grab!

Wichtig ist nur deine Hab!

Achte nur, dass deinen Erben

auch kein Pfennig mag verderben.

Pfarrer: (aus der Sakristei in die Kirche eilend) Die Tote ist schon da?

Mesner: Man hat sie eben gebracht.

Pfarrer: Ich komme etwas verspätet. Das heißt, ich komme eigentlich nur, um nachzusehen, ob alles in Ordnung geht.

Mesner: Das schaffen wir schon, Herr Pfarrer. Nur keine Sorge!

Pfarrer: Sonst ist niemand da?

Mesner: Niemand bis auf mich und den Organisten. Die Herren, die den Sarg gebracht haben, sind eben wieder gegangen.

Pfarrer: Und doch ist mir, als säh ich jemand dahinten.

Mesner: Soll ich nachsehen?

Pfarrer: Nein, bleiben Sie! Da ist ja nichts. Bleiben Sie nur!

Mesner: (macht ein paar Schritte nach hinten und schaut sich um)

Pfarrer: Wie ich heute nur so ängstlich bin! Ein kleingläubiger Thomas. Als ob man so die Welt für unseren Herrn siegreich bestehen könnte! Dabei sollte ich dem Bruderzwist ein Ende bereiten. Ohne Ausreden, ohne Entschuldigungen. Und wenn auch die Schwägerin tausendmal an allem schuld sein mag oder auch das unerzogene, sie tyrannisierende Kind, das alles geht mich nichts an. Ich habe nicht das Amt eines Scharfrichters, noch nicht einmal das Amt eines Friedensrichters. Und nun seh ich überall im Dunkel auf mich lauernde Augen. Das ist das Dunkel der Sünde und der Unwissenheit. Dabei komme ich doch im Namen des Herrn.

Mesner: Da hinten ist nichts.

Pfarrer: Nun gut! Darf ich mich bis zur Trauerfeierlichkeit empfehlen? Ich habe noch dringende Aufgaben hinter mich zu bringen. Schließlich versorge ich vier Pfarreien, das ist die Arbeit von 4 Pfarrern von früher.

Mesner: Sie können sich auf mich verlassen.

Pfarrer: Wenn etwas vorfallen sollte, ich meine, wenn nachher etwas vorfallen sollte ... so helfen Sie mir doch!?

Mesner: Selbstverständlich stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.

Pfarrer: Freilich wünschen wir uns keinen Skandal! Gottes Friede sei zumindest bei uns in der Kirche, wenn er auch außerhalb nicht immer erreichbar ist.

Mesner: Wie gesagt, Sie können sich auf mich verlassen, Herr Pfarrer!

Pfarrer: Nun gut! (er geht wieder in die Sakristei)

Organist (von hinten): Ich geh noch, eine heiße Schokolade trinken! Das wird meiner Stimme gut tun! (ab)

Mesner: Ich aber bleibe da und behalte die Kirche im Auge. Ich will nur noch rasch die Gewänder zur Feier zurechtlegen und die Glocken anstellen! Gleich bin ich wieder zurück! (auch ab in die Sakristei)

5. Kapitel: Wie Kriemhild in die Kirche schleicht und mit der toten Elli das Gespräch aufnimmt

(Brunhilde befindet sich in einem Baby-Tragetuch, das Kriemhild umgebunden hat, die meiste Zeit nicht sichtbar.)

Kriemhild: (noch bevor man sie sieht) Ah wie ich diesen Gang hasse. Dabei könnten wir uns das alles ersparen, wüssten wir nur, dass das Testament von uns keine Beanstandung verdient. (zurück sprechend zu Siegfried, den man nicht sieht.) Die Kirche ist leer. Bleib draußen und warte auf mich! (sie tritt ein und schleicht auf den Sarg zu) Dass nur keiner glaubt, ich wäre zur Feier des Gottesdienstes gekommen! Nicht um ihn mitzufeiern, sondern um ihn zu zerstören bin ich da! Und so komm ich denn nun zu dir, meine liebe Schwägerin! Du kennst mich doch noch, deine Kriemhild. Immer trägt sie was im Schilde, meine reizende Kriemhilde: das reimtest du einmal an meinem Geburtstag; das war vor vielen, vielen Jahren, als wir uns noch gut verstanden; daran erinnerst du dich doch noch? Oder nicht? – Aber Mäuschen, du versteckst dich doch nicht hinter deinen Fensterläden, als wären die Sargdeckel schon für immer über dir geschlossen? Warum heuchelst du Gelassenheit oder gar Gleichgültigkeit? Warum gibst du mir keine Antwort? Weil ich gesagt habe, als wir uns noch gut verstanden haben? Meinst du, ich seh nicht, wie du deine Lippen klein machst und zusammenkneifst, als hätten sie sich verschworen, auch nicht das kleinste Wörtchen mehr nach draußen zu lassen? O Schätzchen, du musst dich nicht verstellen! Nein, du brauchst wirklich keine Angst vor mir zu haben. Nicht dass du meinst, wir hätten etwas gegen dich. Wenn wir uns auch nicht mehr so gut verstanden haben nach deiner Eltern Tod, so haben wir dich doch immer noch ebenso lieb gehabt wie früher. O Elli, wenn du nur wüsstest! Da willst du ein gutes Werk tun und was erreichst du? Dass du dir einen Fluch aufs eigene Haupt ziehst. O Elli, wie gewaltig es mich doch schmerzt, dich verloren zu haben! Dabei sind wir die Letzten, die nicht wüssten, dass wir das ausschließlich den Machenschaften deines Bruders Erhard zu verdanken haben. Das darfst du mir glauben, Elli, ich wäre nicht minder froh als du, ein Bruder Erhard wäre dir nie zur Welt gekommen. (sie richtet zwei Kerzen zu Recht, die sie zusätzlich anzündet)

Nun denn, so lass mich jetzt einmal deinen Hals besehen, liebe Schwägerin! (sie nimmt eine der brennenden Kerzen und besieht sich den Hals) Das wär nämlich schrecklich, wenn uns da etwas Böses auffallen sollte. Doch deinen Bruder Erhard halte ich aller Schandtaten für fähig. Gesetzt, dass er dich sekkiert hat bis aufs Blut, was blieb dir anderes übrig, zumal dir, als waffenloser unschuldiger Witwe, als dich ihm durch eine halsbrecherische Tortur zu entziehen? Dann müssten wir doch erst mal die Leute von der Gerichtsmedizin hinzuziehen. Es könnte freilich auch sein, dass er dir eine Schlinge geknüpft hat! Die Schlange! Oder nicht? Nur schade, dass es so dunkel ist, dass das Verbrechen sich mir entziehen zu können glaubt. Möchtest du nicht so gut sein und dich etwas zur Seite bewegen, damit ich dich besser sehen kann?

Brunhilde: Schlummert sie noch oder hat sie die Augen offen?

Kriemhild: Hörst du, liebe Elli, was dich deine Nichte fragt? Du schlummerst jetzt doch nicht mehr? Oder? Sag´s uns, dass du nicht mehr schlummerst. Schließlich hast du heute einen ebenso großen Tag wie damals, als du das erste Mal zum Tisch des Herrn gegangen.

Brunhilde: Hat sie die Augen offen?

Kriemhild: Na klar.

Brunhilde: Lass sehen. Das glaub ich nicht.

Kriemhild: (indem sie die Lider der Toten aufschlägt, sagt sie) Du gestattest doch, liebe Elli! – Hier! Siehst du, mein Kind?!

Brunhilde (sich wieder verbergend): Und warum bedankt sie sich nicht für den Kranz mit den schneeweißen Lilien?

Kriemhild: Der ist noch draußen bei Siegfried und soll eine Überraschung werden, sobald sie uns gefällig geworden. (Sie zieht eine Schleife hervor und liest bzw. zeigt sie der Elli) Siehst du da, die Schleife? Für unsere liebe Elli. In inniger Verbundenheit Siegfried, Kriemhild und Brunhilde. Nun? Was sagst du dazu? Noch nichts? Du hast ja recht. Hier hab ich nämlich noch eine Schleife mit einer anderen Widmung: Für unsere lieben Eltern und Großeltern. In inniger Verbundenheit Siegfried, Kriemhild und Brunhilde. Du hast mich doch wohl verstanden. Den Kranz kriegst du nur unter der Bedingung, dass du unserer Brunhilde dein Erbe überschreibst.

Brunhilde: Geht sie aber nicht darauf ein, kriegen die Großeltern ...

Kriemhild: Still doch, mein Kind. Elli hat viel gelitten und ist immer noch sehr schwach. Da muss man behutsam zu Werk gehen! Nicht wahr, Elli!

Brunhilde: Was hat sie gesagt?

Kriemhild: Noch nichts.

Brunhilde: Dass sie sich nur nicht untersteht, ihr Erbe unter Luise und mir aufzuteilen! Wenn es jemand nicht kriegt, so ist es das Scheusal Luise.

Kriemhild: Nur still, mein Liebling. Es ist jetzt die Stunde, die feine Sprache der Diplomaten zu reden. Drum sei jetzt schön still und bleib nur im Tuch.

Brunhilde: Aber der Schmuck. Ellis Schmuck im Wert von fast einer Million Euro, der gehört uns!

Kriemhild: Du wirst schon sehen, dass deine Mutter alles ins rechte Geleise bringt. Im schlimmsten Fall haben wir noch den Rechtanwalt und den Notar.

Brunhilde: Wenn du uns nicht gehorchst, dann sagen wir, dass du eine Alkoholikerin warst. Nicht wahr, Mama?

Kriemhild: Ja, das sagen wir.

Brunhilde: Das war sie dann nämlich auch.

Kriemhild: Du kannst uns doch hören, Elli? Erinnerst du dich noch daran, wie gut wir uns einmal verstanden haben? Immer trägt sie was im Schilde, meine reizende Kriemhilde. Das reimtest du damals an meinem Geburtstag. Und das Übrige, wenn es doch nichts ist als ein lästiger Alp, warum behältst du es? Komm, spuck´s mir in den Mund!

Mesner (der zwei weitere Kerzen bringt und anzündet, um zu erfahren, was da vorgeht): Gibt es etwas, was Sie brauchen, gnädige Frau?

Kriemhild: Meinen Sie mich?

Mesner: Wie?

Kriemhild: Red ich nicht deutsch?

Mesner: Die Toten sind Gottes, gnädige Frau!

Kriemhild: Ein Schuft, wer das bezweifelt! Doch lass er mich allein.

Mesner: Ich weiß nicht ...

Kriemhild: Was weiß er nicht? Geh er! Sonst kriegt der Pfarrer kalte Füße.

Mesner: (gehend, murmelt für sich) In der Tat, wiewohl ich weiß, dass die Toten in Gottes Hand sind und dass sie sich Gott nicht entreißen lässt, mach ich mir Sorgen.

Kriemhild: Entschuldige Elli, dass man uns gestört hat. Schade, dass nur so ein unendlich winziges Stück Weltenschicksal unter meiner Kontrolle steht. Du darfst mir glauben, manches wär sonst in besserer Ordnung. Nun also! (öffnet den Mund) Willst du mir nicht in den Mund spucken? Aber du weißt doch, dass du nackt in die Unterwelt musst. Was immer du dir im Leben an geistigen Schätzen angesammelt hast, all dein schönes Wissen, du musst es hinter dir lassen. Und was du dir an Habe und Besitz angesammelt hast, auch das musst du zurücklassen. Des letzten Hemdes selbst musst du dich entkleiden. Und wehe, du gedenkst, dich an den Kontrollen mit dem kleinsten Eigennutz vorbeidrücken zu können! Vergiss nicht, wie grausam man da drunten mit denen umspringt, die auch nur einen I-punkt des Gesetzes vernachlässigt oder gar missachtet haben! Oder war es nicht der Wunsch deines Vaters, dass das Erbe in der Familie bleibe? Und da du keine Nachkommenschaft hast und auch sonst niemand außer deinem Bruder Siegfried: wer sonst als dessen Kinder können also gemeint sein, wenn das Erbe in der Familie bleiben soll? Vererb es auf unsere Brunhilde, dann hast du getan, was dein Schöpfer von dir verlangt. Ich muss dich doch nicht daran erinnern; du weißt ja selber, wie sehr sich die anderen Geschwister vergangen haben, als sie Luise gegen uns aufgewiegelt und ihr Asyl gewährt haben. Statt sie unverzüglich uns zu überführen, haben sie das Ganze nur noch verschlimmert, so dass wir jetzt vor einem Scherbenhaufen stehen, den niemand mehr ungeschehen machen kann.

Brunhilde: Insofern wäre es nur ein kleines Entgegenkommen ...

Kriemhild: Nur still, Elli weiß das selber. Sie vermag zu unterscheiden zwischen Recht und Unrecht. Nur weil sie die Auflehnung gegen die anderen verschmähte, saß sie bislang noch in der Patsche. Jetzt aber hat sie die Gelegenheit, frei zu werden und sich in Kraft und Wahrheit über die anderen Geschwister zu erheben. Und da sie weiß, dass im Erbe Ihres Vaters der Passus steht, dass das Erbe im Familienbesitz bleiben soll, das aber nur über Brunhilde möglich ist, so wird sie es nicht fehlen lassen, über uns allen als ein Stern hellster Güte und Gerechtigkeit aufzugehen.

Brunhilde: Warum aber halten dann ihre Finger noch immer so verkrampft das Kreuz da fest?

Kriemhild: O pass auf, mein Liebes! Nun sollst du nämlich sehen, dass sich selbst auch der beste Mensch einmal täuschen kann. Du meinst nämlich, Elli wolle die Hände nicht freigeben zum Schreiben. Da wird sie uns gleich eines besseren belehren. Nicht wahr, Elli? (ein Papier hervorholend) Hier nun habe ich alles aufs Sorgfältigste vorbereitet. Hier, sieh, hier musst du nur noch unterschreiben. Dann kann nichts mehr schief gehen. Ich habe eine Woche vor deinem Todestag als Datum deines Testaments eingesetzt, so dass keiner kommen kann, du hättest damals schon das Bewusstsein verloren. Doch du musst dich beeilen, die ersten Gottesdienstbesucher treffen schon ein.

Brunhilde: Warum unterschreibt sie nicht?

Kriemhild: Fällt es dir zu schwer? Dann lass mich deine Hand stützen. (löst ihr die Finger vom Kruzifix)

Elli: Keiner braucht mir die Hand zu stützen.

Kriemhild: Dann schreib! Hier ist der Stift und hier das Papier.

Brunhilde: Sie denkt nicht daran!

Kriemhild: Hast du Angst, es wäre etwas Unrechtes, wenn du unterschreibst? Erstens ist es das, was der Vater von dir erwartet und mithin kein Unrecht, und zweitens, selbst wenn man es herausbekäme, dass du erst nach dem Tod unterschrieben hast, so wäre es nur ein unerheblicher formeller Fehler, ob welchem dich ohnedies keiner mehr zur Rechenschaft zu ziehen vermöchte. De mortuis nihil nisi bene.

Brunhilde: Unterschreibt sie?

Kriemhild: Gleich.

Brunhilde: Warum unterschreibt sie noch nicht?

Kriemhild: Sie unterschreibt schon. Sie muss nur noch etwas Kraft sammeln.

Brunhilde: Dann kriegt sie auch den wundervollen Lilienkranz und darf sich neben die Eltern ins frisch gemachte Bett legen.

Kriemhild: Also?!

Brunhilde: Wenn sie nicht will, üben wir Zwang aus und führen ihr die Hand. Sie wäre nicht die erste, die man zu ihrem Glück hat zwingen müssen.

Kriemhild: Will sie nicht unterschreiben, weil sie schon tot ist?

Brunhilde: Aber das ist doch Unfug. Sie ist doch noch gar nicht tot.

Kriemhild: In der Tat! Sonst würde sie ja tun, was wir von ihr wünschen. Willenlos würde sie es tun. Indem sie aber ihren eigenen Willen zeigt, beweist sie, dass sie noch am Leben ist. O Elli, wer kann sicher sein, tot zu sein? Vielleicht dünkt es dir gut, zu unterschreiben, um aller Welt zu zeigen, dass du noch nicht tot bist? Ja, das wäre es doch!

Brunhilde: Und das soll es ja auch häufiger geben, als man glaubt: Leute, die sich zwar nicht mehr regen können, so dass sie wie ein Toter daliegen, die aber dennoch zu den Lebenden zu rechnen sind.

Kriemhild: Liebe Elli, wenn du das wünschest!? Dann sollst du an uns deine dreifache Freude haben. Dann werden wir allen Leuten verkünden, dass du eben unterschrieben hast und dass sich mithin alle Totentänze und sonstigen Allfanzereien erübrigen. Da hätte sich dann dein Bruder Erhard umsonst die Mühe gegeben! Indem er dich in einem eiskalten Totensarg über eine Woche hat drin liegen lassen, wähnte er sich ganz sicher, dich endgültig in den Tod zu befördern. Aber er hat sich getäuscht, der Mörder. Nicht wahr, er hat sich getäuscht. Mochte er auch auf der Woge der Sicherheit reiten, so brauchst du dich jetzt nur zu fragen, ob du tot bist, um sicher zu sein, dass du lebst. Drum sei kein Frosch und unterschreibe! Wenn du unterschreibst, dann lassen wir dich anstandslos entscheiden, wie immer du es wünschst: ob du ins Familiengrab hinabsteigen willst oder lieber wieder nach Haus in deine Wohnung. Hier, siehst du, hier musst du unterschreiben!

