7. Und die Kinder haben doch recht
17. Aufsatz eines älter gewordenen Schülers
18. Alpenveilchen und andere Blumen
21. Unnötige Besorgnis einer Mutter (eine Anekdote vom 17.4.17)
24. Wenn das deine Mutter wüsste
27. Festschrift zum 8. Geburtstag
28. Mensch, ärgere dich nicht!
45. Über die Anfänge und die Enden von Geschichten
51. Wege ins goldene Zeitalter
57. Das Haar meiner Liebsten und das Haar meiner Tochter
60. Traum von einem grossen neuen Leben
72. Was noch festzuhalten wäre
75. Erinnerung an eine Romfahrt
86. Ein Heldentag (noch ein Schüleraufsatz)
90. Was man vom Leben erwartet
95. Scheisskerl und Hundekuchen
97. Vom Mann, der mein Freund werden sollte
98. Nachruf auf meinen Nussbaum
106. Was fangen wir nur mit ihm an?
116. Hätte ich noch meine Liebste bei mir
117. Der Papierkorb des lieben Gottes
Vor 10 Jahren, Ende 2004, als mein Schätzchen noch bei mir weilte, schrieb ich das erste Vorwort zu den Prosastückchen, die ich hier versammelt habe und denen ich in den Folgejahren noch das eine und andere hinzugefügt habe. Wie einst der alte Rabelais hatte ich mir vorgenommen, etwas zur Freude von Schwerkranken zu tun, vornehmlich aber meinem lieben Weibchen etwas Erleichterung zu verschaffen. Beide hatten wir das 60. Lebensjahr überschritten, ein paar Jährchen Berufszeit standen mir noch bevor, und wenn ich auch wusste, dass ich nicht in der Lage war, wie ein Adler über dem Weltenbaum hinauf in den Himmel zu fliegen, um von dort das Kraut der Rettung zu besorgen, so wollte ich doch alles versuchen, was in meiner Macht stand, mein liebes Weibchen abzulenken oder zu erheitern. Und da ich wusste, dass sich der Gott Thanatos, der Tod, schon seit eh und je nur wenig human zu erweisen pflegt, nicht erst in der euripideischen Alkestis, allenfalls dass er sich wie in einer Geschichte um Sisyphos, den König von Korinth, für ein Weilchen übertölpeln lässt, so gedachte ich, ihn zumindest insoweit auszublenden, als ich mich jeweils nur immer auf den uns eben jetzt geschenkten Tag bedachte, um denselben zu einem, wenn auch nicht immer geglückten, so doch erträglichen zu machen. Darüber hinaus zu grübeln bringt ja nichts, das wusste ich wohl, jedenfalls nicht mehr als die Einsicht, dass wir alle mit dem Rücken zur Wand stehen und dass uns von der uns zugemessenen Zeit ein Tag um den anderen abhandenkommt. Freilich war dieses Vorhaben durchaus nicht leicht durchzuführen, wurde man doch durch die fast Tag für Tag um sich greifende Verschlimmerung der Krankheit beinahe genötigt, dem Kommenden entgegenzusehen. Nun aber sollte die Kunst umso mehr dagegen helfen.
Mehr denn je ist es mit der Kunst heutzutage freilich so eine Sache. Wahrheit, Wirklichkeit, Wissenschaft, Kunst, Religion: wir wissen ja kaum mehr, sie in einen Zusammenhang zu bringen, geschweige denn, sie für uns nutzbar zu machen. Mag man auch immer einmal wieder Anstrengungen unternehmen, unsere aufgeklärte und wissenschaftliche Epoche in die Nähe eines goldenen Zeitalters zu rücken und mag es auch an Ratschlägen und an Resolutionen nicht mangeln: eine Vision für die Zukunft ist nirgends in Sicht. Immer wieder einmal kann man zwar an Litfasssäulen die Titanen der Wissenschaft unseres Jahrhunderts bewundern, wie sie, ähnlich einem Dante, von Beatrice in die höchsten Regionen des Himmels geleitet, durch enge lichtumflutete Röhren aufsteigen zum Licht, dass man glauben mag, frühere Geschlechter müssten uns beneiden um das Leben in dieser, unserer Zeit: Und doch: wie viel diese Bilder auch an Hoffnungen suggerieren, die uralten, noch immer in uns schlummernden Sehnsüchte werden sie kaum erfüllen. Öfters schon bei Vorträgen zur modernen Astronomie hatte ich Gelegenheit, Zeuge von Missverständnissen zu werden. Erfüllt von einer Ahnung um etwas sehr Geheimes kommen und drängen sich die Leute herbei, um alsbald schon den Vortragssaal wieder zu verlassen. "Weshalb seid ihr gekommen?", so möchte man sie fragen. Freilich ist mir auch nicht entgangen, dass auch andere Kollegen diesem Bedürfnis begegnet sind und dass sie sich, bereits manches dazu haben einfallen lassen. Nicht, dass man die Astronomie umwandeln oder aufgeben sollte. Wo man indessen nicht mehr so Recht weiß, was Theologie für eine Disziplin ist und womit sie sich zu befassen hat, wo man nur noch den Nachhall gewisser Grundfragen aus dem Dämmer der eigenen Verunsicherung und Unwissenheit herauftönen hört, ist es für einen geschulten Astronomen immerhin verlockend, einigen dieser Bedürfnisse näher zu kommen. Wenn es etwa gilt, den Durst nach ewigem Leben zu stillen: ist es da nicht verlockend, über die Relativitätstheorie den Raum-Zeit-Zusammenhang heraufzubeschwören und von Zeitmaschinen zu reden, die es schon heute theoretisch erlauben, in die fernste Zukunft und in die entlegensten Gegenden des Alls zu reisen? Und scheint uns nicht gar auch noch die fernste Vergangenheit ihre ehernen Tore zu öffnen, ob auch der Satz dagegen steht, dass man Geschehenes nicht rückgängig zu machen vermag? O, es scheint nicht mehr viel zu fehlen, bis dass auch wir wie der liebe Gott die Züge verstehen, um überall und in allen Zeiten zu Hause zu sein.
Was für eine Verlockung, was für eine Versuchung, sich als Wissenschaftler außerhalb der mathematischen Theorien zu begeben!
Mit der der Ausmessung und mit der Eroberung des Alls scheint es gleichwohl noch immer ein Nichtwissen zu geben, das dem mathematisch formalisierten und diskursiven Denken verschlossen bleibt. Auch wenn seit spätestens Wittgenstein ein solches außer Kurs gesetzt ist, weil man davon nicht vernünftig reden kann, so liegt hier doch für viele, zumal in der Nachfolge eines Sokrates die Pforte des Himmels. Der Rand des Wissens, nicht des heutigen Wissens, sondern des Wissens schlechthin ist es, den sie im Auge haben. Wie Sokrates, der dieses Nichtwissen im Menschen selber suchte, so wünschen sich auch die Sokratiker von heute nicht, sich in Fertigkeiten abzulenken. Würde man diesen Leuten auch die gesamte Wissenschaft der modernen Physik und der Neurologie etc. vermitteln: man könnte damit nur Hilfestellungen bieten als Mittel zu ihrem Zweck. Was sie sich insgeheim wünschen, das ist nicht die Sprache der Wissenschaft an und für sich, nicht den Wahrheitsbegriff eines Tarski oder die Sprachlehre eines Wittgenstein, mögen auch diese Arbeiten zum genaueren Verständnis des Menschen noch so bedeutsam sein: was sie sich wünschen, das ist, vor einem Mysterium Halt zu machen, sich niederzuwerfen und in Staunen auszubrechen, ähnlich wie es seinerzeit der altgewordene Goethe in der Marienbader Elegie zum Ausdruck gebracht hat: "In unsres Busens Reine wogt ein Streben, sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten hinzugeben." Ja, glücklich ein Goethe, der noch in den Maximen und Reflexionen notieren konnte: "Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren."
O Sokrates, was für ein Pech, dass dich ein Platon zu einem Philosophen und Wissenschaftler umschaffen musste! Dass er aus dir einen Logiker und Universalgelehrten machen musste, während es dich trieb, an das Gute als an etwas Unaussprechbares zu glauben und es zu verehren und ihm durch das Bekenntnis zum Nichtwissen näher zu kommen. Oder haben uns nicht gerade die Wissenschaften vor tausend und abertausend Probleme geführt, die alle nur mitgeholfen haben, das eigentliche Problem in den Schatten zu stellen? Treibt Gott Geometrie? Vielleicht. Über die Geometrie aber führt kein Weg zu Gott. Was die Leute suchen, das ist ein Brot, das sie nährt, und ein Trank, der sie tränkt, und eine Geschichte, in der sie sich wundersam verirren und zugleich zur Ruhe kommen. Sie suchen nach einem Leben, das auch noch dem Tod spottet.
Nimmt man das alles zusammen, so ergäbe sich als Aufgabe eines heutigen Erzählers: etwas zu erzählen, was sich als Besonderes und des Nachdenkens Wertes ausweist; sodann aber auch, es so zu erzählen, dass es sich den Augen und Ohren der Zuhörer einprägt. Überschaubar und zügig, in einprägsamen Bildern, ohne weitschweifende Exkurse und ohne der Fabulierlust allzu viel Freiraum zuzugestehen. Und wenn wir auch um keine Paradigmen des gelungenen Lebens wissen und nicht zu sagen vermögen: "Seht, so ist es recht, und so müsst ihr es tun!", so sollten Leser und Zuhörer doch den Eindruck haben, als ließe sich am Faden der Prosastücke ein Einblick in ein Leben gewinnen, das immer zu erleben wert ist. Das Leben als etwas Erlebenswertes darzustellen, was sonst noch Besseres könnte ein Erzähler erreichen! Ob ich das erreicht habe, bleibe dahin gestellt. Was ich zur Veröffentlichung preisgebe, ist indessen in eben diesem Sinne gedacht: als eine Sammlung kleiner Bildchen, ein Blumenstrauß von Texten, von denen ich hoffe, dass sie meiner Liebsten gefallen! Sollte einmal einer auftauchen, der alles noch besser zu machen versteht, umso besser! Hauptsache, wir treiben etwas, was uns selber umtreibt, sodass es alle, die in ähnlicher Weise unterwegs sind, beschäftigt und ein wenig vorwärts bringt. Und so widme ich dieses Büchlein meinem Mütterchen wie auch den lebensfrohen Gemütern, die es sich vorgenommen haben, sich trotz allen Leids die Freude am Leben nicht nehmen zu lassen.
Im November 2014
"Hoher Sommer, voll leuchtendem Morgen, / bring mir mein Schätzchen, verscheuch mir die Sorgen!" So hatte ich des Morgens noch ins Tagheft geschrieben und nun stand ich in der Straßenbahn, nachdem ich die Enkelkinder in den Zug gebracht hatte, selber auch wieder auf dem Weg nach Hause, sofern man das ein Zuhause nennen kann, wo einem die Liebste fehlt. Einzig in Gedanken versunken stand ich da in der Straßenbahn, die so überfüllt war, dass ich mich kaum zu bewegen vermochte. Die Linke hatte ich irgendwo oben an einem Haltegriff festgemacht, die Beine, so gut es ging, in Fahrtrichtung ausgestellt, um das Anhalten und Abfahren abzufedern und nur die Rechte hing, allein auf sich gestellt, untätig am Körper herab: als ich mich plötzlich an einem Finger ergriffen fühlte. Als ich hinab schaute, sah ich auf ein Kinderköpfchen, ein Mädchen, ein etwa einjähriges, schwarzhäutiges Mädchen in einem Kindersportwagen. Mit viel Liebe hatte ihm die Mutter die feinen ersten Härchen mittels bunter Bändchen zusammen gebunden, so dass sie wie in kleinen Garben empor standen. Meinen Mittelfinger fest in der Hand haltend erwiderte es meinen Blick beinahe sachlich prüfend, doch entfernt von allem Misstrauen, um dann, da ich zufrieden zu sein schien, am Finger, wie an einem Haltegriff, hin und her zu schaukeln. Ich aber, den Blick ins Niemandsland zurück wendend, ließ es geschehen. Der Finger sah ja und meldete mir ja alles. Ja, ich war stolz auf die Auszeichnung, und wenn auch nicht im Augenblick, so fiel mir doch später ein, dass es das goldene Ringlein an meinem Ringfinger gewesen sein mochte, die mir von meiner Liebsten zurückgebliebene Habe, die es dem Kind angetan hatte. So fuhren wir dahin, vom Kind gehalten und für ein Weilchen bei ihm Halt findend, bis es ausstieg, zwei Stationen, ehe auch ich auszusteigen hatte. Möge dem Kind und seinen Eltern ein gutes Leben beschert sein!
Als der Mond über den Himmel heraufkam, lag der Garten bereits unter einer dichten Schneedecke. Auf der kleinen Böschung hinter dem Haus tauchte ein Schlitten auf, dann, begleitet von seinen nächsten Angehörigen, die schweigend neben ihm einher gingen, ein junger Mann, der wie ein Eskimo aussah in seiner winterfesten, mit weißem Fell überzogenen Kleidung. Es war heute das erste Mal, dass ihn die lieben Eltern zum Schlitten-Fahren ausrücken ließen. Tollkühn war sein Verhalten freilich nicht, eher etwas zu vorsichtig; der junge Held konnte aber auch nicht wissen, was nun auf ihn zukäme. Oben angekommen, etwa einen Meter über der unteren Wiese, bestieg er den Schlitten und nahm Platz wie auf einem Bänkchen, fast als ob dies das Ziel des halbnächtlichen winterlichen Ausflugs gewesen wäre. Doch dann, als der Schlitten, leicht angestoßen, mit ihm losfuhr und alles um ihn herum in Bewegung geriet, verlor er wohl für einen Augenblick das Bewusstsein, sodass ihm selbst für einen Schrei keine Zeit mehr blieb. Dann aber, kaum dass die Fahrt begonnen, war sie auch schon wieder zu Ende. Da stand er nun unten im Garten und staunte und konnte es nicht fassen, wie man ihn zum strahlenden Sieger erklärte. Ob er die etwa knapp zwei Meter lange, einen knappen Meter Höhe zu durchmessende Fahrt von der Terrasse in den Garten hinunter wohl noch ein zweites Mal probiert hätte? Vermutlich nicht. All das war ja noch so fremd und sinnverwirrend, so unfassbar und ungeheuerlich, dass es das Denkvermögen des jungen Helden bei weitem übertraf. Und so fragte man den jungen Mann auch gar nicht erst lange, sondern trug ihn unter Bravo- und Beifall-Rufen die Böschung hinauf, setzte ihn für die nächste Fahrt zurecht, und weiter ging´s!
Nun aber war bei dieser Ausfahrt auch der Großvater mit dabei. Und während er zusah, wie der junge Held nun unentwegt in der Hut der ihm assistierenden Eltern die Böschung hinaufging, um dann die sausende Fahrt in den Garten hinab, mitsamt dem plötzlichen Anhalten irgendwo drunten im Dunkel, anzutreten, sinnierte er ein wenig über den Winter, der auf jeden zukommt und den es zu überstehen gilt, wobei ihm ein Traum in der letzten Nacht plötzlich in Erinnerung kam. "Wollen doch sehen", hatte der Großvater noch gerufen, als er es trotz mehrfacher Versuche nicht geschafft hatte, mit dem Auto einen schneeglatten Buk heraufzufahren, und hatte das Auto kurzerhand unter den Arm genommen und war mit ihm den Hang hinauf gestapft.
Währenddessen aber muss es zu einem fürchterlichen Sturz gekommen sein. Der junge Eskimo-Mann war in den weißkalten Schnee hinein gestürzt, in diese sinnverwirrende Substanz, die weich ist und weiß beim Anfassen und zugleich kalt und hart, wenn man in sie hinein stürzt! Der Großvater aber hatte, wiewohl er dicht daneben gestanden, von der Katastrophe kaum etwas mitbekommen. Erst als sie alle schon wieder ins Haus zurückgekehrt waren, sah er noch manch ein Tränlein, wie es sich aus den tieferschrockenen Augen des jungen Helden Bahn brach. O, wie ihn der Sturz noch immer mitnahm! Alle Ängste, die draußen noch durch die Anwesenheit der Erwachsenen unterdrückt worden waren, brachen sich jetzt Bahn, dass man selbst lange danach noch Spuren auf den Kinderwangen erkennen konnte. Von den nächtlichen Schatten aber, die unter den Büschen des Gartens der Szene beigewohnt hatten, hatte niemand etwas bemerkt. Erst später, bei der Niederschrift, sind sie dem Biografen aufgefallen.
"Was ist das?" fragte der kleine Balthasar, als sie bereits eine Weile durch den Park spaziert waren und nun in der Nähe eines Rondells zu zwei älteren Jungen gelangten, die an Feuerwerkskörpern herumhantierten. Die Mutter gab ihm bereitwillig Auskunft. "Das sind Knallfrösche", sagte sie, drängte dann aber behutsam zum Weitergehen. Dem Jungen indessen war nicht unbedingt ums Weitergehen zu Mute. "Knallfrösche" wiederholte er, indem er, sich sacht an Mutters Beine anschmiegend, sich noch einmal umsah. Was also dort aus den dunklen Hecken, die wie ein Schlafplatz für müde gewordene Nächte aussahen, krachend heraussauste und dessen Rauch ihm noch in der Nase kitzelte: das waren Knallfrösche?! So repetierte er für sich. Während sie weitergingen, blieb er immer wieder stehen und schaute zurück. Die alten Eichen, an denen sie vorbei kamen, hatten kein Auge für ihn. In den nasskalten Dezembertagen haben sie vollauf mit sich selber zu tun. Dafür aber hatten die jungen Eiben und Rottannen den kleinen Wandersmann längst gesichtet. Sie hatten auch gehört, wie er die Mutter gefragt hatte, was das ist, und wie die Mutter ihm den gefährlich lautenden Namen mitgeteilt, denselben aber in die Klangfarbe unbedingter Harmlosigkeit getaucht und so dem jungen Helden neben dem Namen zugleich auch die für ihn wichtige Information mitgegeben hatte, dass nicht der leiseste Grund zur Beunruhigung vorhanden wäre. Fast ein wenig vergnügt sahen sie ihm jetzt zu, wie er in seinen festanliegenden roten Stiefelchen immer wieder anhielt. Wenn man in die Welt hinaus stapft, ist es freilich gut zu wissen, was es alles gibt und wie es heißt und was gefährlich ist und was nicht. Dass aber ein Frosch, der doch im Wasser lebt, gefährlich sein kann, das war für ihn dann doch neu. Überhaupt, lebten Frösche denn nicht im Wasser? Wasser gab es aber doch in dem Waldsee und der war ein Stück weit entfernt. Oder gab es unter den Hecken auch Wasser? Und nun fuhren sie aus dem Wasser heraus und sausten und knallten durch die Luft! Und die Mutter, wiewohl sie darauf bedacht war, nur rasch weiterzukommen, sagte, dass Knallfrösche nichts Schlimmes wären. Das ließ ihm keine Ruhe. Während sich nun aber der geheimnisvolle Schauplatz mehr und mehr entfernte, machte sich der Junge daran, ein Projekt zu entwickeln, bei dem er selber mit solchen "Knallfröschen" herumhantieren würde. Freilich, dass er heute noch ein wenig zu klein war, daran konnte er nicht umhin. Doch, wer mochte es wissen, vielleicht dass er morgen schon groß genug war, um auch solche Frösche zum Springen und Aufblitzen zu bringen! Eigentlich hätte er sich gerne noch weiter erkundigt, was es mit der Sache auf sich hatte, wenn er nur gewusst hätte, wie. Mit seinen zwei Jahren indessen war ihm das Informationen eintreibende Zauberwort "warum" noch unbekannt, sodass er der Mutter im Moment weiter nichts zu entlocken vermochte, was doch so bedeutsam gewesen wäre. Immerhin aber war er jetzt schon so weit, dass er den magisch-wundervollen Namen "Knallfrosch" kannte. Kein Baby, und er kannte da durchaus einige, wusste um diesen Namen.
Es ist nur eine kleine Anekdote, die wir hier niederzuschreiben gedenken, und doch ist uns, als hätten wir uns vorgenommen, ein gewaltiges Heldenepos zu schreiben, und befänden uns eben vor dessen Beginn. In der Tat handelt es sich um etwas eminent Heldenmäßiges, um etwas wie einen Vorgesang zu einem unerhörten Heldenleben. Man muss sich nur genügend Zeit lassen, es recht zu begreifen. O unsere Mütter! Oder ist es nicht vornehmlich das Werk unserer Mütter, was wir an Heldischem entwickeln? Seine Mutter war es denn auch, der wir diese Notiz verdanken. Nachdem sie ihren Sprössling beiseite genommen und mit ihm seine Spielsachen und Kleider einer Revision unterworfen, dergestalt dass das alles ja seine Sachen seien und dass sie mithin ihm gehörten, rückte sie endlich auch mit der Frage heraus, wem denn nun aber er, ihr Herzensschatz, gehöre? Indessen, da er nun nicht gleich mit einer Antwort herausrückte und ihr Mutterherz, ähnlich einem ängstlich besorgten Lehrer, der lieber nichts gefragt hätte als seinen Schüler einer peinlichen Ratlosigkeit preiszugeben, ihn nicht länger mit der Frage allein zu lassen vermochte, rückte sie mit der Frage heraus, ob er nicht seiner lieben Mama angehöre: worauf der junge Mann ihr ziemlich nüchtern zur Antwort gab, er gehöre sich selbst.
Darf ich, ohne Schmälerung der Heldenleistung und ohne Beeinträchtigung zufällig mitlesender Eltern bemerken, dass das die Meinung vieler Kinder ist, zumal der Jungen in diesem Alter, ein Herakles oder sonst ein unbezwingbarer Held zu werden! Und darf ich, noch ein Stückchen weitergehend, bemerken, dass jene Frage der Mama, zu den Fragen gehört, die eigentlich nie gestellt zu werden brauchen, weil über sie tiefstes Einvernehmen herrscht und weil sie für den jungen Mann in ihrer Verschwiegenheit selbstverständlich sind, laut ausgesprochen in ihm aber etwas Peinsames in Gang bringen! Der junge Mann hatte ja auch gar nicht ganz so Unrecht. Will man als ein Titan in Erscheinung treten, so kann man nicht früh genug sich als ein solcher zu erkennen trachten. Zuerst kommt der Glaube an sich und an die eigenen überragenden Fähigkeiten, bis hin zu der sich selbst verdankenden Eroberung des ewigen Lebens.
Ein bisschen verstehen wir das ja alles. Nachdem nämlich das Kind gelernt hat, seiner ansichtig zu werden und mithin auch von sich zu sprechen, ein Lernstoff, der das gesamte zweite Lebensjahr in Anspruch nimmt, und nachdem es nun zu Beginn des dritten Lebensjahres auch gelernt hat, zu sagen, was ihm gehört und was nicht, fällt es ihm zumindest in der Vorstellung nicht mehr schwer, sich selber bei der Hand zu nehmen. Man muss nur einmal bedenken, wie peinsam und demütigend und ganz und gar unerträglich es für den kleinen Mann wäre, wenn er bei jedem Besucher mitbekäme, dass er als nichts anderes denn ein kleines Anhängsel seiner Eltern mitginge und dass er an und für sich total unbedeutend wäre, dass man ihm aber den Eltern zulieb mit etwas Achtung begegnet! Was auch liegt da näher, als dem zuvorzukommen und sich als etwas Selbständiges zu bekunden! Dass mit dem programmatischen Bekenntnis zu sich selbst längst noch nicht alles getan ist, steht freilich auf einem anderen Blatt. O Sorge über Sorge, wenn das kaum drei Jahre alt gewordene Ich zu sich kommt und seine Rechte anmeldet! O Tag der Drangsale, o Fluch der Freiheit, o bitteres Heldenleben, das auf einen wartet, sobald man sich von der Hand der Mama befreit hat. Von nun an gilt es, Tag für Tag das notwendige Pensum hinter sich zu bringen. Vor allem die vielen existentiellen Fragen mit den damit verbundenen Probehandlungen sind es, die einen von nun an bei Tag und bei Nacht beschäftigen. Was z.B. macht der Herr "Ich", wenn eine Sturmflut sich gegen ihn erhebt? Und wenn er nun weit und breit im Meer allein ist: wie macht man das, dass man sich beim Schwimmen immerfort über Wasser hält? Oder was tut man, wenn einen im Wald die Dunkelheit überfällt und man nicht mehr nach Haus kommt? Was, wenn ein wildes Tier auf einen zugesprungen kommt? Vielleicht, dass er sich dazu entscheidet, einen Baum zu besteigen? Wenn aber kein Baum in der Nähe ist, genügt da schon, dass man die Augen schließt und sich weit weg denkt? Stimmt das denn, dass man, wenn man nur erst die Augen geschlossen hat und keinen mehr sieht, von keinem mehr gesehen wird? Kann man sich so unangreifbar machen? Und wird man eines wilden Tieres ansichtig, genügt dann schon, dass man sich auf einen hohen Baum oder auf einen Berg hinauf wünscht, und man ist schon droben? Und stäke man auch im schlimmsten und schlammigsten Pfuhl, wie muss man sich bei den Haaren fassen und sich daran in die Lüfte ziehen? Und traut man sich auch zu, hoch zu springen, ja ist man auch sicher, dass einem bei Gefahr ein Talent zuwächst, sich wie ein Vogel in die Luft zu heben und davonzufliegen, müsste man das nicht einmal auch in echt erprobt haben? Wollen und Sich-Vorstellen: das ist das Eine! Das andere aber ist das Wissen durch Erfahrung, nachdem man alles in Tat und Wahrheit ausprobiert hat. Ja, es gilt zu experimentieren, bei Tag und Nacht. Zumal jetzt, wo unser Held schon ein gutes Jahr lang laufen kann, zeigt sich auch, welche Bedeutung gerade den Schuhen zukommt. Nähme man sie dem Kind, denn Besitz kann man ja wegnehmen, womit könnte es dann in die Welt hinaus und den Beweis antreten, dass es groß ist unter den Großen? Mag denn die Mama, wenn sie schon nicht mehr als unumschränkte Besitzerin des Helden in Frage kommt, sich weiterhin noch ein wenig als Hüterin und Putzerin seiner Schuhe engagieren. Wir hoffen, dass sie schmunzelt, wenn sie das liest.
Ist dieses das Geheimnis des Ich, dass es erfunden wurde, um den Einzelnen zu ermutigen, sich aus der Umgebung zu heben, auf dass er vernichtet werde oder selig wieder zurückkehre in die Gemeinschaft der vielen? Ohne den lieben Eltern überflüssige Angst machen zu wollen, ist doch nicht unwichtig, ihnen das Wichtigste, was es für sie auf der Welt gibt, ein wenig näher zu bringen: nämlich ihre Kinder zu verstehen. Wie viel Mühe sie sich nämlich auch geben, zumal in den Stunden der Not und der Bewährung, wie sehr sie den Kindern zuvorkommen und sich abmühen, ihnen zu zeigen, dass ihnen nichts zu viel ist: ein wechselseitiges Verstehen wird dadurch nicht erleichtert. Oft ist es vielmehr so, dass die Kinder wie bei einer Gabe die von ihnen zu erbringende Gegengabe erahnen, dergestalt dass sie zugeben sollen, dass sie keiner so gut versteht wie die lieben Eltern. Dabei ist noch nicht einmal das Problem genannt.
Zumal zwei frisch gebackenen glücklichen Eltern will scheinen, als hätte die zur Genialität neigende Natur ihres Sprösslings just eben über sich selber nachzudenken begonnen und hätte nun gleich auf den ersten Wurf mit ihrem Meisterstück aufgewartet, so dass jeder, der nur in seine Nähe kommt, nicht anders kann, als vor Staunen und Verwunderung den Atem anzuhalten. Kein Lüftchen weht sie an, kein Skrupel berührt sie, dass sich alles schon bald anders zeigen oder dass irgendwann einmal etwas schief gehen könnte; und das ist gut so, wenn sich dieser Optimismus auch im Lauf der Zeit nicht immer aufrechterhalten lässt. Da ist dann gut, wenn noch Großeltern da sind, die beharrlich an dem einmal gefassten Gedanken des Meisterstücks festhalten, ohne sich von Tagesereignissen irritieren zu lassen. So sagte noch meine Großmutter zu den immer wieder fassungslos dastehenden Eltern angesichts meiner nun schon zwölf Jahre währenden Lausbubenschaft: "Lasst ihn nur! Der wird schon noch recht!" Und hat sie nicht Recht behalten oder besteht nicht wenigstens noch ein Fünkchen Hoffnung, dass sie Recht behält?
All den bösen Nachrichten zum Trotz, die uns von hilfsbereiten Zeitgenossen hinterbracht werden, sollten wir uns nicht damit ängstigen, als könnten Ungeheuer aus unseren Kindern werden oder als müsste man es sich gar verbieten, "Kinder in die Welt zu setzen". Besser, als sich andauernd Sorgen zu machen, was für ein Schwerverbrecher aus einem Kind wohl werden mag, besser ist allemal, viel Gutes in das Kind hinein zu schauen und etwas zum Aufbau mit ihm zu unternehmen.
Was aber macht man, wenn die kleinen Erdenbürger, zumal die kleinen Herren der Schöpfung, das Nein-Sagen gelernt haben, wenn luziferische Genialität in ihnen aufdämmert und aufblitzt und sie sich unumwunden darin üben, ihren Dickschädel zu zeigen? Was macht man, wenn die Interessensphären durcheinander geraten, wenn von dem vormals so schönen Urvertrauen, wie manche Pädagogen sagen, kaum mehr eine Spur da zu sein scheint und wenn stattdessen ein kaum mehr unterdrücktes Misstrauen ihre Gesichter verzeichnet? Aus bloßer Liebe zu den Eltern etwas zu tun, kommt ihnen überhaupt nicht mehr in den Sinn. Vielmehr sehen sie einen jetzt an, als wären sie Findelkinder oder Wechselbalge wie jener Klein-Zaches von Hoffmann oder der Hannes aus Tiecks Reise ins Blaue oder ein Homunkulus aus der Retorte. Die Liebe der Mutter zumal gerät da in große Not. Wenn ihr aber bei solcherlei Konflikten auch arg ums Herz wird, so wird sie sich doch nie dazu durchringen, dieses Kind nicht als ihr Kind weiterhin anzuerkennen. Doch was ist nun zu tun? Wäre das was, wenn man mit dem jungen Neinsager eine vernünftige Unterredung oder auch nur, wenn man mit ihm zu feilschen begänne? Oder wär das was, wenn man ihm einmal die Zähne zeigte, sodass ihm elterliche Liebe plötzlich mit Zähnen bewaffnet erschiene? Selbst wenn die elterliche Liebe, die doch selber hochgradig empfindsam und verwundbar ist, sich in eine Krokodilsgestalt zu verwandeln vermöchte: könnte der junge Herr nicht auch das für ein Weilchen aushalten, zumal für ein so unwiderstehliches und ehrgeiziges Projekt wie die Souveränität des eigenen Willens? Da aber der junge Mann noch meilenweit davon entfernt ist, einen eigenen und freien Willen zu äußern, sondern über nichts weiter verfügt, als einem Affekt zu genügen, der sich lautstark und, wenn nötig, auch unter Tränen aus ihm heraus Bahn bricht, so sind die Eltern nur doppelt genötigt, ihm in seiner Ohnmacht und Not zu Hilfe zu kommen. "Ich will nicht" kann der junge Mann ja noch nicht sagen. Vergebens, dass er sich dieses Verb schon so hätte klar machen und zu Recht legen können, dass es ihm zum Gebrauch bereit stünde. Wenn er stattdessen aber sagt: "ich kann nicht", während er sagen möchte: "ich will nicht länger von euch bevormundet werden!", dann mag zwar einem Außenstehenden für einen Augenblick ein Lächeln über das Gesicht huschen, nicht aber den Eltern.
Wie anstrengend, wie befremdend ist doch diese Phase! Weiß oder ahnt denn das Kind, dass es in dieser Welt noch kein Stimmrecht hat und wie schwierig es ist, sich ein solches zu erwerben und es zu behaupten? In der Tat! Vorerst kommt es sich so vor, als wäre es nur so eben in die Welt hinein geschmuggelt worden, als Besitz seiner Eltern, insbesondere aber als Besitz seiner Mutter. Wie aber, wenn sich eine Mutter einfallen ließe, den jungen Neinsager beim Wort zu nehmen, ihn mithin als einen selbständigen, wenn nicht gar als einen auf sich gestellten, fremden Menschen anzusehen und zu ihm zu sagen? "Nun gut, wenn du nicht willst, dann will ich auch nicht mehr! Dann magst du nach mir rufen, dann bin ich nicht mehr da!"
Was für ein Leben, was für ein Drama! Zum Glück gibt es in der Welt eines wohlumsorgten Kindes keinen Platz für solche Drohungen. Ein wenig darfst du ja auch lügen, liebe Mutter. Auch wenn du wie eine Schutzgottheit den jungen Helden umgibst, so musst du es ihn nicht immer spüren lassen. Lass ihn doch da und dort allein, wie auch Athene ihren Schützling Odysseus in den ärgsten Stunden seiner Irrfahrt scheinbar alleine gelassen hat, derart dass ihr der Held vorhielt, sie sei damals überhaupt nicht bei ihm gewesen.
Der junge Held aber, wäre er mit seinen zwei Jahren nur schon der Einsicht und der Sprache mächtig, könnte als Anwalt in eigner Sache so zu uns sprechen: "Müssen wir uns nicht so verhalten, wie es uns die Natur für unsere Entwicklung vorschreibt? Müssen wir nicht Neinsager und Trotzkopfindianer werden, um zu unserem Selbst zu finden? Wart nur ab! Schon in ein paar Jahren haben wir es geschafft. Dann erinnert sich keiner mehr daran."
In der Tat sollten wir uns ihr Verhalten von der Warte der Gelassenheit aus ansehen: dass sie von nun an für sich entscheiden und handeln wollen; dass sie die Grenzen alles Möglichen ausprobieren wollen, was alles sich tun lässt und was nicht; und dass sie als eigenständige Individuen beachtet sein wollen. Verbale Ratschläge oder gelehrige und vernünftige Konversationen sind da durchaus nicht brauchbar. Praxis muss sein, wie auch praktische Erfahrung. Da gibt es kein Drumherum! Oder wollen wir, dass unser Kind später einmal zu uns sagt? "Euch zu Liebe habe ich alles getan; leider aber lebe ich jetzt in einer Welt, in der es für mich nichts mehr zu wollen und zu holen gibt."
Lernen durch Tun: das ist die Devise. Selbst Vater Herodot, der vorschlägt, aus den Fehlern der Vorfahren zu lernen, hätte da nicht die leiseste Chance. "Wir haben die Taten jener nicht getan und uns kann so etwas nicht passieren", so vernähme man die jungen Aberer und Selberer im Feldgeschrei. Aus der Geschichte zu lernen, scheint völlig absurd. "Jeder hat das Recht, wenn nicht die Pflicht, sich als Held und Welteroberer auf den Weg zu machen", so sagen sie und so sagt es uns auch unser Mann mit seinen zwei Jahren, wenn wir seine unbeirrbare Miene und seinen energischen Hang, eigene Versuche durchzuführen, recht übersetzen. "Auch ihr seid in die Welt hinausgezogen und habt eure ersten Erfahrungen gemacht! Oder hat Opa nicht erzählt, wie er in meinem Alter mit einem Stock gegen Vier- oder Fünfjährige auszog? Seine Mutter und seine Großmutter waren mit dabei und schauten ihm zu. Freilich konnte er nicht bestehen. Die kriegerische Übermacht war zu groß, der Feind zu zahlreich und zu stark. Statt den Feind zu schlagen, wurde er geschlagen und musste das Kampffeld schmählich räumen." Ein wenig natürlich nur, fügen wir hier hinzu. Viel hätten die Mütter nicht zugelassen. Die Erfahrung war aber keineswegs umsonst. Sie war besser, als wenn man ihm nur gesagt hätte: "Bleib da! Bei dem Geschäft ziehst du nur den Kürzeren!" Er hätte ja den Müttern glauben müssen. Doch wie hätte er das gekonnt, wo ihn etwas zum raschen Handeln ermahnte, weil er sonst etwas Wichtiges verpassen würde. Unsereins muss handeln, muss sich handelnd erproben. Nur die Handlung bringt uns weiter. Das ist schon seit Menschengedenken so. Das ist das Schicksal des Menschen. "Wer es nicht weiter gebracht hat als bis zur Haustüre, hat es verpasst, ein Mensch zu werden."
Von dem Verfasser aufgeklärte Leute versuchen sich mithin in Geduld. Das Kind darf dann auch mal ohne Schuhe und Strümpfe in den Schnee hinaus oder ohne Essen vom Tisch gehen, wenn es denn einmal der Ansicht sein sollte, darauf bestehen zu müssen. Davon geht das Kind noch nicht zu Grunde; das können sich liebevolle Eltern durchaus lächelnd mitansehen; womit freilich nicht gesagt sein soll, dass es nicht auch bisweilen mal zu gehorchen hat. Möge es lernen, eine brauchbare Entscheidungskraft und einen guten Willen zu entwickeln, auf dass man ihm bald schon wieder uneingeschränkt zulachen darf, auch wenn es sich jetzt mitunter noch arg durchs Dunkel tastet.
Ein wenig lächeln wir schon, wenn wir uns mit unseren Erstklässlern darüber unterhalten, ob es starke Worte gibt und ob sie uns solche sagen können. Denn freilich gibt es für sie noch eine Fülle starker Worte. Allein schon das Wort "stark" ist ein starkes Wort. Um wie viel mehr aber erst das Wort "Löwe", der stark sein kann, wann immer er will! Keiner bezwingt ihn, selbst wenn er sich auch nur auf seiner Stärke ausruht. Oder da sind die großen giftigen Schlangen, die 3 m lange Pythonschlange und die Drachen und vollends gar die Dinosaurier. Da hülfe auch nicht die Kraft eines Siegfried oder eines Amadis dagegen. "Gewiss hast du noch nie "Minotaurus, Dinosaurus!" gerufen", könnte da einer der Kleinen zu dir sagen, "sonst wüsstest du, was für eine Macht von solch einem Wort ausgeht." Umsonst, dass du den Kindern erklärst, dass man zwischen dem Wort als einer Bezeichnung und dem damit Bezeichneten zu unterscheiden habe. Mit dem Wort ist für das Kind bereits das Bild evoziert und damit sind auch schon die Konturen jenes Wesens umrissen, dem nichts standhält und das einem imponiert oder das man gar selber sein will. Freilich weiß es der aufgeklärte Mensch ein wenig besser; und auch Shakespeare spottet fleißig, wenn er (in Troilus und Cressida) der schönen Königin aufs Schönste allerschönste Grüße bestellen lässt. Und doch! Hat das Kind nicht auch ein wenig Recht? Warum sollen wir nicht von der Kunst Gebrauch machen, uns selber zu Hilfe zu kommen, warum auf den Glauben verzichten? Sind wir nicht oft genug an uns selber Zeuge geworden, dass ein einziges Wort, unbedacht und im Affekt herausgeschleudert, genügt, uns vor uns zu diskreditieren und uns eine erfolgreiche Arbeit für den Rest des Tages zu verbauen? Das Wort "gut" jedenfalls, so meint auch unser krankes Weibchen, sollten wir nur immer wieder fleißig gebrauchen. Es ist gut und tut gut, das Wort "gut" immer wieder zu gebrauchen. Wir sind nicht nur sicher, dass das Leben gut ist, wir sind auch sicher, dass es gut bleibt, wenn wir nur nicht vergessen, uns immer wieder laut vorzusagen, dass alles gut ist, wie es ist.
Nicht sich zu viel zumuten, sich nicht übernehmen, aber auch nichts versäumen, was einem hilft gegen den Vorwurf von Kälte und gemeiner Ichsucht! Immer schön die Balance halten, leicht und liebenswert, gütig lächelnd! Und wenn du einmal auf dem Weg durch die Wüste von schrecklichem Hunger und von noch schrecklicherem Durst gequält werden solltest und du siehst plötzlich vor dir einen Schatten spendenden Baum und unter dem Baum einen reich gedeckten Tisch: o dann pass auf, eh du Platz nimmst! - Sind das nicht hübsche Maximen?
Man täuscht sich vermutlich, wenn man glaubt, jene Zeiten der Menschenfresserei lägen endgültig hinter uns. Wenn es sich um elementare Dinge handelt wie Hunger und Durst, wäre nichts verkehrter als anzunehmen, dass nichts mehr in uns lebte, was sie nicht jederzeit wieder zu aktivieren vermöchte. Dabei brauchen wir noch nicht einmal auf die Kriegsjahre zurückzugreifen, noch auch auf die Nachkriegsjahre, wo man uns als Kindern einschärfte, uns nur ja gut, und das hieß, nicht allzu gierig an fremden Tischen zu benehmen. Auch wenn wir heutzutage zu Tisch gebeten werden, und wir haben ein paar Stunden zuvor nichts mehr gegessen und sind ein wenig hungrig, wird manches in uns wach und lebendig, was an den unermesslichen Wert des Essens erinnert. Man möchte am liebsten mit Jauchzen und Geschrei an den schön gedeckten Tisch stürmen, erzählte mir da ein Freund. Doch da heißt es, Anstand bewahren. Gerade da, wo unser Naturkostüm so elementar zum Vorschein kommt, gebietet uns die Kultur, besonders gut acht zu geben. Bei den Kleinen freilich, wo solche Reflexionen noch nicht möglich sind, zeigt sich der Naturtrieb in voller Stärke. Von den Kleinkindern wissen wir aus eigener Erfahrung, dass es kaum etwas Fürchterlicheres gibt, als wenn man sie an einen Tisch setzt, ohne sie prompt zu bedienen. Müssen sie auch nur ein paar Augenblicke warten, so beginnen sie zu schreien, als nahte der arktische Winter und über ganz Europa dräute eine Hungersnot und die Eltern trügen sich bereits mit dem Gedanken, die Kinder wie Hänsel und Gretel hinaus in den Wald zu schicken. Auch bei unsrem ansonsten hochkultivierten zweijährigen Enkel genügen schon ein paar Namen von Speisen oder Getränken, um ihn in schiere Verzweiflung zu bringen, wenn er sie dann nicht gleich vor sich sieht. Da wäre es eine Gemeinheit, ja das grenzte wohl schon an Sadismus, den jungen Herrn auch noch mit einem längeren Tischpsalm hinzuhalten. Spätestens wenn die Magensäfte zu strömen beginnen, sollte man es nicht an der entsprechenden, zügigen Bedienung fehlen lassen.
Wäre ich ein mit einer feinen Küche nebst Küchengeistern versehener Herr, sagen wir ein Rektor der Universität oder sonst ein edler Herr, der zuhause nichts anderes zu tun hat, als zum fein gedeckten Mittags- und Abendtisch nicht allzu unpünktlich zu erscheinen: wäre ich ein solcher Herr, so hätte mich wohl nie die Frage angewandelt, ob ich nicht auch dem Geschlecht der Menschenfresser angehöre. Und willst du, lieber Leser, einmal bei dir selber den Test machen, so versuch es! Versuch bei Tisch den ersten Bissen herauszuschieben. Zumal wenn von einer dir lieben und leckeren Speise nur so viel da ist, dass du den Eindruck hast, du könntest die heißbegehrte Speise mit einem einzigen Schluck verschlingen: so wirst du bemerken, wie schwer es dir fällt, dich hintanzustellen. Aber so ist das eben: Je länger man einen im Angesicht eines leckeren Gerichts warten lässt, umso gefährlicher wächst und steigt der Hunger, umso größere Vorsicht ist rund um den Tisch geboten. Was könnten wir nicht alles tun, wozu wären wir nicht fähig, wenn wir plötzlich merkten, dass man uns nur die Speisen zeigte, um uns verhungern zu lassen?
Selbst in der hochkultivierten Gesellschaft im Windsor Castle wird, wie ich mir unlängst sagen ließ, bei einem großen Bankett auf die Sekunde genau gleichzeitig mit der Bedienung aller Gäste begonnen. Eine von Rot auf Grün wechselnde kleine, nur den Eingeweihten bemerkbare Lampe zeigt den 100 oder 500 in den Startlöchern befindlichen Tellerdienern an, wann sie mit dem Auftragen der Speisen zu beginnen haben. Wer weiß, ob nicht sonst einer der königlichen Gäste in einer ihm selber bis dahin unbegreiflichen Unberechenbarkeit wie ein Tantalus auch noch seinen eigenen Sohn auffräße! Das wäre auch in einer königlichen Gesellschaft noch immer ein Skandal. Doch Spaß beiseite! Tischsitten und Regeln einzuhalten fällt an und für sich nicht schwer, wohl aber eben in besonderen Situationen. Hat dann aber endlich jeder etwas vor sich auf dem Teller und beginnt man allerseits zu essen, herrscht meist eine kurze gefräßige Stille. Jeder ist nun erst einmal damit beschäftigt, seinen leeren Magensack so gut und so schnell es nur geht, zufrieden zu stellen. Erst wenn dies geschehen ist, wenn man den Magen ordentlich beschäftigt weiß, kann man es sich etwas behaglicher machen. Jetzt kann auch das Tischgespräch beginnen, das ja ein Mahl erst zu einem wirklichen Gastmahl macht. Und ist es nicht auch schon bei unserem Säugling so! Lächelt er nicht seiner Mutter zu, wenn der erste Durst mit ein paar tüchtigen Schlucken aus Mutters Milchkästlein gestillt ist!
Mag sich der Hang zur Menschenfresserei für gewöhnlich auch nur selten zu Wort melden, zu unterschätzen ist er nie. Doch pass auf, wenn du zuhause ein krankes Weibchen hast, das lieb gefüttert sein will! Lerne nur gleich von Anfang an, dich hübsch artig zu gedulden. Das geht nicht von allein. Das will gelernt sein. Vielleicht, dass du für dich herausgefunden hast, dass du zwischen dem Zuführen der Speise immer auch dir wieder einen Happen in den Mund steckst. Natürlich ist der Happen dann längst nicht mehr so heiß, wie du ihn dir ersehnt hast. Doch du bist nicht verdrießlich darüber, jedenfalls möchtest du es nicht sein. Wenn es auch leichter wäre, erst nach der Krankenfütterung an sich zu denken, so wäre es doch ein wenig lieblos, wenn du es jetzt wie ein Kind im voraus essen ließest, wo du früher stets deine Wonne hattest, zusammen mit deinem Weibchen zu essen. Freilich, wie störanfällig ist ein solches Mahl! Und wenn dir auch mitunter einfällt, dass es die beiden Väter besser hatten, die von ihren Frauen stets alltäglich so fein und selbstverständlich bedient wurden, dass sie es schon nicht mehr merkten, so nimmst du es ihnen nicht übel. Du lässt es gelten, dass von ihnen bekannt ist, dass sie wie Paschas auf heiß serviertes Essen allerhöchsten Wert legten, auch wenn du mitunter schmunzelnd anmerken zu sollen vermeinst, eine kleine Paschapause hin und wieder hätte auch ihnen nicht schlecht getan.
Brisant wird es freilich, wenn plötzlich, nachdem du den Magensäften schon zu fließen gestattet hast, sich dir noch etwas Unvorhergesehenes in den Weg stellst. So etwas ist möglich, wenn z.B. dein Weibchen während der Mahlzeit sich verschluckt, worauf du mit der Sonde Abhilfe zu schaffen hast! Wehe, wenn auch nur ein winziges Stückchen Speise in die Lunge gerät! Das genügt, und die nächste Lungenentzündung steht an. Oder wenn dir dein Weibchen, kaum dass das Essen begonnen hat, vor Schwäche nicht weiter aufrecht sitzen kann! Oder wenn sonst noch etwas zu tun anfällt, z.B. ein Gang zur Toilette! Erst wenn keine dieser bösen Störungen mehr droht, wenn dein Weibchen nach drei oder vier wohlüberstandenen Gabelspitzen von Speisen Sättigung anmeldet und du es lieb aufs Sofa gelegt hast, ist Entwarnung gegeben. Dann endlich lässt du dir noch den Rest der Mahlzeit neben deinem Weibchen schmecken; und der Menschenfresser, der so bedrohlich Haupt und Tatzen aus seiner Hütte gestreckt hat, zieht sich in seine dunkle Höhle zurück. Die Gefahr ist gebannt, für diesmal herrschen rund um den Tisch Ruhe und Frieden.
Morgens, wenn er in den Kindergarten kommt, erwarten ihn die großen Mädchen. Mit seinen drei Jahren ist er einfach ein zu süßer Knopf, als dass man ihn nicht gern haben und umarmen müsste. Ja, sie mögen ihn, die großen Mädchen, die nun schon bald in die Schule kommen, wie sie ihre Puppen mögen oder auch wie ein Baby, das man ihnen einmal am Sonntag für ein paar Minuten zum Bemuttern gibt. Vielleicht haben sie auch schon Puppenhochzeit gespielt und nun mischt sich in ihr Verhalten probeweise auch schon ein wenig Zuneigung, wie sie eine Braut ihrem Bräutigam entgegenbringt. Er indes mag es nicht, wenn man sich ihm aufdrängt. Wo er es endlich geschafft hat, sich nun auch allein die Schuhe anzuziehen (das Nesteln fehlt leider noch), und den Mantel auf- und zuknöpfen! Da wäre es wie ein Rückfall in die Unselbständigkeit, ja wie ein Verrat an der Mannheit, wenn er es duldete, dass man sich seiner wie einer Puppe bemächtigte und ihn seiner Bewegungsfreiheit beraubte. Schon die verbalen Liebeserklärungen und flüchtigen Liebkosungen hasst er wie einen Prolog zu den Umarmungen der Sirenen. Ihm genügt, wenn man tut, was er will, und ihm gibt, was er sich wünscht. Leider aber geht nicht alles nach seinem Wunsch und so geschieht es häufig, dass der kleine Held am Nachmittag erschöpft nach Hause kommt, wo dann nicht gut Umgehen mit ihm ist. Er ist gleichsam noch am Repetieren der Lektionen vom frühen Morgen, die er noch nicht verdaut hat. Ah wie er sich da bei der kleinsten Kleinigkeit querstellt und sich sträubt! Und wie er da andauernd herausschreit: "Ich will nicht!" und "Lasst mich!" und "Ich mag nicht!", wenn man ihn zum Mittagessen auf seinen Stuhl setzt. Das verschafft seinen Eltern durchaus nicht nur glückliche Stunden.
Eines Morgens nun entschlossen sich seine Eltern, der Sache auf den Grund zu gehen. Auch wenn sie wussten, dass sie dem Jungen nichts würden abnehmen können, dass er selber und ganz allein den mühseligen Weg zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit hindurch müsste, so wollten sie sich nun doch gerne ein eigenes Bild machen. Und so verabschiedeten sie sich zwar im Eingang zum Kindergarten, blieben dann aber unbemerkt seitwärts stehen, worauf denn auch gleich eine der 5-jährigen Nymphen zum Vorschein kam. Sie hatte schon auf den Jungen gewartet und eilte nun herzu, ihn herzlich zu begrüßen und an sich zu drücken. Er indessen, schon darauf gefasst, schrie "Lass mich los!" und setzte sich zur Wehr, so gut er konnte, wobei er freilich gegenüber dem fast doppelt so alten und doppelt so großen Kind kaum eine Chance hatte. Endlich, der Lärm hatte ein paar Erzieherinnen auf den Plan gerufen, ließ das Mädchen den Jungen los. Es war die Sache von ein paar Augenblicken, dann war für die Erwachsenen alles geregelt. "Magst du mich nicht mehr?" fragte das Mädchen nun, bitter enttäuscht. So hatte es sich die Begrüßung allerdings nicht vorgestellt. "Nein, ich mag dich nicht mehr" versetzte er kurz und knapp und machte sich daran, sein Mäntelchen an der Garderobe aufzuhängen. Als er nun aber ins Zimmer wollte, zu den Autos und den anderen Spielsachen, hatte sich das verschmähte Mädchen breit vor die Türe gestellt. Einen letzten Versuch wollte es noch unternehmen. Wenn sich das Glück auch nicht freiwillig einstellte, vielleicht ließ es sich erzwingen! Der Junge freilich sah das ganz anders. "Lass mich!" schrie er, "lass mich durch!". Noch einmal bemächtigte sie sich seiner, diesmal unter Aufbietung aller Kräfte. Es dauerte nicht lange, bis er merkte, dass er mit seiner Gegenwehr nichts ausrichten würde. Und so begann er jetzt, aufs Allererbärmlichste zu weinen.
Dass wir uns doch so oft missverstehen oder auch missverstehen müssen, ehe wir uns verstehen! Was für eine Lektion bei dem Mädchen, dass ihre gewiss wohlgemeinte Liebe verschmäht wurde und in tödlichen Hass umschlagen musste! Und bei ihm, dass man erst etwas sein und vorstellen muss, ehe man gelassen zu reagieren vermag! Wie viel erscheint nicht als Täuschung in unserem Leben, nur weil wir es nicht verstehen!
Eltern, die wissen, dass ein zweites Geschwister nicht nur zur Freude des Erstgebornen auf die Welt kommt, geben sich Mühe, es zu keinen Liebeseinbußen und Eifersüchteleien kommen zu lassen. Wie es unsere beiden Jungeltern einfädelten, ihren dreijährigen Stammhalter mit seinem zwei Tage alten Bruder bekannt zu machen, mag die folgende Anekdote erzählen. Da nämlich der dreijährige Balthasar gern mit Autos spielt und er bereits so ziemlich alle Automarken kennt, die man auf unseren Straßen vorbeiflitzen sieht, so teilen sie ihm mit, als er aus dem Kindergarten kommt, dass sein Bruder jetzt nach Haus gekommen ist und dass er Erasmus heiße. Und indem sie ihm ein Spielauto in die Hand drücken, sagen sie, dieses Auto habe ihm Erasmus, sein Bruder, mitgebracht. Damit ist der Dreijährige herzlich zufrieden. Und als er ins Zimmer tritt und den Zweitgeborenen sieht, sagt er zu ihm: "Danke Erasmus, danke, dass du mir das Auto mitgebracht hast." Damit wäre nun also ein Anfang gemacht. Und als der Kleine kurz darauf zu weinen beginnt, sagt der große Bruder zu ihm: "Du musst doch nicht weinen. Ich bin doch da!" Mag denn die Brüderschaft nach solch einem Anfang hübsch weiter gedeihen!
Wie doch die Dinge erzählen! Keiner hört etwas und doch erzählt es der Tag dem Tag und die Nacht der Nacht, wie uns der Psalter versichert. Und so erzählen wohl auch die Dinge des Tages und die Dinge der Nacht weiter und halten eine Kunde lebendig, selbst auch dann noch, wenn keiner mehr davon weiß. Jetzt aber ist alles noch gut zu sehen und gut zu vernehmen, wenn ich nur die Augen öffne und die Ohren zur Verfügung stelle.
Gelbbraun oder honiggolden liegt es vor mir, dieses Löffele aus Plexiglas, als wollte es mir erzählen von jenen drei Tagen, als das Kind bei uns war und als ihm eine so bedeutende Rolle zukam. Selbstverständlich wissen die Hände des Kindes längst, dass man, wie fast alles Handliche und nicht zu Kleine, aus der Hand Herausragende in den Mund stecken kann; und sie tun es auch. Und schaust du zu und gibst ein wenig Acht, so werden dir auch die vergnüglichen Laute nicht entgehen, die es dabei ausstößt, zumal wenn es das Löffele auf die rechte Weise in den Mund gebracht hat. Wo Geschick und sicheres Vermögen noch fehlen, ist freilich immer auch etwas Glück im Spiel. Vergnügliche Laute kannst du hören, die dir etwas von diesem Glück erzählen! Kommt aber der Glücksfall nicht zustande, so ist deshalb noch lange kein Grund zum Verzweifeln. Wie reichhaltig ist doch die Welt, wie mannigfaltig sind die Spiele, die man mit einem solchen Löffele vornehmen kann, wie wunderbar alle die mit Erkenntnissen beglückenden unsichtbaren Wesen, die sich hinter diesen Spielen zu regen und näher zu kommen scheinen. Wenn da das Löffele also z.B. mit der Längs- und Halteseite verkehrt in den Mund hinein gerät, so gibt es neben der Stofferkundung immer auch etwas für die beiden Schneidezähnchen im Unterkiefer zu tun. (Wie wir hörten, werden sie jetzt morgens mit einem Zahnbürstchen geputzt!) In diesen Fällen haben wir freilich stets ein besonderes Auge darauf, dass das Ende den Äuglein nicht zu nahe kommt; doch eigentlich ist die Gefahr nicht groß, wenn man das Kind nur ruhig machen lässt; denn ataktische Bewegungen kommen längst nicht mehr vor.
Und doch! Was für ein weit darüber hinaus reichender Genuss, sich das Löffele selber auf die rechte Weise, das heißt als Speisebringer in den Mund zu schieben, wie es ansonsten die Mama tut, wenn sie die seit kurzem begonnene Breichenfütterung vornimmt, selbst auch, wenn noch keine Speise darauf liegt! "Seht doch", so könnte uns da der jauchzende Triumphgesang mitteilen, "seht doch, wie ich schon ganz alleine essen kann. Jetzt gehöre ich ja doch auch schon zur Runde der Großen! Und wartet nur ab, das dauert nicht mehr lange, dann bin ich auch bei euren Symposien mit dabei!" Das schließt aber noch nicht aus, dass es sich auch jetzt noch geduldig füttern lässt, wie die Freudenjauchzer signalisieren, die es bei der Fütterung ausstößt. Die Töne sollen fürs Erste nur signalisieren, dass es schmeckt und dass man schon auf das nächste Löffele wartet. Mit zunehmender Sättigung können sie dann aber auch eine Art kulturelles Interesse bekunden, und mithin auch die Lust, nebenbei etwas Unterhaltsames zu beginnen.
Halten wir hier immerhin fest, dass den Kindern schon sehr schnell kaum etwas wichtiger ist, als alles in eigener Regie zu besorgen. Gefüttert zu werden ist nur erlaubt, solange es noch nicht anders geht. Kann man aber selber essen, dann kommt eine Fütterung schon fast einer Demütigung und Entmündigung gleich. Dass das Kind das Löffele bereits als Essgerät kennt und von anderen Gegenständen zu unterscheiden vermag, davon dürfen wir wohl ausgehen. Schon lange bekommt es ja seine Aufbautröpfchen mit dem Löffele eingeflößt und seit kurzem, wie schon erwähnt, auch mittags und abends seine leckeren Breichen.
Oftmals, wenn das Löffele, wie meist, mit der rechten Hand erfasst worden, kommt die linke Hand hinzu, die es dann übernimmt. Wenn man auch nicht sagen kann, dass die rechte Hand der linken Hand das Löffele übergibt, so trifft doch zu, dass sie es ihr überlässt. Probiere nur selber, ob du deine Hand so ins Spiel zu bringen vermagst, dass dir das Kind das Löffele überlässt, und du wirst bemerken, dass das freiwillige Abgeben noch überhaupt nicht im Vermögen des Kindes liegt! Was das Kind einmal in der Hand hat, das hat es auch fest in der Hand. Es ist ja noch gar nicht in der Lage, willentlich die Hand zu öffnen. Ein Überlassen der Beute, selbst an den heißgeliebten Großvater, ist noch fern von allen Spielzügen, bis auf die Ausnahme der beiden aufeinander eingespielten Hände des Kindes. Wenn das Kind auch noch nicht wissen mag, dass ihm die beiden Hände gehören, bei diesen Handlungen ist ihnen gleichwohl längst das Zusammenspiel vertraut. Ein wunderbares großartiges Schauspiel muss es doch sein, wenn das Kind seinen beiden Händen zuschaut, was die da alles in Gang setzen!
Man mag sich fragen, ja man mag es sogar bezweifeln, dass der Mensch jemals wieder ein so großer Theaterregisseur und Musikdirigent sein wird wie in diesen frühen Tagen der Kindheit. Zumal in Sachen Musik weiß es sich jeden Tag neue, großartige Opern zu inszenieren. Alles hat mit Musik zu tun und alles ist voller Musik, fast als wären noch immer die Engel zu hören, die das Geburtslied singen. Auch wenn sich unser Kind nur erst in Ansätzen von uns Menschen angesprochen weiß - durch erregte Körperbewegung z.B.; es kann ja noch nicht verbal antworten! -, so hat es doch bereits ein ganz vorzügliches und wunderbares Ohr für die unverwechselbaren Eigenfrequenzen der Dinge, zumal der Mama und des Papas, wie auch der Rufe und Geräusche von draußen, oder für die Töne einer Kaffeetasse oder eines Tellers, oder für die Stimme des Großvaters aus dem abendlichen Telefon. Wenn unsere Romantiker vom Zauberwort sprechen, das aufgefunden und gesagt werden muss, um die Welt zum Singen zu bringen, so gehört ein solches Zauberwort als Zauberhandlung längst zum sicheren Besitz des Kindes. Reich ihm nur das Löffele, lass es dieses als Schlegel in die Hand nehmen! Wenn es dann gegen die Gegenstände klopft, tun sich ihm Türen auf und geheime Stimmen geben ihm Antwort!
Nun lässt sich mit dem Löffele als Werkzeug freilich prinzipiell auch ein Gegenstand, der etwas außerhalb der Reichweite der Arme auf dem Tisch liegt, herbeiholen, wie bei den Primaten im Urwald, wenn sie mit Stöckchen Honig aus Baumlöchern holen. Diesbezüglich hatten wir indes noch kein Glück, wiewohl prinzipiell solches Tun wohl schon ins Repertoire unseres Kindes gehört, etwa wenn es eine Decke zu sich zieht, auf dem das Löffele liegt. Man darf wohl nicht vergessen, dass ein umfassendes Hantieren mit dem Werkzeug noch eine Menge Geschicklichkeit und mithin Übung erfordert. Vornehmlich aber auch, dass ein solcher Gegenstand dem Kind attraktiv erscheinen muss. Denn warum soll etwas so Köstliches wie das Löffele als Mittel zum Zweck herabgewürdigt werden, wenn kein anderes Objekt so begehrenswert ist? Bei genauerem Hinsehen kann uns freilich nicht entgehen, dass die Ansätze zweckgerichteten Verhaltens noch deutlich verkoppelt sind mit Erfahrungen empirischer Zusammenhänge und mit erlernten Konditionierungen. So mutet es einen an, als hätte das Kind bereits die Invarianz der Summe der Objekte begriffen, wenn es, wie fast regelmäßig beim Herabfallen unseres Löffeles vom Tisch, sich vom Schoß weg zur Seite lehnt und auf den Zimmerboden herabschaut, fast als wollte es sagen: "Irgendwo muss es ja doch geblieben sein. Such nur mal tüchtig da drunten!"
Es mag einerseits ungemütlich sein, in einer Welt zu leben, wo man noch nicht so recht weiß, was möglich ist und was nicht; andererseits gäben doch auch wir überweis gewordenen Alten etwas darum, weniger zu wissen. Damit möchte ich noch auf einen Versuch zu sprechen kommen, den Elisabeths Mutter beobachtet und mir anvertraut hat. Da lag das Kind denn bäuchlings auf dem Boden beim Spielen; das Schicksal wollte es nun, dass das Spielzeug, sagen wir unser liebes, goldbraunes Löffele, aus dem Spielfeld rutschte und nun ein Zurückholen angesagt war. Die Mutter war zwar zugegen; doch alles nur durch die Mama besorgen zu lassen, ist nicht das Kennzeichen eines Helden oder einer Heldin. Nun wird der mit Kindern nicht sonderlich vertraute Leser meinen, ja da läuft man eben hin und liest es auf; oder, wenn man noch nicht gehen kann, so krabbelt oder robbt man eben dahin. Das alles ist leichter gesagt als getan. Denn auch Krabbeln, vornehmlich der Umgang mit den Beinchen, den Füßchen und den Knien will gelernt sein. Und wenn es das zwar auch bald geschafft hat, wie eine Sequenz belegt, die der Papa des Kindes beim Besuch festgehalten, so klappt das eben doch nur erst in Ansätzen. Bei besagtem Rückholversuch griff das Kind nun aber auf eine andere, bereits erwähnte Strategie zurück. Und wenn sie sich dem Kind auch längst als unbrauchbar erwiesen, so scheint die Mama doch, fern aller Vorstellung von einem Anachronismus oder einem Atavismus, ihre Freude dabei gehabt zu haben. Da lag es nun also auf dem Bauch und sang seinem Löffele zu, als wollte es dasselbe dazu ermuntern, zu ihm zurückzukehren. Mag sein, dass wir an Stelle des Kindes trotzig reagiert hätten und frustriert gewesen wären. Selbstverständlich ist auch ein Kind in der Lage, Zeichen der Enttäuschung von sich zu geben und unwillig zu werden, wenn es ein Ziel nicht erreicht, auch wenn es in seiner Welt noch kein Wissen darüber gibt, dass eine fest erlernte und sicher ausgeführte Handlung zu einem erwünschten Ziel führen muss. Oftmals ist es aber auch so, dass es auf der Suche nach etwas Bekanntem von einem anderen ihm noch unbekannten Phänomen abgelenkt wird, dem es sich nun zuwendet. Seine Welt ist noch keine Welt, die zu funktionieren hat, vielmehr ist es eine Welt, die voll ist von Geheimnissen, die alle erforscht und erkundet sein wollen. Tränchen gibt es in dieser Welt freilich schon zu Hauf. Glück und Unglück, Erfolg und Erfolglosigkeit: in wie rascher Folge wechseln sie doch ab. Ja, da kann man schon auch manches Mal müde werden und zu weinen beginnen. Oder Hunger macht sich bemerkbar und fordert sein Recht.
Nun, wo die Besuchstage vorbei sind und das Kind wieder zu Hause ist, ist das Löffele allein beim Großvater zurückgeblieben. Und fast, als hätte es bemerkt, dass es nun allen seinen Reiz und Charme verloren, nachdem es seine liebe Freundin verlassen, ja, als ob ihm etwas sehr Liebes und Kostbares verloren gegangen wäre, schaut es mich an, dass ich es am liebsten zu mir nähme, um es ein wenig zu trösten.
Die letzten Hinterlassenschaften und Erinnerungsstücke wären nun wieder versorgt: das Bettchen zumal, das so lieb im Esszimmer gestanden, wie auch der Schlitten, auf dem wir zuerst einmal im Wohnzimmer das Schlittenfahren eingeübt hatten, ehe wir unser Können draußen im tiefen Schnee umsetzten. Das Püppchen sodann sitzt auch wieder hoch oben im Regal bei den Büchern und wartet auf den nächsten Besuch. Und auch die diversen Spielsachen , wie die Trommel und die Papptrompeten, die wir doch so gut zum Kameradenmarsch gebrauchen konnten, die Büchsen und Tassen mit ihren so mannigfach verwendbaren Bewohnern wie den Schweinchen, dem Esel und den beiden Schlümpfen, die man zum Umgießen, aber auch zum Anstecken auf die Finger und zum Theaterspiel verwenden kann, sind in ihre Kästen und Nischen zurückgekehrt. Noch sind sie wie in einem Märchenschlaf befangen. Bald aber, in zwei bis drei Wochen vielleicht schon, werden sie erwachen und zu reden beginnen. Oder blitzt ihnen nicht jetzt schon dann und wann ein Feuer aus den Augen, wie sie nur darauf warten, aus ihren Verstecken zu steigen? Nur das große Spielauto, das mit Tatütata durch die gesamte Wohnung geschoben wurde und das dabei so herrlich Krach machte, dass selbst der Kuckuck und der Esel ihren Streitgesang unterbrachen, steht noch im Esszimmer an der Wand, unterhalb von Mütterchens Bild, als wäre es eben daselbst zum Halten gekommen. Die fünf langen, quaderförmigen Klötze, die wir zusammen mit einer Korkplatte vom Esstisch so gut zum Aufbau eines Zuges von Freiburg nach Nürnberg und wieder zurück gebrauchen konnten, befinden sich auf der Ladefläche des Autos und träumen vor sich hin, was für eine tolle Sache doch das Reisen ist. Da stehen sie also noch, als Auto und Zug übereinander geparkt, nicht weil der Großvater noch keine Zeit gefunden hätte, sie wegzuräumen, sondern weil es allerliebst ist, immer wenn er dort vorbeikommt, auf das kleine Andenken zu treffen. Vielleicht, dass auch sie sich alsbald schon wieder bemerkbar machen wie der Schlitten, der bereits in einem von Großvaters Träumen zusammen mit Elisabeth vorgekommen. Und selbstverständlich sind auch noch die beiden Fotos, die der Papa von Aiai und von Elisabeth, seinem Sabbele, geschickt hat, über der Kommode vom Tisch aus gut zu sehen. Kleinere Überraschungen ergänzen indessen das Bild. So fand ich gestern in einem vollgeschriebenen Tagesheft aus dem letzten Jahr auf der Eingangsseite das Einpackpapierchen eines Bouillonwürfels, das Elisabeth dahinein versteckt hat. Ich brachte es nicht übers Herz, es wieder heraus zu nehmen und in den Korb für Abfälle zu tragen. Mag es im Tagesheft bleiben.
Was für eine Welt ist es doch, in der wir leben! Wie scheinen uns viele Dinge, wenn sie auf uns zukommen, so bedeutend und erheblich, und sind im Nachhinein gleich wieder vergessen, als wären sie nie gewesen! Andere hingegen, scheinen so nebensächlich und unerheblich unter unseren Augen, während sie wert wären, in ewig fester Erinnerung zu bleiben! Für die, die es nicht wissen oder noch nicht erraten haben, füge ich noch hinzu, dass Elisabeth ein Jahr und 7 Monate alt ist und dass man sie jetzt wieder bei ihren lieben Eltern und ihrem drei Monate alten Bruder in Nürnberg findet.
Was für ein Spiel, das die ganz Kleinen da bereits mitzuspielen beginnen, sobald sie nur erst auf ihren zwei Beinen davon zu watscheln vermögen! Spielen da die Großen die Verfolger und Jäger, so sind die Kleinen die Gejagten. "Wart, ich fang dich jetzt!" so eröffnen meist die Mütter oder die Väter das Spiel, ohne sich dabei aber noch von der Stelle zu rühren. Das ist dann das Zeichen, dass die Kleinen nur so davonrennen. Wie um ihr Leben stieben sie dann davon und Freudenjauchzer entsteigen ihren Kehlen. Hat man dann aber die Verfolgung aufgenommen und sie schauen sich um - es genügt meist, dass sie den Schatten der Verfolger neben sich sehen oder den Atem hören -, so kann man durchaus bemerken, wie zwar die Füßchen noch weiterrennen, die kleinen Gejagten sich aber bereits auf den Augenblick der Festnahme gefasst machen. Ja, wenn du dann schon wie ein Adler über ihnen schwebst, sie zur Beute zu machen, dann spürst du, wie sie nur noch den Augenblick herbeisehnen, wo sie, endlich gefangen genommen, nichts weiter mehr zu tun haben, als sich fallen zu lassen: dass man als Eltern alle Mühe hat, sie vor einem Sturz zu bewahren. Schauen nun aber auch wir leise hinter uns, wie die Kleinen hinter sich schauen, so kann es durchaus sein, dass uns ist, als ob wir das Schicksal wahrnähmen, das ein ähnliches Spiel mit uns spielt. Versuch es nur, dich für ein Weilchen dem Lärm des Alltags zu entziehen! Versuch es, dich für ein Weilchen der Ruhe hinzugeben! Da kann es durchaus sein, dass du etwas hinter dir bemerkst, ohne doch etwas zu sehen. Wie ein kurzatmiges, gedrängtes Schnaufen, dem Hecheln eines Hundes ähnlich dringt es in die Ohren, dass du zuerst unsicher bist, ob du nicht selber es erzeugst. Rasch wendest du dich abermals um, als ob man dich schon bis auf Anschlag eingeholt hätte. Und doch, wenn auch für dieses Mal und auch für die nächsten Male alles noch gut geht, so nimmst du doch dieses mit, dass es Zeit wird, dass etwas geschieht. Rennen musst du, wie die Kinder rennen, und froh sein, wenn du dich einmal, gefangen genommen, deinen Fängern überlassen kannst.