Elli: Geht und lasst mich! Ich bin tot!

Kriemhild: Ist das dein letztes Wort? Willst du wirklich die Fahrt antreten durch die Gewässer des Todes mit Bleiklumpen im Herzen?

Elli: (schlägt die Lider zu)

Kriemhild: (ihr die Lider nochmals aufschlagend, worauf sie sie wieder zuschlägt) Bedenke es gut. Für diesen Fall werden wir deine Beerdigung so in die Wege leiten, dass du nicht ins elterliche Grab kommst!

(Glocken beginnen zu läuten)

Kriemhild: Zum Teufel auch! Da läutet man auch schon zusammen? Komm jetzt endlich zur Sache, mein Herzchen!

6. Kapitel: Pfarrer Abel wird von Kriemhild ins Gebet genommen

(Pfarrer Abel kommt dazu.)

Pfarrer: Gnädige Frau, was tun Sie da?

Kriemhild: Das ist eine gute Frage!

Pfarrer: Ich beobachte Sie nun schon eine längere Zeit.

Kriemhild: Dann, so mein ich, müssten Sie gesehen haben, was zu sehen ist.

Pfarrer: Das hab ich auch. (Der Toten das Kreuz sorgsam wieder in die Hände legend)

Kriemhild: Die äußere Form muss stimmen, nicht wahr, Herr Pfarrer. O ja, das ist das A und O in unserer Gesellschaft. Genüge nur der äußeren Form, wenn auch dein Inneres bleiklumpenschwer in die Hölle sinkt. Aber vom Himmel haben wir uns ja schon lange verabschiedet. Nicht wahr?! Dort hinauf erhebt sich niemand mehr. Und niemand ist mehr, der von dort auf uns herabschaut.

Pfarrer: Überhaupt, hab ich Sie nicht schon vorhin in der Kirche gesehen?

Kriemhild: Nicht dass ich wüsste. Als ich kam, und ich kam aufrechten Herzens hier herein, da war die Kirche leer. Ich hoffe aber nicht, dass inzwischen schon ein Gang in die Kirche ein Verbrechen ist.

Pfarrer: Sie sind verwandt mit der Verstorbenen?

Kriemhild: Mein Mann hat Ihnen gestern Abend noch eine Post zugeschickt.

Pfarrer: So wären Sie also seine Frau?

Kriemhild (für sich): Seine Intelligenz ist unwiderstehlich.

Pfarrer: Das letzte Mal, als ich Sie gesehen habe, war bei der Beerdigung Ihrer Schwiegermutter.

Kriemhild: Und was weiter?

Pfarrer: Die Tote hier ist mithin eine Ihrer Schwägerinnen.

Kriemhild: Was soll diese Gewissenserforschung, zumal noch ein paar Sachen von ganz anderem Kaliber zur Besprechung anstehen!

Pfarrer: Ich wüsste nicht, was für eine Besprechung jetzt anstünde.

Kriemhild: Wie Sie wissen, haben wir Sie aufgefordert, die Finger von dieser Bestattung zu lassen. Trotz der von uns dringend geäußerten Bitte, uns zurückzurufen und uns Ihre Absage der Exequien zu bestätigen, ist das unterblieben.

Pfarrer: Sie hatten Bedenken, weil die Tote keine Ortsansässige ist? Sie können sich beruhigen.

Kriemhild: Ich will mich aber nicht beruhigen!

Pfarrer: Ich habe mich beim Ortsvorstand kundig gemacht. Nur wenn kein Grab für die Tote bereit stünde, wäre Ihren Bedenken statt zu geben. Aber da ist ja das elterliche Grab.

Kriemhild: Haben wir Sie nicht darauf aufmerksam gemacht, dass auch wir noch immer ein Wort dabei mitzureden haben?

Pfarrer: Ihr Schwager Erhard ist bereit, wenn es eng werden sollte auf unserem Gottesacker, sich andern Orts begraben zu lassen. Ja, er hat mir mitgeteilt, er habe eigenhändig dem Ortsvorstand eine schriftliche Erklärung überreicht, dass er im Zweifelsfall auf seinen Grabplatz zu Gunsten seiner Schwester verzichtet.

Kriemhild: Auf etwas, was einer nicht besitzt, kann er nicht verzichten. Herr Erhard kann zwar auf sein Erbe verzichten zu Gunsten seiner gottwohlgefälligen, schwer erkrankten Nichte, das könnte er, wenn er es wollte, aber er kann nicht auf seinen Platz im elterlichen Grab verzichten, denn einen solchen Platz gibt es überhaupt nicht.

Pfarrer: Die gottwohlgefällige, schwer erkrankte Nichte ...

Kriemhild: Gefällt Ihnen etwas nicht? Oder stimmt etwas nicht?

Pfarrer: Sie haben aber doch noch eine Tochter?

Kriemhild: Weichen Sie mir doch nicht immer aus! Mein Kind kann Ihnen jederzeit das Vaterunser vorbeten, von ganzem Herzen und aus ganzer Seele und aus der Tiefe ihres Gemütes, wie es uns der göttliche Heiland zu beten aufgetragen hat.

Pfarrer: Sie haben aber doch außer dieser Tochter noch eine Tochter?

Kriemhild: Wenn ich Sie bitten darf, so fragen Sie mich nicht nach Dingen, die sie nichts angehen.

Pfarrer: Gesetzt, die andere Tochter ist auch gottwohlgefällig ...

Kriemhild: Wer Vater und Mutter nicht ehrt, das wissen Sie selbst, handelt nicht gottwohlgefällig.

Pfarrer: Gnädige Frau, was ein Ärgernis ist im Auge Gottes, das zu beheben, darum geht es stets zuallererst. Drum sage ich Ihnen auch, dass ich diesen Tag zu den schönsten meiner Erdentage gerechnet hätte, wären sie mit beiden Töchtern gekommen und diese hätten jetzt gemeinsam für ihre verstorbene Tante gebetet. Wer weiß, ob sie nicht auch Ihren Mann und seinen Bruder auf andere Gedanken gebracht hätten?

Kriemhild: Den Grabplatz hätten sie dadurch auch nicht frei gebetet.

Pfarrer: Solange ich keine andere Weisung erhalte, nehme ich meine Pflicht als Seelsorger wahr.

Kriemhild: Wir haben es aber dem Ortsvorstand gesagt. Hat er Sie nicht in Kenntnis gesetzt?

Pfarrer: Ich wüsste nicht, dass Sie mich zu kontrollieren oder mir irgendetwas vorzuschreiben hätten in meinem Beruf als Seelsorger.

Kriemhild: Wer redet von Kontrollieren, wer von Vorschreiben! Täuschen Sie sich nur nicht, Herr Pfarrer! Wenn Sie mit Ihren Handlungen in ein laufendes Verfahren eingreifen, machen Sie sich mitverantwortlich. Und wenn Sie ein Verbrechen nicht verhindern, wiewohl es in Ihrer Macht steht, machen Sie sich gleichfalls mitschuldig. Dabei gilt, wie Sie sicher auch wissen, dass Unwissenheit nicht vor Strafe schützt.

Pfarrer: Gnädige Frau. Seien Sie nur ganz unbesorgt! Weder greife ich in ein laufendes Verfahren ein noch fördere ich ein Verbrechen. Und wenn ich es aus Unwissenheit tun sollte, werde ich Sie gewiss nicht bitten, die Strafe an meiner statt entgegenzunehmen.

Kriemhild: Dann lassen Sie sich´s gesagt sein, dass ich bereits bei unserem Rechtsanwalt vorstellig geworden bin wegen einer einstweiligen Verfügung betreffs des Grabplatzes.

Pfarrer: Lassen Sie mich jetzt ziehen. Sie sehen, die Kirche ist schon fast voll und die Zeit drängt.

Kriemhild: Eines muss ich Ihnen unbedingt noch sagen. Und das merken Sie sich gut. Dass Sie sich nur nicht anschicken, eine Lebende zu begraben.

Pfarrer: Gnädige Frau. Ob Sie da nicht ein wenig zu weit gehen?

Kriemhild: Was ist das? (sie zieht der Toten die Lider hoch, die dann wieder herabfallen) Kann jemand tot sein, der die Augen von sich aus wieder zuschlägt?

Pfarrer: Sie können von allein wieder zufallen

Kriemhild: Das glauben Sie doch selber nicht. Haben Sie noch nie was von einer Totenstarre gehört? Da schauen Sie doch nur! (Wiederholung)

Pfarrer: Jedenfalls gehört das nicht in mein Gebiet. Wenn der Amtsarzt den Totenschein ausgestellt hat und meine Behörde an mich herantritt, eine Leichenfeier vorzunehmen, dann liegt es an mir, der Bitte nachzukommen. Überhaupt, ob Sie der Toten nicht etwas mehr Ehrfurcht entgegen bringen sollten?

Kriemhild: Das hätt ich mir denken können, dass der Philister so reagiert. Vielleicht meinen Sie gar, ich würde hexen? Aber dieses Zeitalter ist vorüber, wo man einen wegen Hexerei vor ein kirchliches Gericht und dann auf den Scheiterhaufen bringen konnte.

Pfarrer: Da kommt Ihr Schwager, der Herr Erhard Eusal! (sieht Erhard und Luitgard in die Kirche kommen mit ihren Blumensträußen und eilt auf Sie zu) Denken Sie an die Worte des Apostels!

Kriemhild: Böses tun, kann einem manchmal auch ganz wohl tun, Herr Pfarrer, zumal wenn man so mit Prügeln gesegnet ist wie unsereins.

(Pfarrer eilt Erhard und Luitgard entgegen)

Kriemhild (für sich): Und die Schwägerin ist auch mit von der Partie! Seit über 50 Jahren ist sie nun schon ledig, d.h. streunt sie wild in der Welt herum!

Erhard: Herr Pfarrer!?

Pfarrer: Bei Jesus Christus, ich beschwöre Sie! Suchen Sie den Frieden und jagen ihm nach, auch wenn es dieses Weib auf Krieg angelegt haben sollte.

Erhard: Es soll schon nichts geschehen, Herr Pfarrer, auch wenn sie noch nie einen guten Faden gesponnen hat.

Kriemhild: Aber da scheint ja ein neuer Verehrer zu sein!?

Brunhilde: Ah, versteck mich vor ihm. Sonst krieg ich die Krätze!

Kriemhild: Nur keine Sorge.

Pfarrer: (eilt in die Sakristei)

7. Kapitel: Erhard und Luitgard kommen in die Kirche mit anderen Eberdingern

Joggel: Was geht hier vor sich? Wer ist dieses Weib da bei deiner Schwester?

Kriemhild: Nur nicht gar so großmaulig, Herr Lebensabschnittsgefährte in spe!

Erhard: Das ist meine Schwägerin, die Frau meines Bruders.

Joggel: Diese Rasierklinge von Zunge?

Erhard: Sie war es, die nach unserer Mutter Tod nichts Bessres zu tun wusste, als vor Gericht zu rennen, und die mir seitdem viele kummervolle Tage und schlaflose Nächte bereitet hat.

Brunhilde: Bähhh

Joggel: Da ist ja noch wer!

Luitgard: Das ist das Mistvieh, das ihren Vater verachtet und das nach dem Erbe aus seiner Familie giert.

Brunhilde: Lässt du dir das gefallen?

Kriemhild: Lass sie doch. Hauptsache, sie müssen zahlen.

Brunhilde: Und so einen Bauer muss ich zum Onkel Tante haben!

Kriemhild: Sei schön still. Das ist jetzt am besten!

Joggel: (den Hals der Toten betrachtend)

Kriemhild: Sie aber, mein Herr, darf ich fragen, was Sie hier zu suchen haben?

Joggel: Ich halte Ausschau nach Fingerabdrücken von einem Weib, das Klauen hat wie Sie und das ihre Lust daran hat, anderen die Luft abzuklemmen.

Kriemhild: Passen Sie auf mit ihren Verbalinjurien. Es sind Leute da, die mithören, was Sie da sagen.

(Jetzt betritt auch Siegfried mit einigen Leuten die Kirche.)

Kriemhild: (zu den Leuten gewandt) Dabei war unser Töchterchen eben dabei, ein Vaterunser zu beten!

einer: Das kann die überhaupt nicht!

Luitgard: Und würde das Vamp noch so fromm beten, es bliebe dennoch eine Gotteslästerung.

Kriemhild: Sie aber dampft ja nur so vor Selbstgerechtigkeit. Gewiss macht sie der Schatten des neuen Liebhabers so kühn?!

Joggel: Mit dem Mund können sie beten; aber hinter dem Rücken sind sie voll Mordlust.

einer: Heraus aus der Kirche mit euch!

Kriemhild: Hast du gehört, Siegfried?

Siegfried: Untersteh sich nur keiner ...

Kriemhild: Überhaupt gehört die Kirche uns ebenso gut wie euch. Und Christus ist bei uns. Denn wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, da ist er mitten unter ihnen. Und das ist bei uns der Fall.

Joggel: Das wird sich ja gleich zeigen.

Kriemhild: Ich darf die Angehörigen bitten, nachzuprüfen, ob die Tote hier im Gotteshaus etwas verloren hat. Nicht nur, weil sie mit einem ungläubigen Türken verheiratet war, sondern auch, weil sie kein Anrecht hat, als Nichteinwohnerin in der hiesigen Gemeinde bestattet zu werden.

Luitgard: Das würde ihr so passen, dass Elli aufsteht und ihr Totenbett zur Kirche hinausträgt.

Kriemhild: Lasst die Toten die Toten begraben! So steht es schon in der Bibel!

Siegfried: Jawohl, so steht es schon in der Bibel! Und zwar bei allen Synoptikern.

ein anderer: Hätt er sich von einem Optiker eine Brille verpassen lassen, säh er jetzt, was Sache ist!

Siegfried: Immerhin habe ich über 40 Jahre lang Kinder in Religion unterrichtet. Doch hab ich mich nicht nur theoretisch ausgezeichnet. Auch praktisch steht mir einiges zu Buche, wovon Ihr nur träumen könnt. Oder wo wäre der Mann, der seiner Frau so unverbrüchlich die Treue gehalten hätte wie ich? Und das in einer Zeit, wo man kommt und geht, wie es einem gerade gefällt.

wieder einer: Gehört das auch zu seinen Verdiensten, auf denen er herumpocht, dass er seinem Bruder das Leben zur Hölle gemacht hat?

Kriemhild: Die Frage müssen Sie Herrn Erhard Eusal vorlegen!

Joggel: Man muss sich schrecklich wohlfühlen unter einem solchen Weiberkommando.

Luitgard: Das kann man wohl sagen! Und würde sie sich die Brüste mit Senf bestreichen, er würd keinen Schritt von der Seite ihr weichen.

Siegfried: Jawohl, so ist es!

Joggel: Ich aber, an ihrer Stelle, würde mich schämen, mit so erbärmlichem Theater aufzuwarten! Jawohl Sie! Weich Sie nur nicht meinem Blick aus!

Kriemhild: Da muss schon ein anderer kommen.

Joggel: Die Schwiegermutter hatte eben die Augen geschlossen, da sann sie bereits darauf, sich am Erbe der Geschwister zu vergreifen.

Kriemhild: Waren die Geschwister nicht selbst daran schuld, da sie doch wussten, dass wir beim Erbe benachteiligt worden waren? Wären sie kooperativ gewesen, wir hätten die Sache unter uns geklärt.

Joggel: Und warum verlor Sie in der ersten Instanz?

Kriemhild: Weil dort Trottel sitzen, so wie du einer bist! Aber im Berufungssenat sieht das etwas besser aus, wenn freilich auch dort noch viel zu wünschen bleibt.

einer: Scher dich zum Teufel, du Krokodil!

Kriemhild: Das würde ihm so passen.

wieder einer: Wir können ihr auch Beine machen!

einige: Das können wir allerdings.

Kriemhild: Soll das eine Drohung sein?

Joggel: Wenn das Maß voll ist, muss man sich nicht wundern!

Brunhilde: (aus dem Tuch schauend) Bäh!!

Joggel: Und das ist der erbärmliche Schreihals?

Brunhilde: (aus dem Tuch schauend) Bäh!!

eine: Trägt sie den Bettel da immer an ihrer Brust?

Kriemhild: Geht sie das was an?

eine: Dann glaube ich kaum, dass Ihr Herr Gemahl dort noch ein Lustrevierchen findet.

Siegfried: Ich, oh .....

Luitgard: O ich könnte den Satan aus dem Tuch reißen und erwürgen!