Wenn es auch anfangs etwas schwergefallen sein mag, dieses wunderliche Opa-Dasein, da es einen bei allem Vergnügen am emporsprießenden Nachwuchs zugleich auch daran erinnert, dass einem von nun an ein Rang in den obersten und kältesten Regionen des Lebens zukommt, so gibt es inzwischen doch auch so manches, was über alles das den Schein einer versöhnlichen Heiterkeit verbreitet. Damit aber wären wir bei den grünen Gummistiefelchen, die das Ende einer langen Reihe von Schuhen bilden, welche am Eingang neben der Haustüre stehen. Schön geordnet, schon seit alters stehen sie dort, so wie sie tages- und jahreszeitlich benötigt werden. Den Anfang machen die großen Wanderstiefel, die noch meinem Vater gehörten. Man sieht es den Schuhen noch an, dass sich der Großvater Mühe gegeben hat, sich fürs Alter noch etwas Brauchbares und Beständiges zu besorgen, denn wiewohl nun auch ich sie bereits zu vielen Wanderungen angezogen habe, wirken sie mit ihrem schmiegsamen hellbraunen Leder noch immer neu und frisch. Jeden Montag, wenn ich mich mit meinen Studenten auf Exkursion begebe, sind sie mit dabei. Dann folgen die Halbschuhe beiderlei Geschlechts, für die Sonn- und Werkeltage. Und endlich sind da noch die Hausschuhe, für uns selber wie auch für die ins Haus tretende Gäste. Seit nun aber der Enkel an Pfingsten zu Besuch da war und wir es uns nicht haben nehmen lassen, trotz des Regenwetters tüchtig an den Wiesen vorbei zum Bach zu stapfen, endet die Galerie der Schuhe mit einem Paar grüner Gummistiefelchen. Sie standen noch draußen auf der Veranda zum Trocknen, sodass die Eltern im Eifer der Abreise vergaßen, sie wieder einzupacken. Nun also bilden sie das stolze Ende einer Reihe von Schuhen und warten darauf, bis der kleine Wanderer wiederkommt. Und das ist gut so. Schließlich gehören auch die Kleinen mit zum Volk der Geher, denen es bestimmt ist, in die Welt hinaus zu wandern.
Kaum eine Tätigkeit gibt es, die uns die Landschaften unserer Seele so zum Vorschein bringt wie das Reisen, zumal wenn es sich um die ersten Reisen unseres Lebens handelt. Und wenn uns auch viele der späteren Reisen, als Forschungs- und Entdeckungsreisen, mit allerlei Besonderheiten und Eigentümlichkeiten, mit kulturellen Sehenswürdigkeiten oder mit naturgeschichtlichen Hinterlassenschaften überraschen, so überdecken sie doch nur meist, dass alle Reisen vornehmlich dazu wie geschaffen sind, den Sinn des Lebens zu offenbaren. All unser Dasein ist ja von Ankunft und Abschied durchzogen, von der Herrlichkeit und Süße nach großer Erwartung, aber auch von Herbe und Schmerz, wenn die Tage vorbei sind.
Wie schön war es doch stets, die Großeltern zu besuchen. Wie erhebend, wenn man zusammen mit den Eltern, und etwas später dann, wenn man allein im Zug in die Ferien fahren durfte! Allein, als Welteroberer, mit einer eigenen Fahrkarte. Wenn dann der erste Teil der Fahrt vorbei war, wenn man bereits umgestiegen war und nun der Zug den Fluss erreichte, den es nun nur noch auf der Ufertrasse hinauf zu fahren galt, um den Ort zu erreichen, wo die Großeltern wohnten: da war einem nicht anders, als bräche man sich Bahn in eine neue Welt. Was für ein Erlebnis, im fahrenden Zug sich immer wieder einmal zum Fenster hinaus zu lehnen, um den Blick frei zu haben auf die Lokomotive, wie sie ihre Rauchwolken ausstieß über die hinter ihr eingespannten Wagen, gleichsam als bahnte sie ihnen den Weg! Oder wenn man auf den Fluss hinab sah mit seinen Uferstreifen und Auen und den Kähnen und Lastschiffen zuschaute, wie sie sich langsam dahin bewegten, bald an Schleusen wartend, bald vor Fähren passierend, und wenn man sich dann wieder dem Zug zuwandte, wie er flussaufwärts, alles das hinter sich lassend, die Buchten durcheilte, und man die Pfiffe hörte, ehe er in ein dunkles Tunnel einbog. Und dann waren wieder diese Pfiffe zu hören, wenn es wieder hell wurde und man ins Tageslicht hinaus fuhr: rätselhaft und beklemmend, ehe es Nacht wurde, und dann wieder nicht minder unausdeutbar, ehe es wieder Tag ward. Endlich aber kam man dem Ziel nahe. Vielleicht, dass man es auf der Uhr ablas, vielleicht dass es einem der Schaffner sagte, vielleicht aber, dass man es auch schon erkannte, wenn draußen das Gelände bekannter wurde und bekannter, und jetzt nur noch ein paar Weiler waren und Winkel bis zum Ziel. Endlich war es soweit, dass der Zug langsamer wurde und anhielt. Was für ein Glück, was für ein Triumph, wenn man nun ausstieg, vermutlich mit einem kleinen Bündel Gepäck und einem Gruß an die Großeltern, die einen auch gleich entdeckt hatten und auf einen zukamen, um einen in Empfang zu nehmen. Hätte einer damals ein Foto von einem gemacht, so hätte neben den Großeltern unbedingt auch noch ein Stück vom Zug zu sehen sein müsse. Vielleicht der Wagen, in dem man gesessen, oder, noch besser, ein Bild zusammen mit der Lokomotive. Sie war es ja gewesen, die sich die ganze Zeit über in stillem Einvernehmen mit einem befunden. Sie war es, die sich um dieses Zieles willen auf den Weg gemacht und die Wägen hinter sich her gezogen hatte und die es nun geschafft hatte! Man hätte sie streicheln mögen wie ein treues Pferd, mit ihren 1000 Pferdestärken. Und verließ man dann das Bahnhofsgelände und schritt auf das Haus der Großeltern zu, so überkam einen nicht selten das Gefühl, als seien selbst das Gras am Weg und die Blumen am Feldrain neugierig geworden, vom Ankömmling zu erfahren, woher er kam und was ihn hierher gebracht hatte.
Jahre später, plötzlich und unvorbereitet, kam dann die Zeit, wo sich Szenen des Abschieds in den Vordergrund drängten und sich ins Gedächtnis eingruben, damals als die Großeltern starben und noch später dann beim Tod der Eltern. Doch still! Still! Nichts weiter von jenen, mit tausend Spitzen gespickten, schmiedeeisernen Toren, hinter denen das Land ohne Wiederkehr beginnt. Zu hoch sind sie, als dass man sie überschaut oder überklettert! Geh nie aus dem Haus, als gäbe es kein Ziel mehr und du wolltest nie mehr umkehren! Warte nie auf den Tod und suche ihn nie auf! Schau aus nach der Ankunft! Werde wieder zum Kind!
In der Tat. Nun werden wir selber schon vom ersten Enkel besucht und alles scheint wieder von vorn zu beginnen. Herrlich sind ja gewiss schon die Fahrten, die ihn zu uns bringen, wenn sie heute zumeist auch mit dem Auto geschehen. Und wenn er auch noch nicht ganz als unabhängiger und freier Held zu erscheinen vermag, so strahlt er doch schon wie ein Held, wenn er das Haus betritt! Doch freilich zeigt sich dann auch schon etwas Mühsal, wenn es wieder nach Hause geht. Natürlich würde er es bei Oma und Opa noch lange aushalten, allerdings nur unter der Bedingung, dass auch die Eltern zugegen wären. Kaum aber, dass er merkt, dass das Auto gepackt und reisefertig gemacht wird, ist er nicht mehr zu halten. Da will er möglichst dicht beim Auto mit dabei sein. Und wehe, wenn ihn einer davon abhält! Da weint er und schreit und rennt zur Türe und versucht die Klinke herunter zu drücken, um hinaus zu eilen. Ein zur Beruhigung zurückgelassenes Elternteil genügt ihm da bei weitem nicht. Beide Eltern muss er bei sich haben. Wie auch sollte er sich in Augenblicken höchster seelischer Anspannung und herzzerreißender Ängste daran erinnern, dass die lieben Eltern nie ohne ihn abführen! Wie auch sollte er auch nur zu einem einzigen vernünftigen Gedanken fähig sein, wo er im Ozean der Angst zu ertrinken droht. Er weiß ja noch nichts vom Packen und von all den damit verbundenen Besorgungen, die getätigt sein wollen, ehe man mit dem Auto davonfahren kann. Noch nicht einmal, dass das Auto von Menschenhand in Bewegung gesetzt wird, weiß er. Was also, wenn das Auto plötzlich mit den Eltern davonfährt und man ist nicht dabei? Genügt da nicht schon ein Augenblick der Unachtsamkeit und man hat das Nachsehen für immer? Lebt und spielt der Junge vielleicht nicht gerade deshalb Tag für Tag mit seinen Autos, fährt sie und parkt sie und lässt sie alles nur Erdenkbare machen, nur um allem dem, mitsamt dem Kommen und Gehen und Verschwinden auf die Spur zu kommen? Und hat er nicht erst vor einer Woche die Entdeckung gemacht, warum eines von den vier Windrädern auf dem Berg oberhalb des großelterlichen Hauses sich nicht mehr bewegte: weil nämlich ein Auto daran gefahren sein müsse und es so zu einem Stau gekommen sei? - "Tschüss Opa, Tschüss Oma!" sagt er dann, nicht wenig erleichtert, wenn er im Auto sitzt und dann alles so weit ist. "Tschüss Opa, Tschüss Oma!" und seufzt noch einmal tief auf. Jetzt endlich muss er sich keine Sorgen mehr machen. "Tschüss, Opa, Tschüss Oma, ich komm bald wieder!" ruft er noch einmal, während das Papa-Mama-Auto ihn mitsamt seinen Eltern davonträgt.
Wie ganz anders gestalten sich die Reisen, die du gegen Ende eines Lebens dir noch vornimmst! Vielleicht ist dir dein liebes Weibchen schon seit ein paar Jahren entrissen, und nun bist du eben dabei, eines deiner Enkelkinder zu dir nach Haus zu holen. Freilich fährst du nicht ohne Interesse ab, zumal du neugierig bist auf die sprachliche Entwicklung des eineinhalbjährigen Kindes, das du nun für zwei Wochen zu dir nach Hause holst, um sie möglichst produktiv mit dem Kind zu verbringen; doch was ist das für ein Zuhause, in welches du das Kind bringst?
Wie ist doch alles ganz anders geworden in den wenigen Jahren. Und während dich der Bus von Zuhause davonfährt und das Haus dunkel und leer zurückbleibt, bleibt dir nur die Hoffnung, dass es nicht wieder ausgeraubt ist, wenn du zurückkommst; kalt wird es vermutlich ohnehin sein, da dich die Heizungsfirma übel im Stich gelassen. Nein, dieses Haus, das einmal euer Haus war, ist längst nicht mehr dein Haus. Zwar wird es noch von dir bewohnt, aber doch nur so, wie ein Untermieter, dem man bereits gekündigt hat, noch eine Räumlichkeit bewohnt. Und während es so hinter dir verschwindet, fällt dir ein Satz ein aus einer uralten Schrift: Es gibt eine Zeit, in der man ein Haus baut; aber es gibt auch eine Zeit, in der man ein Haus wieder verlässt. Und ebenso scheint dir das Haus zurückzubleiben, während du es jetzt aus den Augen verlierst.
Noch sehe ich meinen Vater, "den Großvater", wie er dasaß mit unseren Kleinen und ihnen aus den Kinderbüchern vorlas, die er mit ihren bunt bebilderten Umschlagdeckeln an einem besonderen, leicht für sie sichtbaren und zugänglichen Ort in seiner großen Bibliothek stehen hatte. Vornehmlich bei Besuchen an Festtagen war das so. Niemand war sonst mit dabei. Er pflegte dies gerne so zu halten, dass er die Enkel, wenn die Frauen in der Küche mit der Zubereitung des Mittagsmahles beschäftigt waren, mit sich nahm, um dann eines dieser Bücher aus dem Regal zu nehmen und es hier, an einem ungestörten Plätzchen, mit ihnen zu studieren. Unter diesen seinen Büchern war ein Buch bei den Kleinen besonders beliebt: die kleine Lok. Das war ein Fahrzeug, so recht nach dem Geschmack der Kinder. Mit ihr konnte man, wann immer man wollte, in die Welt hinaus fahren. Keine Bahnhofsuhr schwebte da über einem, die achtgab, dass der Fahrplan eingehalten würde; kein Kartenschalter, wo man ein Billet zu kaufen hatte, kein Kontrolleur, der alles überprüfte- Statt gleich im zarten Kindesalter die Lektion zu erlernen, dass du pünktlich zu sein hast und dich den Ordnungen zu fügen, war es die kleine Lok selber, die da geduldig in ihrem Schuppen auf die Kinder wartete, um einmal wieder in die weite Welt hinaus zu fahren. "Eile mit Weile!" mag über jenem Schuppen als Sinnspruch gestanden haben. Auf jeden Fall war sie eine kleine Maschine, die es sich nicht nehmen ließ, auch wenn man sie ausgemustert und pensioniert hatte, sich ab und zu noch einmal in die weite Welt hinaus zu wagen. Versteht sich, dass sie dazu nicht das große Schienennetz benutzte, wo sie immer wieder hätte aufpassen und Platz machen müssen. Auf stillgelegten Nebengleisen bewegte sie sich dahin, ungestört und hellhörig, ja neugierig auf die Wünsche der Kinder, um bald anzuhalten und sich umzusehen, bald wieder weiter zu fahren, wie es den Fahrgästen gefiel.
Großvater war stets angetan, wenn er den Kleinen vorlas. Es tat ihm gut, mit so andächtigen Zuhörern und kompetenten Mitreisenden die Reise in die Welt hinaus anzutreten: sie, indem sie von vielem Neuen hörten und es sich einbildeten, er aber, indem er Gelegenheit bekam, manches, was er erlebt hatte, humorvoll zu repetieren und, wer mochte es wissen, da und dort auch zu revidieren. Und freilich ließ man sich dann auch die Bilder, die man im Buch zu sehen bekam, zur Inspiration dienen, ehe man sie sich zur fachmännischen Beurteilung ansah. Schon das Bild der kleinen Lok auf dem Umschlag war des Ansehens wert. Wie sie dastand und abwartete! Gut möglich, dass der Großvater erst selber ein paar Rauchwolken in die Luft hinausstieß, ehe es ihm dann die kleine Lok nachtat und in die Welt hinausfuhr. Denn der Großvater war ein leidenschaftlicher Raucher vor dem Herrn, der die Erzeugung von Rauchwolken ebenso gut mit der Pfeife beherrschte wie mit einer Zigarre oder, wenn denn sonst nichts zur Hand war, auch einmal mit einer Zigarette. War man dann aber erst einmal in Fahrt, so fuhr man nicht nur mit ihr dahin, man lenkte sie und steuerte sie auch. Leise konnte man ihr sagen, wohin man gern führe und was man gern alles besichtigt hätte. Und wenn mal irgendwo und irgendwann eine Gefahr lauerte, so hielt man den Atem an, oder, wenn eine Reparatur nötig war, so hieß man sie stille halten und setzte sie in Stand, ehe man die Fahrt fortsetzte. Alle Fahrten waren Probefahrten und Erprobungsfahrten und als solche nichts weniger als ernstzunehmende Expeditionen.
Ja, da wärst wohl auch du, lieber Leser, bei der Reisegruppe dabei gewesen; und wenn du auch nicht viel auf romantische oder nostalgische Gefühle geben magst, so hätte wohl auch dir sich die Frage aufgedrängt, ob sich die Perfektionierung und Automatisierung unseres Lebens auszahlt, die uns zwar das Leben schneller macht, uns selber aber auf eine kaum absehbare Weise in neue Abhängigkeiten verwickelt und verstrickt.
Auch Mütterchen erinnert sich übrigens an Kinderbücher, die an den hochheiligen Festtagen zur gemeinsamen Lektüre anstanden, wobei es auch dort nicht an Rauchwolken fehlte und an wärmenden Getränken. Zumal in den Weihnachtstagen war es "das große Högfeldbuch", das sich immer wieder der Vorlesung erfreute. Während man mit der kleinen Lok die Welt außer Hauses kennen lernte, die Natur mit ihren Bergen, Seen und Ländern, zeichnete sich das Högfeldbuch dadurch aus, dass es vornehmlich den Blick ins Innere des Hauses richtete, zumal ins Innere eines kinderreichen Haushalts, wo es dann viele, den Kindern bereits mehr oder minder bekannte Szenen auf höchst abwechslungsreiche, humorvolle Weise zur Anschauung darbot. Neben idyllischen Szenen friedvoller Bescherung unter dem Christbaum waren da durchaus auch tumultartige Szenen zu bestaunen. Etwa, wie der Herr Vater hinter seinem Sohn her war, der etwas von des Vaters Teller stibitzt hatte. Oder da war dann gleich die gesamte Kinderschar zu sehen, die von der väterlichen Gewalt verfolgt um den Esstisch herumjagte. Zumal für die ganz Kleinen war es so recht dazu angetan, Bedeutungen zu erlernen. "Zeig mal, wie das ist, wenn du böse bist! Ja sei so gut, sei bitte mal böse!" forderte mich denn auch mal der eigene Herr Sohn auf, als er etwa vier Jahre alt war und durchaus wissen wollte, was es mit dem Bösen auf sich hatte.
Wenn es uns hier freilich auch nicht darauf ankommt, die Gesamtheit aller Kinderbücher zu klassifizieren, so hat der Leser doch wohl schon entdeckt, dass es sich bei diesem Buch um einen ganz anderen Buchtyp handelt als bei der kleinen Lok. Nicht nur, dass das Högfeldbuch um eine Generation älter war als die kleine Lok, auch der Themenkatalog bzw. der Schwerpunkt der Lernziele war da ein anderer. Wird bei der kleinen Lok das Hänschen-klein lebendig, das es gelüstet, die weite Welt kennen zu lernen mit all ihren Wundern und gefährlichen Abenteuern, so ist es beim Högfeldbuch das gesellschaftliche Milieu, sei es im engeren Kreis der Familie, sei es in der Gesellschaft, das im Vordergrund steht. Ähnlich wie beim Struwwelpeter ist im Högfeldbuch auch die pädagogische Belehrung lebendig, es zeigt aber zugleich auch aufklärerische Tendenzen, die zum Lachen anregen. Sind die Kleinen, die Kindergartenkinder, noch vornehmlich mit den Schrecken beschäftigt, die der zur Schau gestellte Vater in seiner Tobsucht auslöst, so beginnen die Grundschulkinder doch schon zu lachen über dessen absurdes Benehmen. Neben solchen fundamentalen Szenen, wie den Szenen am Familientisch, wurde man aber, wie bereits erwähnt, auch in die große Welt eingeführt. Da sah man z.B. auch in eine große Oper. Fein säuberlich gekleidet und in höchster Erwartung waren auch Kinder mit unter den Zuschauern, während vorn auf der Bühne die Sängerinnen sich mit ihren langen Hälsen und sirenenschönen Stimmen bestaunen ließen.
Was wohl auch noch als kleine Besonderheit vermerkt zu werden verdient, das ist, dass die kleine Lok vom Großvater vorgelesen wurde, während Mütterchens Högfeldbuch stets in den Händen des Familienchefs lag, der ja selber in seiner Unberechenbarkeit oftmals nichts zu wünschen übrig ließ, dem es aber Spaß machte, es an den Weihnachtstagen mit seinem Nachwuchs zu studieren. Als Mütterchen nach dem Tod ihrer Eltern den ersten Wunsch hatte, was sie aus den Hinterlassenschaften haben wollte, sie war damals schon schwer krank und die Geschwister ließen ihr den Vortritt, da wählte sie nicht die goldene Uhr des Vaters und auch nicht die dicke Goldkette der Mutter, sondern jenes Buch zusammen mit den Erinnerungen an jene frühen Lesestunden.
Als Kind eine gelegentliche Fahrt mit dem Zug machen zu dürfen: was gab man nicht dafür! Schon die Ankündigung, dass wir, wenn alles gut ginge und nichts dazwischen käme, am nächsten Sonntag zu den Großeltern aufs Land hinaus führen, war großartig und bot Anlass zu mancherlei Träumerei. Eine Bahnfahrt, was für eine Sache! Ein wenig kannte man sich ja schon aus. Schauderhaft spannend und aufregend war es schon jedes Mal, wenn man morgens in aller Frühe von zuhause aufbrach und zum Bahnhof eilte. Der Weg bis dorthin ist längst vergessen, kaum dass es ihn für das Kind jemals gab. Vielleicht, dass es ihn gab, wie es auch jetzt noch im hohen Alter Mühen und Anstrengungen im Traum gibt. Vor Augen stand einem ja bereits das Innere des Bahnhofs, mit seiner unerbittlich auf Pünktlichkeit achtende Bahnhofsuhr und den Fahrkartenschaltern, vor denen sich in der Vorstellung immer so riesige Menschenschlangen drängten, dass man durchaus daran zweifeln konnte, ob man es noch rechtzeitig zu einer Fahrkarte schaffte vor der Abfahrt.
Unter solchen Vorbereitungen wurde der Weg zurückgelegt, bis man endlich das Innere erreicht hatte, fast als beträte man jetzt die Kommandozentrale der Welt. Kaum dass wir die Halle betreten hatten, war auch schon die Bahnhofsuhr zu sehen, fast als hätte sie bereits auf uns gewartet. Wie eine unnahbare und unbestechliche, mächtige Respektsperson, mit runzelnden Brauen, schaute sie von oben auf das Treiben in der Halle, ohne das Geringste zu übersehen. Einerlei, ob es sich um einen Vorstadtzug handelte oder um einen Intercity von Hamburg bis nach Neapel: alle hatten sich nach ihrem Gang zu richten. Natürlich war der Vater, kaum dass wir die Halle betreten hatten, zum Fahrkartenschalter geeilt und hatte sich in die Schlange gestellt. Auch wenn wir genug Zeit hatten,-, war es doch stets aufregend, ob es ihm gelänge, in der uns noch verbleibenden Zeit die Fahrkarten zu besorgen. Wie oft schauten wir da nicht hinauf zu der Uhr, wie schnell sie dahin ging, wenn er in der Schlange endlich wieder einen Platz vorrückte, wie oft winkten wir ihm nicht zu, ihn ermutigend, als hinge es von ihm ab, ob er alles rechtzeitig schaffte. Und wenn dann der Vater endlich zurückkam und einem jeden von uns seine Karte zum Vorzeigen in die Hand gegeben hatte, ging es zu den Sperren. Warum ich stets ängstlich besorgt war, ob wir mit unseren Karten auch durchkämen, vermag ich nicht zu sagen. Immerhin hatten die Männer dort ja auch die Macht, sie einem zu versperren. Fälle, dass einer zurückgewiesen wurde, hatten wir schon miterlebt. Selbst wenn wir als Kinder uns davon überzeugt gehabt hätten, dass alles der Ordnung gemäß zugegangen war, was würde man machen, wenn einem der Kartenkontrolleure etwas an ihnen missfiele? Musste man dann nicht wieder zurück und musste den Beweis erbringen, dass da, bestenfalls, ein Irrtum vorgefallen wäre? Ja, hier wird das Kind das erste Mal mit der Undurchschaubarkeit und der Macht der sich in der Anonymität verlierenden Bürokratie konfrontiert, der gegenüber der einzelne niemals Recht behält.
Waren dann aber auch die Sperren geschafft und die Karten vom Vater wieder in Verwahrung genommen, fiel einem etwas wie ein Stein der Erleichterung vom Herzen. Nun ging es durch eine der drei großen Glastüren auf den Bahnsteig hinaus, gleichsam mitten hinaus ins Leben; und wenn da auch nirgends eine Freiheitsstatue zu sehen war, so war doch, als ob einem der Wind der Freiheit von dort entgegenwehte. Da es sich nur um einen Vorstadtzug handelte, ging es dann durch eine Unterführung zum vorbestimmten Geleis, wo schon der Zug zu den Großeltern stand. Zuerst aber galt es, das Trittbrett zu besteigen und eine der schweren Eisentüren zu öffnen, eine Aufgabe, die selbstverständlich uns Jungen zukam. Dann begab man sich ins Innere eines der noch freistehenden Abteile, in diese kleine, sich durch fremde Gerüche und Ausstaffierung auszeichnende Welt. Und hatte man endlich auf einer der Holzbänke Platz genommen, so konnte einem nun wirklich nichts mehr widerfahren. Oder etwa doch? Wohl war man da, doch wo war man denn?
Kaum hatte man Platz genommen, da überkamen einen auch schon Bedenken, ob wir auch in den richtigen, für uns bestimmten Zug gestiegen wären. Mit einem falschen Zug in eine falsche Richtung zu fahren, das durfte nicht sein, wo würden wir dann hin geraten und wie wieder zurückfinden? Schließlich wurden wir ja auch erwartet. Zumal wenn man auf anderen Gleisen ähnlich gebaute Züge abfahren sah, sah man zu, wohinaus sie führen, und war froh, wenn man einen anderen Bestimmungsgort ausfindig machte. Nicht auszudenken, wie das wäre, wenn dies dort der rechte Zug gewesen wäre! Und so lehnte man sich denn zum Fenster hinaus, um alles mitzubekommen, oder war, genau genommen, mehr draußen als drin im Abteil, um nichts zu verpassen, was dort geschah, wobei der Blick immer wieder auf die Anzeigetafel fiel, die das Reiseziel und die Abfahrtszeit auswies, welche uns selber betrafen. Dann schaute man auf die Zeiger der Bahnsteiguhr, verglich die Uhrzeit mit der Abfahrtszeit und rechnete aus, wie lange es noch dauerte, gesetzt, wir säßen auch in dem richtigen Zug. Zu den Vorbereitungen bis zur Abfahrt gehörten dann auch die Mitteilungen durch den Bahnhofslautsprecher, die nicht nur die Ankunft und die Abfahrt der Züge betrafen, sondern auch manch eine Sondermeldung. Wie leicht konnte es nicht sein, dass etwas Falsches auf unserer Anzeigetafel stand. Und wenn sich die Daten auch nicht von allein ändern mochten, warum sollte man es nicht als Eilmeldung zuerst über den Lautsprecher bekannt machen, ehe man sie dann auch von Hand änderte?
Einigermaßen beruhigt war man aber eigentlich erst, wenn die nun kurz bevorstehende Abfahrt des eigenen Zuges bekannt gegeben wurde. "Achtung, Achtung, auf Bahnsteig sowieso, der Zug nach sowieso fährt in wenigen Augenblicken ab. Bitte einsteigen und die Türe schließen! " Dann sahen wir auch schon den Bahnhofsbeamten, wie er in tadelloser Uniform und roter Dienstkappe, das Abfahrtsstäbchen in der Hand, zur Lok vorlief, um dem aus dem Fenster des Führerhauses gelehnten Lokfahrer das Zeichen zur Abfahrt zu geben. Und während noch ein paar Mal die Türen auf und zu flogen und die letzten Passagiere das Innere betraten, begann nun die Ausfahrt in die Welt.
Nun endlich, als man sich aus dem Gewirr der Schienen befreite, und sich einem der Weg zeigte, wie man ihn von den früheren Fahrten her kannte, begann auch allmählich die Anspannung nachzulassen. Zumal nach der Ausfahrt aus dem Bahnhofsgelände mit all seinen verwirrenden Masten und Drähten, vorbei an abweichenden und sich entfernenden Gleisen und technischen Einrichtungen, einer Fahrt wie durch ein Labyrinth, wenn der Zug nun begann, unbeirrt an Bahnübergängen mit Wartenden und über Brücken und Trassen seinen Weg zu bahnen, vorbei an städtischen Anlagen und Einrichtungen, an Häusern und Kirchen, an Sport- und Vergnügungsstätten, an sonnenbeschienenen Flächen und grünen Gärten, hinaus aus der Stadt, war endlich auch eine freie Zeit da. Nun hatte man endlich auch Zeit, die Reklamebilder an den Wänden zu studieren, etwa für das neueste Nähgarn aus Schwaben oder für die badische Textilindustrie, oder die reichlich und überall angebrachten Vorschriften zu buchstabieren. Defense de fumer, war da zu lesen. Oder dass man sich bei fahrendem Zug nicht aus dem Fenster herauslehnen dürfe. Die Eltern hatten einem das alles bereits ordentlich vorgelesen und übersetzt. Aber die fremden Wörter taten doch noch das Ihre, das Neue und Gewagte bei dieser Ausfahrt in die Welt zu unterstreichen.
Alsbald war auch schon die erste Haltestelle erreicht: Ein kleiner Bahnhof, eigentlich nur ein zweistöckiges Haus mit Leuten davor, die sich nun auch noch zu uns herein drängten. Doch dann gab es schon wieder einen Pfiff und die Fahrt ging weiter. Immer schneller ging es nun voran, durch immer freier werdende Gegenden, dass man sich wohl fragen mochte, wenn ein einsam gelegenes Haus auftauchte, woher denn wohl die Leute dort ihr Brot und ihre Milch holten. Endlich wurde auch der stampfende Gang des Zugs immer gleichmäßiger und sicherer, als wäre das Leben nichts weiter als ein endlos sich hinziehender Heldengesang.
Was für ein herrlicher Zeitvertreib, am Fenster zu sitzen und hinaus zu schauen! Hier sah man eine noch immer hartnäckig verweilende Nebelbank über einem größeren Teich, dort einen Bach mit einer Brücke, über die eben ein von Ochsen gezogenes Fuhrwerk fuhr. Dann waren Bauern zu sehen bei der Arbeit auf ihren Feldern, kurz darauf dann ein kleines Dorf inmitten von Baumgärten gelegen; mitunter kam auch ein Wald auf uns zu, unbeugsam und unbeweglich, wie es aus der Ferne schien, der dem Zug aber nichts entgegenzusetzen vermochte. Kaum dass er sah, wie der Zug auf ihn zugerast kam, zornschnaubend voller Dampfwolken, wich er aus nach beiden Seiten, um schnell wie ein aufgeschrecktes Tier nach hinten zu fliehen. Wenn dann aber nur noch die unermüdlichen Telegrafenmasten an einem vorbeieilten und man vom Schauen genug hatte, war da noch immer die Bank, auf der man nun Platz nahm und glücklich die Augen schloss. Da war es dann, dass eine süße Müdigkeit über einen kam, der man sich gerne hingab, wo man ja wusste, dass man nichts weiter zu tun hatte, als sich zum gewünschten Ziel hintragen zu lassen.
Abends dann ging es wieder nach Hause. War man, wie meist, noch bei Helligkeit eingestiegen, so brach unterwegs die Nacht ein. Wenn es ganz dunkel geworden war, schauten wir nicht mehr sonderlich nach draußen. Allenfalls, wenn einmal eine Kette von bunten Lichtern vorbeizog, wenn Autos in Wartestellung vor einer Bahnschranke standen oder die Lichter eines Weilers aus der Ferne näherrückten, warf man noch einen Blick hin, weniger aber, um sie sich anzusehen als um sie an sich vorbeiziehen zu lassen. Alles schien sich bereits zum Schlafen bereit zu machen, und auch der Zug schien von keinem anderen Bestreben mehr erfüllt zu sein, als rasch noch auf seinen Schlafplatz sich zuzubewegen. Beim Aussteigen fanden wir oftmals die Sterne am Himmel.
Jüngst erzählte ein Bekannter von einem Museumsbesuch in der Nähe, wo Bilder von Blumen ausgestellt waren. Der Mythos der Blume, so habe der Titel der Ausstellung gelautet, und fügte hinzu, nachdem er einiges über die Welt der Blumen erzählt, die Ausstellung sei sehr ausdrucksstark und vielfältig gewesen. Versteht sich, dass, noch während er davon sprach, sich mir bereits einige dieser Bilder im Geist abzeichneten. Von Grünewald, Bosch und da Vinci sah ich Lilien und Rosen, des Weiteren Bilder von Sonnenblumen und blauen Irisblüten von van Gogh wie auch Stiefmütterchen von Rousseau, als wollten sie den Abstand ermessen, der das Hoffen vom Wissen trennt.
Hat man große, stolze Blumen geschenkt bekommen, Zweige von Azaleen oder von violettem Flieder oder goldgelbe Pharaonenwedel im Herbst, so besorge man sich hohe Amphoren, wo sie vom Boden des Zimmers aus in die Höhe ragen. Besonders schön sind freilich auch frische Wald- oder Wiesenblumen, wenn sie von Kinderhand gepflückt und liebevoll nach Hause getragen werden, sind ja doch Kinder selber, zumal wenn sie von Eltern gut gepflegt werden, wie liebevolle Blumen. Freilich sind nicht alle Jahreszeiten den Blumen gleichermaßen hold. Zumal im Winter muss man sich mit kleinen, bescheidenen Blümchen, Gänseblümchen oder Stiefmütterchen begnügen. Doch was will das schon heißen, wo sich in jeder Blumenblüte immer auch die äußeren Umstände schattenhaft mit abbilden! Freilich, besonders schön sind die Blumen dann wieder, wenn sie wie die Schneeglöckchen nach langen Schnee- und Kältetagen da und dort erstmals wieder auftauchen und den Frühling ankündigen! Schön sind die Blumen sodann auch im sonnigen Frühling, wenn sie über weite Wiesenflächen dichtgedrängt dem Licht entgegenstreben oder wenn sie im Frühsommer von munter geschwätzigen Vöglein umflogen, in Gärten gehegt und gepflegt erscheinen. Schön sind sie, wenn es überall zilpt und schilpt und singt und lärmt und tost und jubiliert und sich rings um sie das Leben neu entfaltet. Schön sind aber auch Blumen, wenn sie als Zimmerpflanzen bedächtig still vor sich hin blühen. Wie märchenhaft schön nimmt sich doch ein Alpenveilchen aus, das auf einem Fensterbrett vor einer weißen Winterlandschaft das leuchtende Rot seiner Blütenblätter verbreitet! Zuerst ist es oft nur eine einzige Blüte, manchmal aber sind es auch zwei, die ihre Blütenblättchen so zart entfalten, als wollten sie sich im Tanz schnäbeln und küssen.
Das Alpenveilchen, das ich meine, hat seinen Platz schon manch ein Jahr bei uns auf der Fensterbank nach Osten, wo es sich, meist unbeachtet und still auf die Blüte vorbereitet, bis es dann eines Morgens mit der Entfaltung seiner Blütenblätter beginnt. Wie aus tiefem Schlaf erwacht, macht es sich plötzlich an die Arbeit und vollendet sein Werk binnen weniger Tage, dass man staunen mag über die Schnelligkeit des Geschehens. Denn auch jetzt, in diesen Tagen der Verwandlung, braucht es außer dem Licht am Morgen und hin und wieder einem Tropfen Wasser weiter nichts dazu; und selbst auch, was Licht und Wasser angeht, scheint es warten zu können. So trägt es einem nicht nach, wenn man einmal mit dem Wasser in Verzug kommt; und zieht einmal eine Reihe wolkenbedeckter Tage vorüber, so scheint es sich klaglos mit der Verheißung späterer lichterfüllter Tage zufrieden zu geben.
Eines Sonntagmorgens anfangs Dezember war es dann aber soweit. Unser Held entdeckte es beim Zubereiten des Frühstücks und war darüber so heiter gestimmt, dass er das Blumentöpfchen mit an den Tisch trug. Wie schön es sich doch mit seinen lanzettförmigen, tiefroten Blütenblättern und den herzförmig gezackten grünen Blättchen ausnahm. Wie in einen Feenpalast hatte sich die Blume verwandelt, aus welchem nur immer noch mehr Blüten sich ins Freie zu drängen bestrebt waren. Mit ihren, unter den zartgebeugten Stängeln sich duckenden Knospen mochten sie an die Tänze rotbeiniger Flamingos erinnern. Und ließen nicht auch die Knospen in ihrer satten, festgewundenen Faltung an Mäntelchen denken, die etwas Kostbares bedeckten? Etwa einen Monat später war es dann, abermals an einem Sonntag, als unser Held seine Liebste, sein Mütterchen, zu einem Tässchen Mocca zu Tisch lud. Das Alpenveilchen stand wieder auf dem Tisch, der Sonne zugewandt, die eben dabei war, zu ihrem winterlichen Nachtlager hinabzusteigen. Als unser Held seine Liebste, auf das Blümchen aufmerksam machte, sagte sie, sie glaube, auch wenn man das Blümchen in den hohen Norden brächte, so würde es dort nicht ablassen, nach der Sonne zu suchen. Sie kamen da auch auf die Kinderspiele zu sprechen, die Mütterchen einst gespielt hatte. Wenn ein Geburtstagsfest gefeiert oder Hochzeit gespielt wurde, schwärmten alle Kinder aus, ein paar Blumen vom Feldrain oder von einer benachbarten Wiese herbeizubringen. Gab es zum Festtagsschmaus stets auch nur aus Sand und Steinen gemachte Speisen, die auf Scherben von Porzellan serviert und auf kleine entsprechende Tellerchen oder auch zu Tellern geformte Blätter ausgeteilt wurden und mit Löffelchen zu verzehren waren, so waren die Blumen in ihrer überragenden Echtheit die Einzigen, die auf den selbstgefertigten Tischchen in Väschen oder Töpfchen standen und durch nichts zu ersetzen waren."
Jetzt aber fragte unser Held, indem er ihr ein paar Haare zurechtlegte, die ihr ins Gesicht gerückt waren, ob sie nicht auch finde, dass wir in unserem Leben ein wenig Kinder geblieben seien. "Wenn ich nur daran denke", sagte er, "wie wir als Jungverlobte zusammen auf einem einzigen Paar Ski einen Waldweg herabgefahren sind, um anschließend auf deinem Zimmer einen heißen Tee zu uns zu nehmen und ein Stückchen, meist von dir selber gebackenen Kuchen! Ich weiß gar nicht mehr, wie wir zu all diesen Vergnügungen gekommen sind. Nur das weiß ich noch, dass du vor mir standst und dass ich dich so fest in den Armen hielt, dass die Frühlingsvögel kaum seliger hätten durch die Luft fliegen können!"
Endlich ging die Unterhaltung noch darüber, wie leicht man doch über den Sorgen und Nöten der Gegenwart vergisst, wie oft in unserem Leben ein gutes Schicksal für uns vorgesorgt hat; seine Liebste hatte sie angestoßen. Ja das Gute, das festzuhalten war für sie stets wie der Weg in den Tempel der Liebe. Nicht überall und immer hatten sie ja auch Leiden und Widerwärtigkeiten zu ertragen gehabt. Und hatten sie nicht endlich auch die elende Krankheit, die Mütterchen quälte, wie eine auf Not und Tod verschworene Truppe zusammengeschweißt? Hatte er nicht erfahren und erfuhr es eben jetzt gerade wieder, wie herrlich es doch war, noch im Alter geliebt zu werden? Nun waren sie schon bald 37 Jahre verheiratet, und doch überkam ihn immer wieder einmal der Eindruck, als wären sie einander noch immer fremd und müssten die Zeit gut nutzen, sich in wechselseitiger liebevoller Pflege noch besser kennen zu lernen.
Während sie so beisammen saßen, hatte die Sonne den Brombergsattel erreicht, einen Gebirgsgrat im Südwesten, hinter dem sie nun gleich verschwinden würde. Drei, vier Tannen standen noch dort wie in einer Lohe. Sie schienen zu brennen, ohne doch zu verbrennen. Unser Held maß mit den Fingern: etwa um die Breite einer Faust, mithin also etwa um 7 Grad war die Sonne nun schon westlicher gerückt als um die Zeit der Wintersonnwende. Nach fünf Minuten dann war das Schauspiel vorbei. Jetzt glänzten nur noch die raureifbesetzten Äste der Tannen im silberumfluteten Licht. Plötzlich aber sahen sie den Lichtschein noch einmal wieder. Hinter dem Bergsattel drang er noch einmal hervor, wie mit dem Lineal vorgezeichnet, ins ostwärts gelegene Tal. "Mütterchen!" sagte da unser Held, "sieh nur!" Nachdem sie sich das Schauspiel ein Weilchen angesehen hatten, fuhr er fort: "Auch uns geht es ja nicht anders als seinerzeit unseren Müttern und Vätern. Schließlich ist es keine kleine Sache, wenn man in die kalten Regionen des Hochgebirges hinauf muss, ohne Aussicht, jemals von dort oben wieder herunter zu gelangen. Und doch tröstet mich ein wenig, wenn ich an unseren Enkel zurückdenke, als er zu Besuch bei uns war. Oder war es nicht herzergreifend, wie er mit seinen zwei Jahren aufmerksam lauschte, als er vom "Mütterchen" hörte, ein Wort, das noch nicht seinem Wortschatz angehörte und als er nun sah, wie ich, dein Held, dir ein Küsschen auf die Wangen drückte! Wie lieb er sich da auf den Weg machte, dir nun auch ein Küsschen zu geben! Ja blüht nicht der Frühling selbst im grimmigsten Winter, wenn man so holde Geschöpfe wie Kinder im Haus hegt!" Kommt er nun zu uns zu Besuch und sagt man zu ihm: "Gib Oma ein Mütterchen!", so tritt er zu dir und drückt dir ein Küsschen auf die Wangen."
Was für eine Jahreszeit, der Herbst! Wenn die Erde abgeräumt und aus den Feldern, den Wiesen und den Gärten die letzte Ernte eingebracht ist! Die Kinder schauen schon gespannt, wann endlich der Winter kommt mit Eis und Schnee und seinen tollen zauberhaften Vergnügungen. Weniger erwartungsvoll geht es zumeist bei den Erwachsenen in den Winter, wo man sich uns Überleben und Überstehen der lebensfeindlichen Tage zu bekümmern hat. Zumal in Gedanken an die kommenden kalten Tage beginnen viele von uns schon jetzt, trotz des heißen Morgenkaffees, zu frieren. Noch aber ist Herbst, noch die Aussicht auf ein paar warme Tage nicht ganz zu Ende, wenn auch der Vorrat an solchen immer mehr schwindet. Einmal dann freilich wird man nicht mehr umhin können, die Winterheizung anzustellen, auch wenn das Öl und die Wartung immer teurer werden. Die gänzlich Erwachsenen endlich, die noch da sind und die sich zu Hause aufhalten, das heißt die ganz Alten, längst außer Dienst Befindlichen kannst du sehen, wie sie Ausschau halten, wenn morgens Nebel über die Wiesen wallen, ob sich nicht am Himmel noch eine lichte Stelle zeigt, von wo die Sonne herabscheinen könnte. Schau nur, wie erwartungsvoll sich ihr Auge bewegt, als wollten sie der Sonne die Stelle zeigen! So geht es fort und fort, Tag um Tag. Die Sonnenaufgänge kommen immer ein wenig später zustande, die Sonnenuntergänge aber ein wenig früher und so werden die Tage kürzer und kürzer, bis dann am Tag der Wintersonnwende ein unvorhersehbares, glücklich-überraschendes Ende erreicht ist. Ja, die Morgen scheinen jetzt förmlich in den Mittag verlegt und die Abende in den Nachmittag hinein, dass man meinen könnte, nun wäre uns bald der letzte Tage erschienen, wie es ja auch im hohen Norden der Fall ist. Was für ein Schauspiel, wenn die Berge, diesig verhangen, noch einmal in der schon dunkelglühenden Abendsonne aufleuchten und aufglühen, ehe sich dann die weißen Nebel erheben und alles still verdecken. Sehr weit steigen sie allerdings nicht auf. Zumal, wenn die Luft trocken ist, sieht man sie nur dicht und knapp über den Wiesen, wo sie sich dann in wellenartigen Gebilden hin her bewegen.
Heute ist wieder so ein wundervoller Abend mit einem Sonnenuntergang, wie ihn mein Weibchen so sehr mag. Ich sitze am Fenster und esse ein Tomatenbrötchen, während die Nebel wie muntere Fabelwesen bis in den Garten hinein schwimmen und springen. Mein Weibchen, mein Mütterchen ist nahe bei mir, im Pflegebett; ich hab es so hingestellt, dass sie, wenn sie die Kraft dazu hat, auch zu mir schauen kann. Wenn Mütterchen gut drauf ist, lese ich ihr auch etwas vor während meines Essens, wie gestern, wo wir uns wieder einmal in die biblischen Geschichten eingelassen haben.
Was für eine Lebenswelt, was für eine Landschaft, wo kommende Könige nach entlaufenen Eselinnen suchen oder wo sie ihres Vaters Schafe hüten. Wir hatten über das Thema der Väter und Söhne nachgedacht und da waren mir dann auch wieder so allerlei Geschichten in Erinnerung gekommen, wo ich schließlich bei der Geschichte von David und Absalom länger verweilte. Diese Geschichte, beginnend mit der Verführung der Tamar durch ihren Bruder Amnon, lasen wir dann, bis zu Davids hohes Alter und die dann doch etwas merkwürdig geglättete Erzählung von Salomons Regierungsantritt. Man entdeckt ja immer etwas Neues, was einen aufhorchen lässt und was einen nötigt, eine abermalige Leserevision vorzunehmen. Vor allem, dass an einem einzigen Tag die Krönung Adonijas und dann die Krönung Salomons stattfinden, ließ uns aufhorchen. Adonija und Salomon heißt der spannende Krimi, wobei man endlich einmal auch diese Batscheba und den Propheten Natan etwas genauer unter die Lupe nehmen müsste. Dass Joab den wohl eher etwas schwächlichen Adonija favorisierte, passt zu dem von ihm gezeichneten Bild. Salomon aber macht dann mit seinen Gegnern kurzen Prozess. Alles wird hier zwar mit dem Gott Jahwe in Verbindung gebracht; doch hindert das nicht, in Salomon einen Schlächter zu erkennen, der, wie auch heute noch in jenen Breiten, alle Gegner kurzerhand umbringen lässt. Nur dass man damals, vor 3000 Jahren, das noch durfte, ja dass man es damals sogar noch schaffte, als weiser Herrscher in die Geschichte einzugehen, während man heute, wenn sich die Weltöffentlichkeit einmischt, leicht eine Weltkatastrophe in Gang bringt.
Doch nicht immer kommt die Sonne wunschgemäß und pünktlich herbei wie heute. Es gibt auch Tage, wo ich ohne vorzulesen oder ein Wörtlein zu tauschen mein Brötchen zu essen habe. Da sitze ich dann eben da, um etwas Nähe auszustrahlen, und mach mir so meine Gedanken. Längst weiß ich, dass es nicht genügt, sich nach außen hin abzuschotten. Auch im Innern, ja gerade dort, gilt es endlich, sich frei zu machen. Was du nicht verändern und nicht beeinflussen kannst, das musst du dir eben gefallen lassen oder, noch besser, das darf dich nichts angehen. Zumal Lokales wie sportliche Ereignisse oder Veranstaltungen von Vereinen und Parteien, aber auch Zeitungen aus der hohen Politik, der Geschäfts- und der Geldwelt sollten dich nun endlich total unberührt lassen.
Morgen und Abend! Oftmals ist dir, als wäre der Uhrzeigersinn bedeutungslos geworden und die Tage wüssten nicht mehr, ob es Zeit wäre, sich zu entfalten, oder Zeit, von der Bühne zu verschwinden. Ruckweise wird es lichter und lichter, dass man schon meint, jetzt wäre es nur noch eine Frage weniger Augenblicke, dann müsste es die Sonne geschafft durch all den Wolkendunst und Nebel, doch dann plötzlich wird es wieder dunkler, und plötzlich sind auch schon wieder die Nebel da, mauerhoch und immer noch höher steigend, die jede Aussicht versperren. Wäre ein Kindchen an deiner Seite, du erzähltest ihm dann vielleicht ein Geschichtchen von der Sonne, die heute nicht so recht weiß, was sie tun soll und die sich wieder ins Bettchen gekuschelt und es sich warm gemacht hat. Aber selbst wenn die Sonne einmal am Morgen unangefochten und siegreich den Himmelsplan betritt, kann es sein, dass von irgendwoher Wolken aufziehen und dir ihren herrlichen Anblick entziehen. Schließlich aber gibt es auch Tage, wo du kaum etwas anderes zu tun vermagst, als auf die warmen Sonnenstrahlen zu hoffen: zuerst ganz energisch, mit der Inbrunst deines Herzens, dann aber, wenn du kein Glück hast, indem du den Dingen ihrem Lauf überlässt. Wenn dann das große Ereignis sich doch noch, wider alles Erwarten einstellt, dann dankst du dem Himmel! Vergiss dann aber gleichwohl nicht, dass es auch Tage gibt, wo man zwar noch hofft, wo sich das Hoffen aber nicht mehr erfüllt.
Hieß sie nicht Friedrichstraße, jene Straße, in der meine Liebste wohnte, als sie noch ein Kind war und ich sie noch nicht kannte? Und doch blicke ich mit ihr zurück, als wäre ich damals schon mit dabei gewesen. Ein Sommermorgen ist wieder geworden aus jenem "damals", und ein Sonntagsommermorgen obendrein. Jetzt aber fliegt die Haustüre auf und ein kleines Mädchen, hübsch gekämmt und zurecht gemacht, betritt die noch menschenleere, sonnenbeschienene Straße. Und der Name des Kindes ist Klein-Jutta.
Klein-Jutta aber ist ein lebhaftes Kind, begabt mit reicher Phantasie und jederzeit aufgelegt zu munteren Sprüngen. Die Mutter hat ihm zwar den guten Rat gegeben, auf die neuen Strümpfe gut Acht zu geben, und das war recht so, denn es war Nachkriegszeit und an allen Ecken und Enden herrschte Mangel, welchem Kind aber hüpft nicht das Herz, wenn es Sonntagmorgen ist und heute noch gar der Tag, an dem der seit langem erwartete Zauberer und Puppenspieler ins Städtchen kommt! Müssen einem Kind, wenn das Herz schon so mächtig hüpft, nicht auch die Beinchen mithüpfen? So also sehen wir unser Kind frisch geputzt den Bürgersteig auf und ab hüpfen, bald in Erwartung auf den zauberhaften Nachmittag, bald schon mitten inne. Da aber schleicht sich auch schon das Unheil heran und gesellt sich zum Kind. Und das Kind kommt ins Stolpern und kommt zu Fall und wie es sich den Schaden besieht, haben die neuen Strümpfe ein großes, böses Loch. Darüber kann eine noch so liebe und geduldige Mama freilich nicht fröhlich sein, zumal wenn sie noch weitere Kinder zu versorgen hat und sie nicht weiß, wie sie mit ihrem Pensum nachkommt. "Sieh zu, dass du dieses Paar nicht auch noch kaputt machst!" sagt sie und zieht Klein-Jutta ein weiteres Paar Strümpfe an. Doch auch diesem zweiten Paar, einem Paar weißer und kräftiger, gut haltbarer Schafwollstrümpfe, wie sich meine Liebste noch nach 50 Jahren genau erinnert, ist an diesem Tag keine Dauer beschieden. Wie das Kind nun nämlich wieder den Weg entlang auf und ab hopst, freilich nicht ohne sich immer wieder zu versichern, dass die Strümpfe noch immer makellos und heil sind und sie auch so zu bleiben haben, kommt es abermals ins Stolpern und auch um das zweite Paar war es geschehen.
Damit aber war der Unglückstag noch nicht zu Ende. War das Unglück die beiden ersten Mal durch etwas Übereifer ausgelöst worden, so sollte es das dritte Mal durch allzu große Pflichterfüllung zustande kommen.
Klein-Jutta war ja ein wohlerzogenes Kind. Nie hätte es eine Anweisung der Eltern in den Wind geschlagen. Und doch, ist es nicht oft so, dass gerade ein strikt ausgesprochenes Verbot und die buchstäbliche Einhaltung eben dieses Verbots zur Katastrophe führen! Und da ihr die Mutter untersagt hat, zu rennen oder zu springen, so sehen wir unser Kind jetzt sich umständlich vorwärts bewegen, nie die Bodenhaftung außer Acht lassend. Ob die Straße inzwischen nämlich auch voll ist von Kindern und es überall um Klein-Jutta herum hüpft und springt und die Kinderbeinchen nur so durch die Luft wirbeln, so achtet Klein-Jutta peinlich darauf, nur ja nicht mit beiden Beinchen den Boden zu verlassen. Abseits hält sie sich meist und steht da und schaut den Kindern zu, kaum dass sie es wagt, auch nur einen Schritt zu tun. Und als die Mutter zum Mittagstisch ruft, kann sie zumindest dieses dritte Paar noch als heil vorzeigen.
Wie nun aber die Stunde des Nachmittags gekommen ist, wo man allgemein zum Zelt des Zauberers und Puppenspielers aufbricht, alle Kinder nehmen ihre Beine unter die Arme und sausen davon, nur Klein-Jutta weiß nicht, wie sie es anstellen soll, möglichst mit den Kindern Schritt zu halten: da überkommt es das Kind plötzlich wie eine Erleuchtung. Wie, wenn sie sich wie ein Känguru auf beiden Beinen vorwärts bewegt! Ohne zu springen und ohne zu rennen! Und geht es nicht prächtig, geht es nicht wunderbar? Fliegen die Beinchen nicht folgsam mit, wenn sich die Arme nur tüchtig im Takt vorwärts und rückwärts bewegen? An ein Fallen ist da ja überhaupt nicht mehr zu denken. Im Gegenteil. Wenn man alles ganz richtig macht, kann man die Sprünge noch länger hinziehen und immer noch länger machen und so immer noch schneller vorankommen. Oder hat sie nicht schon hinreichend Proben gemacht und Gewissheit gesammelt? Solcher Art mit sich beschäftigt geschieht, was denn nun noch geschehen muss. Und so kommt es zum dritten Fall, und nun ist auch das dritte Paar Strümpfe hinüber.
Wie nachdenklich und niedergeschlagen unser Kind die letzten Schritte auf das Festzelt zu macht: wer mag es beschreiben! Keines der Beinchen denkt jetzt mehr daran, noch irgendeine besondere Bewegung auszuführen. Unbeachtet und vernachlässigt tun sie, was zu tun ist. Erst wie die Veranstaltung beginnt und aller Augen am Zauberer und Puppenspieler hängen, erwacht Klein-Jutta ein wenig. Doch nicht der Zauberer und Puppenspieler ist es, der jetzt die Aufmerksamkeit des Kindes auf sich zieht, die Strümpfe sind es! Und ob sie sich das Röckchen auch fest auf die Strümpfe presst oder die Hände über das Loch hält, immer wieder, sobald nur die Augen hinzukommen, ist das böse Loch da: groß und hässlich und unheimlich, und kein Zauberer und kein Zauberspruch sind in der Lage, es aus der Welt zu schaffen.
Wie der letzte Teil dieser Geschichte ausgegangen ist, daran erinnert sich meine Liebste nicht mehr. Sie weiß nur, dass die Mutter damals sehr viel zu tun hatte und dass sie oftmals des Nachts, wenn alle längst schliefen, noch mit dem Ausbessern der Wäsche beschäftigt war. Und sie lächelt, wenn sie daran zurückdenkt, wie töricht sie die Worte der Mutter ausgelegt hat, und dies nur, weil es ihr das Herz, das so voller Vorfreude gewesen, so eingegeben.
Bange Augenblicke hatte eine Mutter zu überstehen, als man bei der Geburtstagsfeier auf das Rollschuh-Kunstlaufen zu sprechen kam, das als Sonderkurs mit begrenzter Teilnehmerzahl in der Schule stattgefunden hatte. Unmittelbar nach der Feier nahm sie ihr Kind in die Arme und fragte, ob ihm nicht traurig zu Mute gewesen, die Kinder so begeistert von ihren Erlebnissen berichten zu hören. Nur zu gut wusste sie ja, wie gern auch ihr Kind, das Geburstagskind, an jenem Kurs teilgenommen hätte, an dem alle ihre Freundinnen hatten teilnehmen dürfen. Fidelia aber, denn so heißt das Kind, dem die Eltern den Namen gegeben, damit es als heiteres und fröhliches Kind vor Gott und den Menschen gedeihe, Fidelia versetzte ganz ruhig: "Warum auch, Mutter, hätte ich traurig sein sollen? Ich habe mich doch mitgefreut!"
Heute macht sich niemand mehr Gedanken um die Sprache der Götter, um sich mit ihnen in der ihnen eigenen Sprache zu unterhalten. Heute steigt kein Etana und kein Adapa mehr zu den Gottheiten in den Himmel hinauf, noch auch steigt ein Gott zu uns auf die Erde herab, um bei einem öffentlichen Mahl die Menschen zu prüfen oder auch nur, um eine Rast bei uns einzulegen. Selbst als Rächer von Untaten scheinen sie nicht mehr zur Verfügung zu stehen, als hätten sie auch dafür das Interesse verloren.
In diesem Punkt dachte man früher einmal anders, und so gehörte auch der geziemende Umgang mit den Himmlischen mit zu den wichtigsten Dingen, über die man die Jugend unterwies. "Such nicht nach dem Gott, wenn er da ist! Frag nicht nach ihm und rede nicht über ihn, wenn du seine Gegenwart verspürst!" So sagt noch Odysseus zu seinem Sohn, während Athene geheimnisvoll das abendliche Haus durchleuchtet. Heute erübrigt sich eine solche Ermahnung. Statt uns auf den Empfang von Gottheiten vorzubereiten, haben wir den Gottheiten aufgelauert und ihnen nachgestellt. Vornehmlich die Zeiten der Aufklärung haben wir damit verbracht, uns in den Hinterhalt zu legen, mit dem Erfolg, dass wir inzwischen nichts besser zu wissen meinen, als dass sich nirgends mehr einer von ihnen aufhält, ja dass noch nie einer die Erde betreten. Die Orte, wo ein Gott früher Rast zu machen pflegte, sind nicht mehr, und was unsere Häuser angeht, so werden sie durchlärmt und durchblitzt vom Auswurf aus technischen Geräten.
War Euripides noch der festen Überzeugung, dass all unser Bemühen um ein gelungenes Leben fruchtlos ist, sofern es keine sich machtvoll um uns bekümmernde Götter gibt, und äußert sich auch der kämpferische Paulus noch in diesem Sinn, so liegt der Schwerpunkt ihrer Botschaft wohl weniger im Aufweis einer gottlosen, als vielmehr im Aufweis der Notwendigkeit einer von guten Gottheiten getragenen Welt. Heute, 2000 Jahre nach der Antike, denkt keiner mehr daran, dass der Mensch nicht ohne Götter zu leben vermöchte. Vielmehr ist uns daran gelegen, eine götterlos gewordene Welt so zu gestalten und einzurichten, dass sich auch noch etwas von der Würde des Menschen zu entfalten und darzustellen vermag. Wenige nur mögen es sein, die sich noch fragen, ob man den Menschen in einer über alle Stammesgottheiten hinausreichenden, global gewordenen Welt noch als ein Wesen fassen kann, dem über das biologische Leben hinaus noch etwas Gutes zukommt. Zu was sonst aber taugt dann noch all unser Wissen, als dass wir ein nur immer noch angenehmeres Leben führen, das möglichst niemals endet! Muss mit dem Wissen nicht aller Glaube enden?
Sag uns, Sokrates, wenn du es weißt und wenn uns dieses dein Wissen noch zu etwas nützt, was das Gute ist! Sag uns, wenn es mehr ist als ein Weg in einem Zaubergarten und wenn dein Daimonion, das über deine innere Ruhe gewacht hat, mehr ist als ein Wächter in diesem Garten! Gibt es ein festes und andauerndes Gutes, das entscheiden mit uns zu tun hat, oder bleibt uns nichts anders übrig, als dass wir uns als Gesellen begreifen, die sich am Schnürchen der Menschheitsgeschichte nach Art von Gliederpuppen hin und her bewegen und das Gute wäre weiter nichts, als die Einheit als das Prinzip der Zahlen, die uns die Welt erschließen? Sind wir unserer Natur nach dazu geschaffen, ein Gutes unter ewig mächtigen Gottheiten aufzusuchen und ihnen Lob zu singen, oder ist das Gute nur eine Art Vorwand, die innere Ruhe unserer Individualität zu sichern gegen alle Andersdenkenden? Wasch uns den Kopf, wenn wir uns schon so sehr an das Gute gewöhnt haben, als wäre es die abstrakte Eins, der Beginn der Zahlen und der Mathematik, der Urgrund aller unserer modernen Wissenschaften. Dass wir nur nicht einmal zu sagen haben: Jawohl, Sokrates, über die Physik und ihre Gesetze, und über die technische Umsetzung und Ausbeutung haben wir uns den Kopf zerbrochen, aber eine uns alle befriedigende soziale Wirklichkeit zu schaffen, das haben wir versäumt. Als Kinder glaubten wir noch zu wissen, dass alles zu etwas gut sei, wahrscheinlich weil unser Wissen kaum etwas anderes war als ein grenzenloser Glaube, dass alles füreinander da sei. Im Labyrinth des Lebens aber und im Fortschritt des technischen Wissens haben wir diesen Glauben, kaum dass wir es bemerkten, verloren. Wann immer uns einer später noch vom Guten sprach, nach dem du, Sokrates, ein Leben lang suchtest, so war uns, als hättest du nur deines privaten Heiles wegen danach gesucht, aus Angst, dich sonst zu verlieren. Dein Daimonion erachteten wir als Zeichen einer beginnenden religiösen Individualität, das in der Antike noch keinen Platz hatte und das damals noch unbarmherzig ausgerottet wurde, während es heute in einer gewissensfrei und vermutlich auch gewissenlos gewordenen Welt keinen Platz mehr hat. Sag an, Sokrates, ob wir mehr wissen können als dies, dass alles müde wird und stirbt! Sag an, wenn du weißt, wie man sich furchtlos auf das Todesbett legt!
Für Krankheit, Leid und Unglück, vor allem aber auch für seelische Verletzungen, und sei es auch nur eine erfahrene Gleichgültigkeit oder Unachtsamkeit, haben wir ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Und wenn uns einmal etwas Unliebsames widerfahren ist, zumal von Leuten, die uns nahegestanden und von denen wir es nie und nimmer erwartet hätten, bleiben wir, kaum dass wir etwas dazu zu tun haben, dieser Bewertung tief treu. Tief versteckt in uns befindet sich eine Reihe größerer und kleinerer Blutkammern, in die diese unsere unseligen Schätze wie von Geisterhand geschafft und ein Teil von uns werden; und wehe, wenn sich einmal eines dieser Türlein öffnet, sei es durch unser Zutun, sei es, dass es ein anderer aufstößt, so bricht sich nicht nur das Blut aus dieser Kammer Bahn, da öffnen sich wie von Geisterhand oder wie bei einem Dominospiel auch alle die benachbarten Höhlen und Kammern und präsentieren ihre blutigen Gerinnsel. Und Erinnerungen melden sich zu Wort mitsamt den dazugehörigen Akteuren! Halbvertrauten Gesichtern voll Neid, Kälte und Lieblosigkeit begegnen wir da, mageren Gestalten, mit denen wir früher einmal etwas zu tun gehabt hatten, vor Selbstgerechtigkeit strotzenden Richtern, eitlen Geistlichen und endlich einem Heer von Leuten, die sich weiter auf nichts verstehen als auf herabsetzende Kritik und böses Gerede. Und so lesen wir bei den großen Männern quer durch alle Jahrhunderte und durch alle Kulturen, dass man der Welt nicht trauen darf und dass Nachsicht und Gutmütigkeit und Toleranz ausgelegt werden als Schwäche, wobei sie uns den guten Rat geben, uns, sofern wir es uns leisten können, von der Welt zurückzuziehen, um uns im eigenen Haus bescheiden und genügsam einzurichten.
Bei der Suche nach den Erfahrungen des Glücks sieht alles ganz anders aus. Niemals kommt es da zu einer erquicklichen Überschüttung mit Glück. Lawinen des Glücks gibt es vielleicht noch bei der Goldmarie im Märchen, falls diese das Übergossen-Werden mit purem Gold als etwas so Herrliches empfand. Und was des Weiteren auch noch ganz anders ist: Widersetzen sich, wie bereits erwähnt, als trüb und betrüblich anerkannte Tatbestände jeglicher Neubewertung, so sieht es in Sachen des erlebten Glückes ganz anders aus. Wie leicht vergisst man, was man gestern Gutes erfahren, zumal wenn es morgen und übermorgen wieder sich einstellt. Auf Glück glaubt man ein Anrecht zu haben wie auf ein Theaterabonnement. Indes, was heute noch wie eine Traumhochzeit in strahlendem Licht glänzt und womit du angibst, wo immer du nur kannst: wie leicht kann es sich morgen schon als böse Täuschung herausstellen! Oder wo wäre das Glück, das nicht vom Wurm des Misstrauens angenagt werden könnte? Ist nicht dem Teufel erlaubt, auf alle Weise zu lügen und uns zu betrügen und sein Spiel mit uns zu treiben! Da setzest du auf einen Freund und dann versagt er schon bei der kleinsten Bewährungsprobe, indem er dir seine kleinen, schäbigen Eigeninteressen voransetzt. "O, wie habe ich mich doch getäuscht!" hörst du dich da sagen. "Da hatte ich geglaubt, das Glück meines Lebens zu machen und bin nun elender dran als zuvor." Alles wird vom Kommenden auf die Probe gestellt und, leider nur allzu oft, als unbrauchbar und wertlos befunden. Und wenn auch keinem der Kinder Adams das Glück treu bleibt bis ans Ende seiner Tage, so trägt doch oftmals die Ungerechtigkeit, als Ungenügsamkeit und Ichsucht unseres Herzens, dazu bei, die Menge des Unglücks auf Kosten des Glücks zu vergrößern.
Kehre ich mich denn zu denen, von denen die Alten sagten, nur von ihnen könne man mit Gewissheit sagen, ob sie glücklich gewesen: kehre ich mich zu den Eltern, die bereits das Zeitliche gesegnet haben, indem ich mich frage, welches wohl das größte Glück in ihrem Leben gewesen. Gab es in ihrem Leben ein Glück, das sie beseelte und das jeder Revision standhielt? Gewiss auch hier erinnere ich mich zuerst an so mancherlei, was dem Aufscheinen eines glücklichen Lebens im Wege stand: an die schwierigen Jahre des beginnenden Alters, an die beruflichen Misserfolge des Vaters, sodann an die Enttäuschungen in den Beziehungen zu Bekannten und Verwandten, an die vielfältigen Schwierigkeiten und Probleme mit den erwachsen werdenden Söhnen und endlich auch an die Ohnmachtsanfälle und Zerwürfnisse mit der Mutter. Dabei war sie die einzige, die ihm treu zur Seite gestanden. Und wenn er daran litt, dass er sein Leben als etwas nutzlos und sinnlos Verbrachtes erkennen zu müssen meinte, so litt sie daran nicht minder, insbesondere da sie sich immer weniger in der Lage sah, sein grau gewordenes Haupt an ihrer Brust zu bergen.
Wenn ich mich solcherart den Erinnerungen überlasse, da ist mir fast, als wäre den Eltern in ihrem Leben überhaupt nie ein Tag des Glücks beschert gewesen, beginnend mit ihrer schnell anberaumten Hochzeit vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges bis an ihr Ende. Indes, wenn ich die Frage an die Eltern weitergebe, wenn nicht ich über ihr Leben von außen befinde, wenn ich vielmehr an sie die Frage richte, was sie für des Lebens höchstes Glück gehalten: dann ist mir, als müsste ich mich auf den Weg zum Hauptfriedhof begeben.
Das war im Jahr 1948, nach dem Krieg. Mutter war damals noch keine 30 Jahre alt. Die härteste Zeit des Hungerns war vorbei. Esspakete mit aufmunternden Schreiben kamen aus den USA und man begann darauf zu hoffen, von nun an in größerer Sicherheit leben zu können. Zwar hatten die Eltern aus den Kriegstagen bereits zwei Jungen, doch freuten sie sich nun auch noch auf ein drittes Kind, das nach den beiden Jungen nun endlich ein Töchterchen sein sollte. Ob sie schon den Namen wussten? Ganz gewiss. Wo die Mutter schon zweimal vergebens auf ein Mädchen gewartet hatte und sich dann mit einem Jungen hatte zufrieden geben müssen, war der Name längst eine ausgemachte Sache. Barbara sollte das Kind heißen. Die Mutter hatte den Namen, oder besser gesagt die Schutzpatronin, für ihr Kind ausgesucht. Barbara, das war die Heilige der Bergwerksleute, die in Mutters Heimatort eine besondere Verehrung genoss und die nun dem Töchterchen als Schutzheilige hilfreich sein sollte. Die Zeit der Schwangerschaft muss übrigens recht harmonisch unter den Eltern dahingegangen sein. In ein Buch, das der Vater der Mutter zum voraufgegangenen Weihnachtsfest geschenkt hatte, hatte er als Widmung eingetragen "Meiner lieben Trudel zu Weihnachten 1947." In froher Erwartung drängte es sie zusammen zum gemeinsamen Wirtschaften und Werkeln. Und so sangen sie damals auch, zumal in den Abendstunden, wenn die Mutter das Abendessen zubereitete, so traut und herzinnig miteinander, dass ich sie noch heute singen höre.
Am 26. Juli, dem Annatag, war es dann so weit. Ein Kind kam zur Welt und siehe, es war ein Mädchen. Der Vorhang des Glücks muss sich da weit aufgetan haben, als die Hebamme auf die von der Geburt noch geschwächte Mutter zukam und ihr das Neugeborene hinhielt. Alles schien wie im Märchen, wo dem König von seiner Frau erst 12 Buben geboren werden mussten, ehe dann das heiß ersehnte Mädchen, die Prinzessin, zur Welt kam. Die Zeit der Jungen, auf die sie nicht eben gewartet, die sie aber als Geschenk zweiter Klasse vom Himmel entgegenzunehmen gelernt hatte, war nun vorbei. Und freilich hätte es des roten Bändelchens, das man dem Kind zur Wiedererkennung anlegte, niemals bedurft. Die Geburtsschwester sprach ja selber von einer frappierenden Familienähnlichkeit. Das stumpfe Näschen, das an den Vater erinnerte, sowie die feinen von der Mutter ererbten Lippenbögen und die hellen Äuglein unter der mit schwarzen Löckchen geschmückten Stirn ließen das Kind durchaus als das Kind seiner Eltern wiedererkennen. Die Tatsache indessen, dass auf dem Bändelchen der Name des Kindes stand, gab ihm etwas Feines und Feierliches; und dass es rot war mochte an die Namenspatronin erinnern, die ja zu den Blutzeugen gehörte. Nur mit dem Trinken wollte es nicht so recht klappen. Mutter hatte da einiges auszuhalten. Als ob sie das Kind nicht recht an die Brust legte, gab man ihr gute Ratschläge oder, wie sie es in ihrer Ohnmacht empfand, man schalt sie gar aus. Wenn sie aber auch bereits bei zwei Kindern alles richtig gemacht hatte, so war sie jetzt gleichwohl nicht abgeneigt, sich maßregeln zu lassen, wenn es nur dem Kind zugutekam; nur dass mit der Entlassung nach Haus die Sorgen keineswegs abgetan waren.