Kriemhild: Verehrte Trauergemeinde! Haben Sie diese Dame gehört? Sie nennt sich meine Schwägerin. Bei etwas mehr Licht besehen ist sie eine unverheiratete Frau mit einem Lebensgefährten oder so was und lebt von der Hand in den Mund. Im Winter geht sie Ski-Fahren in die Alpen, im Sommer nach Gran Canaria oder sonst wohin, wo es schöne Sonne und gutes Essen gibt. Versteht sich, dass man da ausgeglichen und munter sein kann. Wem auch tut man etwas Böses an, wenn man stets auf nichts sonst bedacht sein muss, als sich´s gut gehen zu lassen? Wenn nun aber einer sein Leben so einrichtet, dass er immer Glück hat und es ihm allezeit gut geht und er alles hübsch artig bezahlt und mithin niemandem etwas schuldig bleibt: Was kann der liebe Gott da anderes als mit einem solchen Menschen zufrieden sein? Versteht sich, dass der nach seinem wundervollen Leben Einlass in den Himmel findet. Nehmen Sie dagegen mich, die ich mit einem kranken Kind geschlagen bin, die ich weder im Winter zum Skifahren noch auch im Sommer schöne Ferien machen kann, die ich vielmehr den Plackereien einer ständig wachsenden, schrecklichen Krankheit ausgesetzt bin: Was bleibt mir da anderes übrig als ein Platz im unteren Teil der Hölle? Ja, so steht das mit mir!

einer: Gut, dass sie es begreift, wohin sie gehört!

Kriemhild: Am liebsten würd ich euch alle erdrosseln mit dieser Krankheit, dass ihr wisst, wie sie schmeckt!

einer: Was für ein wahres Wort.

Wieder einer: Und das wäre nicht der erste Mord.

eine: Passen Sie nur auf, gnädige Frau, dass Sie der Toten nicht zu nah kommen. Es würde mich nicht wundern, wenn eine Fontäne Blut losspritzt! Wenn ein Mörder bei seinem Opfer vorbeikommt, schießt das Blut auf wie eine Fontäne.

Kriemhild: Wenn das mir gelten soll, dann zeigen Sie mir doch die Fontäne! Bitte! Weichen Sie mir nicht aus! Sehen Sie, meine verehrten, bewundernswerten Redner! Aber eine tote Fliege kann einem noch das beste Mus verderben.

wieder einer: Und das ist Ihr Gemahl? Der Stumme da?

Siegfried: Ich ...

Kriemhild: Ja, hörst du nicht, wie man deine Frau und dein Kind in einem fort beschimpft?

Siegfried: Ich?

Luitgard: Ja du! Sag deinem Töchterchen, das die Windeln am Brusttuch ihrer Mutter vollscheißt, sag ihm einen schönen Gruß von mir und dass man halt Reiten können sollte, eh man sich auf ein Pferd setzt. Oder man lässt sich von seinen lieben Eltern einen Rossstecken schenken und reitet mit ihm um Mamas Mittagstisch.

Siegfried: Sei doch still

Luitgard: Sei du still, du Weiberknecht. Dabei sag ich noch gar nichts, wenn eine vom Pferd fällt, wenn sie sich dann nur wieder tapfer erhebt. Aber dann nach Hause zu kriechen und zuhaus zu hocken und zum Babylein zusammenzuschrumpfen? Pfui!

Siegfried: Dir wär es doch egal, wenn unser Kind einmal, wenn wir das Zeitliche gesegnet haben, den Hungertod stirbt.

Luitgard: Meine Seligkeit für diesen Hungertod!

Siegfried: O Gott, im Himmel! Verschließe deine Ohren, um diese sündhaft lästerlichen Reden nicht zu vernehmen! Dabei ist das so ein frommes Kind. Wie würde es sie erschüttern, liebe Gemeinde, wenn sie auch nur eine Probe ihrer Frömmigkeit vernähmen! Eines ihrer Lieblingsgebete ist nämlich das Vaterunser.

(Der Pfarrer, begleitet von kleinen Ministranten und dem Mesner, kommt jetzt aus der Sakristei, um mit der Handlung zu beginnen. Doch Kriemhild schert sich nicht darum.)

Pfarrer: Beginnen wir nun mit dem Totenamt! Ich habe ohnedies nicht so viel Zeit eingeplant!

einer: Ich auch nicht!

wieder einer: Und das nur wegen dieser Störenfriede! Verflucht sollen sie sein.

alle: Sie seien verflucht!

Kriemhild: Zeig´s dem Herrn Pfarrer, wie sie beten kann! Die glauben ja nicht.

Siegfried: Vaterunser ... der du bist im Himmel ...

Brunhilde: Bähhh

Leute: Bähhh hat sie gesagt! – Bäh kommt da nicht vor. – Aber das sagt uns genug!

Siegfried: Willst du es nicht weitersagen?

jemand: Natürlich nicht, weil sie es nicht kann!

Siegfried: O, sie kann es

eine: bis zum unerlösten Ende.

eine andere: Oder bis zu den gebenedeiten Weibern, die es nicht mehr gibt.

Kriemhild: Ihr hängt es zum Hals heraus, wenn sie euch sieht!

eine Frau: Da meint man, Kinder seien ein Segen Gottes ...

Pfarrer: Wollten wir uns nicht dem Gottesdienst widmen?

einer: Ja, das wollten wir!

noch einer: Aber wenn der Satan nicht will, kämpft selbst Gott vergebens.

Siegfried: Herr Pfarrer, sie kann das Vaterunser auch auf Englisch und Französisch und Italienisch und Spanisch.

Pfarrer: In nomine patris et filii et spiritus sancti! Oremus!

Siegfried: So wollen Sie es sich nicht anhören? Die Verstorbene hat Zeit.

ein anderer: Aber wir nicht!

Siegfried: Dann beten wir eben allein!

Joggel: Seien Sie endlich still!

Pfarrer: Adjutorium nostrum in nomine domini

Messner: qui fecit caelum et terram

Siegfried: Notre père, qui est au ciel ... que votre nom soi sanctifié ...

Brunhilde: Ich mag keine Väter, weder im Himmel noch auf Erden.

Frau (leise zur Nachbarin): Ist das nicht die kleine gefräßige Bestie?

Nachbarin: Das ist sie!

Siegfried: Notre père ...

Frau: Und was hat sie gesagt?

Nachbarin: Sie mag keine Väter.

Frau: Die Gefräßigkeit kennt nichts außer ihrem Hunger. Stets sagt sie: Sorg vor, sorg vor! Und dann bleibt der ergebenen Dienerschaft nichts übrig als zu raffen und zu schaffen und zu hehlen und zu stehlen.

Siegfried: Ah ja, das ist auch kein Wunder. Als ob sie nicht längst bemerkt hätte, wie uns alle Welt hasst! (zum Pfarrer) Im Übrigen ist sie nun eben auch schon etwas zu groß, um als Kleinkind vorgeführt zu werden. Aber Sie glauben mir doch, wenn ich Ihnen sage, dass man weit auf der Welt herumreisen kann, bis man wieder auf ein so himmlisch-frommes Kind stößt?

Pfarrer: Darf ich in der heiligen Handlung fortfahren?

Siegfried: Nie hab ich an etwas anderes geglaubt als an Gott, unseren Vater, im Unterschied zu meiner Schwester Luitgard.

Luitgard: Ich? Schau er doch nur auf sich!

Brunhilde: Ich aber mag keinen, der unser aller Vater sein will!

Pfarrer: Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf! Verlassen Sie das Gotteshaus, ehe Sie mir das Seelenamt vollends zerstört haben. Wenn Sie aber meinen, unbedingt daran teilnehmen zu sollen, so ordnen Sie sich ein in die Schar der Gläubigen. Und zwar Sie, Ihre Frau Gemahlin und Ihre Tochter!

Siegfried: Und meine Schwester Luitgard! Zu der sagen Sie nichts?

Luitgard: Pack dich, du Beckmesser!

Kriemhild: Das würde euch so gefallen!

Siegfried: Vielleicht, Herr Pfarrer, hilft Ihnen die Geschichte vom Falken weiter, mich zu verstehen? Da ist nämlich ein Falke, der vom Himmel herab auf eine Wildgans stößt und sie mit sich durch die Luft davonträgt. Drei Tropfen Blutes fallen nun von der Gans herab, mitten auf den Schnee.

einer: Seien Sie endlich still oder verschwinden Sie!

Kriemhild: Komm und lass sie!

(sie nehmen in einer der vorderen Bänke Platz)

8. Kapitel: Wie die Totenmesse beginnt und Siegfried und Kriemhild und Brunhilde die Kirche verlassen

Pfarrer: Wenn du, o Herr, unserer Sünden gedächtest,

wer auch könnte vor dir bestehen?

Mesner: Doch Gnade ist bei dir und überreiche Huld,

du heilest alle unsere Missetat.

Pfarrer: Nun aber, geliebter Heiland, schau gnädig auf deine Dienerin Elisabeth, die du nach einem Leben voll Mühen und Leiden zu dir abberufen hast. Entbiete deinen Engel, dass er sie vor dein Angesicht trage zum ewigen Leben! Wir bitten dich auch, wenn du einst deinen Boten zu uns sendest, dass du auch uns bereit finden mögest, teilzunehmen an deinem himmlischen Hochzeitsmahl.

alle: Amen!

Pfarrer: (Ansprache) O meine Lieben! Lasst mich noch ein paar wenige Worte sagen zum Heimgang unserer Schwester Elisabeth. Ohne um alle die Leiden zu wissen, ahnungslos fast, ist ihr Leben zu Ende gegangen und mahnt uns an die Kürze und Vergänglichkeit aller Zeit. Wie erinnere ich mich doch, es ist ja noch kein halbes Jahr her, wo ich die Tote bei der Bushaltestelle auf den Bus warten sah. Es war in aller Frühe, wenn ich von dem Frühgottesdienst kam. Natürlich verbat ich mir, darüber nachzudenken, welchen Weg sie da stets so früh nähme. Fast leichtfertig, wie es ein guter Seelsorger niemals sein darf, tat ich das Meine. Ohne jemals im heiligen Opfer ihrer zu gedenken und den Herrn um seine gütige Hilfe anzuflehen, sah ich ihr nach und sah weg. Heute nun weiß ich, dass die Verstorbene damals bereits ihre schreckliche Diagnose wusste und dass sie in der Klinik von Station zu Station und von Hand zu Hand zu immer neuen Therapien gereicht wurde, bis offenkundig war, dass auch dies nichts mehr nützte. O meine Lieben! Kaum haben wir des Lebens Lauf begonnen, da müssen wir ihn auch schon wieder beenden und leben doch so oft, als hätten wir unendlich viele Zeit. Das Leben, was ist es anderes als ein Tag, ein einziger Tag, ein einziger Tag, an dem wir es uns sollten angelegen sein lassen, unserem Herrn zu gefallen!

einer (in der hinter Kriemhild und Siegfried befindlichen Bank): Was mir ihr Schwager erzählt hat, das muss ich nun aber doch sagen, das war ungeheuerlich. Das hat mich nicht schlafen lassen.

Kriemhild: Das glaub ich gern. Denn was Gutes weiß der schon lange nicht mehr zu erzählen.

ältere Frau: Was Sie fertig gebracht haben, gnädige Frau, da kann man nur gratulieren.

Pfarrer: Wie oft habe ich nicht schon dem Herrn in aller Frühe den Morgenkuss gegeben und ihm versprochen, lieb zu ihm zu sein? Wie oft bin ich ihm nicht zärtlich durchs Haar gefahren, hab ihm die Wangen gedrückt und den Mund geküsst! O ja, viele, viele Küsse hab ich ihm gegeben! Und allen, die zu mir kamen und mir ihre Sorgen ausschütteten und mich um Rat fragten, hab ich gesagt, dass man küssen müsse, viel küssen müsse. Doch dann, noch ehe der Tag in Gnaden hinab stieg vom Himmel, da hatte ich meinen Liebsten bereits verraten. O wie elend war mir´s dann, wenn ich mich neben sein Lager stellte und die Wunden sah, die ich ihm geschlagen hatte!

jemand aus den hinteren Bänken: Im Psalter steht, dass es gottwohlgefällig ist, wenn Brüder in Eintracht beisammen sind.

Kriemhild: Das sollten sie den Geschwistern meines Mannes sagen.

jemand: Jeder ist aufgefordert, zum Frieden beizutragen.

Kriemhild: Sie dürfen mir glauben, wenn ich es arrangieren könnte, dass alle, die einmal ein und derselben Frau Mutterwehen verursacht haben, in Eintracht beisammen lebten, ich wollt es gern tun.

jemand: Es genügt schon, es bei sich zuhause zu versuchen.

Kriemhild: Haben Sie mir etwas vorzuwerfen?

jemand: Allerdings.

Pfarrer: Du aber, gegeißelter Heiland, wiewohl du Grund gehabt hättest, mich dem peinlichen Gerichtsverfahren zu überliefern, auf dass man den Stab über meinem Haupt zerbreche und ihn mir vor die Füße werfe, hast mir zugelächelt. Ja, als hätte nicht ich dich geschunden und geschlagen, als hätt ich alles recht gemacht und nur du hättest es verabsäumt, mich zur rechten Zeit zu ermahnen, nahmst alle Schuld auf dich. Du guter Seelenhirte, du weißt es, dass es stets nur Ohnmacht war, die mich so mit sich riss. Und wenn ich auch deshalb niemals zu entschuldigen bin, so lastetest du dir lieber auch noch meine Schuld auf, als dass du mich von dir gestoßen hättest! O glückselige Schuld, die solch einen Erlöser gefunden!

Jemand: Leben ihre beiden Töchter in Frieden beisammen?

Nachbarin: Sie leben in Streit und Hader. – Vom Balkonkampf weiß doch alle Welt.

wieder eine Frau: Jawohl, das war das Ende der Familie. Eine Woche später war die ältere Tochter aus dem Haus.

noch eine Frau: Und seit der Zeit sucht man sie zu enterben und ihr das Leben schwer zu machen, wie es selbst Rabeneltern noch nie zu tun vermochten.

Kriemhild: Mistet doch euren eigenen Stall und haltet das Maul, wenn ihr sonst nichts zu tratschen wisst!

Pfarrer: Bevor wir nun zusammen mit unserer Schwester Elisabeth Eusal die heilige Feier begehen, bitte ich Erhard, den ältesten Bruder der Verstorbenen, wie er es sich als Stellvertreter des Vaters gewünscht hat, zu Ehren der Verstorbenen noch ein paar Worte zu sagen.

Kriemhild: Hast du gehört, was der Pfarrer gesagt hat? Auf der Stelle musst du Einspruch erheben.

Siegfried: Was soll ich denn sagen?

Kriemhild: Gleiches Recht für alle ... Los, los!!

Siegfried: Herr Pfarrer, gleiches Recht für alle. Ja, das ist es doch, was ich mir ausbitten darf. Ich denke, Sie verstehen mich. Gleiches Recht ...

Kriemhild: (soufflierend) Bei uns gibt es kein Majorat und hat es noch nie eines gegeben.

Siegfried: Bei uns gibt es kein Majorat und hat es noch nie eines gegeben.

Kriemhild: Das heißt, wenn mein Bruder Erhard die Gelegenheit bekommt ...

Siegfried: Das heißt, wenn mein Bruder Erhard die Gelegenheit bekommt ...

Kriemhild: eine Rede zu halten, dann muss ich dasselbe Recht bekommen.

Siegfried: eine Rede zu halten, dann muss ich dasselbe Recht bekommen.

viele: Was soll das?

Siegfried: Ich bitte Sie, mich auf die Rednerliste setzen und mir zu sagen, wann ich an der Reihe bin! (zu Kriemhild) Ist das genug? Oder soll ich mir auch noch das Recht der ersten Rede erstreiten? Besser ist doch, wenn er beginnt. Da kann ich dann auf alles eingehen, was er vorgebracht hat und es allenfalls zurecht rücken.

Luitgard: Schweig und verschwinde, du Mörder!

Siegfried: Den Herrn Pfarrer hab ich gefragt, nicht dich.

Erhard: Kann der Herr Siegfried Weiberknecht uns sagen, was das Weib da zu suchen hat unter uns Geschwistern?

Luitgard: Geld natürlich, nichts als Geld! Hat man´s redlich nicht erschwitzt, wird´s unredlich wegstibitzt. Und hätte unsere tote Schwester noch einen roten Heller bei sich gehabt, dieses Weib hätte sich gewiss nicht geniert, ihr auch noch das Geld für den Fährmann wegzuklauben.

Kriemhild: Los jetzt! Bitte um das Wort, um die Rede! Und zwar so, dass man die Bitte nicht versagen kann!

Siegfried: Sie hören es, Herr Pfarrer. Ich bitte Sie, meiner Bitte stattzugeben.

Pfarrer: Wart er ab, bis sein älterer Bruder gesprochen hat.

Siegfried: Ich bitte um das Wort!

einige: Er soll abwarten!

Pfarrer: Nun also, Herr Erhard Eusal, sprechen Sie!