Wenn die Eltern sich auch auf das Kind gefreut hatten, so stellte sich schnell heraus, dass daraus nichts werden sollte. Statt dem Kind ein frohes und sorgenfreies Zuhause zu bieten, sollte ihm das Zuhause nur zu einem zweiten, noch schlimmeren Krankenhaus werden. Vor allem mit dem Trinken wollte es nicht voran. Natürlich ließen die Eltern nicht ab, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, doch was stand denn in ihrer Macht? Über die Gespräche, die die Mutter in jenen Tagen mit ihrem Kind geführt hatte, wissen wir nichts; doch lässt sich ahnen, dass es schwierige, dornenreiche Gespräche waren. Manch ein Aufschütten des Deckbettchens, manch ein besorgter Blick und manch ein Drücken des Kindes ans Herz, wenn das Kind untröstlich weinte, mögen Sprache gewesen sein, womit die Mutter dem Kind ihre Hilfe nahezubringen versuchte. Je mehr nun aber die Krankheit ihren Lauf nahm und offensichtlich wurde, dass das Kind auf dieser Welt keinen Bestand haben sollte, umso heftiger wurden Glaube und Liebe, die auch der Vater mit ihr teilte. Im Glauben, dass die Liebe alles überwände, waren Sinnen und Trachten bei ihrem Kinde. Noch sehe ich ja den Vater, wie er nach dem Büro-Dienst am Abend das Treppenhaus mit seinem Fahrrad hinaufjagte, um möglichst schnell bei seinem Kind zu sein. Erst als alles nur immer noch schlimmer wurde, entschlossen sie sich, abermals mit der Klinik Verbindung aufzunehmen. Ein Tag wurde anberaumt, an dem die Eltern mit dem Kind in der Klinik vorstellig werden sollten. Die Mutter hatte das Kind dafür eigens zurecht gemacht. Als sie dann aber nach den Untersuchungen mit dem Kind nach Hause zurückkamen und die Mutter dem Kind das blaue Kleidchen mit dem schneeweißen Häubchen wieder auszog, während es unentwegt weinte: da weinte auch die Mutter und endlich ward auch das Gemüt des Vaters von Jammer übermannt. Zwar hatte man nach dem Krankheitsbild geforscht und war wohl auch bei der Leber auf einige Unregelmäßigkeiten gestoßen, gleichwohl aber hatte man den eigentlichen Erreger der Krankheit nicht gefunden oder man war doch nicht in der Lage, ihn zu bekämpfen. Und so machte man sich nun auf das Äußerste gefasst.
Das Kinderbettchen hatten die Eltern längst ins eheliche Schlafzimmer zu sich genommen und dicht neben ihre Betten gestellt. Wenn sie ihrem Kind auch nicht helfen konnten, so wollten sie zumindest bei ihm sein und mit ihm die Not teilen. Versteht sich, dass der Vater, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, jetzt nur immer noch länger am Bettchen weilte, ehe er sonst etwas begehrte. Da stand er dann und versuchte, nachdem ihm die Mutter alles vom Tag berichtet hatte, das Kind ein wenig zu streicheln, oder, wenn es einmal für ein paar Augenblicke in den Schlaf gefunden hatte, stand er still neben dem Bettchen, als könnte er so den guten Zustand verlängern. Gewiss hatte es dem Vater nicht an Gelegenheiten gemangelt, als es ihn im Krieg in die unermesslichen Weiten Russlands und dann in verwinkelten Gegenden des Balkans geworfen hatte, dem Tod ins Antlitz zu schauen. Doch hatte er sich stets damit beholfen, unerschrocken über ihn hinweg zu schauen. Jetzt aber fühlte er etwas wie eine Bedrohung, die noch viel schlimmer war als der Verlust des eigenen Lebens.
Damals war es nun auch, dass der Regen durch das kriegsbeschädigte Dach drang und ins Wohnzimmer hereintropfte, wo das Kinderbettchen tagsüber stand. Ich sage das nicht, weil es den Eltern ihr Unglück wesentlich vergrößert hätte; ich sage es nur, weil ich mich daran erinnere, wie sie mit Eimer und Lappen über das Wasser Herr zu werden suchten, während ich über das Gitter zu dem Baby hereinsah.
Selbstverständlich spielte sich von nun an alles zu Hause ab. Selbst kleinere Spaziergänge am Sommerabend oder des Sonntags blieben aus, von irgendwelchen Besuchen, die getätigt oder erwartet wurden, ganz zu schweigen.
Vom Elternschlafzimmer aus ging es auf einen kleinen Balkon, auf den die Morgensonne schien und der, wenn es nachmittags heiß wurde, stets ein Schattenplätzchen bot. Dorthin trugen sie dann das Kind. Vielleicht täusche ich mich, wenn ich die Mutter neben dem Kind draußen auf dem Balkon mit einer Handarbeit sitzen sehe; ich weiß es nicht mehr so ganz genau. Ich glaube, sie trug damals nur mehr noch dasselbe, eintönig graue Kleid. Endlich entschlossen sich die Eltern, den Ärzten gemäß, zu einer stationären Behandlung. Und wenn man auch die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben hatte, so begannen nun doch die Tage des Abschieds.
Alles nahm nun seinen stilltraurigen, letzten Gang. Sonntags nach dem Gottesdienst ging es zur benachbarten Kinderklinik hinüber. Gibt es wirklich gar keine Aussicht, keine Hoffnung mehr? fragten die stummen Blicke der Eltern. Die Ärzte indessen schienen sich bereits mit dem Fall abgefunden zu haben. Sie schienen sich nur noch zu fragen, wie lange es noch dauerte. Die Eltern aber, zumal die Mutter, hielten an der Hoffnung fest. Wenn auch kein Mensch mehr etwas vermag, Gott verlässt uns nicht, mag sie damals gesagt haben. Warum auch sollte es dem Himmel nicht gefallen, gerade noch in letzter Minute ein Wunder zu tun? Wenn der Mensch mit seinem Menschenwitz ans Ende gelangt und alles Menschenmögliche unmöglich geworden war, war es der Macht des Himmels vorbehalten, die Rettung zu bringen. Immerhin hatte sie ja auch in der Mutter Mariens, der hl. Anna, und in der hl. Barbara mächtige Fürsprecher. "Sankt Barbara, du edle Braut, mein Leib und Seel´ sei dir anvertraut, sowohl im Leben als im Tod, o steh mir bei in jeder Not." So hörte ich die Mutter oft beten. Kein halbes Jahr war es alt geworden, als man ihm das Totenkleid anzog. Nie hatte das Kind den Anbruch eines Jahres miterlebt, nie sich gefreut an den Blumen des Frühlings, nie sollte es Schritte in die Welt tun, nie die Lieder der Liebe singen. Nur mit der Herbe des Sterbens und der Düsternis des Todes hatte es sich vertraut gemacht, allein, ohne dass ihm jemand vorangeschritten wäre und ihm Mut gemacht hätte.
Meinen älteren Bruder nahmen die Eltern zur Beerdigung mit. Er durfte Rosen ins Grab werfen. Mich aber ließen sie zu Hause zurück. Wenn ich dem Hörensagen trauen darf, so hatten sie das Kind für die letzte Reise noch besonders zu Recht gemacht. Mit einem neuen himmelblauen Kleidchen hatten sie es eingekleidet und ihm ein Sträußlein blutroter Zwergrosen in die blutleeren Hände gedrückt. Vielleicht, dass sich die Eltern ausmalten, wie sich der liebe Gott bei der Ankunft des so früh verstorbenen Kindes vor Mitleid erbarmte. Aus jener Zeit stammt auch ein Foto, das meinen Bruder am Tag seiner Erstkommunion zeigt. Dem Bild wohnt etwas zutiefst Düster-Ernstes inne. Der Bruder steht in der Mitte, in seinem Kommunionanzug, mit einer brennenden Kerze, Vater und Mutter, beide noch gezeichnet vom Tod, wie zwei Asketen daneben. Es ist, als hätte man sie eigens an diesen Ort geführt, wo sie nun teilnehmen sollten an der Zeremonie vor Gottes Thron, wo das verstorbene Kind mit dem Kleid der Unsterblichkeit beschenkt werden sollte. Nach und nach aber ließen der Tränenstrom und der Kummer nach, dass sie nur noch weinten, beinahe ohne zu wissen. Endlich waren auch die letzten Tränen versiegt, das Unheil wie ein Gewitter in die Ferne gerückt und nur eine verstörende Erinnerung war geblieben. Vornehmlich wenn auf das Kind die Rede kam, zuckte der Vater schreckhaft zusammen. Die Mutter aber sagte zu uns Kindern, dass das Schwesterchen vorausgeeilt sei in den Himmel, wo es auf uns warte. Liebevoll sprach sie dann vom Gräbele, das wir von Zeit zu Zeit besuchten. Mitunter erging sie sich auch in Überlegungen, was alles aus dem Kind hätte werden können, wenn es nicht den Weg zu Gott, dem Allerbarmer, gefunden hätte. Und fast wie in jenen Märchen, wo das Mädchen in seiner Schönheit zum Quell schrecklicher Schicksale wird, erschien ihr der frühe Tod dann als eine gottgewollte Notlösung. Jetzt, nach den vielen Jahren, drängt es mich fast, mich noch einmal auf den Hauptfriedhof zu begeben und nach dem "Gräbele" zu forschen. Da es sich aber nur um ein Leihgrab handelte, so ist es in der Zwischenzeit längst auch für viele andere Kinder zur letzten Ruhestätte geworden. Für die Mutter aber, die nun auch schon über 20 Jahre tot ist, war es wie ein Eingang zum Himmel, wo ihr Kind weiter wachsen und groß werden und sie erwarten sollte.
Schön und schicklich, den eigenen Tod missachtend, hatte die Frau gehandelt, als sie bei der eilends vorgenommenen Bestattung des jungen Soldaten noch rasch dessen Haare unter die Erde gekehrt, um sich dann selber in Sicherheit zu bringen. Denn das Gefecht war noch im Gang und der Feind mit seinen Gefechtsständen rückte näher und näher. Nur beim letzten Blick auf das frische Grab vor dem Davonlaufen hatte sie noch gesagt: "Mein Gott, wenn das deine Mutter wüsste! Das Herz würde ihr im Leib zerbrechen!
Alles war ja so grauenhaft schlimm, weil es so grauenhaft sinnlos war. Weh denen, die solche Massaker zu verantworten haben! Um erbärmlicher Ziele eines sauber gekleideten Kriegsherrn willen werden sie ausgeführt, unter dem Kommando von Generälen und Offizieren, und wehe, wer deren Befehlen nicht eilfertig und in blindem Gehorsam nachkommt! Beginne nur keiner, das Lebensende eines dieser jungen gefallenen Soldaten mit dem Ende des Lebens nach vielen Jahren zu vergleichen. Kindheit und Jugend sind nicht die rechte Zeit zum Sterben. Es ist zu hart, ganz und gar inakzeptabel, das Leben beenden zu sollen, noch ehe es angefangen. Mag man auch früher noch gern einander eingeredet haben, das in der Jugend dahingeschwundene Leben sei umgeben vom Glanz selbstloser Opferbereitschaft für das Vaterland, es war doch nur ein gemeiner Trost für die Mutter, der man ihren Sohn entrissen hatte, und für die Braut, die ihren Liebsten nie wieder umarmte. Nur so viel trifft zu, dass es dem jungen Soldaten verwehrt war, für sein Leben nach einem wundervollen Sinn zu suchen, der gewiss nicht auf dem Schlachtfeld lag. Schließlich liegt nahe, dass auch der junge Soldat von einem Glück geträumt hat. Er zog in den Kampf, nicht weil es ihn getrieben hätte, wie die Propaganda zu sagen pflegte, sondern weil man ihn eingezogen und ihm das Blaue weiß gemacht hatte, als wäre der Krieg nichts weiter als ein romantisches Zeltlager, wie seinen Altersgenossen auch. Mag sein, dass er anfangs dann noch glaubte, als Held für sein Vaterland bald schon wieder nach Haus zurückzukehren; nun aber sitzen seine Mutter und seine Braut zu Hause und weinen, weil er nicht mehr wiederkehrt.
Möge nie mehr Krieg sein und möge keinem mehr des jungen Soldaten Schicksal als ein Glück erscheinen! Möge sich aber auch keiner als ein Geschöpf entdecken, das niemanden hat und auf das niemand wartet. Möge uns solch ein Schicksal für immer erspart bleiben!
Wie einen zum Sieg bestimmten Feldherrn, der auf einer Anhöhe steht und dem die Welt zu Füßen liegt, hatte der Vater das Foto des Sohnes auf die Kommode des elterlichen Wohnzimmers gestellt. Fast als wären nun nach der Promotion in Cambridge alle seine Wünsche in Erfüllung gegangen und als stünde der Sohn neben dem alten Schöpfergott, der eben den Wassern das Zeichen gegeben, sich in Bewegung zu setzen und das Land freizugeben. Etwas dieser Art war es gewesen, was den Vater durchrauscht und durchbraust haben mochte. Nun aber stand das Foto schon fast zwei Monate da; und wenn sich die anderen alle schon daran gewöhnt hatten, so lud es den Vater doch noch immer dazu ein, es sich anzusehen, wann immer er daran vorbeikam. Ja, immer wieder zog es ihn eigens hierher, um keiner anderen Besorgung willen, als um auf diese Weise mit dem Sohn ins Gespräch zu treten.
"Gern würde ich es allen Recht machen", hatte der Sohn in seinem Begleitschreiben aus England notiert, nachdem er sich wegen des langen Schweigens entschuldigt und sich nachdrücklich in Erinnerung gebracht hatte. "Aber dem Bild aller zu entsprechen, das ist schwer, wenn nicht unmöglich. Von den maßgeblichen und einflussreichen Leuten der Wissenschaft ganz abgesehen, genügt ja nicht, dem Bild des Vaters gerecht zu werden. Dann ist da auch das Bild, das sich die Mutter von uns macht; und wenn sie es wohl auch nicht so laut zum Ausdruck bringt, weil sie ja mit dem Vater prinzipiell übereinstimmt, so gibt es doch auch Akzentuierungen bei den Zielen und Wertschätzungen, wie etwa der Seelenfriede und das innere Gleichgewicht, die ihr wichtiger sind als der Triumph ob einer allgemeinen Anerkennung. Haben wir es dann endlich noch zu einem Liebchen gebracht, so gilt es wohl auch, dem ihr von uns gemachten Bild, das uns aus ihren Augen entgegenblickt, gerecht zu werden. Lasst mich nun nicht darüber rätseln, in welchem Verhältnis alle diese Bilder zu jenem Bild stehen, das wir uns selber von uns machen und wie wir uns selber gerne sähen. Nehmt mich einstweilen so, wie ich eben bin, und vertraut darauf, dass ich nicht gedenke, mich mit dem Erreichten zufrieden zu geben und stille zu stehen."
Seit dem nun also stand das Foto, das er ihnen geschickt hatte, dort auf der Kommode, von wo es ihnen den Sohn als frischgebackenen Doktor der Naturwissenschaften zeigte: in einem eleganten, windumbrausten Mantel wie einen englischen Gentleman, auf dem höchsten Punkt einer leicht nach oben geschwungenen Brücke, an das Geländer gelehnt, den Hut in der Hand, die Haarlocken vom Wind gehoben, als hätte er sich zu keinem anderen Zweck eingefunden, als sich von hier aus der ganzen Welt zu zeigen.
Selbstverständlich hatte das Foto den Vater sehr glücklich gemacht, hielt er nun doch endlich in Händen, worauf er so lange gewartet hatte. Kein Tag verging, an dem er nicht wenigstens einmal zur Erneuerung seines Glücks vor der Kommode verweilte. Nur dass das Glück nicht lange ungestört währen sollte. Wenn er nämlich anfangs auch den Beweis zu haben glaubte für die Fundamente des Ruhms, so mischten sich doch bald schon in diesen Glauben Sorgen und Befürchtungen aller Art, die ihn zweifeln ließen, ob er auch die weiteren Etappen ebenso souverän meisterte.
Wie oft hatte der Vater nicht schon das Foto überprüft, wie viele Gedanken sich gemacht, wie viel Zukunft daraus zu ersehen begonnen! Indessen, je länger er sich zwang, sich das Foto mit dem Blick einer günstig gesinnten Gottheit anzusehen, umso mehr erhob sich ein Gegenpart in ihm, der ihn fragte, ob denn der Sohn nicht dastünde wie ein auf Gunst angewiesener Hilfsbedürftiger? Warum aber sollte sich ausgerechnet jemand seines Sohnes annehmen! Sorgte nicht jeder nur für sich selbst und für die Seinen? Da half auch nichts, sich zu vergegenwärtigen, dass er ein Bombenexamen gemacht hatte und schöne weitere Ergebnisse für die Wissenschaften versprach. Zumal die Ansicht bei Tage war von solchen zweifeln zersetzt. Etwas besser war es des Nachts bestellt. Wenn er sich dann vor dem Einschlafen noch einmal vor das Bild stellte, vergaß er die Leute, von denen er gehört hatte, dass sie das Sagen hatten und von den sonstigen Imponderabilien wie den Interessen der Wirtschaft und den Intrigen um Macht und Ansehen und dem Vorhandensein von Geld. Müde und sich nach Glück sehnend ließ er sich dann gern von der Vorstellung verleiten, als sähe er den Beginn einer jener wunderbaren Geschichten aus der Hand der alten, arabischen Erzähler ; als befände sich die Brücke irgendwo im Morgenland, in Kairo oder in Damaskus oder in Bagdad, an einem Frühsommertag. Und dann bildete er sich ein, wie eben die Sonne herrlich aufgegangen. Und ob es ein fremder Onkel war oder ein großer Zauberer oder Professoren aus aller Herren Länder, die auf den Sohn zukamen: fast wie von selber malte sich dem Vater eine Geschichte aus, wie der Sohn zum Glück eines großen, erfolgreichen Lebens gelangte. Wenn er dann aber am drauf folgenden Tag am Foto wieder vorbeikam, dann stand jede zuvor noch so günstig beurteilte Einzelheit schon wieder auf dem Prüfstand, die Zweifel in seinem Herzen zu vermehren. Selbst aus dem souveränen lächelnden Blick des jungen Mannes, aus dem er Standfestigkeit und Unbeugsamkeit und einen unerschütterlichen Willen als unabdingbare Eigenschaften für sein Weiterkommen glaubte erkannt zu haben glaubte er jetzt plötzlich Anzeichen eines kommenden Unglücks herauslesen zu sollen: "Weil man sein Inneres nicht zeigen soll, bemühst du dich um ein gefälliges Äußeres", richtete er dann leise das Wort an ihn. "Damit sich deine Eltern keine Sorgen machen, zerstreust du alles, was zu einer solchen Einsicht führt. Sehe ich dieses dein Haupt, so sehe ich zwar eines der stolzesten, die ich je gesehen habe, und sehe ich mir die Stirne an, so sehe ich die schöne Verschlussplatte eines denkenden Wesens, dann aber sehe ich, wie dein Blick sich fein nach drunten, zu Boden neigt, und sehe, wie sich nun auch deine Nase nach unten krümmt, während mir deine einst so kraftvoll geschwungenen Lippen zu erschlaffen scheinen, als hätten sie eingesehen, dass sie nicht zum Befehlen taugen! Und sind da nicht auch noch die Locken deines reichen Haares, die zwar deiner Mutter gefallen mögen, die aber doch besser zu einem Liedersänger passen als zu einem Wissenschaftler?"
Mitunter, wenn sich der Vater, von seinen Sorgen verleitet, so ins Bild verirrt hatte, wusste er wirklich nicht mehr, was er da sah. War es überhaupt ein Lachen oder handelte es sich nur um das Verlegenheitslachen eines Alleingelassenen? Um diese Frage zu beantworten, hätte der Vater freilich auch wissen müssen, wer in nächster Nähe um den Sohn herum stand. Und nicht selten versuchte er auch die nähere Umgebung daraufhin auszuloten. War er seinen Freunden vorausgeeilt, als Pionier und Haupt einer Vorhut, eine Bresche ins Heer der Feinde zu schlagen, dass man ihm nacheilen und ihn als Held feiern würde, oder hatte man ihm eine Falle gestellt und ihn da droben allein gelassen? War der im Bild dargestellte Sohn ein großer Jäger oder ein Gejagter? "Dass er mir nur nicht noch einen Ohnmachtsanfall da droben bekommt und mit Hut und Mantel den Fluss hinabtreibt", kam es dem Vater, um sich dann aber gleich wieder davon loszureißen. "Schreckbilder", so ermahnte er sich dann, "Schreckbilder zeigen uns ja keineswegs das Bild der Zukunft, sie wollen uns nur warnen, dass wir uns nicht leichtfertig in Sicherheit wiegen."
Ein besonderes Problem in der Menge der väterlichen Sorgen stellte nun auch die Braut dar, die der Sohn wohl noch finden musste. Seltsam, wie oft es geschah, dass sich die Cam in den Canal Grande verwandelte, sobald der Vater an die Braut dachte. Vielleicht weil er selber damals auf seiner Hochzeitsreise dort vorbeigekommen war. Fastnachtsnarren glaubte er dann im Hintergrund zu hören, wie sie auf die Brücke zugesprungen kamen, mit Pfeifen und Pritschen; unter ihnen auch die Braut, die nun den Sohn seiner großen Mission abspenstig machen könnte. Ehe der Sohn zum Studium weggegangen war, hatten sie sich noch einmal zusammengesetzt, der Vater, die Mutter und der Sohn, das auszutauschen, was für einen jeden von ihnen von besonderem Belang war. Der Vater war es gewesen, der damals vor allem über Leistung und über Erfolg gesprochen hatte: dass es mit der Leistung allein nicht getan sei; dass man, um Erfolg zu haben, sich diesen täglich neu erkämpfen müsse, worunter er vor allem die Arbeiten verstand, mit denen man sich dann einen festen Platz und einen wohlbekannten Namen in der Wissenschaft sicherte. Keiner, wie begabt er auch gewesen, habe den Erfolg geschenkt bekommen, auch wenn das von den Erfolgreichen meist verschwiegen würde. Jeder, sobald er den Erfolg erreicht habe, sei ja zutiefst davon überzeugt, dass man gar nicht anders hätte tun können, als ihn ob seiner Leistungen so zu befördern; in Wahrheit aber müsse man in einer leistungsbetonten Gesellschaft unentwegt auf sich aufmerksam machen; man müsse die Öffentlichkeit dazu zwingen, einen als überragend anzuerkennen. Das beginne mit einem gewandten und geschmeidigen, seriösen Verhalten, wozu auch eine ordentliche Kleidung gehöre; vor allem aber müsse man sich mit einem korrekten Betragen sich unentwegt den maßgeblichen Leuten gegenüber empfehlen, wovon man nie ablassen dürfe, auch nicht, wenn man deren wissenschaftliche Schwächen erkannt habe. Kritik, wie berechtigt sie auch sei, sei da absolut fehl am Platz. Die Mutter aber hatte noch hinzugefügt, dass man sich auch ein Stück weit aufgeben müsse zugunsten einer erstrebten Gemeinschaft.
Jetzt aber drängte es den Vater, dem Sohn zu schreiben. Doch was sollte er ihm mitteilen? Seine Ängste doch wohl nicht! Sollte er also seine Zufriedenheit über das Erreichte zum Ausdruck bringen? Nein, danach war ihm nun auch nicht zu Mute. Ich könnte ihm schreiben, dachte er da, wie wir, seine Mutter und ich, uns kennen gelernt haben. Sobald er sich jedoch hinsetzte, versagten sich ihm die Worte. Gleichwohl aber ließ ihm der Drang zum Schreiben keine Ruhe. Als er sich wieder einmal hingesetzt hatte, jetzt aber zur Nachtzeit, um ganz ungestört sich die Gunst der Nacht zu eigen zu machen, leise war er aus dem Schlafzimmer geschlichen und hatte sich, das Foto des Sohnes vor sich, ans Schreiben gemacht: da geschah es, dass die Mutter hinzukam. "O du Mann", sagte da die Mutter, während der Vater den eben begonnenen Brief zu verbergen suchte, "was machst du dir nur so viele Sorgen! Wenn nur er sich selber versteht. Das genügt doch. Uns aber geziemt es, ihm zu vertrauen. Komm mit mir zu Bett, damit ich dir noch etwas ins Ohr flüstere!" Und dann begaben sie sich zusammen zurück ins Bett und sie flüsterte ihm leise ins Ohr, dass keiner ins Leben einträte und alles wäre für ihn sichtbar und nachweislich aufs Beste vorbereitet; und doch hätte sich ja auch bei ihnen alles zum Besten gefügt. "Als die Zeit gekommen war", so beschloss sie ihre kleine Rede, "da geschah etwas, was wir nie restlos zu begreifen vermögen. Selbst wenn wir tausend chemische Formeln aufschrieben und ebenso viele physiologischen und neurologischen Gesetze zu Hilfe nähmen, so brächten wir doch nicht zum Ausdruck, was da geschah, geschweige denn, dass wir eine Lehre zu geben vermöchten. Mag uns mitunter auch die Illusion beherrschen, als ob alles, was wir in der Vergangenheit aufgehoben sehen, einfach und sonnenklar gewesen wäre. Was wir als ein Vergangenes, als ein sogenanntes Faktum vor uns sehen, das ist indessen nur ein seiner vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten beraubtes, abstraktes Endprodukt, das uns jetzt, wo es vor uns liegt, wie der Endpunkt einer Strecke erscheint, was es aber von Anfang an keineswegs war. O Liebster, ist denn das Leben nicht auch immer ein großes Wagnis? Nur eines scheint mir unbestreitbar: dass wir uns zur rechten Zeit gefunden, uns zur rechten Zeit bei der Hand genommen und zur rechten Zeit das Lied der Liebe zu singen begonnen haben. Im Übrigen waren ja auch wir wie Träumende erfüllt: erfüllt von dem uns beseligenden und unerschütterlichen Willen, einander anzugehören."
Am folgenden Tag entfernte der Vater das Foto von der Kommode und legte es ins Album zu den anderen Fotos. Seitdem ist er deutlich ruhiger geworden. Die Sorge, dass sich etwas Böses über seinem Sohn zusammenbraut, ist unter der liebevollen Aufmerksamkeit seiner Frau spürbar kleiner geworden. Wie es mit der Arbeit des Sohnes in den Instituten und Laboratorien weitergeht, beängstigt ihn nicht mehr so sehr; und was die Braut betrifft, so überlässt er sich dem Glauben, dass sich auch hier schon noch eine Lösung abzeichnet. Die Angst vollends, dass der Sohn eines Tages vor ihnen auftauchen und ihnen Vorwürfe machen könnte, als hätten sie ihn in ein Leben gestoßen, das ihn nicht erfüllt, hat sich vollends verflüchtigt. Stattdessen ist ihm ein Bedürfnis geworden ist, an der Seite seiner Frau zu sitzen, den Arm über ihre Schulter gelegt.
Es ist wohl kein Zufall, dass unsere Mutter ausgerechnet ihrem Jüngsten und Sorgenkind, der einst als Kleinkind noch das herrliche Talent besessen, stets fröhlich zu sein und froh zu machen, jene Geschichte anvertraut hat, die das Leben ihrer eigenen Mutter in frühester Kindheit so tief und nachhaltig prägte: womit sie ihm sagen wollte, dass es gerade jene jäh hereinbrechenden, unergründlichen Zufälligkeiten sind, die uns oftmals noch von etwas ganz anderem berichten, gleichsam als hätte sie ihm noch sagen wollen, nachdem alle ihre Bemühungen, ihm eine kleine Erwerbsquelle zu ergattern, gescheitert waren: "Gib dich nie auf! Denn wenn dich die Welt auch nicht mehr brauchen kann, der liebe Gott kann dich ganz bestimmt brauchen. Hör nur zu!
Etwa 120 Jahre mag es jetzt her sein, kurz vor Anbruch des uns allen mit den zwei Weltkriegen noch so schrecklich in Erinnerung liegenden 20. Jahrhunderts, an einem Frühsommertag, als ein heftiges Gewitter über dem Bauernhof meiner Großeltern heraufzog. Und wenn es sich auch schon vor Mittag über einige Stunden hinweg angekündigt hatte, so brach es sich dann doch plötzlich gegen 3 Uhr am Nachmittag Bahn. "Geh, Maria, und schließ das Fenster droben!" sagte die Mutter zu meiner Mutter, als das Unwetter mit Stürmen und Blitzen vom Himmel herabbrach. Sie hatte es nämlich noch offen stehen, fürchtete jetzt aber, es könne im umhertobenden Sturm einen Schaden nehmen, wenn nicht gar zur Ursache werden für den Einschlag eines Blitzes mit verheerendem Brand. Versicherungen, das wussten ja alle, ließen nicht mit sich spaßen, wenn man auch nur eine der Vorschriften missachtete und von manch einer Leibrente wusste man, dass sie nicht ausbezahlt worden. Und da sie jetzt eben alle Hände hier drunten voll zu tun hatte, so hatte sie dem Kind, das sich neben ihr in der Küche aufhielt, den kleinen Auftrag übergeben. Nun aber geschah es, dass der Vater, der jetzt auch überall zu tun hatte, eilends vorbei kam. Als er aber das Kind sah, wie es so verängstigt dastand und hörte, dass es sich nicht die Treppe hinauf in das Obergeschoss traute, so wütend polterte es von dort droben herab: "Siehst du denn nicht Frau, dass Maria Angst hat?" rief er in die Küche. Und ob er auch nur einer Kleinigkeit wegen hatte ins Haus kommen und schnell wieder in den Hof zurückkehren wollen, wandte er sich an das Kind und sagte: "Lass nur! Das will ich schon selber erledigen", streichelte ihm noch flüchtig das Haar, denn er hatte es sehr lieb, und eilte die Treppe empor. Neben dem Fenster aber stand schon der Tod und wartete auf ihn; und als er es schließen wollte, traf ihn der Blitz. Nach Aussage des Kreisarztes sowie eines Sachverständigen des Berufsverbandes, die man noch am selben Tag herbeigerufen und die es nicht an Sorgfalt fehlen ließen, den Hergang aufs Genaueste zu untersuchen, war es ein Kugelblitz, durch den er zu Tode gekommen. Nur der Pfarrer bei der Beerdigung wusste es besser. "Weinet nicht, ihr Lieben", sagte er. "Für ihn ist gesorgt. Der liebe Gott hat ihn zu sich genommen in eine bessere Welt."
Was auch wäre ein Leben auf Erden,
wollten nicht große Männer wir werden!
Geburtstag haben, im Mittelpunkt stehen, die Wonne der Familie sein, in der Schule gefeiert werden und überhaupt zu wissen, dass jetzt alle Welt auf einen schaut und einen wohl auch ein wenig beneidet, das ist es doch, was einen Geburtstag so recht ausmacht. Fast möchte ich sagen, der Geburtstag ist der Tag, wo sich selbst das liebe, große Himmelsgewölbe um uns herum dreht, begierig darauf uns zu sehen, was aus uns geworden ist und was wir machen. Und zeigen nicht selbst auch uns wildfremde Menschen eine gewisse Neigung, bereits aus der Ferne die Hüte zu lüften und uns zuzuwinken! Das war schon immer so und so wird es auch bleiben. Der Geburtstag sagt dir, dass du wer bist und da hat er durchaus Recht. Hast du doch schon tolle Fortschritte gemacht! Da eilst du die 16-Reihe und die 17-Reihe bergauf und bergab wie ein Rennfahrer und weißt noch so einiges Wissenswerte. O Freund, steh dir nur nie selber im Wege und halte immer daran fest, dass du wer bist. Vergiss nicht, unbeirrt daran weiter zu arbeiten, dass du der bist, der du doch schon immer hast sein wollen.
Wenn ich mich daran zurückerinnere, als ich 8 Jahre alt wurde. Vielleicht denkst du, dass der Opa schon immer ein Opa war, sodass es geradezu ausgeschlossen ist, dass er auch mal 8 Jahre alt geworden sein könnte. Und du hast ja Recht. Wie soll man sich auch ein schon so altes Modell ins Stadium der Kindheit zurück versetzen! Genug, dass er da ist. Immerhin erinnere ich mich noch, dass es auch mich damals immerfort gelüstete, etwas Großes zu unternehmen. Was wusste ich auch vom Leben. Ich wollte etwas tun, etwas unternehmen, träumte davon, wie ein Tom Sawyer am Mississippi herumzustreichen und ein Held zu sein. Und das bedeutete natürlich vor allem, ganz auf sich gestellt zu sein und für sich zu sorgen. Auf einer kleinen Insel oder Sandbank seine Hütte zu bauen und des Abends um ein Lagerfeuer zu sitzen und seine selbstgepflanzten und geernteten Kartoffeln unter der Glut zu vergraben und selber gefangene Fische zu braten, um dann alles mit einem herzerwärmenden Getränk zu verzehren, vielleicht auch aus eigener Brauerei. Alles das, versteht sich, mit ein paar guten, verlässlichen Freunden. Des Nachts dann würden wir uns im Freien unter das Sternenzelt legen, in der Nähe des zu Glut gewordenen Feuers, um über alte Zeiten zu plaudern und den kommenden Tag vorzubereiten.
Was für ein Aufbruch in die Welt, was für ein Wind voller Freiheit, was für eine Lust am Dasein, wenn wir uns da Geschichten erzählen von verwegenen Abenteurern und mutigen Soldaten, als wären wir mitten dabei gewesen! Und dürfen wir sie uns nicht auch ein wenig zurecht legen und ausmalen nach unserem Geschmack!
Johann Peter Hebel, der ja bekanntlich gerne Geschichten wiedergab, nicht wie sie sich in der Welt der kalten Fakten abgespielt haben, sondern wie er sie gern gehabt hätte, berichtet uns da in der Kalendergeschichte "Die Besatzung von Oggersheim" aus dem Dreißigjährigen Krieg, als die Spanier vor Oggersheim standen und sich Einlass ins Städtchen erbaten, ohne dass diese wussten, dass die Bevölkerung längst das Weite gesucht hatte. Nur ein Familienvater, das heißt ein werdender, wie etwa weiland dein Onkel Paul, befand sich noch darinnen, weil er seinem Weibchen in Anbetracht der auf sie zukommenden Stunde keinen Wegmarsch mehr hätte zumuten können. Und so sehen wir nun den jungen Mann, wie er mit einem weißen Fähnlein mutig die Stadtmauer hinauf steigt, um den draußen wartenden feindlichen Scharen kund und zu wissen zu tun, dass die Einnahme der Stadt nun vonstatten und alles geregelt werden könne, wenn sie nur Recht und Eigentum respektieren wollten. Versteht sich, dass die Wahrheit dann schnell zum Vorschein kam; das heißt, dass zum Vorschein kam, dass außer dem Kapitulanten kein Bürger der Stadt mehr zum Vorschein käme. Immerhin aber hatte man sich ja darauf verständigt, Recht und Eigentum zu respektieren. Unser Kalenderschreiber hat es nun just auf diesen Augenblick abgesehen, wo er dann den jungen Mann dem nicht schlecht düpierten und wohl zu allem fähigen Feldhauptmann - denn mit solchen Herren war kein Spaß zu treiben -, in wundervoll entwaffnender wie auch weit über das spezielle Ereignis hinausgehender Weise sagen lässt: "Nur meine Frau ist noch bei mir im Städtlein" - das wäre also deine Tante Angela -, "aber ein ellenlanger Rekrut wird nächster Tage eintreffen. Unterdessen bin ich mein eigner Kommandant und mein Trompeter, mein Gemeiner und mein Profos." Wie herrlich ist doch dieser Satz! Wie herrlich als Losung für das Leben eines wahren Helden! Lebe so, dass du dein Kommandant sein kannst, der die Weisungen ausgibt, und zugleich auch der Soldat, der sie zur Ausführung bringt.