Erhard (liest die folgende Rede ab): Meine liebe Elli! Noch immer kann ich es nicht fassen, dass die Stunde gekommen ist, wo wir Abschied zu nehmen haben für immer. Zwar war ich vorbereitet, hab ich dich doch in deinen letzten Tagen täglich besucht, als dir schon die Stimme versagte und das Bewusstsein dabei war, dir abhanden zu kommen; auch war ich bei dir am Krankenbett gesessen und hab dir die Hand gehalten, als der Tod eintrat ins Zimmer. Und doch, wenn es schon heißt, dass keiner zu beurteilen vermag, wie der Tod schmeckt, ehe er ihn nicht selber durchgemacht hat, um wie viel mehr gilt das doch, wenn ich an deinen Tod denke, diesen mit Bitternissen gesättigten Tod! Wie elend und trübe ist mir zumut, wenn ich daran denke, dass du nun zu Mutter und Vater zurückkehren wirst. Wenn ich daran denke, wie sie dich nach allem befragen, was sich seit ihrem Tod zugetragen. Was wirst du ihnen, ja was kannst du ihnen sagen, wenn sie dich danach fragen, ob sich die Geschwister noch immer so lieben wie früher? Was kannst du ihnen sagen? Was anderes, als in Tränen vor ihnen auszubrechen? O meine Elli. Wenn ich bedenke, was für ein Weg bereits hinter dir liegt, und was für einer, der dir nun noch bevorsteht! Dass du sterben musstest unter dem Würgegriff des eigenen Bruders! Gewiss, das liegt hinter dir. Eines Bruders, der sich das Lieblingskind seiner Mutter zu sein rühmte, und der immer stolz darauf war, mit dem Christkind Geburtstag zu haben. Doch das hinderte ihn nicht, den guten Namen von Vater und Mutter zu beschmutzen! O, das hinderte ihn überhaupt nicht, selbst über die gewöhnlichsten Sitten und Gepflogenheiten hinweg zu gehen. Und das alles nur, weil man ihn zum Äffchen abgerichtet hatte und er nicht mehr anders konnte, als nach der Pfeife dieses kleinen Schandluders zu tanzen, welches sich stolz seine einzige, ihm noch verbliebene Tochter nennt, nachdem sie die Geschwisterschaft zu Hause zerstört hat. Wenn sie wenigstens ihren Vater ehrte und verehrte! Doch das Gegenteil ist ja nur der Fall. Ausgeliefert ihren unerschöpflichen Launen und Querelen fristet mein Bruder im eigenen Haus das Leben eines gerade noch geduldeten Hausmeisters!

Ja, wollte ich alles erzählen, was nach der Mutter Tod geschehen, o Elli, es müsste noch gar die unendliche Liebe Gottes ins Wanken geraten. Wie er und seine Frau uns aus dem Frieden der Geschwisterlichkeit herausgerissen und uns zugesetzt haben mit ihren Rechtsanwälten und Gerichten. Und was wollen sie von uns? Geld, nichts als Geld. Nie genug Geld können sie aus uns herausholen, als hätten wir Millionen oder Milliarden. Und wofür wollen sie unser Erbe und Geld? Für Ihre Brut, für diese unerzogene, von den Eltern verwöhnte, nur auf sich selbst bedachte Schreihalsbrut, der es an Glauben fehlt, der Herr werde schon auch für sie in der Zukunft sorgen. Haben sie an ihren drei großen Häusern noch immer nicht genug? Nein, das haben sie nicht. Sie brauchen auch noch das elterliche Haus, eine bereits 50 Jahre alte Doppelhaushälfte, von der wir drei Geschwister jeweils eine Etage geerbt haben. Also zogen sie uns vor Gericht. Und doch haben wir immer noch keinen Frieden. Denn wiewohl das Testament unseres Vaters vor Gericht für unbeanstandbar erklärt wurde, gefiel es dem Weibe dort, in Berufung zu gehen. Zu verlieren hatte sie ja nichts mehr. Merk es sich nur die Welt und nehm sie sich in Acht vor Leuten, die nichts mehr zu verlieren haben! Wenn sie nur können, legen sie auch die Erde in Schutt und Asche. – Ah, wie sie da auftauchte, die Schlange! Das geschah vor vierzehn Tagen, als du, Elli, bereits mit dem Tode rangst. Der Bruder sei überraschend krank geworden, behauptete sie. Sie komme in seiner Vertretung. Was für eine glänzende Lüge, den unbrauchbaren Gemahl zuhause in der Mädchenkammer zu lassen! Cherchez la femme! Und das Gericht merkte es nicht? Merkte nicht, dass es das Weib war mitsamt ihrer Brut, deren Habgier den Bruder aufhetzte gegen seine Geschwister und gegen seinen Vater? Nur schade, dass ich damals unserem Rechtsanwalt Folge leistete und nicht aufstand und den Gerichtsaal verließ. Doch das alles jetzt zu erzählen übersteigt meine Kraft. – Christus tat alles zu Ehren des himmlischen Vaters. Mein Bruder Siegfried aber tut alles, um unserem Vater auch noch nach dessen Tod mit Schmach und Schande zu überkübeln.

Siegfried: Darf ich etwas dazu sagen, zumal da ich direkt angesprochen bin?

Pfarrer: Wenn Ihr Bruder mit seiner Rede zu Ende ist.

ältere Frau: Kein Mensch hätte sich das jemals träumen lassen, dass die Kinder unseres verehrten alten Lehrers Eusal einmal in Unfrieden aus dieser Welt gehen würden. Selbst Siegfried, der Judas, konnte damals noch Nägel verdauen. Aber ein Weib macht doch alles möglich.

wieder eine Frau: Jawohl, das ist die gnädige Frau. Die hat es geschafft, einen so ganz anderen aus ihm zu machen.

Kriemhild: An uns ist es nicht gelegen, den alten Span zu begraben. Aber Ordnung muss sein. Nicht wahr, Brunhildchen!? Oder ist es nicht ein himmlisches Kind? Da sehen Sie es sich nur an!

Pfarrer: Vergessen wir nicht, dass wir hier weder bei einem Schönheitswettbewerb sind, noch dass wir vor Gericht stehen, sondern dass wir uns eingefunden haben vor dem Tribunal der göttlichen Gnade.

Kriemhild: O, Herr Pfarrer. Hier ist auch das Gericht Gottes. Und das ist noch schrecklicher als das Gericht der Menschen.

eine Frau: Wie so kühn und selbstgerecht sie die Rache Gottes über Ihrem Haupt heraufbeschwört!

Kriemhild: Jetzt, Siegfried, beginne deine Rede! Und sage nur das, was dir der Herr Jesus einhaucht und sein heiliger Geist!

Siegfried: Liebster Herr Jesus, der du hier unter uns im Tabernakel wohnst, du kennst meinen Glauben. Du weißt, wie sehr ich dich schon immer geliebt habe und noch liebe. Du weißt auch, wie sehr es mich schmerzt, wenn ich mitansehen muss, wie dich die Welt verleugnet und verlästert. Wenn auch sonst keiner es weiß, du weißt es, wie sehr ich darunter gelitten habe, als mir mein Bruder seine Freundschaft aufgekündigt hat. Niemals hätte ich das für möglich gehalten. Eben diese Aufkündigung sollte zum Beginn eines Stromes von Unheil und Elend werden, an dessen vorläufigem Ende ich nun meine liebe Schwester Elisabeth tot aufgebahrt sehe. So weit musste es also kommen, dass sie im Streit und im Unfrieden von uns gegangen ist. Ich, ich habe die Kinder ...

einer: Du, nur du bist schuld daran.

Siegfried: Ich habe die Kinder in der Gottesliebe aufgezogen und unterrichtet.

ein anderer: Mörder! Komm der Toten nicht zu nahe, auf dass nicht das Blut deiner Schwester aufwallt vor Zorn!

Siegfried: Ich glaube an die Gemeinschaft der Heiligen, die Vergebung der Sünde, die Auferstehung der Toten und an das ewige Leben.

Luitgard: Mögen ihn Gott der Vater und sein eigener Vater verfluchen, wenn er ihnen bei der Auferstehung begegnet!

Kriemhild: Aber du, du bist ja gerechtfertigt.

Luitgard: Ja meint ihr, mit euch wollte ich einmal in den Himmel?

Siegfried: Wenn einer nichts im Himmel zu suchen hat, so bist du es, wo du schon so viele Jahre nicht mehr in die Kirche gegangen bist.

Luitgard: Er aber geht jeden Tag zum Beten.

Siegfried: Da mach ich keinen Hehl daraus.

Luitgard: Ja dann zeig uns doch deine Knie, ob sie Schrunden haben vom frommen Knien? Vielleicht hat er sie auch dem Herrn Berufungsrichter gezeigt, umwickelt mit ein paar Hunderteuroscheinen, und dann hat sich der seiner erbarmt?

Siegfried: Erbarm dich, Jesus! Erbarm dich, Herr Jesus!

Luitgard: Ja, erbarm dich seiner! Ich aber glaube nur noch, was ich bei ihm gelernt habe: An die Menschheit unter dem Gesetz des geldgierigen Rudels, an die Ewigkeit des schweigenden Grabes und an das Gelächter, das sich rund um die Erde ausbreitet, wenn bald das letzte Exemplar der Bestie Mensch von der Erde verschwunden sein wird.

Kriemhild (eilt nun auch nach vorn): Herr Pfarrer! Meine Damen und Herren. Mit Entsetzen muss ich mitansehen, wie uns diese feierliche Handlung durch unplazierte Invektiven zu entgleiten droht. Statt dass man sich die Zeit nimmt, ohne Zorn und Eifer und in aller Ruhe die Reden der beiden Brüder zu betrachten. Erhard mit seiner scheinbar so sorgfältig zugeschliffenen Rede, als hätte er die Rhetorik auf der Universität studiert. Hätte Erhard seine Rede selber ausgearbeitet, wir ließen sie ja noch gelten. Aber vom Aufbau und der Ausarbeitung einer großen Rede weiß er ja überhaupt nichts, geschweige denn vom freien Vortrag. Weder von einer Anapher weiß er etwas, die zu einer Klimax beiträgt, noch von einem Anakoluth, wie er in der Erregtheit des Redners seinen Platz hat, noch sonst von den Dingen, die eine Rede zu einem Kunststück machen. Vermutlich hat sich ihm ein Nachbar angeboten, die Rede für ihn niederzuschreiben. Ja meinen Sie, ich hätte für meinen Siegfried nicht auch eine solche Rede ausarbeiten können! Doch was hätte er davon gehabt? Wie anders nimmt sich da die herzerfrischende Rede von ihm selber aus, vergleicht man sie mit dem dürftigen Produkt seines Bruders! Wenn man es nur schafft, kein Mann voll ränkesüchtiger Parteilichkeit zu sein und sich hinter Vorurteilen zu verschanzen, so kann man ja gar nicht anders, als ihn darum zu lieben. Oder sagt nicht schon der göttliche Heiland "Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnet ihr nicht ins Himmelreich eingehen!". Und wenn ich nun sehe, wie seine Rede gleich einer Balsamwolke zum Himmel ihre Bahn zieht, so durchflutet mich Stolz auf ihn; und ich fühle mich erinnert an die liebenswerten alten russischen Mönche und Gottesnarren, die den heiligen Boden Russlands durchwandert haben. Ein Kind ist er geblieben, Siegfried, mein Mann, ein wundervolles Kind!

Luitgard: Ein Kind ist er geblieben, ein wundervolles? Ein Kindskopf ist er geworden, ein ränkesüchtiger, geldgieriger und gemeiner.

Kriemhild: Vermutlich sollten Sie es nicht zulassen, Herr Pfarrer, dass der Pöbel die Kirche dazu missbraucht, die ungeheuerlichsten Beleidigungen auf uns auszugießen.

einer: Gnädige Frau, seien Sie froh, dass wir alle noch schweigen.

Kriemhild: Lächerlich, mir mit solchen Mätzchen Angst einjagen zu wollen!

einer: Ich verhehle es nicht. Man spürt ein Jucken und Zucken in den Fingern, wenn man Sie hört, gnädige Frau. Und ob wir auch Gleichberechtigung für alle haben, so genießen Sie doch noch das Vorrecht einer Frau.

Pfarrer: Ich bitte die Anwesenden, insbesondere aber die Geschwister unserer Toten, sich gemeinsam der Güte Gottes anzuvertrauen, damit wir jetzt mit unserer verstorbenen Schwester Elisabeth das Sakrament des Weines zu uns nehmen, ehe wir dann die Tote auf den Gottesacker hinaustragen!

Kriemhild: Ob sie auf den Gottesacker zu liegen kommt, werden wir ja sehen.

Leute: Was werden wir sehen?

Kriemhild: Haben Sie es gehört, Herr Pfarrer? Nicht nur, dass sie mir das Geschlecht beschmutzen! Jetzt bedrohen sie uns auch noch! Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich Sie mit zur Verantwortung ziehe, falls es auch nur zur kleinsten Verletzung der bürgerlichen Gesetze kommt.

Pfarrer: Ich bitte die Geschwister nochmals aufs Allerdringlichste, sich der Güte Gottes anzuvertrauen!

Luitgard: Dazu wird sich diese Dame nie bereit finden.

Kriemhild: Aber sie! Ihr schaut ja die ausgefleischte Güte Gottes aus dem Gesicht.

Leute: Unerhört! – Als ob wir nicht wüssten, wer gegen wen vor Gericht gezogen ist! – Wer seinen Bruder vor Gericht zerrt, muss auf keine Güte Gottes mehr vertrauen!

Kriemhild: Da haben Sie es, Herr Pfarrer! Oder kann man noch deutlicher zeigen, wie Recht und Unrecht getrennte Wege gehen?

Wieder einer: In der Tat sollte man sie zur Verantwortung ziehen.

noch einer: Überhaupt, warum versteckt sie ihre Brut so in ihrem Brustlatz? Und hat vorhin noch gelärmt, dass man die Glocken nicht mehr hören konnte!

Kriemhild: O, ihr Füchse! Als ob ihr nicht wüsstet, dass sich das Rehkitz duckt und tot stellt, wenn es den Fuchs kommen sieht!

Verschiedene Leute: Herr Pfarrer, ich weigere mich, mit diesem Weib zusammen zu beten. – Wir auch. – Heraus mit ihr. Heraus aus dem Tempel!

Kriemhild: Das sind entschieden mehr als bloß Verbalinjurien. Das sind Insultationen des Pöbels, Anzeichen eines maligne gesinnten Mobs, der nur auf ein kleines Zeichen wartet, gewalttätig auszubrechen. Wenn nicht bald Hilfe kommt, fürchte ich um das Leben meines Kindes!

(Der Mesner bringt einige große Pokale mit Wein)

Pfarrer: Allmählich kommen mir Zweifel, ob wir das Abendmahl feiern können.

Kriemhild: An uns soll es nicht liegen. Komm, Siegfried, gehen wir!

Siegfried: (während sie aus der Kirche ziehen, wie Adam und Eva bei Michelangelo aus dem Paradies) O ihr elenden Mucker und Ducker, die ihr in eurer Selbstgerechtigkeit zurückbleibt. Wagt es, wenn ihr ohne Schuld seid, wagt es doch, auf mich den ersten Stein zu werfen! Wagt es doch endlich, auf dass ihr erkennt, was für ein verfluchtes Geschlecht ihr seid! Wir aber, wie einst Joseph und Maria, wir wollen fliehen nach dem gelobten Land Ägyptens.

Mesner: (während noch der Auszug statthat): Da meinen die Leute, weil sie ihre Kinder gern haben, müssten Gott und die Welt sie gern haben und später dann müssten sich die Kinder vertragen in heiliger Liebe. Was für ein Irrtum. Auch meine Mutter sagte stets und beteuerte, sie habe alle ihre Kinder gleich lieb. Damit aber hat sie nicht verhindert, dass auch bei uns die Wege sich trennten. So habe auch ich von einem meiner Brüder seit 30 Jahren nichts mehr gehört. Von seinen erwachsen gewordenen Kindern hab ich noch nie eines gesehen. Aber besser niemanden sehen, wenn es ihnen nur gut geht und sie ihren Bruder nicht entbehren, als sie sehen und ihnen das Messer an die Kehle setzen! Ja, mag auch seit Menschengedenken im Zeichen des Kindes die Welterneuerung gedacht worden sein, so wurde doch selbst der Messias zum Stein des Anstoßes und zum Zerfall des auserwählten Volkes, statt dass in ihm alle Völker gesegnet worden wären.

Pfarrer: Beten wir zum Herrn, dass er uns aus dem Kelch seines Heiles trinken lasse. Vater unser im Himmel!

Mesner: Geheiligt werde dein Name .....

Einer: Mir juckt´s gewaltig, denen nachzuspringen und sie vor der Kirchentür abzukarbatschen!

Pfarrer: Zu uns komme dein Reich!

Luitgard: Tu´s, Joggel, und ich will dir im Herzen wohlgesonnen sein.

Mesner: Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden!

Joggel: Soll ich?

Luitgard: Das ist der Gottesgeist, der über dich kommt. Schlag sie nieder. Nichts kann dir passieren, wenn dich der Gott das zu tun heißt!

Pfarrer: Unser täglich Brot gib uns heute

Mesner: Und vergib uns unsere Schuld! wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!

Erhard (ihn haltend): Joggel, bleib da!

Pfarrer: Und führe uns nicht in Versuchung

Mesner: sondern erlöse uns von dem Übel

Erhard: Du machst dadurch nichts besser!

Pfarrer: Denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit

Mesner: Amen.

9. Kapitel: Auf dem Kirchhof vor der Beisetzung

(Der Kirchhof schließt sich westwärts von der Kirche an. Das Gelände fällt dort nach Südosten ab. Dort befindet sich auch ein separater Eingang. In der Nähe des Grabs steht ein überlebensgroßes steinernes Kruzifix. Im Hintergrund des Eingangs, der Kirche abgewandt, befindet sich auch eine kleinere Felspartie. Zwei Totengräber. Während sie eben fertig werden, hört man Luise mit ihrer Gitarre singen.)

Luise:

Vater, lässt du deine Tochter frieren?

Mutter, deine Tochter lässt du hungern?

Hat gefehlt sie, hat verdient sie Schläge.

Doch warum triebt ihr sie fort?

 

Nächtigen muss sie auf öden Feldern,

findet nirgends Herberge und Lager,

nirgends eines Menschen Stimme,

niemanden, der sich ihr zugesellt.

 

Nun sie friert, wie soll sie sich erwärmen?

Nun sie hungert, wie findet sie Speise?

Geht sie suchen über weite Heide,

streift der Reif ihr nur den nackten Fuß.

 

Einer Mutter wachsen Kinder

Und man weiß, sie barmt sich ihrer.

Ach, es hat sich keine Mutter

Meiner Traurigkeit je angenommen.

Totengräber A.: Ich sag es dir noch einmal, Gevatter, und du merk es dir gut: Der Mensch kann das nicht begreifen.

Totengräber B.: Nun ja.

A.: Kannst du dir das nicht merken?

B.: Merken schon, aber nicht begreifen. Denn gestatte, Meister! Du redest vom Menschen, als von einem Nichts, das er ist. Wie aber soll ein Nichts etwas sein? Wenn es aber schon an und für sich nichts ist, um wie viel weniger ist es dann qualifiziert, etwas zu begreifen und gar sein Nichts zu begreifen?

A.: Wenn ich, wie jetzt, da drunten auf der Sohle steh und den alten Schragen von nebenan spür, neben den nun der neue hinzukommt, dann begreif ich manches, zumindest mit den Füßen.

B.: Aber wenn du dich auszudrücken versuchst, dann will es dir nicht gelingen.

A.: Eben weil es noch nicht in den Kopf hinaufgestiegen ist.

B.: Versuchs, wie du willst und kannst. Doch glaub ich nicht, dass du damit zu Streich kommst, wo es ja nämlich selbst die Sprache nicht begreift.

(Sie steigen aus dem Grab und setzen sich auf die Sargplanken, um ein Bier zu trinken und ein Vesperbrot zu essen.)

A.: Da sitzen wir nun also, trinken unser Bier und essen unser Vesperbrot und lassen die Beine in das Loch hinabbaumeln.

B.: Baumeln deine Beine ins Loch hinab oder nur hinein?

A.: Macht das einen Unterschied?

B.: Ich denke schon. Im letzten Fall muss man die Beine nur wieder hinausziehen, im ersten Fall aber hinauf. Einmal gilt es, aus einer prekären Situation wieder herauszukommen; du musst nur deine Füße gebrauchen und die Türe finden. Im andern Fall kann es sein, dass du nur noch deine Haare zum Umklammern hast, die aber leider nicht ausreichen, dich vor dem Untergang zu retten.

A.: Vor einigen Tagen hatten wir für einen alten Mann das Grab auszuschaufeln. Du erinnerst dich. Da kam seine Frau und verwickelte mich in ein Gespräch. Ihr Mann wünsche kein Kreuz, aber auch sonst keine Stele oder einen Gedenkstein mit seinem Namen. Er wolle begraben sein, möglichst nur noch der Erde bekannt. Da müsse dann niemand mehr kommen und das Grab pflegen. Vor allem aber, sagte sie, habe er es als Schmach angesehen, so als Toter eingesperrt und dann auch noch zur Schau gestellt zu werden.

B.: Wenn man's fertig brächte, durch besonders große Taten sich das ewige Leben zu erwerben, um dann mit dem Wagen des Eliah zum Himmel aufzufahren, das wär's. Z.B. wenn man als Genie anerkannt würde! Da würd ich auch ein Genie werden und würd mir´s verbeten, mit Kreuz und Namen begraben zu werden und wär´s selbst im berühmtesten Pantheon der Welt.

A.: O es gibt viele, die haben Angst vor der Nacht, als würde sie nie enden. Und dann noch die Vorstellung, andere könnten kommen und sich daraus Lebenslust schöpfen, weil sie noch nicht so elend eingesperrt sind wie der Benamte da unten.

B.: Die Angst vor der Nacht ist wie ein Vorgeschmack vor der Angst des Todes. In der Nacht kann man nichts selber bewirken, man ist darauf angewiesen, dass sich alles weiterdreht, bis es wieder hell wird; bist du aber erst einmal in der Nacht des Todes angelangt, dann dreht sich nichts mehr für dich.

A.: Was nicht in unserer Macht steht, lässt uns ohnmächtig erscheinen und wenn es sich um die selbstverständlichsten Naturgesetze handelt.

B.: Früher hielten die Leute Befürchtungen in Atem, wenn sie an die Vorsehung und an das Leben nach dem Tod dachten. Heute glaubt niemand mehr, weder an Qualen noch an Freuden nach dem Tod.

A.: Heute haben wir alle nur noch das Nachsehen, wenn wir die Augen auftun und die blanke Angst vor dem Nichts in uns sich zu regen beginnt.

B.: Dann hätten wir ja in unserem Bestreben nach Aufklärung eine Anschauung erreicht, die sich sehen lassen kann! Darf ich versuchen, sie zu formulieren?

A.: Versuchs!

B.: Weil wir wissen, dass wir Nichts sind, haben wir Angst, nach unserem Tod zu einem Leben im Nichts zu erwachen.

A.: Wahrlich ein wunderlich-hübsches Nichts, das sich da sehen lässt!

(Es kommt der Richter Michaelis mit dem Rechtsanwalt von Siegfried, Dr. Raubal, und Dr. Eilber, dem Rechtsanwalt von Erhard, unbemerkt.)

Eilber: Da wären wir also.

Richter Michaelis: Was für ein Gottesgarten, wie auf einem Götterberg gelegen! Und auch der Blick hier herab ins Tal ist wundervoll. Zumal, wenn man bedenkt, dass das Plätzchen für maximal 300 Betten ausreicht, möchte man die Toten fast gar beneiden um diesen herrlichen Aussichtsplatz.

Eilber: In der Tat! Der Friedhof hier ist niedlich und fein, nicht so wie die Riesenfriedhöfe der Großstädte, die Labyrinthen ähneln, in denen man sich verirren kann. Ich erinnere mich daran, dass mir einer einmal erzählt hat, wie er auf einem solchen Friedhof in der abendlichen Dämmerung den Weg verloren hatte und wie er dann von panischer Angst ergriffen wurde ...

Raubal: Zumal wenn man die Blümchen sieht, wie sie aus dem Schnee ihre Blütenköpfchen heben, könnte man meinen, man befände sich in einem Paradiesgärtchen. Einmal hier die Glieder ausstrecken zu dürfen, das muss herrlich sein. Wenn sich nur nicht der Galgenberg darüber befände!

Eilber: Der Galgen, das ist schon immer das äußerste Maß gewesen. Der Galgen überragt uns alle. (sie bleiben unbemerkt in der Nähe des ausgeschachteten Grabes stehen)

Raubal: Nun, damit kann man leben, wenn man nur etwas hat, sich die Zeit totzuschlagen. Das ist die Hauptaufgabe im Paradies.

Eilber: Sie denken an Ihre Mandanten?

Raubal: In der Tat, so ist es.

A.: Machen wir den Nobiskrug noch rasch fertig!

B.: Warte! Mein letzter Schluck. Das Leben, weißt du, dürfen wir nicht vergessen. Und das heißt, viel herunterschlucken. Oder gelingt uns das nicht vorzüglich?

A.: (legt die Sargbretter und die beiden Seile zurecht) Doch still! Da kommt wer!

(Siegfried und Kriemhild kommen zum Grab, während B. noch Bier trinkt)

Kriemhild: Dass du keinen Kranz gekauft hast, erstaunt mich ja schon.

Siegfried: Der war mir zu teuer. Ich zahl´ doch keine 300 Euro für nichts und wieder nichts, zumal jetzt, wo wir auch noch für den Rechtsanwalt sparen müssen. Und die Leute denken am Schluss, der Kranz wär vom Erhard.

Kriemhild: Und da hattest du an den beiden Schleifen genug?

Siegfried: Für die 300 Euro bestreite ich das Bier fürs kommende Jahr.

(Im Dunkel und unbemerkt)

Eilber: Ihre Mandantin, Dr. Raubal, mit ihrem göttlichen Ehemann.

Raubal: Ein Knicker, wie er im Buch steht! Was aber die Frau angeht, das geht schon ins Abenteuerliche. Nein, wirklich, so etwas gibt es kein zweites Mal. Raffsüchtig wie ein Hamster und prozesswütiger als ein Amerikaner oder ein Bewohner des alten Athen. Und das alles in Diensten ihrer nun bald 40 Jahre alten Fräulein Tochter. Es müsste mich wundern, wenn sie sich nicht auch gleich mit den Totengräbern anlegt.

Kriemhild: Meine Herren! Nennt man das Arbeiten?

A.: Die Arbeit ist längst getan, gnädige Frau! Selbst die Überstunde ist herum.

Kriemhild: Und was tut ihr dann noch?

B.: Es ist etwas im Anflug, gnädige Frau. Oder hören Sie es nicht?

A.: Aber sobald die Planken und die Seile zurecht gelegt sind, verziehen wir uns.

B.: Oder haben Sie etwas dagegen, wenn wir die Toten noch ehren, ehe sie nach Niffheim reisen?

Kriemhild: Die Toten? Wissen Sie denn, ob einer auch tot ist?

B.: Das ist allerdings keine schlechte Frage. Schließlich kriegt man vom Toten nur selten eine Antwort, wenn er tot ist.

A.: Aber auch ein Lebender kann auf die Frage die Antwort verweigern.

B.: Aber selbst, wenn einer nicht tot wäre und man würde ihn begraben, so wär er gewiss nicht der erste, den sie zu Lebzeiten begraben.

A.: Die meisten aber, die sie bringen, sind tot.

Kriemhild: Genug, meine Herren, der Salbaderei.

B.: Wer nicht zur Totenreise präpariert ist, der lebt auch nicht.

B. Merken Sie sich, gnädige Frau, dass einer nur lebt, wenn er weiß, dass er zur Totenreise präpariert ist.

Kriemhild: Genug jetzt!

A.: Das alles ist freilich höhere Philanthropie.

Kriemhild: Philosophie, meint er wohl.

B.: Philanthropie meinen wir. Sie können sie aber zur Philosophie zählen, wenn Sie wollen.

Eilber: Man darf gespannt sein, worauf sie hinaus will!

Raubal: Wie ich Ihnen gesagt habe, gehört das höchstwahrscheinlich bereits zur Strategie, die anstehende Beerdigung zu verhindern.

Eilber: Sie haben für den Fall des Falles Hilfskräfte zur Hand?

Michaelis: Allerdings.

B.: Immer mit der Ruhe, gnädige Frau. Nur immer mit der Ruhe! Immerhin ist der Fall, dass ein Lebender begraben wird, sehr selten. Wer einmal drei Tage im ewigen Dauerfrost zugebracht hat, hat kaum mehr Lust, unter die Lebenden gezählt zu werden. Im Übrigen aber wehren sich vor allem die Toten vor dem Begrabenwerden. Diejenigen mein ich, die nie das Licht der Welt erblickt haben. Jüngst erst hatten wir den Fall, dass sich ein Irrer der Beerdigung in den Weg stellte. Er wollte partout nicht, dass der Sarg ins Grab käme. Da hätten Sie Gelegenheit gehabt, gnädige Frau, uns zu bewundern. Wir hatten uns nämlich erst ein paar Schritte entfernt, als man uns zurückrief. O wie wir den Narren von der Plattform wegputzten. Das war schon sehenswert.

Kriemhild: Sind Sie ganz sicher, dass es ein Narr war?

A.: Er hatte etwa die Physiognomie dieses Herrn.

Siegfried: Wie ich?! Lässt du dir das gefallen?

Kriemhild: (zu Siegfried) Sei still und gib mir einen 10 Euro-Schein

Siegfried: Wofür? Für die da?

Kriemhild: Du sollst mir einen 10 Euro-Schein geben!

A.: O mein Herr. Tun Sie, was Ihnen Ihre Frau sagt! Vielleicht, dass Sie dann das Prädikat eines Narren tilgen!

Siegfried: Wenn ich den Kranz gekauft hätte, müsste ich sagen: es tut mir leid.

Kriemhild: Hier meine Herren. Aber nur unter der Bedingung, dass Sie beide so schnell wie möglich verschwinden.

B.: Das wollten wir ohnehin. Das heißt: Wollten wir das wirklich? Wie, wenn die Vorsehung unser Dableiben wünscht? Mit 10 Euro, gnädige Frau, hat sich noch keiner die Vorsehung gekauft.

Kriemhild: Dann gib ihm noch einen Zehner!

Siegfried: Das wird ja immer besser. Das ist Erpressung!

Kriemhild: Blödsinn.

B.: Er versteht es halt nicht besser, der Narr. Sonst wüsste er, dass unsere Füße noch immer nach unserem Willen laufen. Und kommt einer, der das anders sich wünscht, ohne uns etwas befehlen zu dürfen, so muss er sich eben die Lizenz erwerben. Er ist es also allenfalls, der sich unsere Füße erpresst.

Kriemhild: Hier! Und nun aber ab!

A.: O gnädige Frau. Man dankt ihnen von Herzen.

Siegfried: Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten Sie nichts bekommen.

B.: Ja, mein Herr Narrenkopf, da können Sie sich von und zu schreiben, dass Sie eine solche Frau besitzen.

A.: Also komm! Gehen wir jetzt! Auf Wiedersehen, gnädige Frau!

B.: Auf Wiedersehen!

(Sie singen, während sie davongehen.)

Gesang der Totengräber

Unausdenkbar ist das Sterben,

doch noch schlimmer als der Tod

ist das Tot-Sein, wenn die Erben

sich gerauft um Hemd und Brot.

 

Denn dann gilt es ohne Mucken

eine lange Ewigkeit

still ins Grab sich einzuducken.

Grübeln wär da nicht gescheit.

Siegfried: Nur schade, dass ich nicht kräftig genug bin. Sonst hätte ich Ihnen die Fresse poliert!

Kriemhild: Dazu gibt´s schon noch Gelegenheit. Doch jetzt gilt´s, anderes zu besorgen.

Siegfried: Was hast du vor?

Kriemhild: (auf die Querbretter weisend, auf die man einen Sarg stellt, bevor er ins Grab gelassen wird) Zuerst nimm die beiden Bretter da weg, damit das Grab hübsch frei bleibt, wenn sie kommen.

Siegfried: (tut's)

Eilber: Ob wir uns zu erkennen geben?

Raubal: Warum auch? Ich find es amüsant, die Geschehnisse aus dem Dunkel mitzuverfolgen.

Michaelis: Ich auch.

Brunhilde: Still doch! Da ist wer!

Kriemhild: Wo mein Schätzchen?

Brunhilde: Da!

Kriemhild: Da ist niemand. Das sind die Totengräber, die sich aus dem Kirchhof trollen.

Brunhilde: Dann müssten die Geräusche leiser werden.

Kriemhild: Ich höre nichts.

Siegfried: Ich höre auch nichts.

Brunhilde: Ahhhh

Siegfried: Warum schreit sie? Ich höre wirklich nichts.

Brunhilde: Ahhhh

Kriemhild: Wenn du nichts gefragt bist, sollst du auch keinen Kommentar von dir geben. Wie oft muss man dir das noch sagen?

Brunhilde: Das ist sie!

Kriemhild: Nur ganz ruhig, Schätzchen! Selbst wenn sie es ist ...

Siegfried: Wen meint sie?

Kriemhild: Geh und sieh nach!

Siegfried: (im Abgehen) Wem soll ich nachsehen? (für sich) Das würd ich gerne wissen. Aber nachzufragen scheint mir jetzt nicht am Platz.

Michaelis: Wozu ist er ausgeschickt?

Raubal: Er soll nachschauen, ob sich die andere Tochter hier in der Nähe aufhält. – Das hindert sie aber nicht, Anklage zu erheben.

Michaelis: Weswegen?

Raubal: Wegen ausgebliebener Zahlungen, die sie selber festgesetzt haben gegen die eigene Tochter. Studiengebühren und solches Zeug, Schnee von vorvorgestern, was sie glauben, jetzt eintreiben zu sollen. Das kleine Rabenaas besteht darauf.

Brunhilde: Ahhh!

Kriemhild (sie hat jetzt die drei Männer entdeckt): O, meine Herren!

Michaelis: Sie erschrecken doch nicht.

Kriemhild: Immerhin setzen Sie mich in Erstaunen.

Raubal: Nach Ihrem Anruf heute Morgen hielten wir es für unsere Pflicht, uns hier einzufinden.