Leider war damals, als ich 8 Jahre alt wurde, keine ganz so ruhige Zeit, wie sie zu einer Einübung ins Vor- und Außenpostenwesen nach Art des Tom Sawyer und des Huckleberry Finn notwendig gewesen wäre. Und auch der Rekrut von Oggersheim war schon lange tot. Ging ich in den Wald hinaus, so geschah es nicht, um Riesen und Ungeheuer zu erschlagen, sondern um Holz oder Beeren zu sammeln für die kalte und ertragslose Winterzeit. Die Spuren des 2. Weltkriegs waren noch überall zu sehen, in den Städten und in den Wäldern. Und Stalin, der mächtige Kommunistenchef saß noch hinter seinen dicken Kremlmauern, ließ sich des Abends zumeist von seinem Sekretär Chruschtschow Käsperchen vorspielen, vermutlich um sich die Angst zu vertreiben, weil an seinen Händen Blut von Millionen unschuldiger Menschen klebte. Die Angst vor einem dritten Weltkrieg mit apokalyptischen Bomben ging umher wie ein Gespenst, und wenn diese Angst wohl auch weniger an uns Kindern fraß als an den Erwachsenen, so hatte doch alle Welt zu tun, so dass ich oft alleine auf mich gestellt war. Was sollte ich tun? Gewiss, man ging in die Schule. Gleichwohl aber konnte man doch nicht nun auch noch die lieben langen Nachmittage über den Büchern verbringen. Da wäre dann ja der Unfug zu kurz gekommen, der schließlich auch zur Würde eines achtjährigen Opas gehört. Wiewohl unser Held, ich meine mich, deinen Opa, viel Zeit und Gelegenheit gehabt hätte, sämtliche Zahlenreihen bis 1000 auswendig vor und zurück aufzusagen und außer "casa die Hütte" noch ein Dutzend Bücher mit fremden Wörtern sich anzueignen, wollte er doch nicht auch darauf verzichten, auch handfesten Unfug zu treiben, was dann natürlich nicht immer nur mit dem höchsten Lob ausgezeichnet wurde. Aber das mit dem Unfug ist alles nicht so schlimm. Der gehört wohl immer dazu, wenn er nur unter der Aufsicht eines braven Kommandanten bleibt. Schließlich kommen wir ja als Männer zur Welt und wollen Männer bleiben, ein Leben lang. Mit 8 bist du ein Tom Sawyer, mit 18 vielleicht ein Vorstadtturner und Löwenbändiger, mit 28 wirst du als unbesiegbarer Held des Dschungels dem Kaiser vorgestellt von wegen seiner Tochter. Du verstehst. Mit 38 kannst du wählen, ob du dir als Gewaltmensch die Krone Napoleons aufsetzen willst oder ob du dich lieber für den Lorbeer Petrarcas entscheidest, den man dir dann in Gegenwart sämtlicher Geistestitanen der Vorzeit und der Gegenwart verleiht und der dich ermächtigt, von nun an das tadellose Leben eines Schöngeistes zu führen, um dann endlich, wie dein hier Geburtstagsbrief schreibender Opa, mit 68 oder 78 Jahren festzustellen, dass du wieder zum Achtjährigen geworden. Ja schön ist es, wenn du es einmal so weit gebracht hast, dass du alle Voraussetzungen erfüllst, ins Himmelreich einzugehen, weil du wieder ein Kindlein geworden. Meine liebe Großmutter väterlicherseits, es ist eine von deinen acht Ururgroßmüttern, beschwichtigte damals schon die angesichts ihres Sprösslings immer wieder etwas aufgebrachten ratlosen Eltern, indem sie sagte: "Lasst ihn nur! Der Bub wird schon noch was Rechtes!" Jawohl, das hat sie gesagt; und das habe ich behalten. Und das muss damals schon ein gutes und wahres Wort gewesen sein. Oder findest du nicht auch?
Was soll ich dir nun also zu deinem Geburtstag noch wünschen, wo du dich doch schon als einen tüchtigen Mann sehen lassen kannst! Mach nur so weiter. Das wird schon was Rechtes. Denn wir bleiben, die wir sind, und werden, die wir werden sollen, wenn wir uns nur selber niemals im Weg stehen.
Mensch - ärgere dich nicht" spielten wir als Kinder. In der Tat lohnt es sich nicht, sich zu ärgern. Denn Ärger frisst um sich wie ein Feuer. Er prägt sich ein und füllt das Gedächtnis. Und hast du dich dann endlich wieder beruhigt, so bleibt der Ärger doch wie eine Glut unter der Asche verborgen, dergestalt, dass beim kleinsten Anlass der Ärger auch schon wieder um sich zu greifen und nach Nahrung zu suchen beginnt; und die alten Mechanismen beginnen wieder, dieses Mal aber nur noch schlimmer, ihr Spiel mit dir zu treiben. Besser ist allemal, an nichts Ärger Erregendes erinnert zu werden. Von daher sollte man es fertig bringen, sich nie ärgern zu lassen, um weder den Ärger in sich hinein fressen zu müssen, noch auch wie ein Tyrann aus der Haut zu fahren. Hier haben wir es wirklich mit einem Glücksspiel zu tun, wie man doch sehen kann, wenn man bedenkt, dass immer wieder selbst Kinder um einen herum als Sieger hervorgehen, die es noch nicht einmal verstehen, von dem bisschen Strategie, das einem das Spiel lässt, Gebrauch zu machen.
"Aber wenn du nun wirklich geärgert wirst?" fragen mich jetzt die Enkelkinder, die mir zufällig zugehört haben. "Gewiss, als Kind und als Jugendlicher darf und muss man sich auch ein wenig ärgern und ärgern lassen, damit man es lernt, mit dem Ärger auf die rechte Weise umzugehen. Ohne einen leisen Anflug gelegentlichen Ärgers, über andere und über sich selbst, aber vielleicht auch über das Schicksal und über den lieben Gott, schafft man wohl kaum den Weg zur eigenständigen Persönlichkeit. Wenn man dann aber einmal das Erwachsenenalter erreicht hat oder gar, wenn man auf die Jahren des weisen Greisenalters zustrebt, wäre schon gut, wenn man alles, was mit Ärger zu tun hat, hinter sich gelassen hätte. Nicht, weil man im Alter auf Händen getragen würde. Davon kann keine Rede sein. Weder die lieben Mitmenschen noch auch das Schicksal meinen es gut mit dem Alter. Wenn wir für eine von Ärger freie Zone des Alters plädieren, so deshalb, weil man auf diese Weise am wenigsten Gefahr läuft, am lieben Gott, an den lieben Mitmenschen und an sich selber irre zu werden, wenn wir uns auch darüber im Klaren sind, dass es bei diesem Lerngang nicht ohne ein wenig Selbstüberlistung und Narretei zugeht. Ruhig zu bleiben und gelassen, wo andere aufgeregt herumschreien, und zu lächeln, wenn andere über die ganze Welt zu verzweifeln beginnen oder gar nach Rache brüllen: das will schon gelernt sein. Denn bei Licht besehen, leben wir ja wirklich nicht in der besten aller nur vorstellbaren Welten. Ärger ist also zwar entschuldbar, insofern es Ärgernisse gibt, nicht aber entschuldbar, insofern wir aufgerufen sind, für unser Wohl zu sorgen.
Kehren wir noch einmal zu den Kindern zurück! Für die ganz Kleinen ist das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel absolut harmlos. Sie sind noch immun gegen jeglichen Ärger. Ob sie gewinnen oder verlieren, die Spielfiguren anderer aus dem Spiel herausschmeißen oder selber herausgeschmissen werden, das zählt bei ihnen noch nicht viel. Hauptsache, man ist bei den Großen mit dabei gewesen. Ganz anders aber ist es, wenn die älteren Geschwister mit den jüngeren spielen. Da ist beinahe selbstverständlich, dass die Kleinen die Großen zu ehren haben und selbstverständlich auch das Glück. Es kann ja nicht sein, dass Frau Fortuna den Ältesten auf eine begehrte Zahl warten lässt, während sie diese den Kleinen gewährt. Schließlich hat sich auch Frau Fortuna nach den Vorrechten der Älteren zu richten. Wehe, da erdreistet sich der jüngere Bruder, eine Zahl zu würfeln, die einem den Sieg vermasselt! Da kommt es durchaus vor, dass sich der jüngere Bruder im Vorhinein entschuldigt für den Fall, dass er die böse Zahl würfelt. "Ich entschuldige mich, wenn die besagte Zahl herausspringt. Ich will sie ja gar nicht würfeln!" Das Geschrei ist dann gleichwohl unermesslich, wenn das Böse geschieht. O wie wird da gehadert und geflucht! Dabei weiß der 12jährige doch längst, dass das alles nur von Fortunas Gnaden abhängt, von dieser Metze! Was also soll man sich aufregen wegen eines solch kindischen Spiels? Doch nein, als hätte man beim Roulette im Spielcasino alles Gold der Welt verloren, ist die Stimmung gereizt und gedrückt. Da rebelliert man auf und schreit man sich den Groll und die Wut aus dem Leibe, ohne zu bedenken, dass man die Sache dadurch nur noch schlimmer macht. Nein, so wird man den Ärger nicht los. Je mehr man ihn offen bekundet, umso mehr wird er zu einer unumstößlichen Tatsache, wird zu einer furchtbaren Wirklichkeit, umso mehr schadest du dir selbst. Verbirg deinen Ärger, lass ihn dich gar nicht wahrnehmen, sag dir lieber, dass du ja doch, wenn es auf dich ankommt, ganz anders zu Werke gehst! Sag dir, dass es hier keine besseren und schlechteren Spieler gibt, wie etwa beim Schach, sondern nur vom Glück mehr oder weniger begünstigte Mitspieler. Ja lach lieber darüber, dass der größte Hornochse endlich auch mal siegen kann!
Ist Eltern anzuraten, jeden solchen Groll im Keim bereits zu ersticken? Ich weiß es nicht. Zu Wutausbrüchen, aber auch zu verbalen Entgleisungen sollte es jedenfalls nie kommen. Eltern käme hier eine gewisse Vorbild- und Vermittler-funktion zu. Andererseits sollte das Schreien nicht nur von außen unterdrückt werden. Selbst auch wenn ein solches Verfahren das Verbot des inneren Schreiens nach sich zieht, wäre durchaus möglich, dass man auf diese Weise Duckmäuser und Packesel produziert. Auf diese Weise würde dann das Spiel zu einer Vorübung für Untertanen, die sich alles gefallen zu lassen haben und die mithin nie mündig werden. Eine heitere Ironie von Seiten der Erzieher wäre da wohl mehr versprechend. Muss man denn sagen, wenn man eine Figur verliert: "Du Schuft, aber warte nur, dir zahl ich es heim?" Kann man nicht auch sagen: "Ei, sieh einer an, was sich der Herr Nachbar einfallen lässt!" Oder "Schon Cäsar hat dem Vercingetorix einen gemeinen Tod bereitet!" Das Spiel könnte auf diese Weise unversehens ganz andere Konturen gewinnen. In solch eine Ironie eingeführt, könnten die Kinder lernen, sich selber in die Pflicht zu nehmen. Dann bist du einerseits Spieler, stehst aber andererseits immer auch als Beobachter und Kommentator außerhalb des Spielfelds.
Der Großvater als Betreuer seiner Enkel und andererseits als Kinderbeobachter steht da übrigens in einem gewissen Zwielicht, den wir durchaus nicht verhehlen wollen. Denn eigentlich kommt er nur als Betreuer und Erzieher in Betracht. Jedes psychologische Interesse ist hier ganz entschieden zu verurteilen. Gleichwohl muss er gestehen, dass er sich da doch hin und wieder etwas hat zuschulden kommen lassen. Einmal spielte er im Kreis der Kinder dieses Spiel so verrückt, dass selbst ein Dostojewski gestaunt hätte. Anfangs begann alles ganz harmlos. Selbstverständlich wollte jedes der Kinder gewinnen. Einem unter ihnen war denn auch gleich ein ganz unverschämtes Glück beschert. Kaum war der Würfel im Kreis herumgegangen, da stand er auch schon mit allen seinen vier Männchen auf dem Feld, die er triumphierend über die Rennbahn jagte. Doch die launische Fortuna hatte ihn genarrt. Wenig später war plötzlich alles umgekehrt. Da hatte er alle seine Männchen schon wieder am Startplatz, während die anderen, die zuvor noch überhaupt erst um den Spielbeginn gewürfelt hatten, nun schon mit dem einen und anderen Männchen am Ziel waren. Das alles aber war nicht ohne eine immer größere Erregung und innere Bewegung erfolgt. Am liebsten hätte unser junger Mann jetzt wohl das Spiel zusammengeschmissen. Die Lust zu spielen war ihm gründlich vergangen, wie er auch nicht müde wurde, jetzt immer wieder zum Ausdruck zu bringen. Da dies aber nicht ging, schließlich war ich als Schiedsrichter mit dabei, so kam er nun auf die Idee, wenn ihn schon Fortuna ärgerte, nun seinerseits auch die Mitspieler beim Spiel zu ärgern. Statt seine Männchen nun weiter eines nach dem anderen in die Obhut des Zieles zu bringen, massierte er bald eine Abwehr auf offenem Feld, bald richtete er sich gegen einen einzelnen Feind, bis er ihn vernichtet hatte. Dabei ging er durchaus nicht systematisch zu Werk. Jedenfalls stand langfristig kein Plan hinter seinen Aktionen. Traf es ihn aber selber einmal, so lachte er nur höhnisch auf. "Ich will ja gar nicht gewinnen", rief er aus. "Ich spiele ja nur, um euch zu ärgern." Und dies tat er denn auch oder er versuchte es wenigstens, und zwar so feindselig, dass ihm tausend Dämonen aus den Augen herausblitzten, als sollte das Spiel im Gewitter enden. Erst zum Schluss wurde er sich untreu, vielleicht hatte er es selber mit der Angst zu tun bekommen, und favorisierte seinen älteren Bruder auf Kosten der jüngeren Schwester zum Sieg.
"Mensch - ärgere dich nicht! - Und ärgere auch nicht die anderen!" fügen wir hinzu. In der Tat: Ärger frisst um sich wie Feuer. Er prägt sich ein und füllt das Gedächtnis. Besser ist allemal, an nichts Ärgerliches erinnert zu werden, auf dass uns nichts hinderlich in den Sinn kommt, zumal, da wir uns immerfort zu sagen wünschen, dass das Leben gut sei.
Im Frieden zeig bescheiden dich im Stillen,
im Krieg zeig Mut und Kraft und unbeugsamen Willen
Wenn man des Sonntags bei gemütlicher Pfeife den jungen Katzen zuschaut, wie sie das erste Mal auf Jagd ausziehen und wie sie sich so recht in ihrem Kostüm als Jäger entdecken, wenn sie, nachdem sie eine Maus erjagt, mit ihrem Opfer zu spielen beginnen, wenn sie die Maus in die Luft werfen und ihr immer wieder nachsetzen, um ihr dann, nachdem auch noch das letzte Bisschen an Lebensmut zum Erlöschen gebracht ist, den Gnadenbiss zu verpassen: da mag man sich fragen, ob es nicht besser wäre, wenn diese Katzenbiester von den tödlichen Spielen abließen, zumal sie doch ihre Beute gar nicht verzehren.
"Wohl ist für uns gesorgt", könnte da eines dieser Katzenbiester sagen, sodass wir uns mit der Jagd begnügen. "Doch wissen wir, wie lang diese Sorge anhält? Gibt es nicht immer wieder Fälle, wo nach dem Tod eines Katzenbesitzers eine Katze aus dem Haus gejagt wird? Was tun wir dann, wenn wir uns derart haben veredeln lassen, dass wir kein Tierlein mehr anzurühren wagen? Es kann also kein Fehler sein, wenn wir noch immer auch ein wenig unseren alten Erhaltungstrieben und Jagdinstinkten frönen!" Endlich aber könnte uns eine philosophisch gebildete Katze belehren, dass ja auch wir Menschen uns immer einmal wieder auf unsere alten Instinkte besinnen! Oder waren es nicht just der kranke Schopenhauer und der kranke Nietzsche, die feststellten, dass nichts so gut zum Selbsterhaltungstrieb passt wie der Wille zur Macht? Und lange zuvor, war es nicht Vespasian, dieser aus dem Nichts aufgestiegene Truppenführer, der nach der dekadent-sadistischen Willkürherrschaft des Nero mit dem Bau des Kolosseums zum wohlorganisierten und standesgemäßen Katz-und-Maus-Spiel der Cäsaren zurückkehrte!
Wer ist eigentlich der Mensch von Haus aus und was hat es mit ihm auf sich? Wo kommt er her und wo will es mit ihm hinaus? Was kann uns die Geschichte der Menschheit dazu sagen? Mag sein, dass wir den Menschen gern mit einem von Natur aus festen, zum Allgemeinwohl ausstaffierten, überall gleich sensibel schlagenden Gewissen sähen, zumal diejenigen, die es kraft Amtes mit dem Menschen zu tun haben, wie Lehrer, Eltern, Richter und Seelsorger und Politiker, dergestalt, dass einer Gewissensinstanz das letzte Wort zukäme. Nur dass es ein solches Fundament der Gleichheit in uns nicht gibt. Nicht alle wollen gleich sein wie die anderen. Je mehr sich einer unter den anderen bewährt, je mehr Lob und Ansehen und Achtung ihm zukommt, umso mehr gelüstet ihn auch, sich über die anderen zu erheben. Wer bewundert und gelobt wird, zeigt im Gegenzug alsbald schon nicht mehr besondere Lust auf Dankbarkeit den Lobspendern gegenüber, sondern, da man ihm, wie er nun meint, als dem Besten Dank schuldet, fordert er Anerkennung und Unterwerfung. Oder wäre es nicht widersinnig, das Beste im Mann der Meinung der vielen zu unterwerfen und es von ihnen versklaven zu lassen? Wenn Cäsar-Sein bedeutet, das Beste im Mann mächtig und kräftig und unbeirrt in Szene zu setzen: dann muss man es nicht nur auf den Schlachtfeldern, dann muss man es überall versuchen, wo immer um eine Rangordnung gerungen wird. Das ganze Leben über, vom Kindergarten bis zu den Seniorengärten, lassen sich Cäsarentypen finden. Man komme doch nur einmal mit zum Altherren-Faustballspiel am Freitagabend, an dem man auch den hier schreibenden Schreiber bewundern kann! Nicht dass er da ein großer Cäsar wäre! Und doch, ist es nicht herrlich, mitzuerleben, wie es da in der Seele unseres Schreiber-Helden kocht, wenn er einmal an einem Abend eine Niederlage nach der anderen hat einstecken müssen! Wie es in ihm da wurmt und sich regt und aufbäumt, dass er am liebsten noch gar mit dem Kopf gegen die Wand rennt! Was gäbe er da nicht her, um nur wenigstens einen Sieg nach Hause zu tragen! Zeugt das von hohem Verstand und Klugheit oder gar von Kultur und edlem Betragen? Keineswegs. Dabei ist das nur ein kleines albernes Altherrenspiel! Würden wir ihm nicht vor jedem Spielabend nochmals eingehend zu Herzen reden und ihn beschwören, dass es besser ist, gesund wieder nach Haus zu kommen, man müsste jedes Mal einen Krankenwagen mit ihm zum Sport schicken.
Mag man nun auch keinen ganz echten und ausgewachsenen Cäsar wahrnehmen: Ansätze dazu sind wohl zu erkennen. Herrisch und kommandierend, unduldsam und aufbrausend, nur dem unbedingten Siegeswillen gehorchend, nicht zuletzt aber auch mit taktisch strategischen Blicken sehen wir da unseren Helden. Und wenn er auch die Woche über halbwegs kultiviert daherkommt, den Cäsar tief verborgen mit sich trägt: beim Sport ist er plötzlich wieder da. "Ich bin schon gespannt darauf", hat er einmal schalkhaft äugelnd zu einem Mitspieler gesagt, "was für Streiche mir heute mein Cäsar wieder spielt."
Vielleicht, dass ein Menschenfreund den Einwand erhebt, ob es nicht schöner wäre, unserer Hundenatur zu Leibe zu rücken und dieses archaische Unterfutter endlich zu kultivieren? Unser Held bezweifelt den Nutzen eines solchen Lehrgangs. Mitunter einmal auch ein Spiel verlieren zu können, ist wichtig und richtig; das kann wohl auch unser Held. Auch er spielt immer wieder einmal mit einem Kameraden, neben dem man es kaum aushalten kann, nicht nur, weil er nicht spielen kann, sondern vor allem auch deshalb, weil er sich keinen guten Rat geben lässt und alles besser zu wissen glaubt. Gesetzt, unser Held hätte es geschafft, stoisch ein Spiel nach dem anderen zu verlieren: Wem diente das? Der inneren Veredelung und Kultivierung unseres Helden? In der Einübung und im Erdulden permanenten Verlierens, so befürchtet unser Held, findet man nicht zu einem guten Benehmen, sondern zu einer Willenlosigkeit und Gleichgültigkeit, bei der der Kampfgeist und die geduldige Ausdauer, die auf einen Sieg wartet, verloren gingen. "Zum Teufel mit all dem guten Benehmen", brüllt ihm da der alte Cäsar ins Ohr, wenn er nach einer verlustreichen Schlachte dem Ausgang der Sporthalle zugeht, "zum Teufel mit euren Manieren und Domestizierungsrezepten, zum Teufel mit allen Seelsorgern und Fehlsorgern, mit allem Gevögel und Pädagögel! Gewiss muss man es sich nicht anmerken lassen, wenn man mal etwas zu viel hat einstecken müssen. Ja, nichts wäre elender, als sich nicht beherrschen und dem Sieger ehrlich gratulieren zu können. Doch wehe, wenn ihr das Kämpfen verlernt! Packt euch, wenn euch keine felsensprengende Kraft mehr beseelt, keine Leidenschaft mehr mit sich reißt, kein unbedingter und unerschütterlicher Siegeswille mehr erfüllt!" "Aber hier wird doch nur Ball gespielt?" mag da einer der pedantischen Bürokraten sagen. "Bedarf es da solch eines Geschreis und kraftstrotzender Worte?" - Man möchte eben alles durchschaubar und wohlarrangiert haben, entdämonisiert und kultiviert.
Gesetzt aber, dass es zu unserer unausrottbaren Natur gehört, unseren Willen zu stählen und unsere Körperkraft zu erproben: ist es dann nicht einerlei, woran wir unseren Willen und unseren Körper erproben? Ist es da nicht besser, wenn wir, statt Germanen und Gallier totzuschlagen, den Sport dazu benutzen, um gelegentlich auch jener etwas dunkleren und hässlichen Seiten in uns ansichtig zu werden, wenn wir nur Manns genug sind, nach dem Spiel das ganze Höllenspektakel wieder dem Vergessen anheimzugeben? Oder sind wir so sicher, dass wir uns so veredeln können, dass wir nie mehr den dunklen Trieben in uns begegnen? Könnte es uns nicht auch so ergehen wie manch einer alten Katze, die plötzlich aus der Kost entlassen, wieder Mäuse jagen muss, und wir hätten die urwüchsige Art des Kämpfens verloren? Um zu siegen, genügt indessen keineswegs, die Handgriffe und Schläge gut auszuführen oder die Stöße zu parieren. Da gilt es vor allem, sich dem eigenen Siegeswillen zu unterwerfen. Schon beim sogenannten Warmlaufen durch die Halle wird augenfällig, wer sich zu schinden gewohnt ist und wer es lieber gemächlich angeht. Wer sich nicht schindet, kann auch nicht siegen. Vielleicht, dass ihm einmal ein Sieg zufällt, vom unbedingten Siegeswillen aber weiß er nichts.
"Wie kann man auch nur so brutal mit seinem altgewordenen Körper umgehen?" mag sich manch eine Menschenfreundin fragen, die vielleicht etwas vom Kind im Manne gehört hat, noch nie aber etwas vom Cäsar im Mann. Und doch sind es gerade auch unsere Frauen, die uns Männer durchaus nicht schwach sehen wollen. Ein echter und rechter Mann, was kann das anderes sein als ein wohlgeübter, gut durchtrainierter, willensstarker, disziplinierter Athlet, der auch mit einem Dutzend Räubern, wenn sie des Nachts ins Haus einbrächen, fertig würde? Selbstverständlich muss er auch etwas vom Räuberhandwerk verstehen. Da gilt es, auf den Gegner zu achten, gilt es abzuschätzen und an seinen Mienen abzulesen, wie er sich im nächsten Augenblick verhält, um ihm blitzartig von der anderen Seite zu Leibe zu rücken. Wolf und Schäferhund, Verbrecher und Held, Demonstranten und Polizei sind nicht ganz so leicht zu trennen. Wer sich durchsetzen, wer siegreich auf dem Platz bleiben will, muss es wohl auch verstehen, mit dem Gegner zu spielen.
Dagegen freilich klang herrlich naiv, wie sich einmal ein Sportskamerad äußerte. In seinem schon vorgerückten Alter verfügt er zwar noch immer über einen gut durchtrainierten Körper, doch fehlt ihm alles, was auch nur von Ferne an einen Siegeswillen erinnert. Taktische Überlegungen und restloser Einsatz sind ihm Fremdwörter. Sie hätten da im Tennisdoppel, so erzählte er, gegen zwei ältere Herren zu spielen gehabt; da habe er bei sich gedacht, gegen die beiden Alten könnte nie und nimmer etwas schief gehen; und dann hätten die doch tatsächlich gewonnen! Dabei wären sie noch nicht einmal viel gelaufen! Immer die Ecken hätten sie sich ausgesucht, wo sie, ihre Gegenspieler, gerade nicht gewesen seien.
Wiewohl wir in unseren Schulen nur herzlich wenig über den Cäsar in uns erfahren, so kann es uns in diesem Text doch nicht darum gehen, die Arbeiten soziologisch geschulter Schulleute zu ersetzen. Nur so viel wollen wir hier noch anmerken: Wiewohl wir nämlich selber auch schon den Aufpasser gespielt haben, etwa wenn wir Autofahrer aufmerksam gemacht haben, dass rote Ampeln nicht notwendig dazu da sind, Zigarettenstummel auf die Straße zu schmeißen, so gelüstet es uns doch auch hin und wieder, über die Stränge zu schlagen. Als halbkultivierter Wolfshund steht man mit den Vorderläufen stets schon beim Rubikon. Und nimmt es sich ein Seeräuber heraus, einen Cäsar gefangen zu nehmen, so muss er sich nicht wundern, wenn Cäsar ihm bei seiner Rückkehr die Rechnung präsentiert. Im Übrigen muss es für einen Cäsar ein Urvergnügen sein, sich auch einmal einen Jux zu machen und sich als Dieb zur Rechenschaft ziehen zu lassen, um sich dann den Schlingen der Verantwortung zu entwinden! Oder sollte er als Dieb nicht schon dadurch rechtfertigbar sein, dass er beweist, dass seine Gegner nichts weiter zu bieten haben als Handlangerdienste für ein System, das noch nicht einmal das ihre ist? Mag uns Platon erzählen, was immer er will. Mag er die Sophisten verunglimpfen und dagegen die hohe, von ihm und Sokrates inaugurierte Wissenschaft des Prinzipiellen preisen: leise beschleicht uns die Frage, ob Platon wirklich ein Erzieher war oder ob er sich nicht nur vorgenommen hat, engumgrenzte, pädagogische Provinzen zu errichten, in denen man angehende Bürger zu unfreien Untertanen erzieht.
Wer hat die Legitimation zu einem Erzieher? Etwa der, der die Lizenz hat, immerfort zu zensieren und zu kritisieren, selber aber alles tut, um als ein Tadelloser zu gelten und der die Macht des Gesetzes gnadenlos ausschöpft, wenn ihn ein Schüler einmal kritisiert? Oder kann nur der ein guter Erzieher werden, der einmal in seinem Leben etwas falsch gemacht hat und dann bereut und nicht will, dass noch einmal einer diesen Fehler begeht? Oder wer es schwer gehabt hat in seiner Jugend? Oder wenn einer nicht zu Streich mit sich kommt und es nun probiert, ob es ihm zusammen mit den Kleinen gelingt, als wär er ein zweites Mal wieder so klein? Genügt es, wenn man sich anschickt, der Wahrheit und Tugend zu dienen, wobei man ein Gesicht macht, als äße man saure Gurken? Schließt Erziehung, wenn es sich herausstellt, dass unsere Natur nicht ohne ein Stückchen abgrundtief Gewalttätiges zu sein vermag, nicht immer auch ein Stückchen dunkler Befriedigung mit ein? Woran, werter Herr Aristoteles, der du den Alexander aus Makedonien erzogen hast, woran erkennen wir einen Erzieher? Was qualifiziert ihn dazu? Muss ein Erzieher hungrig sein auf Lob, und Angst haben vor Tadel wie seine Zöglinge? Oder lässt sich nicht auch ein Mann wie Cäsar als Erzieher vorstellen, der er ja auch war, wenn auch nur für seine Truppen?
Wehe den Kindern, in denen der böse Geist ihrer Väter ungehindert braust, ohne dass jemand da ist, der sie wohlwollend belehrt und sie um die damit verbundenen Gefahren aufklärt. Cäsar, da bin ich mir ganz gewiss, kannte bereits in frühester Jugend die Spielräume, der ihm zur Verfügung standen. Ganz gewiss hatte er beizeiten gelernt, dass über aller Kritik und allen Unmutsäußerungen Klugheit und Selbstbeherrschung zu beachten waren. "Sei klug und lass dich niemals gehen! Erteile niemals dem Geist der Auflehnung und der Rebellion das Wort, weder dir selber noch anderen, wie viel Recht du auch immer zu haben glaubst, ehe du dir nicht sicher bist, wohinaus es dann mit der Sache geht. Lächle lieber, bis du weißt, dass es jetzt zuzuschlagen gilt. Vor allem aber vergiss nie, dir vor jeder Handlung klar zu machen, worauf die Sache hinausgeht!"
Jüngst vertraute mir unser akademischer Oberrat nicht ohne einige Bekümmernis, wie schwer er es doch habe, hier im Haus Anerkennung zu finden: "Kommt da ein Professor die Treppe herab, so steht alles still vor Ehrfurcht. Komme aber ich die Treppe hinauf, so nimmt mich keiner wahr. Kein Hahn und keine Putzfrau krähen nach mir." Unser Held versuchte ihn zu trösten, dachte aber bei sich, wie privilegiert er selber doch ist, weil er selber niemand zu sehen braucht, noch gesehen zu werden verlangt. Was scheren ihn die Zuschauer. Mögen die Maulaffen tun, was sie wollen!
Gewiss gibt es Berufe, in denen man es schwer hat, mit sich zu Streich zu kommen und sein Gleichgewicht zu bewahren. Cäsars berühmter Satz, lieber im Dorf der Erste zu sein als in Rom der Zweite, bringt es ja auf den Punkt. Aber auch ein Musiker, ein Maler oder ein Schriftsteller, ein Schauspieler oder ein Filmproduzent lebt immer nur als ein Zweiter in Rom. Sein oberster Dienstherr ist die öffentliche Meinung und das allgemeine Lob das Brot, das er braucht, wenn er nicht etwa im Hauptberuf geheimer Rat und Minister ist, um überhaupt leben zu können. Wie mühselig, seine Selbsteinschätzung nach dem Urteil anderer zu richten, wo möglich noch solcher Leute, denen nur kraft ihres Amtes, nicht aber ihres Wissens und Könnens ein Urteil zukommt. Wird man gelobt, so ist man leicht versucht, sich als eitlen Pinsel zu produzieren, bleiben aber Lob und Gagen aus, so steht der Weg frei zur Selbstbemitleidung oder zum Hungerkünstler. In beiden Fällen aber geht Verlust an Souveränität Hand in Hand.
Da beglückwünschen wir doch unseren Helden zu seiner Freiheit, gelegentlich einmal auch ein Pröbchen seiner Cäsar-Natur zum Besten zu geben. Oder ließ er nicht jüngst erst ein Wutgeheul los gegen den werten Herrn Doktor, dass es nur so krachte! Dabei war das nicht der Erste oder gar der Einzige aus der Sippschaft dieser feist gewordenen Miniaturherrscher! Begonnen hatte alles mit einem Anruf des werten Herrn Doktors, und zwar so, als habe er sich vorgenommen, unseren Helden aus den Händen der Justiz zu befreien. "Ach lieber Herr", so hatte er da begonnen, wenn nicht gar mit einem Tränchen im Auge, "wie auch konnten Sie nur alles geschehen lassen?" Er meinte, dass unser Held nichts erwidert hatte, nachdem der Herr Doktor ihm schriftlich mit Repressalien und seinem Geldeintreiber-Anwalt gedroht, falls er nicht endlich zahlte! "Ist nicht genug", so schlich er sich in seiner Rede weiter, "dass Ihre Frau an einer so schweren Krankheit leidet? Warum haben Sie mir nichts gesagt? Wir hätten doch alles gleich aufs Schönste geregelt. Nun haben wir die Bescherung. Was sollen wir da nur machen?" Darauf setzte es aber was ab! "Her mit der Justiz", rief unser Held, durchaus so zornig und laut, dass man ihn noch auf hundert Schritt Entfernung hören konnte. Der werte Herr Doktor versuchte noch, den Strom der Erregung zu hemmen, indem er ausrief: "Aber, mein Herr, alterieren Sie sich doch nicht so! Es könnte Ihnen aufs Herz schlagen!" Aber das war für taube Ohren gepredigt. "Nichts ist mir lieber als ein Gericht", rief er nur noch einmal, ebenso laut, "damit wir endlich einmal klären, wie es um Ihre Emolumente steht! Zum Teufel mit allen Blutabnehmer- und Blutsaugermanieren! Zum Teufel mit allem Geldzapferblut! Wie? Oder dürfen sich unsere Ärzte in unserer Republik heute alles herausnehmen? Dürfen sie Rechnungen erfinden, als wären es Naturgesetze, auf deren Einhaltung sie pochen? Mögen Sie sich auch schmeicheln im Gedanken, dass ein Todkranker gern auf Hab und Gut verzichtet, nur um dem Tod zu entfliehen, gibt Ihnen das bereits das Recht, sich nach Herzenslust zu bedienen? Und mögen Sie auch gewohnt sein, für sich in Anspruch zu nehmen, was immer Sie wollen, da Ihnen und Ihresgleichen höchstrichterliche Urteile attestiert haben, nur tüchtig zuzugreifen, da ja dort, wo eine Rechnung vorliegt, auch eine zu vergütende Arbeit vorausgegangen sein muss! Wollen doch sehen, ob es Ihnen auch diesmal gelingt, wo Sie keinen Handstreich getan haben, da wir zu dem besagten Zeitraum nachweislich nicht in Ihrer werten Praxis gewesen und von der von Ihnen zur Bezahlung anstehenden Dienstleistung nie etwas zur Ausführung gekommen!" Und dann, ohne ein Gegenwort zu befürchten, denn das Wort war bei unserem Helden, fuhr er fort: "Untersuchungen, die nie durchgeführt wurden, in Rechnung zu stellen, das ist Betrug, mein Herr. Ihre Leistung betrifft das Unterschreiben eines Rezeptes, das wir selber ausgestellt und Ihnen zugeschickt haben. Das ist alles! Untersucht haben Sie da überhaupt nichts; denn wir waren überhaupt nicht in Ihrer Praxis! Vermöchten Sie es, meine Frau auch nur ein kleines Stück weit zu heilen und Sie hätten das getan, dann würden wir Ihnen nicht nur unbesehen alle in Rechnung gestellten Leistungen bezahlen, wir würden Ihnen auch noch die Füße küssen. Doch was haben Sie getan, was geleistet? Einen Versuch hat er sich geleistet, sich auf beschämende Weise zu bereichern, den Ihnen die ansonsten treu ergebene Justiz nicht durchgehen lassen kann. Und nun glaubt er an seine Ehrenrettung, wenn er uns erklärt, meine Frau habe eine sehr schwere Erkrankung. Zum Teufel mit ihm, wenn ihm sonst nichts einfällt!" So donnerte unser Held los Und wenn er es auch nicht immer ganz ernst meinte, der zur Schau gestellte, aus der Tiefe hervorlodernde Zorn tat herrliche Wirkung. Ehe er mitsamt seiner Frau in der trüben See zwischen der Abrechnungspraxis der freiberuflichen Ärzte und den Manieren der halsabschneiderischen Krankenkassen unterginge, hatte er noch einmal seine Faust aus den Fluten gereckt.