Kriemhild: Wenn Sie gekommen sind, der auf uns zukommenden Beerdigung einen Riegel vorzuschieben .....

Michaelis: Ist das dort Ihr Mann, der durchs Gebüsch steigt?

Kriemhild: (bejaht)

Eilber: Und was macht er dort?

Kriemhild: Was er dort macht?

Raubal: Gnädige Frau, er ist zwar der Anwalt der Gegenseite; gleichwohl aber ist er auch Ihnen gegenüber loyal und voller Respekt.

Eilber: Ihr Mann war krank, als der Erbstreit in die Berufung ging?

Raubal: Eine kleine Erkältung, die ihm die gnädige Frau auskuriert hat.

Eilber: So geht es ihm jetzt wieder gut?

Kriemhild: Sogar sehr gut. Im Übrigen aber geht es mir jetzt nicht um meinen Mann, sondern um mein Kind! Leider hat es einen Onkel, der ihm die kalte Schulter zeigt. Dabei käme er mit einem Viertel seines Vermögens bequem über die Runden. Aber das kennen Sie ja, meine Herren. In diesem Zusammenhang darf nicht sein, dass meine Schwägerin Elli hier begraben wird, bevor nicht die rechtlichen Voraussetzungen geklärt sind.

Michaelis: An was für Voraussetzungen denken gnädige Frau?

Kriemhild: Ich hab das Herrn Dr. Raubal gegenüber zum Ausdruck gebracht. Gestatten Sie also, dass ich weiter nichts sage, damit es nicht so aussieht, als wollte ich Sie für meine Sache vindizieren! Denn das werden sie ja einsehen, dass Recht Recht bleiben muss und Unrecht Unrecht!

Eilber: Und doch muss Recht auch erstritten werden, gnädige Frau.

Kriemhild: Sagen Sie das meinem verehrten Herrn Schwager. Der glaubt nämlich noch immer, er müsse sich nur etwas Knuspriges wünschen, und dann flögen ihm auch schon die gebratenen Täublein in den Mund. – (Zu Raubal) Darf ich wissen, ob Sie eine einstweilige Verfügung dabei haben?

Raubal: So schnell geht das nicht, gnädige Frau. Die Mühlen des Gerichts mahlen zwar immer, aber sie mahlen doch nur sehr langsam.

Kriemhild: So hat das Gericht noch keinen Denkzettel verschickt?

Michaelis: Leider noch nicht.

Kriemhild: Und wenn Sie die Dame bei der Cestius-Pyramide begraben! Zu allem haben Sie meinen Segen! Nur nicht hier.

Eilber: Wie kommen Sie denn just auf die Cestius-Pyramide?

Kriemhild: Meine Herren! Das ist allereinfachste Schulbildung. Doch man sieht, Sie waren nie bei mir in der 9. Klasse. Sonst wüssten Sie, dass Goethe entweder bei Gott Vater im Himmel oder aber bei der Cestius-Pyramide begraben werden wollte. Die Ehre der Cestius-Pyramide widerfuhr dann allerdings nur seinem Sohn Augustus, dem, wenn auch nicht im Leben, so doch im Tod vom Glück Begünstigten.

Raubal: Meine Herren, ich habe Ihnen wohl nicht zu viel versprochen, wenn ich Ihnen gesagt habe, dass meine Mandantin eine der besten Lehrerinnen war, die es jemals auf Erden gegeben.

Kriemhild: Ich darf sagen, ohne mir selber zu schmeicheln, dass es kaum etwas gibt, was ich nicht weiß; zumindest aber, dass ich mich über jeden Gegenstand in Windeseile in Kenntnis zu setzen vermag. Heute indessen geht es mir darum, erbrechtliche Ansprüche geltend zu machen, die mit diesem Begräbnisplatz untergehen könnten. Haben Sie mich verstanden?

Raubal: Wir denken schon.

Kriemhild: Der Klarstellung halber sag ich, dass ich hier an Ansprüche denke, die wir an die Tote zu stellen haben. – Doch da kommt ja mein Mann wieder!

Eilber: Wie rüstig er daherkommt!

Kriemhild: Er ist gesund. Ich hab's doch gesagt. – Siegfried?

Siegfried: Da bin ich wieder. Von Luise habe ich nirgends auch nur eine Spur gefunden.

Kriemhild: Das wollte ich ihr auch geraten haben.

Siegfried: Ein paar Leute hab ich anfangs gesehen, weiß aber nicht, wer sie sind und was sie hier suchen.

Michaelis: Meint der Herr etwa uns?

Kriemhild: Ganz gewiss.

Siegfried: Mit wem redest du?

Kriemhild: Schau doch! (Deutet auf den Richter und die beiden Anwälte)

Siegfried: Wer ist das?

Kriemhild: Das ist der Richter Dr. Michaelis ...

Siegfried: Den kenn ich nicht. Ich war am Gerichtstag nicht dabei.

Kriemhild: Begrüßen kannst du ihn immerhin!

Michaelis: Sie waren krank. Wir wissen es.

Kriemhild: Und das dort ist unser Anwalt Dr. Raubal und der Anwalt der Gegenseite Dr. Eilber.

Siegfried: (für sich) Dr. Raubal, der uns bald alles Geld weggeraubt hat. Und Dr. Eilber, der Anwalt der Gegenseite?

Kriemhild: Frag nicht lang, sondern begrüße die Herren. Sie sind gekommen, uns zu helfen.

Siegfried: Auch Dr. Eilber?

Kriemhild: Tu nur immer, was ich dir sage!

Michaelis: Das kann kaum jemals schaden.

Siegfried: O, daran soll es nicht mangeln. Und wenn ich den eigenen Vater erschlagen müsste!

Eilber: Zum Glück ist der schon tot!

Kriemhild: Aber da kommen sie ja schon! Ich gratuliere. Wie schnell sie doch deiner Schwester den Deckel auf die Nase geklappt haben! Jetzt wird sich´s ja zeigen, ob du ein guter Kämpfer bist!

Siegfried: Ich tu, was immer du willst!

Michaelis: Ehrenvoll kann nur sein, was der Ordnung und der allgemeinen Sitte gemäß geschieht.

Siegfried: Zu allem bereit!

10. Kapitel: Wie Siegfried auf Kriemhilds Anweisung ins Grab springt und wie Luitgard auf Siegfried einen Stein wirft

(Auszug aus der Kirche mit der Leiche. Den Trägern mit dem Sarg, das sind die Totengräber von vorhin, folgen Erhard und Luitgard, sodann der Pfarrer. Dahinter Joggel, Frau Rüstig und die anderen von der Gemeinde.)

Pfarrer (beim Auszug aus der Kirche): Herr erbarme dich unser!

Mesner: Christus erbarme dich unser!

Pfarrer: Herr erbarme dich unser. Dich aber mögen die Engel zum Paradies geleiten; die heiligen Märtyrer mögen dich dort begrüßen und dich führen in die heilige Stadt Jerusalem. Jesus, der Christus aber, welcher ist unser Herr, möge dich mit dem ewigen Leben erfreuen.

Mesner: Amen!

Brunhilde: Prüf nach, ob er noch weiß, was er zu tun hat, bevor sie die Kiste ins Loch zu versenken trachten!

Siegfried: Man braucht mir nichts zu sagen. Ich weiß alles!

Kriemhild: Doch was seh ich da? Ist das die Menschenmöglichkeit?

Siegfried: Was siehst du?

Pfarrer: Erbarme dich meiner, o Gott,

nach deiner großen Güte

Mesner: Erbarme dich meiner, o Gott,

nach deiner großen Güte

Pfarrer: Wasche mich rein von Schuld,

nimm meine Sünden von mir.

Erhard (zu Luitgard) O, schau dort! Da sind sie ja noch immer. Und ich dachte, sie wären verschwunden.

Luitgard: Überlass die nur mir!

Pfarrer: Mir steht meine Schuld vor Augen,

ich bekenne, dass ich Böses getan.

Mesner: Erbarme dich meiner, o Gott,

nach deiner großen Güte,

denn ich habe gegen dich gesündigt

und dein Wort verachtet.

Erhard: Und daneben Dr. Raubal, ihr Rechtsanwalt, und Dr. Michaelis, der ungerechte Richter aus der Berufung. O und auch unser Rechtsanwalt, Dr. Eilber, ist bei ihnen.

Luitgard: Nimmt´s dich Wunder? Die haben etwas vor. Die wollen uns demütigen. Ohne eine große Gemeinheit geht das nicht ab.

Pfarrer: Dir gefällt ein wahrhaft reines Herz,

wasche mich mit dem Ysopstengel

und ich werde weißer als Schnee!

Mesner: Erbarme dich meiner, o Gott,

nach deiner großen Güte

Erhard: Wie müde ich bin! Das alles schlägt mich nieder.

Luitgard: Da kannst du Gift drauf nehmen, dass ich mir nicht die kleinste Unverschämtheit gefallen lasse.

Pfarrer: Dann erhebst du mich, Gott, mein Gott!

Mesner: Erbarme dich meiner, o Gott,

nach deiner großen Güte!

Kriemhild: (während die Sargträger, die mit den Totengräbern identisch sind, die Querbretter wieder quer übers Grab legen wollen) Lassen Sie das! Hierhin mit dem Sarg!

Sargträger: Schon gut, schon gut, gnädige Frau!

Kriemhild: Warum sind Sie nicht gegangen? Hatten wir es nicht so ausgemacht?

Sargträger: Auch unsereins lebt vom Geschäft. Man darf es nicht ausschlagen, wenn es einem zusätzlich etwas einbringt.

(Der Sarg wird seitlich vom Grab abgestellt.)

Pfarrer (ohne davon viel zu merken): Beten wir noch, ein jeder für sich in aller Stille für die Verstorbene, bevor wir zusammen das Schlussgebet beten, um dann den Sarg der geweihten Erde zu übergeben!

Kriemhild: Meine Damen und Herren, was tun sie hier? Haben Sie eine Genehmigung für eine Bestattung?

Viele: Was für eine Frage?

Kriemhild: Kann mir dann wenigstens jemand sagen, warum die Sargträger just die Totengräber sind? Ist das etwa in Eberdingen so Sitte? Mitnichten. Oder ist das so, weil Herr Erhard ein armer Schlucker ist und ihm das Geld gefehlt hat für eine würdige Bestattung? Auch das ist es nicht. Es ist deshalb, meine Damen und Herren, weil der Ortschaftsvorstand keine offizielle Bestattung genehmigt hat.

Erhard: Das ist doch nicht zu fassen!

einer: Das Weib soll das Maul halten!

Luitgard: (Kriemhild angiftend) Beten wir noch, ein jeder für sich in aller Stille für die Verstorbene, um dann den Sarg der geweihten Erde zu übergeben! So hat der Herr Pfarrer gesagt.

Joggel: Jawohl, das hat der Herr Pfarrer gesagt. Und daran wollen wir uns halten!

Kriemhild: (zu den Sargträgern) Meine Herren?! Da die Dame im Sarg keine Hiesige ist, ist eine Ausnahmegenehmigung unerlässlich. Das wissen Sie ganz genau! Wo ist die?

Sargträger: Gnädige Frau, was wir Ihnen zu sagen hatten, haben wir Ihnen schon gesagt!

Kriemhild: Nichts haben Sie gesagt!

Luitgard: Jetzt reicht es aber!

Joggel: Jawohl, jetzt reicht es! – Wie man sich nur so hässlich verwirklichen kann!

Kriemhild: Nicht wahr, mein Herr! Da staunen Sie! Dazu gehört eben Talent!

Pfarrer: Lasset uns beten. Herr, ewiger Gott. Du bist ein Gott der Lebenden, nicht der Toten. Du hast deinen Sohn gesandt, damit er mit uns unser Leben und Sterben teile und durch seine Auferstehung den Tod ein für allemal für uns besiege. Durch ihn und mit ihm und in ihm ist der Tod zum Tor geworden ins ewige Leben! Noch einmal lasset uns deshalb rufen zum Herrn um sein Erbarmen. Herr, durch den alles Gute zu uns gekommen ist, nimm mit dir deine Dienerin Elisabeth und nimm sie in dir auf, in deiner ewigen Glückseligkeit! Denn du, o Herr, bist die Barmherzigkeit und unsere Erlösung.

Mesner: Denn du, o Herr, bist die Barmherzigkeit und unsere Erlösung. (zum Pfarrer) Wenn Sie etwas benötigen, ich bin bereit!

Pfarrer: (zu Siegfried, der sich zwischen Sarg und Grab gestellt hat) Mein Herr, müssen Sie die heilige Feier auch hier draußen noch unterminieren?

Kriemhild: Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer. Aber das ist nicht Ihre Sache, meinen Mann zur Rede zu stellen.

Pfarrer: Dann stellen Sie ihn zur Rede!

Kriemhild: Da denk ich nicht dran.

Mesner: Soll ich ihn wegräumen?

Pfarrer: Lassen Sie nur! Wir werden schon mit ihm fertig.

Kriemhild: Das wollen wir doch sehen, wer mit uns fertig wird!

einer: Was wollen die denn?

noch einer: Dass sie der Teufel holte!

Frau Rüstig: Ich würde mich schämen, wenn ich nichts könnte, als andern das Leben zu erschweren.

Pfarrer (zum Richter und den Anwälten): Meine Herren, wenn sie in Ihrem Rang als hochangesehene Repräsentanten der Gesellschaft etwas vermögen, dann bitte ich Sie, uns bei der Durchführung unserer Feierlichkeit zu helfen.

Mesner: Warum sagen sie nichts?

Kriemhild: Weil sie Ihnen keine Antwort schuldig sind.

Mesner: Gnädige Frau. Auch ich habe zuhause ein Krankes liegen, das mir große Sorgen macht.

Erhard: Dieser Herr war als Richter maßgeblich beteiligt am Schlichtungsverfahren, Herr Pfarrer. Und dieser Herr, Dr. Eilber, war unser Anwalt. Er wusste uns nichts Besseres zu sagen, als dass ein magerer Vergleich besser sei als ein feistes Endurteil.

Eilber: Mein Herr! Was haben Sie gegen mich?

Erhard: Warum helfen Sie uns nicht?

Eilber: Muss man nicht zuerst zusehen, wo das Recht liegt?

Erhard: Das Recht? Es liegt immer dort, wo das Geld liegt und die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit Amen!

Eilber: Sie wissen, dass Ihre Reden beleidigen?

Erhard: Natürlich. Das ist immer so, wenn Ihre eigenen Interessen auf dem Spiel stehen. Im Übrigen aber brauchen wir kein Gericht, wenn der Jurist zur Auffindung des Rechts Zeit braucht bis zum Nimmerleinstag.

Pfarrer (für sich): Die Schöpfung liegt in Wehen bis auf den heutigen Tag.

Erhard: Indessen bedünkt mich, dass den Jurist immer mal wieder die Lust überkommt, auch eine ungerechte Sache als gerechtfertigt erscheinen zu lassen, zumal wenn Geld in Sicht ist.

Eilber: Mein Herr!

Erhard: Die Rückseite der meisten Gesetze, das hab ich längst einsehen gelernt, enthält immer auch eine Einladung zum Unrecht-Tun.

Joggel: Schaffen wir Fakten! – Herr Pfarrer, gestatten Sie, dass ich den Kerl da (Siegfried) zu Mus mache?!

Pfarrer: Bleiben Sie!

Kriemhild: Seien Sie so gut, Dr. Michaelis, und sagen Sie doch endlich den Leuten, dass hier keine Beerdigung stattfindet!

Michaelis: Das kann ich nicht, und wenn man mir einen goldenen Lorbeerkranz verspräche!

Sargträger: Machen Sie Platz! Dass wir die Tote zur Ruhe bringen! Wir wollen nach Haus.

Pfarrer: (zu Siegfried) Ich bitte Sie noch einmal! Um Christi willen! Machen Sie Platz!

Joggel: Mein Herr, haben Sie nicht gehört? Sie sollen weggehen!

Siegfried: Gehen doch Sie weg! Das ist das Grab meiner Eltern.

Luitgard: Verräter du!

Kriemhild: Sag sie das nicht noch einmal!

Luitgard: Sooft ich will, sag ich das. Und ich sag es ihr mitten ins Gesicht, dass sie mit uns und mit unserer Familie keinen feuchten Kehricht zu tun hat. Und dass ich nichts mehr bedauere, als dass das Weltall es fertig gebracht hat, so ein Basiliskenei auszubrüten.

Kriemhild: Schau Sie mir ins Auge, wenn sie es vermag!

Luitgard: Ich wüsste nicht, weshalb ich sie anschauen sollte, diese Schlampe!

Erhard: Helfen Sie uns, Dr. Eilber!

Eilber: Wenn Sie mir sagen, was ich tun soll!

Erhard: (auf Kriemhild weisend) Befreien Sie uns von diesem Vamp!

Eilber: Wenn das so leicht ginge!

Erhard: Dabei waren Sie einmal unsere große Hoffnung!

Eilber: In der Not geschieht es oft, dass man einem anderen übermenschliche Fähigkeiten zuspricht. Wenn die Dame mit einem Dolch auf Sie zuginge, könnte ich Ihnen leicht helfen!

Erhard: Tut sie das nicht? Ist nicht alles ein Dolchstoß, was immer sie tut? Jeder Schritt, jeder Satz, jedes Wort. Ja selbst von ihren Blicken wünschte sie, dass sie mich wie eine Gorgo entseelen.

Luitgard: Dr. Eilber! Wenn Sie es jemals ernst gemeint haben als Anwalt unserer Sache, so sagen Sie dem Kerl da, er soll aus dem Weg gehen!

Eilber: Ich werde eingreifen, sobald es Not tut.

Frau Rüstig: Auf was für eine Not warten Sie denn noch?

Luitgard: Lass ihn doch! Wir kommen auch ohne Dr. Eilber aus! Das aber sag ich allen, die es hören wollen! Bevor dieser Weiberknecht auch nur einen Heller noch von uns abkassiert, zünd ich unser Haus an.

Joggel: Schmutzige Knigger!

Frau Rüstig: Hundsfott

einige: Geizkragen!

noch einer: Batzelaibesverdrucker!

Joggel: Weg jetzt mit ihm! (versucht Siegfried wegzuzerren)

Brunhilde: Sag ihm, er soll jetzt springen!

Kriemhild: Los! Was wartest du noch? Du hast es gehört!

Siegfried: (springt ins Grab) Holt mich da heraus, wenn ihr könnt, oder schlagt mich tot!

Luitgard: Was für eine Schande. Und dies von einem, der einmal unser Bruder war! Stürzt sich, einem fremden Weibe zu Gefallen, ins Grab der eigenen Eltern, um es zu besudeln! Schaut ihn euch an! So entartet sieht einer aus, der sich kommandieren lässt nach Strich und Faden.

Joggel: Was wunder, wenn ihn auch noch die eigene Brut verachtet!

Frau Rüstig: Und die Töchter bekommen keine Männer, weil ihnen am eigenen Vater die Lust danach vergeht!

viele: Schlappschwanz! – Weiberbraten! – Totenschänder!

Joggel: Hätt ich nur ein schweres engmaschiges Eisengitter! Ich wollte ihn einsperren wie einen räudigen Fuchs!

Siegfried: Tu´s doch!

Luitgard (sie hält jetzt einen Stein in der Hand): Heraus mit dir oder ich zerdäpper dir deinen Schädel!

Siegfried: Tu´s doch!

Luitgard: O ich tu´s noch! Warte nur ab!

Siegfried: Tu´s!

Luitgard: Erbitt es dir noch einmal und dein Wunsch geht in Erfüllung!

Siegfried: Wenn es sein muss, erbitt ich mir´s auch noch zehnmal und hundertmal!

Kriemhild: Meine Herren, ist das nicht genug? Muss erst noch das Ungeheuerliche geschehen?

Raubal: Das ist ein Wink, den wir nicht unbeachtet lassen sollten.

Eilber: Andererseits kenne ich meine Mandantin. Sie wird schon nicht werfen, wenn man sie nur nicht zu heftig reizt!

Raubal: Wer kennt schon den Menschen, dass er um die Grenzen wüsste? Er kennt sich ja selbst nicht mehr, wenn sich die Lava der Leidenschaft aus seinem Innern herausdrängt!

Michaelis: Lassen Sie den Stein! Und Sie kommen jetzt heraus!

Siegfried: Wer? Ich?

Joggel: Hat er nicht gehört? Er soll herauskommen!

Luitgard: Man muss es ihm einhämmern. Er ist doch schwerhörig!

Erhard: Jetzt muss er heraus. Jetzt kann er nicht mehr anders!

Frau Rüstig: O heilige Gerechtigkeit! Dank dir!

Erhard: Jawohl. Endlich tut sich etwas, auf dass man nicht zu sagen braucht, dass über die Jetztzeit stets nur die Gemeinheit triumphiert hat und die Rachsucht und die Machtsucht und die Besitzbegierde. Endlich tut sich etwas, damit man, wenn wir wiedererwachen zum Leben, wird sagen können, dass wir der kommenden Zeit vorgearbeitet haben.

viele: Heraus jetzt!

Siegfried: Ich denke nicht daran!

Raubal: Da Ihr Mann nicht auf uns hört, so seien Sie bitte so gut, gnädige Frau, und erteilen Sie ihm die Weisung!

Frau Rüstig: Nun? Wirds bald?

einer: Wahrlich, die zuvor das schlimmste Mundwerk hatten, sind jetzt ganz kleinlaut geworden!

Joggel: Jawohl, so ist es! Jedermann kann es bestätigen!

Siegfried: Soll ich herauskommen?

Kriemhild: Warte!

Joggel: Wie lange dauert es noch, bis die Herren vom Recht von der Gewalt Gebrauch machen? Nehmen Sie endlich den Mann in der Grube fest!

Frau Rüstig: Erschießen sollte man ihn! Das wäre das Beste. Dann wären wir ihn los!

Siegfried: O ja! Holt doch die Polizei, ihr Herren Richter! Und lasst mich erschießen! Auf dass mein Blut über euch kommt und über euere Kinder!

Pfarrer: Unterlassen wir doch alle das Werk des Satans! Auf dass wir nicht als Handlanger des Bösen offenbar werden! Mich aber lassen Sie bitte gehen! Ich hab hier weiter nichts mehr verloren.

Erhard: Ich flehe Sie an, Herr Pfarrer, bleiben Sie noch!

Luitgard (mit einem Stein in der Hand): Und wenn er jetzt nicht herauskommt, soll er es fühlen! Heraus mit dir, oder ich schmeiss dir den Schädel ein!

Siegfried: Schmeiss, wenn du kein Feigling bist! Zeig der Welt, was du von deinem Bruder Abel hältst!

Pfarrer: Beten wir, dass alles noch gut werde! Beten wir! Du, o Herr, prüfst uns in der Stunde der Drangsal, dass wir uns bewähren. Darum ist jetzt traurig unser Herz und unser Gemüt der Trübsale voll.

Luitgard: Warum sollen ausgerechnet wir so beten? Denen da stünd das Beten viel besser an.

Pfarrer: Dennoch aber nimm uns Sünder an in deiner überreichen Gnade und wandle uns um zu einer neuen Schöpfung durch Christus, unseren Herrn!

Mesner: Amen!

Luitgard: So nimm dies und fahr ab zur Hölle! (wirft einen Stein ins Grab und verfehlt Siegfried nur knapp)

Kriemhild: Meine Herren, haben Sie das gesehen? Und das lassen Sie so stehen? Worauf warten wir noch? Etwa bis ein Stein seine Schläfe trifft? (zu Siegfried) Sie hat dich doch getroffen?! – Das ist versuchter Mord.

11. Kapitel: Wie Luitgard von der Polizei abgeführt wird.

Michaelis: (pfeift; jetzt erscheinen Polizisten mit dem Gewehr im Anschlag)

Pfarrer: Mein Gott. Hat es das schon einmal bei uns gegeben? Schwerbewaffnete Polizisten rücken in unseren Kirchhof ein mit Gewehren im Anschlag! (zum steinernen Kruzifixus aufschauend) O Herr Jesus! Ist denn auch hier der Garten Gethsemane? Und sie kommen, dich auch noch im eigenen Gotteshaus festzunehmen?

Joggel: Meine Herren, nehmen Sie die Gewehre herunter! Wir sind keine wilden Tiere.

Kriemhild: O doch, das seid ihr!

Michaelis: Wo der Mensch nicht frei genug ist, seine Freiheit kreativ gestalterisch und zum Vorteil der Allgemeinheit zu gebrauchen, muss man ihn einschränken.

Polizist: Sie haben uns rufen lassen?

Michaelis: Und zwar zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Und dies sind unsere Verfügungen! (auf Luitgard weisend) Als erstes führen Sie die Dame ab. Wegen versuchten Mordes. Sodann holen Sie den Mann aus der Grube. Er hat unserer Aufforderung, herauszukommen, nicht Folge geleistet und hat somit entscheidend zur Eskalation beigetragen. Sobald dies getan ist, vertreiben Sie die Leute, falls sie bis dahin nicht schon freiwillig weggegangen sind. Dann sollen die Beerdigungsdiener den Sarg vergraben. Uns aber wird es sodann obliegen, den Fall aufs Genaueste zu erforschen. Gegebenenfalls schrecken wir auch nicht zurück, die Leiche zu exhumieren.

Polizisten (auf Luitgard zutretend, um ihr Handschellen anzulegen): Gnädige Frau!

Joggel: Und das lassen wir uns gefallen? Die Hände weg von dieser Dame!

Luitgard: Lass Sie, Joggel!

Joggel: Mein Herzblut wallt! Ich bin zu allem entschlossen. Ich habe keine Angst vor einem Bullen und wenn sie in Haufen gegen mich vorgingen! (im Blick auf die Juristen) Warum gebietet keiner den Leuten Halt, die sich im Gewerbe der Leichenfledderei spezialisiert und professionalisiert haben? Sind denn die Gerichte verpflichtet, jedem dreckigen Anwurf stattzugeben?

Luitgard: Ich danke dir! (die Polizisten wollen Luitgard ergreifen und abführen) Lassen Sie mich! Ich geh schon allein! (zu Siegfried) Dir aber mitsamt deinem Pestweib wünsch ich, dass euch die Brut krepiert.

Mesner: (für sich)

Früher, als noch von Gott den Menschen

Recht und gerechtes Urteil zukam,

hoben empor noch lebendige Kräfte,

zehrte an uns noch kein Todesgram.

 

Damals sagte man: Lieber, Guter,

wie uns das Leben gemeinsam doch glückt!

Jetzt kriegt man Briefe vom eigenen Bruder

durch Rechtsanwalts Hände zugeschickt.

 

Mögen uns Gottes Prügel erreichen,

wenn er uns gnädig dann nur verzeiht,

Steine wären wohl zum Erweichen

leichter als unsere Herzen bereit.

Kriemhild: Mag es jedem so ergehen, der dem Gesetz zu nahe kommt! (zu Siegfried) Du aber, komm jetzt heraus aus der Grube! Dem Löwen hätten wir den Zahn gezogen.

Siegfried: Aber dann kann ja der Sarg hinunter!

Kriemhild: Mag er uns den Buckel herunterrutschen!

Siegfried: Wie du meinst!

Erhard: (er hält ihn im Grab fest) Canaille! Bleib, wo du bist und rühr dich nicht!

Siegfried: Lass mich!

Erhard: Das würde dir so passen, du Lump!

Kriemhild: (hinzueilend) Meine Herren, sehen Sie sich das nur an!

Erhard: Noch mehr sollen sie sich ansehen! (er versucht derweil, Brunhilde aus dem Brusttuch der Kriemhild zu reißen): Her mit der Bestie, die uns alle tyrannisiert! Dass ich sie zu ihrem Erzeuger ins Grab schleudere!

Kriemhild: Will er nicht seine schmutzigen Finger wegnehmen!

Raubal: Mein Herr, lassen Sie das, wenn Sie noch über eine Spur Selbstbeherrschung verfügen!

Erhard: Wär ich allmächtig, ich zögerte nicht und zerschlüg die Erde in tausend Teile!

Kriemhild: Wenn dieser Mann nicht gemeingefährlich ist!

Joggel: Weil ihr ihn bis aufs Blut peinigt!

Kriemhild: Dabei ist das alles nichts als Theatergedonner.

Erhard: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Kriemhild: Als er dich sah, hat er die Flucht ergriffen.

Frau Rüstig: Dass man ihr doch einen Lasterstein um den Hals hinge und sie ertränkte!

Kriemhild: Sind ihr die Wünsche beim Trinken des Blutes Christi gekommen?

Frau Rüstig: Gott im Himmel wird dich noch bestrafen, du Hexe!

Kriemhild: Lassen wir das nur seine Sorge sein!

Frau Rüstig: (will tätlich werden)

Eilber: Mischen Sie sich nicht auch noch ein, Frau Rüstig oder wie Sie heißen! Das Nachspiel könnte unangenehm werden!

Pfarrer (zum Mesner): Gehen wir, dass uns nicht auch noch die Sünde einholt!

Mesner: So übergeben wir das Terrain dem Satan?

Pfarrer: Alles ist Gottes. Er kann sich zur Not auch des Satans bedienen!

12. Kapitel: Wie Erhard am Rand der Selbstbeherrschung nach dem Vater ruft

(Die Leute gehen bis auf Erhard, Joggel, Kriemhild und Siegfried, dem es jetzt gelingt, aus dem Grab zu steigen; jetzt sind nur noch die Beerdigungsdiener so wie die drei Juristen da.)

Erhard: Rüttelt ihr Titanen an den Säulen der Welt, rüttelt, dass die Erde erbebt und die Decke des Himmels erdröhnt! Rüttelt an den Säulen der Welt, bis sie einkrachen und Himmel und Erde und Meer mit diesem Weibe zermalmen! Wenn euch dies aber verwehrt sein sollte, so macht, dass wenigstens der Boden unter unseren Füßen nachgibt und alles in sich verschlingt. Ja rüttelt, bis sich die Erde hebt und der Abgrund alles in sich verschlingt!

Kriemhild: Weiter so! Nur weiter so mit seiner Wahnsinnspredigt! Er ist doch nicht schon fertig!

Erhard: Du aber, Vater, vergib, wenn du mich alt und verwirrt auf dich zukommen siehst. Ja vergibt, wenn sich mir die Freude verdüstert hat, dein Sohn zu sein, kaum dass ich an meinen Bruder denke.

Der Vater (er erscheint plötzlich über seinem Grab schwebend, umgeben von einem regenbogenfarbenen Strahlenkranz, während die Polizisten – noch von Ferne sichtbar – zurückkommen. Die Gewehre sind auf den Vater gerichtet, so dass das Ganze an das Bild "Die Erschießung" von Goya erinnert): Was geht hier vor sich? Wer stört mich in meiner Ruhe? Wer reißt mich aus der Geborgenheit meines Grabes?

Kriemhild (für sich): Das ist der Satan, von dem der Herr Pfarrer gesprochen!

Erhard: O Vater, ich bin's! Ich, dein Erstgeborener.

Kriemhild: Jetzt wissen wir, weshalb er das Weite aufgesucht hat. Doch wir wollen schon fertig werden, und sei es mit Gespenstern!

Erhard: Hier stehe ich, Vater, und erhebe Anklage gegen Siegfried, den Zweitgeborenen, und gegen dessen Frau, von denen alles Unheil herrührt. Er war es, der das von dir geschriebene Testament nach der Mutter Tod vor Gericht brachte, mit der Behauptung, du hättest ihn uns gegenüber benachteiligt; du seiest aber damals, nach deinem Schlaganfall, nicht mehr zurechnungsfähig gewesen. Dadurch verstrickte er uns in zwei über ein Jahr dauernde Prozesse, an deren Ende nun auch Elisabeth, deine älteste Tochter, den Tod gefunden hat. Jetzt aber gedachten sie, uns daran zu hindern, Elli neben dir zu bestatten, weil sie sich auch noch Ellis Erbe unter den Nagel zu reißen suchen. O er würde seine Schwester auch noch in der Unterwelt verraten, wenn er´s nur könnte! Und das alles nur wegen dieser ihrer Brut, wegen diesem Schreihals, den sie überall mit sich herumtragen und von dem all unser Elend herrührt.

(Die Polizisten kehren zurück.)

Kriemhild: Ich verbiete jedermann, abfällig über unsere Tochter zu reden.

Der Vater: Was hast du darauf zu sagen, Siegfried?

Siegfried: Ich? Worauf? Noch dröhnt mir meines Bruder Rede diffus im Ohr.

Der Vater: Hast du mein Testament angefochten?

Siegfried: Du hattest ein paar Kleinigkeiten in der Eile falsch gemacht, die ich in brüderlicher Eintracht glaubte in Ordnung bringen zu können.

Der Vater: Hast du mein Testament angefochten?

Siegfried: Konnte ich wissen, dass mein Bruder mir derartig verbissene Zähne zeigen würde?

Der Vater: Hast du mein Testament angefochten? Ja oder nein?

Kriemhild: So sag ihm endlich, was er wissen will!

Siegfried: Verdamme mich, wenn ich etwas falsch gemacht habe! Doch was blieb mir am Schluss noch anderes übrig? Kriemhild, mein Weib, riet mir dazu.

Der Vater: Wo ist sie, Kriemhild, dein Weib?

Kriemhild: Hier bin ich. Doch sag ich´s dir gleich und du merk es dir gut: Wenn du nun glaubst, auch ich würde nun auf eine Ausrede sinnen, so täuschst du dich! Ich habe mir nichts vorzuwerfen, noch auch dulde ich, mir von anderen etwas vorwerfen zu lassen. Die Herren vom Gericht können mir meine Unbescholtenheit und Integrität bezeugen, falls es dich danach gelüstet.

Der Vater: Eher lass ich die Steine sprechen, als dass ich auch nur einen Gerichtsknecht brauche.

Kriemhild: Was also wünscht der Herr Vater von mir?

Vater: Dass du still bist, Weib! Denn ich spreche jetzt zu Siegfried, meinem Sohn!

Siegfried: Was gibt es, Vater? Ich höre!