Doch lassen wir den Jammerlappen von Doktor, der freilich wusste, dass unser Held ihm nichts weiter anhaben konnte als eine Standpauke! Kehren wir noch einmal zurück zu den Cäsaren und der von ihnen favorisierten Logik der Welt, die jedem einen gewissen Anteil an der Herrschaft verleiht: dem Cäsar die Aufgabe, Gesetze und Gebote zu erlassen, den Anderen aber, untereinander Sorge zu tragen, dass sie auch hübsch eingehalten werden. Und ist es für einen Cäsar nicht überaus ergötzlich, wenn er sieht, wie sich die Leute darum kümmern, dass nur ja auch der Nachbar sich ebenso penibel und genau an die Gebote hält, wie sie selbst? Muss er nicht einen Heidenspaß haben, wenn einer beim andern Acht hat, dass er pünktlich die Mittagsruhe einhält und seinen Hund nicht aufs Trottoir scheißen lässt? Schon bei den Kleinen in der Schule ist es ein Vergnügen, die Jungens zu sehen, wie sie den Mädchen sagen, was getan werden muss. Und wenn es nicht zum feinen Verhalten gehört, sich vor dem Fernseher breit zu machen: so strickt eben die emeritierte Frau Professor neben der Sendung noch an einem Babyjäckchen und der emeritierte Herr Professor hat zur Beruhigung seines Gewissens noch ein Gelehrtenjournal offen neben sich liegen.
Ein Cäsar ist zwar aus einem gefährlichen Guss, aber er ist aus einem Guss. Er hat es nicht nötig, darüber nachzugrübeln, wer er ist. Nur Unsichere und Erfolglose fragen, wer sie sind. Ein Cäsar weiß es. Frei von Skrupeln schert er sich einen Dreck darum, was man von ihm denkt. Nichts ist für ihn selbstverständlicher, als zu herrschen, einerlei, ob mit Krone oder ohne Krone. Das hätte Shakespeare bedenken sollen, ehe er in seinem Julius Cäsar das läppische Spielchen mit der Krone inszenierte. Niemals hält es ein Cäsar für nötig, die anderen von sich zu überzeugen. Nur sich selbst, von sich selber, hat er zu überzeugen. Was aber kann ihn mehr von sich überzeugen als die Tatsache, sein eigener Herr zu sein! Nur als unsere eigenen Herren gehört uns die Gegenwart. Und so kam er hervor, sah er alles und besiegte alle. Sieht man Cäsar einmal in Wut, so ist es nicht die Wut, der Cäsar gehorcht, sondern Cäsar, dem die Wut gehorcht. Dass man ihm dann auch Großmut als Tugend nachsagt, die "clementia Caesaris", ist ihm nur eben recht. Er, der in 10 Jahren eine Million Krieger umgebracht hat, lächelt darüber. Ob sich ein Cäsar einem Feind gegenüber großmütig oder den Veteranen bei deren Abfindung spendabel erzeigt, ob er bei einem Gastmahl Scherz und Heiterkeit liebt oder Frauen den Hof macht: was immer er tut, alles das sind nichts als präzis überdachte Spielzüge, sind Demonstrationen seiner Stärke und geschehen aus Lust, im Dienst der Herrschernatur.
Man mag es beurteilen, wie man will: Ein Cäsar achtet vornehmlich auf die Selbstachtung, in deren Dienst selbstverständlich auch die Selbstbeherrschung nimmt. Ja, soweit muss die Selbstbeherrschung gehen, das hat er sich vor sich selber ausbedungen, dass er nicht mehr merkt, wie er sich selbst beherrscht, dass er nur noch davon gesteuert wird, sich der Außenwelt in der von ihr gewünschten Rolle zu präsentieren, mag sie auch hundertmal der inneren Stimmung entgegenlaufen. Ein Cäsar braucht kein Lob, keine Noten, keine Zensuren: weder von einem Lehrer noch von einem Historienschreiber. Ihm ist es einerlei, für wen ihn die Menschen halten, wenn sie nur tun, was er sagt. "Beurteilt mich, so viel ihr wollt", scheint sein etwas zugeknöpfter Blick zu sagen, "doch lasst mich mit euren Beurteilungen in Ruhe. Ihr beurteilt nicht mich, ihr beurteilt nur euch selbst!" Wenn ihm nach einer Beurteilung verlangt, schreibt er sie sich selber, vom hohen Ross, indem er einem der neben ihm reitenden Sekretäre den Gallischen Krieg diktiert. Und so lacht er schon in jungen Jahren, wenn seine Erstklassenlehrerin zu ihm sagt: "Aber Gaius Julius, das macht man doch nicht! Das schickt sich doch nicht!" als hätte sie ihn mit einem kleinen Mädchen verwechselt, das sich eben mit der ersten Bekanntschaft auf der Straße sehen lässt. Und wenn es ihn später einmal gelüstet, sich vor Lachen auf den Rücken zu werfen, und sei es auf dem von Menschen wimmelnden Forum Romanum, so tut er es. Cäsar legt keinen Wert darauf, sich so zu zeigen, wie man ihn im Allgemeinen zu sehen wünscht, und zwar nicht deshalb, weil er gefürchtet hätte, sich als klein und hässlich ansichtig zu werden, sondern weil er den Tugendspiegel der Kleinen verachtet. Das fehlte noch, dass er sich mit ihnen in die Kirche begäbe und sich mit der Faust ein mea culpa auf die Brust schlüge. Das Ende vom Spiel wäre dann wohl gar, dass die Heuchler damit anfingen, ihm Bußübungen zu diktieren! Wenn er die Kirche betritt, so nur als strahlender Pontifex maximus. Im Übrigen weiß er, dass seiner Macht etwas innewohnt, was in kein Schema passt. "Adsum!", ich bin da, sagt er. Das ist ihm genug. Wahre Macht entzieht sich gern einer jeden objektiven Betrachtung.
Ins Weite und Ferne zu schauen, zu entdecken, was dort geschieht oder was auf uns zukommt, zu sehen, wenn andere noch immer nicht sehen: Was für ein Wunsch! Die Söhne des Sultans hielten es nicht für zu viel, nach solch einem Gerät Ausschau zu halten, zumal da ihnen der sterbenskranke Vater dafür das Reich versprochen hatte. Nun aber gab es auch noch Leute, die, statt in die Welt hinaus zu reisen und alle Märkte nach begehrenswerten Gegenständen zu durchforschen, sich hinsetzten und nachzudenken begannen, ob es nicht noch eine andere Lösung gibt, das weit Entfernte zu erblicken.
Dieser Baum hier vor meinem Haus, so mag da manch einer von ihnen gedacht haben, dieser Baum hier vor meinem Haus ist groß und weit zu sehen. Meine in Armlänge von den Augen entfernt gehaltenen beiden Fäuste decken ihn noch nicht einmal ganz ab. Stünde er dort hinten, am Waldrand, so genügte mir schon der kleine Finger, um ihn aus der Bildfläche heraus zu nehmen. Was in der Nähe groß erscheint, erscheint in weiter Ferne nur noch wie der Zentimeter gegen den Meter oder wie ein Quadratzentimeter gegen einen Quadratmeter. Jawohl vom Saum des Waldes überdeckt der Baum hier 100 von seinen Geschwisterbäumen. Um einen dieser fernen Bäume eben so groß zu sehen, müsste man ihn hierher, in die Nähe, holen. Doch das kann nicht die Lösung sein, um etwas Fernes und Kleinerscheinendes als Großes zu erblicken. Denn dann brauchte man kein Instrument, sondern Waldarbeiter oder Gärtner.
Nein, man muss ihn dort belassen, wo er ist, muss es aber so einrichten, dass er ebenso breit erscheint wie der nahestehende Baum. Doch wie ist das möglich? Ist das überhaupt möglich? Lässt sich das durch einen Apparat erreichen? Ein Begriff muss nun her, ein genialer Begriff, der sowohl als Konstrukt zu gebrauchen ist, als auch zu Messungen zur Verfügung steht. Als ein solcher aber bietet sich dem Forscher der Begriff des Sehwinkels an. Ist und bleibt nicht der Sehwinkel winzig klein, wenn das Licht vom fernen Gegenstand bei mir ankommt, mag der Laie hier fragen? Wie kann ich ihn dann noch vergrößern? Hier nun liegt die Versuchung nahe, das Projekt als unlösbar beiseite zu schieben und auf sich beruhen zu lassen. Anders der Forscher und Erfinder! Ein Mann vom Schlag eines Galilei lässt so schnell nicht von seinem Projekt ab, auch wenn ihn der scheinbar so gesunde Menschenverstand für verrückt erklärt. Beharrlich und immer wieder lässt er die Frage an sich heran, wie die Lichtstrahlen, die von dem fernen Objekt zu ihm gelangen, unterwegs gebrochen werden können, und sei es auch erst kurz vor seiner eigenen Nase: bis ihm dämmert, dass er doch schon Erfahrung gesammelt hat! Oder hat er nicht schon an der Lupe gelernt: wo er kleine Gegenstände bis dicht vors Auge zu bringen und groß zu sehen vermag? Oder wie die kleinen Gegenstände unter einem Wassertropfen als größer erscheinen? Oder wie die Schrift auf der Rückwand einer gläsernen Flasche fast zweimal so groß erscheint, wenn man die Flasche mit Wasser füllt? Wie wäre es denn, so kommt ihm nun, wenn man sich zuerst durch eine Abbildungslinse ein möglichst großes Bild des fernen Gegenstandes verschafft, um dann mit einer Lupe dicht auf das erzeugte Bild zuzugehen? Freilich könnte man prinzipiell auch das erste erzeugte Bild als zweites Urbild nehmen, um daraus mit einer zweiten Abbildungslinse ein zweites erzeugtes Bild zu erhalten und so weiter. Am praktikabelsten aber ist fürs Erste, sich mit zwei Linsen, mit einer, das Objekt abbildenden, Sammellinse und mit einer Lupe zu begnügen, mittels deren sich selbst auch noch ein in der Ferne liegendes, für das Auge nicht mehr sichtbares Objekt, sichtbar machen lässt. Wie der Blick durch jedes Fernglas zeigt, ist der Ausschnitt der wahrnehmbaren Dinge nun zwar sehr klein, dafür aber sind die zu sehenden Dinge entsprechend groß. Kleiner Sehwinkel und große Sehfläche oder großer Sehwinkel und kleine Sehfläche: hier kann er sich gleichsam selber die Faktoren zu dem konstant bleibenden Produkt bestimmen. Große Vergrößerung geht dann zusammen mit der Größe des Sehwinkels. Fernes erscheint dann, als ob es nah wäre; und Unsichtbares und Geheimes, als ob es offenbar wäre. Bleibt uns nur noch die Frage, ob uns mit der Erfüllung des Wunsches, in die Ferne zu schauen, nicht ein wenig das träumerisch sehnsuchtsvolle Verlangen nach der Ferne verloren gegangen ist.
Viel zu viel habe ich schon über Lehrer geschimpft, dass sie sich als Mensch stets hinter ihrem Brotberuf versteckt halten, zumal ihren Schülern gegenüber, die ihnen doch eine Art zweiter Kinder sein sollten, weshalb mir mein Schwager, der Oberstudiendirektor a.D., durchaus nicht zu Unrecht schon einige Male die Leviten gelesen. Doch gedenke ich das wieder gut zu machen, indem ich die nun folgenden Zeilen meinem verehrten alten Lehrer Gerspacher widme. Und wenn ich noch verrate, dass wir ihn als Deutschlehrer am Progymnasium hatten, das war vor über 50 Jahren, und dass er, bereits pensioniert, um Gottes Lohn noch ein wenig unterrichtete und dass er der erste war, der mein literarisches Talent entdeckte, dann erübrigt sich wohl jeder weitere Vorschuss an Lob. Ganz so Unrecht haben Jugendliche ja nicht, dass sie es als ein Unrecht empfinden, wenn ein Lehrer weder in der Gegenwart etwas von ihnen hält, noch auch ihnen eine gute Zukunft inauguriert, statt sie in ihrer Ahnung zu unterstützen, dass da etwas in ihnen schlummert, was gehoben werden muss, wozu sie sich gerne erbieten. Selbst aber auch, wenn sich unser Gerspi geirrt haben sollte mit seinen Schneisen schlagenden Prophetien, so wäre das zwar bedauerlich, gleichwohl hielte ich dafür, ihm den in den frühesten Dichtungen der Menschheit niedergeschriebenen Preisruf, den Zamim-Ruf, zukommen zu lassen: "Gerspi sei Preis!" Seit der Zeit nämlich habe ich nicht aufgehört, mich im Schreiben zu versuchen und habe immer wieder mit großer Lust geschrieben, und dass ich heute, wo ich schon langsam selber auf die 70 zugehe, mich noch immer am Schreiben erfreue, habe ich keinem anderer Lehrer zu verdanken als ihm.
Dabei gehörte er gewiss nicht zu den hochintellektuellen Geistern unseres an Dichtungsspezialisten und Literaturkritikern so reich gesegneten Landes. Oder sagen wir es etwas schlichter: Gerspi machte sich nichts daraus, sich nichts aus sich zu machen. Ihn verlangte nicht danach, von den Schülern für einen Papst der Literatur gehalten zu werden, vor dem man in Ehrfurcht zu erstarren hatte, geschweige denn, dass er für nötig erachtet hätte, den Rang eines Geistestitanen durch eine brutale Notengebung zu unterstreichen. Gerspi war kein Prof. Glorreich, der über allem von Schülern Geschriebenem himmelhoch thront, allenfalls mit der welthistorischen Aufgabe betraut, den nächsten großen Goethe aus den Reusen des Gymnasiums zu fischen, um ihn einer staunenden Öffentlichkeit zu präsentieren, Gerspi war ein Liebhaber der Literatur und wenn er etwas begehrte, so war es dies, dass auch aus seinen Schülern Liebhaber der Literatur würden. Für ihn gab es keinen, der nicht schreiben konnte. Einen Schüler wie Ludwig Aschoff, wenn ich die Geschichte bedeutender Naturwissenschaftler noch recht im Gedächtnis habe, der als Abitursaufsatz ein leeres Blatt abgab, hätte es bei ihm nie gegeben. Wie aber machte er das? Wie motivierte, wie animierte er die Schüler? Wie machte er sie zuversichtlich und schreibsicher oder doch zutraulich diesem Medium gegenüber?
Nun, einmal vermutlich, indem er daran dachte, wie es ihm selber als Schüler ergangen, wo ihn Dinge beschäftigten, über die er gewiss gern etwas gesagt hätte, hätte man ihn nur danach gefragt. Sodann, indem er daraus die Konsequenz zog, immer wieder einmal auch einen Freiaufsatz schreiben zu lassen. In diesem durfte dann jeder mitteilen, was ihm am Herzen lag. Selbst der Sport, der Fußball, war ihm dabei nicht zu gering. Und wenn es auch nicht vorgekommen ist, so wäre doch immerhin möglich gewesen, dass er sich mündlich hätte erzählen lassen, um es dann selber für den Schüler zu protokollieren.
"Wenn ihr euch ans Schreiben macht", so hätte er wohl sagen können, "wenn ihr euch ans Schreiben macht, ob von mir dem Lehrer aufgefordert oder aus eigenem Gelüst, so müsst ihr nicht denken, dass dazu nur ein Genie befähigt wäre, und dass jetzt die Aufgabe für einen Himmelstürmer vor euch läge. Versucht nicht, euch an Orte zu versetzen, wo ihr gar nicht seid oder die es nicht gibt. Und versucht auch nicht, in einer Sprache zu schreiben, die nicht die eure ist. Nehmt das, was vor euch liegt! Schaut es euch an und beobachtet es in seiner Umgebung und versucht, in schlichten schnörkellosen Worten wiederzugeben! Vor allem aber, versucht euch hin und wieder zum Schreiben zu bewegen, indem ihr das zum Anlass nehmt, was euch etwas bedeutet. Langweilig wäre doch, über etwas Langweiliges langweilig sich zu ergehen. Und findet ihr einen, der von Dingen berichtet, die euch gefallen, so versäumt es nicht, den einen oder anderen Satz zu exzerpieren, d.h. in ein eigenes Heft herauszuschreiben. Was euch etwas bedeutet, das soll auch mir etwas bedeuten, wie auch umgekehrt euch etwas bedeuten mag, was mir etwas bedeutet." Und da er wohl auch selber kein Überflieger war oder Unzumutbares verlangte, so fand er in uns auch offene Herzen.
Noch wichtiger aber war, dass er die Kunst beherrschte, zu loben und anzuerkennen. Loben und anerkennen, das konnte er, sowohl wenn etwas im Ganzen gelungen war als auch bei kleinen und bescheidenen Ansätzen. Die allerkleinsten Fortschritte, ja vielleicht auch nur den Vorsatz, etwas zustande zu bringen, fand vor ihm Gefallen, als wär er bereits verwirklicht worden. Ein geflügeltes Wort des Lobes, das denn auch oft im Unterricht zu hören war, war sein "Nett, nett!" Mit dieser wundervollen Kunst des Lobens begabt, verstand er es, die Schüler zu seinen Schülern zu machen. Freilich konnte er, wenn es denn einmal sein musste, auch Unzufriedenheit bekunden, was wohl notwendig mit dazu gehört, damit das Salz des Lobes nicht schal wird. Doch geschah das nur sehr selten und in den allerdringlichsten Fällen und zumeist pauschal, nicht auf einen einzelnen Schüler gerichtet, wovon noch die Rede sein soll. Endlich vermochte er auch, durch die Finger zu schauen.
Wenn ich nur an die vielen Gedichte denke, Balladen zumeist, die es zu lernen galt und die keiner von uns auswendig lernen mochte. O wie sehe ich sie noch: diese Kaiser und Kiefer und den Ruch und meinen für verstorbenen Freund Robert Geppert und selbstverständlich auch mich. Da saß dann also der liebe Gerspi hinter seinem Pult neben der Tafel in Gedanken ganz den Worten des Dichters und wohl auch nebenbei noch ein paar eigenen Erinnerungen hingegeben. Der Vortragende parallel dazu, etwas links und ein wenig vor dem Lehrer, mit Blick auf die dem Spektakel beiwohnende Klasse, mit der Rechten den Spickzettel hübsch von Gerspi weghaltend. Und wie eine Wöchnerin ihren Säugling liebevoll an die Brust drückt, so drückte der Rhapsode das liebe aus dem Lesebuch herausgerissene Gedichtsblatt, denn nichts anderes war der Spickzettel, an seine Brust und gab, als ob er bekümmert immer wieder nachschauen müsste, ob auch das Kleine fleißig trinke, den Ring des Polykrates zum besten. "Er stand auf seines Daches Zinnen /Und schaute mit vergnügten Sinnen /Auf das beherrschte Samos hin." Oder da galt es, den König von Thule in Erinnerung zu bringen mitsamt der liebevollen und treuen Buhlin. Oder der Hexenmeister kam an die Reihe, alles immer auf dieselbe Weise hexenmeisterlich vorgetragen.
Vielleicht wüsste der geneigte Leser an dieser Stelle gerne etwas über den brutalen Akt der Atomisierung der Schullesebücher. Ob das so Brauch war seit eh und je, denn kein anderer als Gerspi gab Deutschunterricht in den drei Klassen der Mittelstufe, oder ob wir allein solche Schandbuben waren, weiß ich nichts zu sagen. Heute jedenfalls ginge das viel bequemer und völlig undramatisch mittels Fotokopien oder durch Herunterladen aus dem Internet. Ganz für unmöglich halte ich es jedoch nicht, dass Gerspi etwas von alledem wusste; dass er aber dazu schwieg und sich sagte: "Soll ich mich einmischen und Alarm schlagen? Zum Schluss muss dann einer die Schule verlassen. Und wenn der Weg auch nicht lobenswert ist, so lernen sie die Gedichte wenigstens durchs Spicken und das ist allemal besser, als wenn sie sich überhaupt nicht bemühten." Und doch dünkt mich eher, dass er in seiner liebenswerten Naivität und Alterszerstreutheit nichts davon bemerkte. Denn immerfort die Gedichte so deklamiert zu wissen und nie zu rebellieren? Da müsste er ja schon selber ein ganz durchtriebener, am Rand der Bürgerlichkeit stehender Schelm gewesen sein. Wenn er auch die Meistersinger in Bayreuth sich angehört und angeschaut hatte und uns das "Fanget an!", zum Beweis dass er dort gewesen, gelegentlich auch vorsang, so war er doch eher ein harmloser Zeitgenosse. Wie dem auch immer gewesen sein mag, jedenfalls war die Kunst des Rezitierens und Deklamierens eine feine Sache; und so sagten wir die Gedichte auf, ohne dass jemals etwas die Andacht störte.
Die Literatur, die bei ihm ganz oben stand und die mithin für ihn besonders bedeutsam war, umfasste vor allem Geschichten, die von Erlebnissen und Angelegenheiten aus dem täglichen Leben erzählten, in denen Kinder und Jugendliche vorkamen, wo sich Kinder und Lehrer, die selber ein wenig Kind geblieben, leicht angesprochen vorkommen konnten. Storms Schimmelreiter und dann freilich auch Gottfried Kellers Novellen z.B. standen da in der Gunst ganz weit oben. Wenn ich nur an "Die Leute von Seldwyla" denke, etwa an "Die drei gerechten Kammmacher" mit jener unvergesslichen Züs Bünzlin, in die der Alte schier vernarrt war, oder an den Strapinski aus "Kleider machen Leute"! So ein kleiner Hochstapler steckte doch in jedem Schüler, und das durfte, ja das musste auch jeder Schüler sein, wenn er etwas aus sich machen und etwas werden wollte. Das wusste unser Gerspi. Überhaupt aber gehört wohl zu einem guten Deutschlehrer, dass der Schüler merkt, wenn seinem Lehrer etwas besonders gut gefällt. Und die Erzählungen von Gottfried Keller gehörten für ihn ganz sicher zum Bestgeschriebenen aller Zeiten. Selbstverständlich hätte er auch noch das eine und andere Buch zu diesen seinen Bestsellern hinzugezählt, wie etwa das herrliche Büchlein vom Schulmeisterlein Maria Wutz, hätte er es nur gekannt. Doch wie konnte er es kennen, wo es ob des Mangels an Ernsthaftigkeit im Leben und des noch schlimmeren Mangels an Respekt vor Amtspersonen nicht auf der Liste der Pflichtliteratur für seine Schüler, sondern auf deren Index gestanden?
Jetzt, im Nachhinein, würde ich nur zu gerne noch wissen, wie Gerspis Frau aussah und wie sie abgeschnitten hätte bei einem Vergleich mit ihrer Konkurrentin, der Züsi. Eifersüchtig hätte sie ja nicht gleich werden müssen. Leider hat er uns über sie nie etwas erzählt, so dass auch möglich wäre, dass er nie eine Frau gehabt hat. Auch von einem Sohn hörten wir nichts oder von einer Tochter. Oder sollte ihm der Krieg traurige Wunden geschlagen haben? Warum hab ich nur zu schauen vergessen, ob er einen Ring trug? Ohne die lehrreiche Vermittlungsinstanz hätte uns Schülern freilich auch eine Zys Bünzlin nur herzlich wenig zu sagen gehabt; da war ein Evchen aus dem Zerbrochenen Krug schon ein anders Kaliber. Aber wie sich der damals schon über 70 Jahre alte Lehrer daran erfreute, wie er gleichsam nachkontrollierte, ob der Autor auch gründlich in der Kommode der Züsi nachgeschaut und alles, bis aufs Kleinste, berichtet hatte, das konnte selbst dem Jugendlichen nicht entgehen. Ja, Gerspi war wohl Zeit Lebens ein Kind geblieben oder das Kind im Manne war bei ihm im Alter wieder besonders rege und munter geworden.
Wenn ich nur daran denke, wie oft und gern er kleine Anekdoten von Verlesungen zum besten gegeben, etwa dass ein Kind statt "Küchenabfälle" Küchenäpfele gelesen hatte! Am liebsten, so scheint mir, hätte er alle Abfälle und alles Schlechte in Schmackhaftes und Schönes verwandelt.
Doch kehren wir wieder zur großen Literatur zurück! Und wenn wir eben gerade Kleists Evchen genannt haben mit dem Satz "Und ist es heute nicht, so ist es morgen und wenn wir auferstehn ist auch ein Tag!", den auch ein Schüler gut begreift und behält, so barg doch auch Kellers "Romeo und Julia auf dem Lande" viel Stoff zum Träumen. Dieses wundervoll geschriebene, traurigschöne Gedicht in Prosa, gegen das in des Jünglings Augen selbst Shakespeares "Romeo und Julia" schlecht abgeschnitten hätte, hatte alles, was man sich nur wünschen konnte. Denn mag auch Shakespeares Stück glänzend geschrieben sein, mit einer Reichhaltigkeit an überlieferten Stoffen und kunstvoller Formgebung: so sah das der Jüngling ja noch überhaupt nicht. Wenn er las, so las er ausschließlich mit dem Herzen. Und da schnitt Shakespeares Romeo eben schlecht ab, da dieser schon mit Vorwissen auf seine Julia zuging, was selbst noch ein so abgebrühter Geselle wie Heinrich Heine ein wenig kritisieren zu müssen glaubte, während der Jüngling hier, bei Keller, miterlebt, wie die Liebe kindlich aus dem Boden des Frühlings heraus keimt und hervorsprießt.
Dann war da auch noch Robert Walser. Gerspi war der erste, der uns diesen Namen nannte. Das war im Jahr 1956, dem Todesjahr des Dichters. Damals, als wir in Latein an den Iden des März den 2000. Todestag von Julius Cäsar feierten, begingen wir auch den Todestag von Robert Walser. War an den Iden das Klassenzimmer schwarz drapiert, so begnügten wir uns bei Walser mit der von Gerspi gehaltenen Leichenrede. Es könnte gut sein, dass er mehr aus der Zeitung sein Wissen bezog, als dass er zu seiner engeren Lesergemeinde gehörte. Das schließe ich daraus, dass er uns ansonsten einen der Aufsätze von Fritz Kocher vorgelesen und mit uns besprochen hätte. Aber auch von seinem Sterben im Schnee zu Weihnachten, wie er es einmal in einem seiner Jugendschriften 50 Jahre zuvor beschrieben hatte, hatte er nichts gesagt. Gerspi war wohl mehr ein Eklektiker; sein Wissen ging nicht in die Breite. Und Lektüre war für ihn nicht dazu da, sich die Lust am Leben in Frage stellen zu lassen. Kindlich war sein Gemüt, wie das seiner Schüler, und so sollte es auch bleiben. Er kannte da auch einen Benno NN, der in der Nervenanstalt von Emmendingen interniert war und dort noch schrieb. Von dem las er einmal etwas vor. Ich kann mich da aber nur noch an eine Stelle erinnern, wo von Ameisen die Rede ist, die einen Sandhaufen unentwegt emporzuklettern bestrebt sind, oben aber, vor dem Kamm, ins Rutschen geraten und wieder absinken. Zu der Zeit hatte dann wohl auch Camus seinen Sisyphos geschrieben.
Zum Pflichtkanon gehörten damals, nach dem Krieg, auch sämtliche Dramen von Schiller. Vermutlich setzten die Besatzer in der französischen Zone ihre Hoffnung darauf, durch diesen edlen Dichter der Freiheit und der Menschenrechte in der kommenden Jugend etwas zum Besseren auszurichten. Schließlich ward dem jungen Schiller eine Anerkennung von der französischen Revolution überbracht worden. Und da galt es dann für uns Scholaren, uns durch die Jeanne d´Arc, die Maria Stuart und durch den Don Carlos und selbstverständlich auch durch den Wilhelm Tell zum Licht der Freiheit hindurch zu arbeiten.
Es ist sehr schwierig nach über 50 Jahren zu rekonstruieren, was damals bei dem alten Gerspi in Gang gekommen war, als wir den Tell gelesen und dann im Aufsatz versagt hatten. Dieser doch so nette und liebenswerte alte Gerspi! Oder hört sich der Spitzname Gerspi, er hieß ja Gerspacher, nicht wie ein Kosename an? Erinnert er nicht an ein Kätzchen, das gut auch in Seldwyla hätte leben und herumschleichen können? Tatsache ist und bleibt, dass er nach unserer Aufsatzpleite bis auf den Tod betrübt war. Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Die vollständige Aufklärung werden wir wohl dem lieben Gott zu überlassen haben, falls er es für gut erachtet, uns jenes Ereignis am jüngsten Tag zu erhellen. Ich weiß nur noch, dass uns Gerspi die Aufsatzhefte sehr niedergeschlagen zurück brachte, fast als wäre ein unsichtbarer Schulrat ihm zur Seite, zur Vidimation des Lehrer und Schüler gleichermaßen vernichtenden Urteils. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, so ist mir fast noch, als müsste ich auf den alten Mann achten, dass ihm nicht schlecht wird und ihn kein Herzinfarkt ereilt. Vermutlich aber war es nicht nur die Unfähigkeit seiner Schüler, die ihm damals zu schaffen machte, sondern auch Erinnerungen aus der NS-Diktatur, so dass es ein mehrfaches Leid war, das ihn gleichermaßen niederzwang. Und doch: Hand aufs Herz! Was interessieren Jugendliche Leute wie Gessler und Tell? Haben sie nicht ihre eigenen Probleme? Vielleicht wären Schillers Räuber interessanter gewesen. Jedenfalls hätte man sie besser vermitteln können. Was, so fragen wir nun also noch einmal, was interessiert einen 13-14-jährigen an Wilhelm Tell? Und was wahrzunehmen und zu beschreiben ist er fähig? Ich erinnere mich immerhin, wie kindhaft glücklich und entzückt ich in jener Zeit einer Schneeflocke nachträumte, die in meine offene Hand flog und leise sich auflöste. Ganz gewiss ist der Jüngling um diese Zeit noch weit entfernt, situative Zusammenhänge oder Konflikte zwischen dem Einzelnen und den Vertretern einer gesellschaftlichen Ordnung wahrzunehmen und zu beurteilen, geschweige denn komplementäre Charaktere zu erahnen, wie es Robert Walser in einem Aufsatz getan hat, als er neben den Tell den Landvogt stellte, neben den Othello den Jago und neben den Grafen von Strahl das Käthchen von Heilbronn. Bestenfalls den Familienvater kann er verstehen, mit dessen Sohn ein Machthaber ein menschenverachtendes Spiel treibt. Aber selbst die Figur des Familienvaters, dieses doch etwas schwerfälligen, begriffsstutzigen Mannes, der erst dann erwacht und in Fahrt kommt, wenn es fast schon zu spät ist, sich dann aber, bei der Tellsplatte, auf wunderbare Weise als ein gewandter Springer und Sportsmann entpuppt, ist für ihn kaum erreichbar, allenfalls als ein vom Himmel Gesandter, vom Himmel wunderbar Unterstützter. In der Tat, musste nicht auch der Himmel ein wenig mithelfen, dass der Schuss in den Apfel und nicht in den Kopf des Knaben eindrang? Und selbst als er ihm in der hohlen Gasse nachstellte, hätte ja der Schuss leicht daneben gehen können. Brauchte es da nicht noch viel Beistand vom Himmel, ebenso wie er gebraucht wird, wenn man sich den Weg ansieht von diesem Tell in die Demokratie? Wollte Schiller uns Mut machen und uns im Glauben stärken in Sachen freiheitlicher Verfassung und Demokratie? Wo aber blieben dann diese Tells, als ein Hitler in unseren Landen hauste? Waren sie nicht ohne allen höheren Beistand in den Todesmaschinen der Tyrannei hängen geblieben und elend verendet? Und wo wäre die tadellose Demokratie, wenn wir uns die Demokratien anschauen auf unserem Globus? Erst jüngst wieder wurden wir überrascht durch die Vollstreckung eines Todesurteils an einem Mann in den USA, der den ihm zur Last gelegten Mord leugnete und der auch nie des Mordes hatte überführt werden können. Vielleicht, weil man den Fall endlich aus der Welt geschafft haben und keine weiteren Kosten mehr damit haben wollte, hatte man den Widerruf belastender Zeugenaussagen wie auch die Begnadigungsgesuche einiger namhafter Leute kurzerhand bei Seite geschoben. Unserem Gerspi hätte das alles wohl auch zu denken gegeben. Er war ein Mann, dem es leicht fiel, anzuerkennen, weil er mit sich selber nur wenig Probleme hatte; dem es aber schwer fiel, zu verurteilen, und der im Zweifelsfall lieber für den Angeklagten Partei nahm, als dass er etwas unwiederbringlich zerstörte. Schade, dass wir keine Schulbuben mehr sind, die zu Gerspi in den Unterricht kommen, oder zu denen Gerspi in den Unterricht kommt; denn der gute Gerspi lebt ja gewiss nicht mehr; er müsste denn jetzt etwa 130 Jahre alt sein. Schade, schade. Sonst würde ich ihm ja dieses kleine Prosastückchen zur wohlwollenden Korrektur überreichen. Und wenn er dann wohl auch noch ein paar Fehlerchen bemerkte, so hätte er am Schluss doch zumindest sein "nett, nett" parat. Und dann würden wir wohl auch nicht unterlassen, nochmals einen Aufsatz über den Tell zu schreiben, dieses Mal aber einen besseren.
Ich war damals etwa 13 Jahre alt und fuhr täglich morgens früh mit dem Rad von zu Hause quer durchs Dreisamtal in die etwa 5 km entfernt gelegene Schlossschule, wo ich, um in das altsprachliche Gymnasium überzuwechseln, die Unterrichtsstunden in Griechisch besuchte. Nach Beendigung derselben fuhr ich wieder nach Hause, um die Kenntnisse, die mir in Latein noch fehlten, vermittels eines Privatlehrers zu erwerben. Noch gut erinnere ich mich an jene Fahrten. Etwa vier Monate lang, eben die Monate des Frühlings und des Frühsommers, fuhr ich den Weg durchs Tal, den Hinweg etwas aufwärts, den Rückweg dann fast im Freilauf: wobei ich das erste Mal so recht auf die Pracht der Landschaft aufmerksam wurde. War es die neue Lebensepoche oder eine goldene Illusion, die alles so herrlich vor mir ausbreitete, dass mir das Dreisamtal mit den sie umgrenzenden Schwarzwaldbergen wie ein Amphitheater vorkam, als hätte es auf mich gewartet? Jedenfalls erinnere ich mich noch sehr gut, wie wir damals beim alten Prof. Obrecht - wir nannten ihn nur den Opel - Griechisch lernten. Kein noch so gescheiter Satz, nicht einmal die herrlichsten Passagen aus dem Homer werden jemals dieses Glück wiedererwecken, das damals in mir lebendig wurde, als wir "ho anthropos" zu sagen und zu deklinieren lernten. Oder sollte ich nicht besser sagen, dass wir das Wort mitsamt seiner Deklination zu singen lernten? Wenn man aufgerufen wurde, hatte man aus der Bank herauszutreten, um dann mit der Aufführung zu beginnen. Beim Sprechen des Wortes hatte man mit dem Zeigefinger den Akzent über dem A zu betonen, um dann das Wort auch weiterhin mit dem Zeigefinger durch alle Kasus hindurch zu begleiten. Was für eine feierlich ernste Stimmung umgab einen nicht, wenn man anhub, dieses Wort auszusprechen, als wollte man sagen: "Ich bin der Mensch! In mir seht ihr den Menschen! Wenn ich wissen wollte, was in einem Menschen steckt, so seht her auf mich!"! Was für eine Meditation, was für eine Weltschau vom Nominativ bis hin zu Vokativ, als regten sich alle die Exemplare Mensch und würden wieder lebendig, wie sie in der Geschichte der Menschheit gelebt hatten. Wie oft saß ich nicht damals in der Sonne auf der großen hohen Schlossmauer, ließ die Beine herabbaumeln und dachte an nichts als an den Menschen. Wie Adam und Eva im Paradies den Tieren Namen gaben, und zwar die Namen, die ihr Wesen ausdrückten, so schien mir auch hier ein ewig gültiger und wahrer Name überliefert, den ich zwar zuerst nur als ein Fremdwort auszusprechen vermochte, der sich mir aber aufschließen und Wahrheit, Wesenheit und Wirklichkeit von uns Menschen zeigen wollte. Das Mensch-Sein erschien mir wie eine Herausforderung, ein Wagnis, eine Aufgabe, die vor uns lag. Es war etwas Grandioses und Kühnes, das unbedingt ausfindig gemacht werden musste. Niemals wäre mir der Gedanke gekommen, diese Aufgabe könnte sich nicht lohnen. Und schau ich zurück, so ist mir, als sähe ich mich noch oben auf der Schlossmauer, die Beine frei über die Mauerwand herabhängend, den Blick hinüber auf die untergehende Sonne gerichtet, wie ich das Gedicht rezitierte oder das Lied sang vom Menschen.