Vater: Bin ich dein Vater?

Siegfried: Ich habe dich ja doch meinen Vater genannt. Also bist du´s. Weshalb auch solltest du nicht mein Vater sein? So wahr ich der Sohn deiner Frau bin, meiner Mutter, deren Lieblingskind ich stets war.

Kriemhild: (zu Siegfried) So ist´s recht. Wenn wir auch längst nicht mehr auf den Alten angewiesen sind, so ist es doch gut, wenn du ihm ein wenig um den Bart kraulst, damit er auf keine dummen Gedanken kommt!

Siegfried: Es ist wirklich besser, Vater, wenn du die ganze Wahrheit erfährst! Diese aber ist, dass ich nie davon abgelassen habe, auf den lieben Gott zu vertrauen. Wie oft bin ich nicht in der Nachkriegszeit in den Wald gegangen und habe ihr Erdbeerchen gepflückt. Oder ich habe ihr Holzsplitter gebracht, mit denen sie in der Küche feuern konnte. Stets, wenn die anderen spielten, dachte ich an nichts anderes, als ihr zu gefallen. Ja ich war ihr der Liebste. Und wenn es um Achtung und Ehrfurcht, ja um Kindesliebe geht, so darf ich wohl sagen, dass mir so schnell keiner gleich kommt.

Vater: Und mein Testament? War das auch so ein Holzsplitter?

Siegfried: Ich versteh dich nicht.

Vater: Ein Splitter im Aug deines Bruders.

Kriemhild: Wenn er meint, wir ließen uns darin beirren, den Weg des Rechts und der Gerechtigkeit zu gehen, so irrt er sich. Wir schrecken vor nichts zurück und wenn es sich um sein Testament handelt. Sag es ihm nur!

Siegfried. Wenn ich um jemanden besorgt war, so um meine schwerkranke Tochter Brunhilde.

Der Vater: Wo ist sie?

Siegfried: Hier! (er nimmt sie Kriemhild und streckt sie dem Vater entgegen)

Brunhilde: Ah! Ich bin krank!

Kriemhild: Ja, mein Kind. Von niemandem lassen wir uns in unsere Angelegenheiten hineinreden und wenn es der liebe Gott wäre! – Sag´s ihm.

Siegfried: Und wenn du auch mein Vater bist, so muss ich dir doch sagen, dass wir uns von niemandem in unsere Angelegenheiten hineinreden lassen und wenn es der liebe Gott wäre!

Kriemhild: Sag ihm nur auch, dass er seine Tochter Elli daran erinnern soll, dass er es so angeordnet hat, dass ihr Erbanteil nur dann im Familienbesitz bleibt, wenn es uns zukommt!

Siegfried: Du sollst deine Tochter Elli daran erinnern, dass ihr Erbteil ...

Vater: Niemand muss mich mehr erinnern, am wenigsten du!

Brunhilde: Ich bin krank!

Vater: Dagegen gibt es eine Kur! (Er gibt einem Polizisten ein Zeichen, Brunhilde zu übernehmen; dann an die Juristen gewandt) Mögen die Herren bestätigen, dass sie das Urteil nicht deshalb kassiert haben, weil das Testament falsch gewesen wäre oder weil dieses Weib das Gericht auf Fehler aufmerksam gemacht hätte, sondern damit sich die Grabräuber vor mir einfinden und ich sie selber enterbe!

Kriemhild: Das geht zu weit!

Vater: Aus meinen Augen und seid verflucht für immer!

Kriemhild: Was kümmert mich, was kümmert uns sein Fluch?

Hat mich je verlangt, in seinen Himmel zu kommen? (zu den Polizisten) Sie aber, meine Herren, geben Sie mir mein Kind wieder!

Brunhilde: Ahhh!

Siegfried: Mein Vater!

Vater: Ich bin nicht mehr dein Vater, denn du bist nicht mehr mein Sohn!

Siegfried: Ich bin nicht mehr dein Sohn?

Vater: Du bist verflucht.

Siegfried: Aber die Mutter ...

Vater: Dir geziemt nicht, dass du deine Mutter nennst.

Siegfried: Hörst du, Mutter?!

Vater: Sie hat dich verflucht.

Siegfried: Mich?

Frau Rüstig: Weiß er es nun endlich? Er hat keinen Vater mehr!

Kriemhild: Komm, gehen wir! Keinen Augenblick dürfen wir länger säumen.

Vater: Für immer sollt ihr verflucht sein! Und wenn das hier auch nur ein elender Friedhof sein mag, durch mich soll er in ein Paradies verwandelt werden, jawohl so verwandeln will ich ihn für diesen missratenen Sohn und für sein Weib, dass es ihnen nie mehr gelingen soll, ihren Fuß hierher zu setzen. Steigt ihm aufs Dach, deckt ihm das Haus ab, reißt es ihm ein! Tut, was immer euch gefällt! Ich aber werde die Wächter bestellen, dass sie nie mehr hierher gelangen. Vertrieben von diesem Ort sollen sie sein, beladen mit der Nacktheit und Schande ihrer Bosheiten, unstet flüchtend durch die Welt! (er verschwindet wieder in seinem Grab)

13. Kapitel: Wie Siegfried und Kriemhild den Friedhof verlassen

Kriemhild (während Polizisten auf sie zukommen, um sie abzuführen): Als ob wir nicht wüssten, was es mit dem Paradies auf sich hat!

Siegfried (während Polizisten ihn abführen wollen): Lassen Sie mich gehen.

Kriemhild: Aber selbst wenn hier das wahre Paradies wäre! Wer wünschte es sich? Wissen wir nicht längst, dass wir nichts weniger vertragen als Tage der Faulenzerei? Komm! Gehen wir!

Siegfried: Ich will aber nicht gehen!

Kriemhild: Dir aber, Elli, dir will ich nur noch sagen, wie sehr ich dich beneide. Auch ich wär gern aller Arbeiten und Aufgaben ledig wie du! Indem du dich um niemanden mehr zu kümmern hast, verbringst du das schönste Leben. Ich aber, selbst wenn ich krank bin, bin doch gesund, weil ich mich stets um das kranke Kind zu kümmern habe. Und wenn mir bald der Tod bevorsteht, dann werd ich den gesündesten Tod sterben, den jemals einer gestorben. – Komm jetzt!

Siegfried: Sie können mich totschlagen, wenn es ihnen gefällt. Und wenn mir mein Vater das Leben nehmen will, so mag er es besorgen. (zu Joggel) Oder vielleicht ist der Herr so freundlich? Auf! Vollbring er doch das schmutzige Werk und schlagt er mich tot! Oder tun doch Sie es, Herr Halsabschneider! Oder befehlen Sie den Blenkern, dass sie mich erschießen! Herr Raubebald, Herr Eilebeute! Sie bekommen von mir dann noch eine Gratiszulage!

Joggel: Lächerlicher Weiberkasper, den keiner mehr ernst nimmt!

Siegfried: Was muss ich denn noch tun, um totgeschlagen zu werden?

Kriemhild: Komm und lass das! Das bringt doch nichts! (sie werden von den Polizisten aus dem Friedhof geführt)

Erhard: Gut, dass ich wieder glauben kann an eine ewige Gerechtigkeit und an ein Gericht.

Joggel: Das war es dann wohl?

Erhard: Ja, gehen wir! (sie verlassen am oberen Ende den Friedhof)

Siegfried: (er sieht nun zwei Wächter, die wie Cheruben vor dem Friedhof mit Fackeln paradieren) Und was soll das da, diese Leute mit Fackeln am Ausgang?

Kriemhild: Nichts als Theaterpuppen.

Siegfried: Man könnte meinen, das wären die beiden Anwälte? Dabei standen die eben noch hinter uns.

Kriemhild: Nichts als ein lächerlicher deus ex machina!

Siegfried: Aber die Fackeln sind echt. Meine Herren, lassen Sie mich hintreten!

Kriemhild: Was willst du von denen? Das führt doch zu nichts. Alles ist nur noch ein Nichts, wo es kein Sein mehr gibt.

Siegfried: So war auch mein Vater nur ein Nichts? Er oder ich?

Kriemhild: Es war nicht dein Vater, sonst hätte er nicht gesagt: "Du bist nicht mein Sohn!"

Polizist: Hier geht es lang! Und dass Sie sich nicht unterstehen, sich noch einmal hier sehen zu lassen.

Kriemhild: (zu den Wächtern und Polizisten): Ja meinen sie, es gelüste uns jemals noch, hierher zurück zu kommen, wohl gar weil wir der Ansicht wären, hier seien die Pforten zum Paradies? Bekloppt müssten wir sein, wenn wir vergäßen, dass hier nichts ist als ein Leichenacker, eine Müllhalde, wo man hirnrissige Narrenköpfe bestattet. Doch Sie, meine Herren, freuen sie sich nur Ihres Jobs und nähren sich an der Idee, als Cheruben des Dienstes zu walten!

(Sie hören aus der Ferne Brunhilde schreien. Ahhh!)

Siegfried: Was war das? Unser Kind?!

Kriemhild: (sieht nach) Es ist nicht da. Oder hast du es?

Siegfried: Wo soll ich es haben?

Kriemhild: Aber du hast es ihnen doch entgegengestreckt.

Siegfried: Ich will nicht selig werden, wenn ich es ihnen überlassen habe.

Kriemhild: Dann hat es uns dein Bruder Erhard geraubt. Oder waren Sie es, meine Herren? Das ist Kindesraub.

erster Polizist: Hier, gnädige Frau, geht es weiter!

Siegfried: Soll ich ihn niedermachen?

Kriemhild: Du den niedermachen?

Siegfried: O du sollst es sehen! Komm her, Goliath, wenn du den Mut hast! Dass ich dir deine Schnurre poliere!

1. Polizist: Da hast du deine Schnurre! (schubst ihn weiter)

2. Polizist: Das nächste Mal sieht er den Stock!

Siegfried: Das werden wir ja sehen!

2. Polizist: Komm her, du Prolet!

Siegfried: Selber Prolet!

Kriemhild: Komm zu mir!

Siegfried: Dabei könnte ich mich glänzend an ihnen rächen! O ich spüre die Gewalt, den Himmel zum Einsturz zu bringen.

Kriemhild: Komm, hab ich gesagt!

Siegfried: Doch mögen sie jetzt noch über mich triumphieren, sie sollen es bereuen!

14. Kapitel: Wie Brunhilde an den Felsen genagelt in den Himmel hinauf brüllt

(Während Ellis Sarg versenkt und zugeschüttet wird)

1. Beerdigungsdiener: Mach einen Witz. Los, komm schon. Ich brauch jetzt was Kräftigendes! Etwas, was mich aufbaut, oder zumindest etwas, worüber ich lachen kann.

2. Beerdigungsdiener: Bei jedem Sarg, der ins Erdreich versenkt wird, stürzt ein Himmel ein! Findest du nicht auch?

1. Beerdigungsdiener: Soll das ein Witz sein?

2. Beerdigungsdiener: Wir müssen nicht daran denken!

Michaelis (zu den beiden Anwälten): Gott Vater zu spielen hat der Dame nicht gut getan. Doch ist das Schauspiel nun wohl zu Ende! Meine Herren! Gehen wir?

Eilber: Ja, gehen wir!

Raubal: Ich denke auch, dass es an der Zeit ist zu gehen.

(Sie gehen)

Michaelis: Man kann sich freilich fragen, ob sich dieser Weg gelohnt hat. Dabei meine ich nicht den Weg hierher auf den Kirchhof. Ich meine den Weg der Evolution bis zum Menschen unserer Tage.

Raubal: Er erweist sich als Sackgasse.

Eilber: Diesen Menschentyp können wir uns allerdings nicht mehr lange leisten. Der Preis ist wirklich zu hoch.

Michaelis: Immerhin leben wir Juristen davon, zumal die freischaffenden.

Eilber: In unserer Kanzlei haben wir eine Menge Produkte zur Patentierung vorliegen, die uns schon heute Abhilfe schaffen könnten. Ich denke da an die neuesten Hirnprozessoren, teils eigensteuerbar, teils von außen zu steuern. Man könnte per Knopfdruck jederzeit einen heiteren und leidenschaftslosen Seelenzustand herbeiführen, oder einen solchen als Dauerzustand programmieren. Wenn uns nur nicht die Ethikkommissionen ins Handwerk pfuschten.

Raubal: Ich denke auch, dass uns auf die Dauer kein Weg an dieser Lösung vorbeiführt. Es ist die einzig praktikable Freiheit, die Freiheit der Friedfertigkeit. Hass, Neid, Habsucht, Angst, Gewalt: Alles das wäre dann Musik von gestern.

Eilber: Für die Beamtenschaft ließe sich dann auch ganz nebenbei manch ein Aktenberg auf ein erträgliches Maß reduzieren.

Raubal: Das wird bei uns noch lange dauern.

Eilber: Ich fürchte, der Mensch wird etwas brauchen, was er für wert hält, dass er dafür stirbt.

Michaelis: Für eine Stunde am Tag könnte ja erlaubt sein, das Programm "alter Mensch" zu drücken. Und wenn die Stunde nur recht artig bemessen wäre, so könnten auch Sie, meine Herren, noch davon leben. Auf die Dauer aber wird man kaum umhin kommen, den Menschen vom Abgrund seiner Affekte abzukoppeln.

(Sie kommen an dem Fels vorbei, an dem Brunhilde festhängt)

Brunhilde: Ähh!

Michaelis: Das ist ja unser Brüllkätzchen! Ist es nicht entzückend an den Felsen geschmiedet? Wie einst Prometheus. Und das ohne den Menschen auch nur eine Winzigkeit an Heil gebracht zu haben. Wollte sie nicht? Dachte immer nur an sich selbst?

Brunhilde: Bähh!

Michaelis: Meine Herren, was sagen Sie nun? Was für ein Wesen scheint ihnen der Mensch zu sein? Lohnt es sich, sich mit ihm zu beschäftigen oder ihn gar zu erziehen? Kann man erziehen, wenn der einzelne sich weigert, sich selber mitzuerziehen?

Brunhilde: Bähh!

Michaelis: Wie kann man nur ein so garstiges Ding sein kann!

Brunhilde: Ähh!

Eilber: Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn wir dem Balg einen solchen Prozessor eingebaut hätten. Dann würde uns jetzt vom Felsen ein lächelnder Putto entgegengrinsen.

Brunhilde: Ähhhh!

Raubal: Besser wär das auf jeden Fall als dieses Geschrei.

Michaelis: Ein Gnadengeschenk, wer mit dieser Frau und dieser Tochter nie etwas zu tun bekommt!

(Sie gehen dem Ausgang zu. Kriemhild und Siegfried stehen hinter der Friedhofmauer. Man sieht nur ihre Köpfe)

Kriemhild: Wenn sie vorüber sind, steigst du über die Mauer und befreist unser Kind.

Brunhilde: Ähhhh!

Kriemhild: Sei still, mein Schätzchen. Dein Befreier ist nahe. (zu Siegfried) Jetzt, mach!

Siegfried: O ja.

Kriemhild: Auf, auf! Hinauf strebt´s! Es schweben die Wolken abwärts. Bist du endlich drüben?

Siegfried: So schnell geht das nicht.

Kriemhild: Wer will, kann!

Siegfried: Ich will ja, aber ich bin noch keine Wolke.

Brunhilde: Ähhhh!

Siegfried: Ich könnte versuchen, über den oberen Eingang einzudringen.

Kriemhild: Alle Aus- und Eingänge sind besetzt. Wenn irgendwo ein Hineinkommen möglich ist, so hier.

Siegfried: Es ist aber nicht möglich. (er klettert vergeblich) Sieh doch nur!

Kriemhild: Was ist das für ein Mann, wenn man ihn sehen muss, wie man ihn nicht sehen will!

Siegfried: Mir scheint noch gar, die Mauer wächst.

Kriemhild: Die Mauer wächst nicht, nur deine Kräfte schwinden. Und dein Mut, statt aufzuleben, erlahmt und sackt in sich zusammen! Aber eines sag ich dir! Ich steh nicht länger als Atlas zur Verfügung. Lange genug hab ich jetzt Himmel und Erde auseinandergehalten. Wenn du es nicht schaffst, unser Kind herauszuholen, ist sie deine Tochter nicht mehr und ich bin nicht mehr deine Frau.

Siegfried: Ja dann hab ich´s wohl nicht besser verdient. (Er hängt wie leblos über der Friedhofsmauer.)

Kriemhild: Los, mach endlich! (sie zerrt an ihm) Du sollst machen! Warum strengst du dich nicht an? – Warum sagt er nichts mehr? – So hatte seine Schwester Luitgard doch recht! Nichts als ein Hund ohne Rückgrat, den man prügeln möchte, nichts als ein Schlappschwanz, auf den man treten muss, ist von ihm übrig geblieben.

Brunhilde: Ähhhh!

(Kriemhild starrt apathisch auf Siegfried, der noch immer über der Friedhofsmauer hängt, während Brunhilde noch einige Male "Bähh" schreit.)

Stimme eines näherkommenden Wächters: Meine Dame, Mein Herr! Verschwinden Sie von der Mauer, ehe wir Gewalt gebrauchen!