Der Mensch
Des Menschen Aufgabe aber ist,
dem Menschen zu geben, was er braucht, um
den Menschen recht zu achten und zu ehren.
O Mensch, wozu auch sonst bist du auf Erden?
Der Mensch war seiner Natur nach groß und stark, berufen dazu, etwas auszurichten und zu bewirken, was Bestand hätte. Und Mut und Hoffnung beseelten mich, dies zu erreichen, wenn wir die Wege auch noch nicht kannten, die uns ins Leben hinaus führten.
Kaum eine Frauengestalt blickt rätselvoller aus der Vergangenheit zu uns herauf, kaum eine ist unterschiedlicher bewertet worden als jene Kirke, zu der Odysseus mit seinen Leuten auf der Fahrt nach Hause gelangt. Manche sehen in ihr eine Zauberin, eine raffinierte, gewaltausübende, männerbetörende Dame, der es Spaß macht, mit Männern ihr Spiel zu treiben und sie dann in Schweine zu verwandeln. Andere erkennen in ihr ein Wesen, vor der der Mann in seiner ganzen Angst und Jämmerlichkeit offenbar wird. Wieder andere sehen in ihr vornehmlich eine Hebamme des täglich neu aufsteigenden Sonnenkindes, in deren Umkreis nichts Profanes etwas zu suchen hat oder eine Priesterin, die Opfertiere braucht, zumal zu den Sonnenfesten wie vor allem zum Neujahrsfest. Wie wir aber auch immer über sie denken mögen: ganz so kalt lässt Kirke keinen Mann, dass er sich nicht um das rechte Verhältnis zu ihr sich bemühte. In der Tat: Das rechte Verhältnis zu Kirke zu bestimmen: das heißt ja zugleich auch, ins rechte Verhältnis zu sich selbst zu gelangen. Sind wir Männer, zumal wenn uns der Drang zu begehren überkommt, und der Wille des Mannes in uns mächtig wird, wir mögen wollen oder nicht, sind wir da nicht insgeheim auch willens, uns in ein artig dressiertes Hündchen verwandeln zu lassen, nur um mit der Dame in ihr Boudoir eintreten zu dürfen? Werden mit der Begierde nicht Welten voll abstruser Handlungen in uns wach? Odysseus ist wohl auch kein Kostverächter; doch behält er einen kühlen Kopf. Und so verlangt er zuerst nach einer Rückversicherung, dass er mit heiler Haut aus dem Abenteuer davonkommt, ehe er mit der Kirke das Lager besteigt. Was ist da eine Helena im Vergleich mit einer Kirke, was selbst eine Aphrodite! Süß tönende Sirenen mit ihren Mäulchen und klappernden Schühchen mögen uns für kurze Zeit verlocken, wahrhaft bezirzen aber kann uns nur eine Kirke, Kirke, die Zauberin der Verwandlung.
Alles brauchen wir Männer in rauen Mengen, zumal wenn wir erst einmal auf den Geschmack gekommen sind. Doch wär es auch das leckerste Brot: was schmeckt so gut wie schöne Frauen! Und handelt es sich um schöne Frauen, mithin also auch um etwas streng Verbotenes: was könnte verlockender sein für einen Mann, als sich das Verbotene zu holen! Doch wehe, das Eroberte stellt sich als langweilig heraus, als unfähig zu jeglicher Verwandlung. Wehe, wenn sich Schönes als unentpuppbar entpuppt, wenn da nur ein Häufchen in sich selbst verliebter Dummheit zurückbleibt! Wehe aber auch auf der anderen Seite, wenn du dir zu viel nimmst vom Gewürz! Wie rasch entwickelt sich ein Widerwille. Wehe, wenn Mann und Frau die Besitzgier überkommt, dergestalt dass sie versäumen, für sich selber ein Rätsel zu bleiben! Wehe, wenn dann Mann oder Frau nicht mehr wollen! Wie gemein und hässlich werden doch Männer, wenn sie sich erst an etwas gewöhnt haben! Vermutlich war es weniger Helena, die dem Menelaos ein Horn aufsetzte, als Menelaos, der die langweilig gewordenen Helena gern ziehen ließ. Eine Frau, die ihren Mann behalten möchte, ist jedenfalls nicht gut beraten, sich ihm zum permanenten Besitz hinzugeben. Je näher er ihr kommt, umso ferner muss sie ihm zugleich rücken. Damit der Mann stets gelockt und verlockt und verführt werden kann, muss sie etwas haben, was er noch nicht auskundschaftet und erschnüffelt hat, ja etwas, was für ihn ewig unerreichbar bleibt.
Wenn nun aber auch in der Liebe fast schon jeder kleinste Schritt an Verbotenes grenzt, so umso mehr hier, auf der Insel Aiaia, wo noch etwas anderes auf dem Spiel steht als Frauenliebe und sexueller Genuss. Solche Bedürfnisse stillt der Held Homers routinemäßig, indem er Städte zerstört und die Weiber sich zu Diensten zwingt. Schon der Name der Kirke ist ja programmatisch. In ihrem Dienst als Amme des täglich und jährlich sterbenden und wiedererstehenden Sonnengottes wird alles Lebende diesem Kreislauf unterzogen. Wäre Kirke nur zur Befriedigung des männlichen Triebes gedacht gewesen, so hätte es gewiss nicht der Stornierung der Heimfahrt bedurft, die mit den Winden des Äolus fast schon Wirklichkeit geworden war. Auf Odysseus indes wartet noch eine Bewährung. Er muss erst noch in den Zauberkreis der Kirke gelangen, der mit dem Durchgang durch die Unterwelt und mit der letzten großen und alles entscheidenden Erprobung des Helden endet. Freilich, nicht in Sachen der Kirke fährt Odysseus in die Unterwelt fährt, aber auch nicht in Sachen der Penelope bzw. in Sachen der Liebe des Mannes zu seiner Frau. Die Heimat will Odysseus noch einmal sehen und den Rauch der Feuer auf den Feldern, wie Athene in der Götterversammlung dem Zeus erklärt, womit sie das Wohlverhalten ihres Helden dem Göttervater gegenüber zum Ausdruck bringt. Es ist eines der erstaunlichsten Bücher, dieses 10. Buch der Odyssee, das Herzstück der Heimfahrt, das den Helden in den Sog des Todes und ins Reich des Todes hinab bringt. "Lenke du ihn, du kannst es!" so sagt Zeus, indem er sich in der Götterversammlung des Telemachos wegen an Athene wendet. Aber auch für Odysseus, den Vater, ist von höchster Seite aus Sorge getroffen, sei es, dass Zeus einen Auftrag erteilt, sei es, dass Athene in anderer Gestalt erscheint oder unsichtbar im Hintergrund agiert.
Nun also gelangt Odysseus zur Insel Aiaia. Fast jeder Schritt, fast jedes genauere Hinsehen ist hier verboten. Und so, als wäre das noch immer nicht genug, zeigt sich alles wie verhüllt. Die Gefährten, die Odysseus zur Erkundung ausschickt, sind der Aufgabe nicht gewachsen. Ahnungslos, bis auf Eurylochos, der die Kunde zurück bringt, tappen sie im Nebel, tappen sie in die Falle. Auch Odysseus wäre solch einem Schicksal nicht entgangen, wäre ihm nicht Hermes, der Bote des Zeus, begegnet. Wenn nun aber auch ein Aufenthalt von einem Jahr auf der Insel der Kirke beginnt, so spinnt sich doch keine eigentliche Liebesgeschichte an. Anders als beim späteren siebenjährigen Aufenthalt bei Kalypso endet das Abenteuer hier auch nicht mit einem Liebesdrama. Schon der Beginn ist wesentlich anders. Wenn Kalypso einem Verschollenen begegnet, dem sie Erbarmen und Mitleid entgegenbringt und den sie dann weiblich pflegt und umsorgt und als Mann begehrt, was dem Odysseus anfangs jedenfalls, als die Sache noch nicht in Routine erstarrte, sehr angenehm war, so widersteht Odysseus dem ganz anders motivierten Begehren der Kirke von Anfang an. Das Lager mit ihr zu besteigen, barg, wie Odysseus sagt, die Aussicht auf Erniedrigung zum schlappen Schelm wenn nicht auf noch Schlimmeres. Und wenn Kirke dem Helden ein ewiges Leben verspricht, so spricht sie von etwas ganz anderem als später Kalypso. Aus dem Sog des Todes gibt es nur ein Entrinnen, wenn der Held bei Kirke auf der Insel Aiaia bleibt, der Geburtsstätte des Sonnengottes. Jeder Weggang von dort führt, wie der Weg der Sonne zum Untergang, unweigerlich in die Unterwelt und damit zum endgültigen Verderben.
Nach Verlauf eines Jahres, dieser großen Zeiteinheit der Wanderschaft der Sonne durch den Tierkreis, ist es dann aber so weit: Die Gefährten melden sich zu Wort und Odysseus lässt sich bereden. Das Weinfest und das Neujahrsfest, Feste, die im Herbst das Ende des alten Jahres und den Beginn des neuen Jahres markieren, stehen bevor. Nun aber, wo er schon Abschied nehmen und endgültig nach Haus fahren will, schickt ihn Kirke ins Totenreich. Wie sie sagt, damit ihn Teiresias dort aufkläre, wie er seinen weiteren Weg nach Hause zu nehmen und was er zu tun habe, wenn er nach Hause kommt. Doch ob damit alles gesagt ist, darf bezweifelt werden. Sagte sie ihm das später nicht eigens noch einmal selber? Wozu also sollte, warum musste er dorthin? War es eine böse List: dass sie ihn, weil er nicht bei ihr bleiben und das Leben mit ihr teilen wollte, in den Tod schickte? Nein, das glauben wir nicht. So erzählt es uns Homer nicht. Es könnte immerhin sein, dass Kirke ihn an der Seite des am Neujahrsfest dahinwandernden Sonnengottes gleichsam als Opfer mitschickte. Elpenor mag anlässlich des bevorstehenden Festes beim Weintrunk schon seinen Opfertod gefunden haben. Nun stünden da also noch Odysseus und seine Männer zur Opferung bereit. Was ihr also vor einem Jahr eigenhändig nicht gelungen war, das würden nun die Mächte der Unterwelt besorgen: Gorgo vor allem und die schreckliche Persephoneia.
Endlich kommt es zur Abfahrt. Kirke, die Göttin, erscheint schön gekleidet. Sie bringt zwei Schafe an Bord als Opfergaben für die Herrscher der Unterwelt. Alles geschieht sehr rasch und ziemlich lautlos. Wer aber meint, das Festgewand hätte Kirke für die Griechen angelegt, der irrt. Für den Sonnengott, für die Geburt des Kindes, hat sie sich geschmückt, um als Tochter und Hebamme ihres wiedergeborenen Vaters Dienst zu leisten. Den Odysseus später, nach der Fahrt ins Totenreich, noch einmal zu sehen, scheint ihr völlig unmöglich, so dass sie dann auch nicht wenig erstaunt ist, als er doch noch einmal bei ihr anlangt. Von alledem aber weiß der Held nichts. Erst im Nachhinein, während sie schon mit dem Schiff zur Unterwelt unterwegs sind, immer unter der Führung des Sonnengottes, als führen sie in seinem Schlepptau, gehen dem Odysseus die Augen auf; und vollends dann bei der Erzählung vor den Phäaken. Dort dann war es auch wohl, wo ihm der verborgene Aufstieg des Sonnengottes aus dem schimmernden Rauch auf Aiaia aufzudämmern begann.
Fragen wir uns noch einmal, warum es Odysseus auf die Insel Aiaia verschlug. Richten wir noch einmal leise, wie zum Ausklang, die Frage an Homer, denn mit dem Dichter sind wir ja schon ziemlich in der Nähe der Schicksal bestimmenden Götter. In der Göttersitzung erfahren wir es noch nicht voll und ganz. Da heißt es nur, dass dem Helden der Tag der Heimkehr bestimmt ist. Wenn Athene indessen dort darauf insistiert, dass der Held zuhause den Rauch sehen und sterben wolle, so deutet sie damit doch noch etwas Zusätzliches an. Einmal bringt sie damit zum Ausdruck, dass Odysseus, der ja noch bei Kalypso weilt, der Heimat und dem Tod in der Heimat den Vorzug gibt vor allem Angebot an ein ewiges Leben und erinnert den Göttervater an das von Zeus den Menschen zugedachte, die Trennung zwischen Göttern und Menschen besiegelnde, Geschick. Zugleich aber erinnert sie auch daran, dass der Held bereits die Probe bestanden und mithin ein Anrecht hat auf die Heimkehr. Dies aber kommt mit dem Hinweis auf den Rauch zum Ausdruck. Da ist wohl nicht so sehr der Rauch aus den Kaminen der Häusern oder von den Feldern die Rede, sondern von dem die Sonnengottheit einhüllenden Rauch, dem der Held auf Aiaia, der Sonneninsel und der Insel der Eos bereits begegnet ist. Der den Sonnengott verhüllende Rauch zum Beginn des Neuen Jahres ist bildhaft das Bekenntnis zum Anfang und zum Ende, zu Werden und Vergehen und, wer mag es wissen, auch zu einem, auf den Menschen wartenden, neuen Sein.
Odysseus irrt durch die Welt. Aber in seinen Irrfahrten genügt er dem Willen des Zeus. Er lernt die Welt kennen, vornehmlich die Welt der Menschen, die Welt derer, die vom Brot leben, die Welt Sterblichen. Im Gegensatz zum altorientalischen Helden Gilgamesch sucht der griechische Held zwar auch nach keinem, der unsterblich wäre, gleichwohl hat er sich auf seinen Irrfahrten auch mit dem Tod auseinanderzusetzen, ja er sieht sich sogar der Verlockung eines unsterblichen Lebens gegenüber, das ihm auf Aiaia durch seine Gefährten verwehrt wird, auf Ogygia aber, bei der Göttin Kalypso, nur in einem schalen eintönigen Ewiggleichen endete. Klug hat der Dichter der Endfassung diese beiden Frauen mit dem Angebot eines unsterblichen Lebens in die Handlung eingebaut und zwischen sie die Odyssee im engeren Sinn gestellt. In diese Zwischenhandlung aber fällt vor allem die Fahrt die Fahrt in die Unterwelt in der fernen Begleitung des Helios wie auch die Freveltat, wie es Homer nennt, die die Gefährten begangen, als sie die Rinder des Helios aßen, die unangetastet zu lassen, ihnen schon Teiresias, wie auch Kirke noch einmal, eingeschärft hatte.
Wie nun aber der Held Gilgamesch auf die Insel der Seligen gelangt, wo ihm vom chaldäischen Noe gesagt wird, dass ihm hier keine Bleibe winkt, ähnlich steigt der griechische Held in die Unterwelt, wo er zu lernen hat, dass keinem der Weg dahin erspart bleibt. Auch Odysseus wäre schlecht beraten, zu glauben, durch diesen Abstieg hätte er schon seiner Sterblichkeit Rechnung getragen, Kirke sagt es ihm ja selber ausdrücklich, dass sie, Odysseus und seine Gefährten, insofern Ausnahmen sind, als sie zweimal in die Unterwelt zu gehen haben. Gleichwohl aber scheint uns, dass bei beiden Helden deshalb nicht auch die Hoffnung auf ein gutes Geschick nach dem Tod unmöglich wäre. Ein Schlüssel dazu bietet in der Odyssee das Verständnis des Tags der Heimkehr, wie im Gilgamesch-Epos die doppelte Feier des Neujahrsfestes. Was die Gefährten des Odysseus betrifft, so haben sie diesen Tag verspielt, wie es gleich im Proömium heißt, nicht aber Odysseus der Held. Damit scheint schon alles gesagt; und doch wäre es wohl zu wenig, wollte man bei diesem Tag nur an die Ankunft in Ithaka denken, die, nebenbei bemerkt auch buchstäblich in den Nebel fällt. Nirgends ist auch sonst etwas von dem Rauch zu hören oder zu sehen, den Odysseus zuhause noch einmal hat wollen aufsteigen sehen. Die Heimat insgesamt ist es, die Odysseus wiederzusehen sich sehnt, der Rauch, der ihn, wie wir vorwegnehmend sagen dürfen, an den verborgenen Aufstieg des Sonnengottes aus dem schimmernden Rauch auf der Insel der Kirke, einer Tochter des Sonnengottes, die zugleich eine Enklave der Persephone ist, erinnert. Den Rauch in der Heimat aufsteigen zu sehen! In welcher Heimat? so dürfen wir weiter fragen. Und wie Athene, seine Schutzgöttin das erste Mal hilfreich war bei der Rettung aus der Unterwelt, auch wenn es dem Held verborgen geblieben, warum sollte sie dies nicht auch ein zweites Mal fertig bringen? Der Buchabschluss der Odyssee wäre dann aber in ziemlicher Nähe zum Gilgamesch-Epos zu begreifen.
Hoffe nicht darauf, dem Tod zu entfliehen, scheint uns Homer zu sagen; vor dem Tod gibt es keine Rettung. Lerne ein Mensch zu sein, und das heißt, mach etwas aus deinem Leben. Und dies war wohl auch der Lernstoff, den Odysseus, sein Held, in der Nekyia zu bewältigen hatte. "Ein Gott aber, der nicht erkannt sein will", so schließt Homer das zehnte Buch der Odyssee, "wer könnte ihn sehen? Er wandelt in jeglicher Richtung." Damit meinte er gewiss nicht nur die Göttin Kirke, damit meinte er auch den Sonnengott, damit meinte er aber auch die immer seinen Helden Odysseus begleitende Schutzgottheit Athene, die griechische Göttin der Weisheit, die ihn auf seinem Gang in der Unterwelt beschützte und die ihn niemals preisgab.
Einer der ersten Frühsommertage war vorüber gegangen und es war Abend geworden. Und wenn unser Held und seine Liebste krankheitshalber auch nicht den Tag hatten nützen und hinaus ins Freie hatten ziehen können, wie es wohl wünschenswert gewesen wäre, so dass sie jetzt müde vom Wandern hätten nach Hause kommen und sich etwas zur Stärkung zubereiten können, wie einst in früheren Tagen, so hatten sie ihn doch einigermaßen heiter und, wie die Liebste beteuerte, schmerzfrei überstanden. Nun aber hatte er sie aufs Sofa gebettet, gehen konnte sie ja schon lange nicht mehr, und hatte sich´s neben ihr bequem gemacht.
"Erinnerst du dich noch", begann er nun also, nachdem er ihr die von den Anstrengungen der Umbettung etwas in Unordnung gebrachten Haarspitzen liebevoll aus der Stirne gestrichen, "erinnerst du dich noch, als wir damals, ehe wir ins Leben hinaustraten, uns das Leben auszumalen versuchten, wie gut und schön es sein sollte und wie wir es gerne haben wollten? Und sind wir dann nicht auch zusammen durchs Leben gestapft, ohne zu wissen, was es uns brächte und wohinaus es ginge, ohne im mindesten daran zu zweifeln, dass ein gutes Ziel auf uns wartete? Und hatten uns bei der Hand genommen, als wäre das der Zauberschlüssel, überall und immer das Rechte zu planen und zu entscheiden? Dabei wussten wir kaum mehr als die lieben Vöglein, die ahnungslos von den Nistkästen Gebrauch machen. Wie auch würden sie es über sich bringen, sich mit solch einem Kasten einzulassen, wenn sie wüssten, dass Menschen ihn angebracht haben? Nun ist es zwar gewiss nicht so, dass wir total bedürfnislos gewesen wären, oder dass nicht auch wir uns um einen Platz in der Gesellschaft bemüht hätten. Da wir aber nie zu hoch hinaus wollten, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit, und wir uns nie um heiß begehrte Sonderposten zu schaffen machten, so fiel uns auch nicht sonderlich schwer, den auf uns zukommenden Tagen mit einer gewissen Gelassenheit entgegen zu sehen. Und so nahmen denn auch wir beinahe wie die Vöglein Platz in einer Welt, die neben den Bäumen mit ihren Zweigen und Blättern wohl auch da und dort einmal ein fast schon fertiges Gelege oder Nistkästlein hervorbringt. Und als dann die Zeit gekommen war, begannen auch wir damit, es uns nach unserem Geschmack einzurichten und auszugestalten."
So begann unser Held die abendliche Unterhaltung und lächelte ihr zu. Und auch seine Liebste lächelte ihm zu Denn wenn sie nun auch schon über 20 Jahre lang krank war und ihr kaum ein Tag mehr verging, an dem sie nicht schreckliche Schmerzen heimsuchten, so ließ sie es sich gleichwohl nicht nehmen, wo immer es ging, das Leben als etwas Gutes zu preisen.
"Ist es nicht sonderbar", fuhr unser Held fort, "dass mir ist, als sähe ich nicht nur dieses unser Nistkästlein mit seinem artigen kleinen Einflugloch, sondern noch eine Reihe weiterer Nistplätze, einen neben oder hinter dem anderen, und von überall kämen Kinder auf uns zu, Kinder mit ihren Kindern und Kindeskindern! Und weiter in der Ferne wären abermals Kästen zu sehen und Männer und Frauen stünden dabei und schauten uns zu, nicht zuletzt auch die, die einst mit Sorgen auf uns geschaut und eine Vereinigung mit dem Sonderling missbilligt. Vielleicht hätten wir auch den heutigen Tag genutzt und wären mit ihnen ins Freie gegangen. - Natürlich wärst auch du mit dabei gewesen, Liebste", fuhr er nach einer Weile fort, als wäre es ihm eben eingefallen und er hätte es nur zu sagen vergessen. "Und dann wärst du auf dem Rückweg mit ein paar der ganz großen Jungen und Mädchen vorausgezogen, um uns allen ein kräftigendes und schmackhaftes Mahl zuzubereiten."
"Versteht sich, mit dem allerkleinsten Aufwand!" sagte sie schalkhaft lächelnd. Schließlich kannte sie ihren Helden, auf den sie Acht haben musste, weil er, bald wie ein unwissendes Kind, bald wie ein hochnäsiger Cato auf sein Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit noch immer nicht viel gab, und von dem sie wusste, dass es dem entsprechend auch zu seinen Grundsätzen gehörte, den Küchenarbeiten nur ja nicht zu viel Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen. Kaum einer hat sich ja der Öffentlichkeit und der Gesellschaft weniger angepasst als er.
"Da hättest du dann wahrlich trefflich für uns alle gesorgt", fuhr er fort, "und wir hätten uns nun alle von der abendlichen Tafel erhoben; und während die einen Platz genommen hätten um das Sofa herum, hätten die anderen bereits ihre Instrumente herbeigeholt, unserem Mütterchen etwas Schönes vorzuspielen. Auch du hast ja vor Zeiten wunderbar auf dem Klavier gespielt. Wenn ich nur daran denke, wie einfühlsam du stets die Töne hervorriefst und sie zu spielen verstanden!" Er hielt jetzt kurz inne, weil er es nicht laut zu sagen vermochte, ihn aber doch zu sagen verlangte und was er ihr eben nun so, im Verschwiegenen mitteilte: wie oft sie ihm damals nicht seine zu Verbitterung und Verdüsterung neigende Seele erhellt, und zwar nicht durch die Virtuosität ihrer Finger, sie waren ja damals schon sehr steif und unbeweglich geworden, sondern durch das sanfte Licht ihrer Liebe. Und nun würden die Kinder von den Stücken etwas zum Besten geben, die uns schon immer so gut gefallen. Nach dem Spiel aber würden wir ihnen ein paar Sächelchen reichen, wie wir sie in den Ferien abends nach unserer Lektüre zu knabbern pflegten. Homersächelchen nannten wir sie, da wir uns zumeist mit Homer auf Odyssee begeben. Es gibt ja für uns und für die Kinder nichts Schöneres als bei besonderen Gelegenheiten etwas Besonderes: für uns, es ihnen zu reichen, und für sie, es vorzufinden.
"Auch wir, Liebster", sagte sie, "auch wir lieben ja noch immer das Besondere bei besonderen Gelegenheiten. Wie auch sonst könnten wir uns beschenken lassen! Doch nun sage mir: würden wir die Kinder und Kinderlein nun einfach zu Bett schicken? Oder findest du nicht auch, dass das Zu-Bett-Gehen und das Einschlafen bei den Kindern oft ein mühseliges Geschäft ist, das zu etwas Süßem und Angenehmen wird, wenn man ihnen noch etwas vorliest oder vorerzählt! Selbst, wenn es heute nach den Anstrengungen der Wanderung mit dem Einschlafen leicht voran wollte, so wäre es doch wohl schöner, wenn wir sie durch eine Erzählung in die Stätten des Schlafs hinübertragen und in den Schlaf hinein träumen ließen. Doch was sag ich. Das alles hast du ja sicher schon gut bedacht, sodass uns nichts fehlt. Sag nur immer, was du dir ausgedacht hast!"
"Und ob ich daran gedacht habe!" sagte unser Held. "Und dass ich es nur gestehe: wäre ich nicht schon immer ein großer Kindernarr gewesen, so wär ich ein solcher an deiner Seite geworden, sind es doch die Kinder, die unserem Leben erst so recht eine Mitte und eine Heimat schenken.
Manchmal, du erinnerst dich daran, haben wir die Abende ausklingen lassen durch Liedersingen. Erinnere dich nur auch, wie viel und fleißig und fröhlich wir gesungen haben, wo immer wir waren. Wie kein Tag in den Ferien vergangen, an dem wir nicht aus voller Brust gesungen! Da war es schon hin und wieder vorgekommen, dass wir noch zu später Stunde über einem Bühl im Abendsonnenschein saßen und in den fernglühenden Sonnenuntergang hinab sangen, die du so liebst, während Ernterinnen, erfreut über unsere Begleitung, dem steilen Hang das spärliche Gras rauften. Und dann, als wir nicht mehr hinaus konnten, als wir zuhause auf der Terrasse saßen und sangen bis zum Sichtbarwerden der Sommersterne. Heute aber, nach dem Wandern, so denk ich, ließen wir es mit dem kleinen Vorspiel an musikalischen Darbietungen bewenden. Zumal, wenn ich an die Allerkleinsten denke, die vor noch nicht allzu langer Zeit gelernt haben, sich auf ihren eigenen Beinchen fortzubewegen und die nun müde sind. Da kann eine kleine Geschichte nichts schaden. Man hört noch ein wenig zu, bis die Ohrkläppchen leise zufallen und man wohlig im Schlaf liegt.
Und so beginnt denn nun die Geschichte, während unsere kleinen Helden bereits Quartier bezogen haben in ihren Bettchen! Eine Woche lang war es nun aber so heiß gewesen, dass selbst das letzte Wölkchen am Himmel verdunstet war, die Straßen gleisten vor Licht und Hitze, die metallenen Autos, die Häuser mit ihren Dächern und Fenstern: alles schimmerte und flimmerte. Ein Tag zog den andern nach sich, als nähmen sie nie ein Ende. Überall war jetzt Sommer, ja so sehr war Sommer, dass er sich auch nicht mehr davon abhalten ließe, selbst durch die verschlossenen Kellertüren in die dunkelkalten Kellerräume einzudringen. Und erst die Sonne! Sie ging jetzt schon so früh am Morgen auf und so spät am Abend unter, als wär ihr am liebsten, sich überhaupt nicht mehr zum Schlafen niederzulegen. Vergessen waren die Tage und Nächte im Winter, wo man die Decke um sich schlingt und wo man sich einmummelt, während die Füße gleichwohl stets kalte Eisklumpen bleiben. Klein Hänschen war zur Haustüre getreten und stand nun an der Türe, hinter sich das ihm wohlvertraute Zuhause, vor sich aber die weite und unbekannte Welt, die ihn schon lange verlockte. Und da die Eltern gerade nicht zugegen waren, fand er den Zeitpunkt durchaus für passend und gekommen, den großen Ausgang, von dem ihm schon so viel geträumt hatte, zu erproben. Dass er dort, bei der Haustüre beginnen musste, das wusste er freilich schon ganz genau. Türen hatten ihn ja schon lange beschäftigt, von Türen ihm schon lange geträumt, nicht anders, als bestünde das Leben vornehmlich aus einer unabsehbaren Zahl aufeinander folgender, immer kleiner erscheinender Türen, deren letzte, kaum größer als ein Nadelör, er eben noch zu sehen glaubte, während der dafür das Holz liefernde Baum doch erst als kleines Bäumchen neben ihm stand. In jenen Tagen, als er die Türklinke noch nicht erreichen konnte, selbst nicht, wenn er sich auf die Zehenspitzen gehoben, hatte er mit dem Studium begonnen. Dann aber, eines Tages war es zu einem entscheidenden Durchbruch gekommen. Indem er sich einen kleinen Hocker an die Türe geschoben, war es ihm geglückt, die Türe seines Zimmers zu öffnen. Eine geheimnisvolle Trennwand war sie ihm von nun an geworden: eine Trennwand, die keine mehr war, wenn man sie öffnete, und die wieder trennte, wenn man sie schloss! Nach und nach hatte er alle Türen im Haus erprobt, dass er Bescheid wusste, wohin man gelangte, wenn man sie durchquerte. Auch dass man durch manch eine Reihe von Türen wieder zum Ausgang zurück konnte, ohne zurück zu gehen, hatte er entdeckt. Doch dann war da noch die Haustüre, von der aus man hinaus in die Welt geriet! Dort bei der Haustüre standen auch seine Schuhe, ein paar stramme Wanderschuhe, als hätten sie nur darauf gewartet, endlich mit ihm zusammen auszuziehen. Freilich waren sie noch nicht so groß wie die seines Vaters. Wer aber mochte es wissen, hatte er nicht einen seiner größeren Brüder sagen hören, dass er morgen vielleicht schon ebenso groß wäre wie die anderen? Warum sollte das nicht auch ihm widerfahren? Und dann könnte man auch seine Schuhe nicht mehr von denen der anderen unterscheiden. - Endlich hatte er sich die Schuhe fertig angezogen und hatte sich auch noch die Schnürsenkel mit einem halbgelungenen Schlaufknoten gebunden. Und auf tat er die Türe und trat hinaus! - Könnte es nicht so geschehen?"
"So etwa mag es geschehen", sagte seine Liebste, "ist doch das Leben eine Reihe fortgesetzter Wagnisse und gebe es Gott, dass wir sie alle gut bestehen."
"Und die Vorbereitungen gehören doch allemal mit zu den Handlungen", fügte unser Held hinzu. Je wichtiger eine Handlung für uns ist, das heißt aber auch, je weniger sie für uns in ihrem Ausgang klar und deutlich vor Augen steht, umso bedeutsamer sind ja auch die Vorbereitungen." Unser Held sprach es nicht aus, an was für Handlungen er da insgesamt dachte, wiewohl er da an ganz bestimmte Handlungen dachte; und wenn er sich jetzt auch selber unterbrach, indem er das Liedlein vom Hänschen-Klein mit einigen Klängen intonierte, so wusste auch seine Liebste, dass er jetzt keineswegs nur an die ersten Ausflüge von Hänschen dachte.
"Die Lust auf das Neue", fuhr er dann fort, "ist in unserem Hänschen schon rege, wenn er vermutlich auch nur bis zum Gartentor hinaus spaziert. Die Spatzen im Zaun der Hainbuchenbäumchen vor der väterlichen Türe mögen ihn deswegen schon mit ihrem Spottliedchen begleiten. Doch das schert unser Hänschen wenig in seiner seligen Selbstvergessenheit? Das Wahrscheinlichste ist, dass er das Liedchen überhört; aber selbst wenn er es hörte und wenn er es auch noch verstände, so würde er am Ende wohl gar noch darüber lachen.
Mag ein Kleinkind auch durchs Gartentor in die weite Welt hinaus stapfen, so ist sie doch immer im Allernächsten gegenwärtig. Für ihn gibt es ja noch keine Ziele, die in weiter Ferne liegen. Gehen, um ein Ziel zu erreichen, und alles diesem Ziel unterzuordnen: das ist noch nicht seine Sache. Wie das alles gekommen ist, dass er sich als rüstiger Wandersmann erkennt, das weiß er freilich nicht zu sagen. Genug, dass er jetzt kein Krabbelkäfer mehr ist. Aber auch daran kann er sich ja nimmer erinnern, als läg es nicht nur Wochen, sondern Jahrzehnte zurück. Allenfalls dass er immer wieder einmal im Lauf innehält und staunt, wie stramm da die Beinchen unter ihm sich bewegen, dass er fast bezweifeln mag, dass sie zu ihm gehören. Fast ohne auf sie aufpassen zu müssen, ob auch die lieben Eltern rufen "Gib Acht! Gib Acht!" machen sie alles von selbst. Nur noch der Startbeginn sowie das Anhalten hat man sich vorzubehalten.
Es ist schon sonderbar, wie wir uns immer wieder neu in unserem Ich erfinden und einrichten müssen. Was wir gelernt haben, übernehmen dann die entsprechenden Organe als unsere Bediensteten, die wir uns dann nur herbei rufen müssen, wann immer wir ihrer bedürfen."
"Und wenn sie dann nimmer kommen, um uns zur Verfügung zu stehen", flocht die Liebste ein, "müssen wir uns eben abermals neu erfinden!"
"Ich gäbe etwas darum, wir hätten alle unsere Organe gemeinsam", sagte unser Held und ergriff ihre Hand. "Dann gingest du an einem Tag und am anderen ginge wieder ich."
"O, ich kann mich wahrlich nicht beklagen. Es ist ja für mich gesorgt, wo du so gut für mich sorgst", sagte die Liebste. "Die Liebenden erfinden sich immer wieder von Neuem; aber die Liebe bleibt. - Und sieh!" fügte sie hinzu, "vielleicht ist ja gut, wenn wir bei den Kleinen lernen, dass wir nicht immer nachfragen, wohin die Reise geht. Wir wollen uns ja auch überraschen lassen, wenn es uns vielleicht auch schwer dünkt. - Unserem jungen Wandersmann indessen müssen wir noch nicht von fernen Gegenden erzählen. Angst einflößende Wälder oder lebensfeindliche Wüsten oder Meere kennt er ohnedies noch nicht, durch die man hindurch muss, um etwas Dahinterliegendes zu erreichen. Sehnsuchtsvoll mit den Blicken in die Ferne zu schweifen: das ist noch nicht seine Sache. Von den Steinchen am Wegrand wird es angekörnt, von den Ameisen und Schnecken im Sand, von Zigarettenstummeln und Bierflaschen, die Raucher und Trinker achtlos neben eine Sitzbank geschmissen. Und mag sich ein Kind auch einmal verirren oder verlieren, so findet es doch immer wieder nach Haus."
"Vielfältig sind wahrlich die Arbeiten, die noch auf unseren kommenden Gipfelstürmer warten", nahm unser Held nun wieder den von ihr dargebotenen Faden auf, "und manch eine erstaunliche Entdeckung gibt es da noch zu machen, ehe wir ihn als Welteroberer wiederfinden. So hat er zu Hause ja schon oft erlebt, wie leicht es geschieht, dass einmal die Spielsachen durcheinander geraten, und wie mühsam es dann ist, sie wieder in die Kisten und Kästen zurück zu bringen. Die Welt mit den Dingen darinnen, mit den Häusern, den Bäumen und den Wolken aber, wenn wir sie in einer Pfütze unter uns betrachten, gleicht einem Stehaufmännchen. Und geht er mit Stock und Hut aus, wie es im Lied heißt, wozu braucht er dann auch seinen Stock, wenn nicht, um alles zuoberst zu kehren und durcheinanderwirbeln, um zu sehen, was dabei herauskommt? Bei der Pfütze aber ist das anders: das Zugrunde-Gegangene bleibt nicht als ein Zugrunde-Gegangenes; alles kommt schnell wieder zu sich und nimmt wieder die vorige Gestalt an, sobald man nur vom Herumrühren ablässt. Und wiederholt er die Versuche, jetzt aber, indem er mit den Stiefeln eines Generalissimus die Pfütze durchsteigt, als wär es das rote Meer und er hätte mitsamt dem Pharao auch noch das Meer zu verjagen: so ergibt sich wieder, was es beim Stock schon gelernt hat, dass es die Ausdauer ist, auf die es vor allem ankommt, wenn es auch verschiedene Mittel gibt, einem Feind auf den Leib zu rücken. Es liegt von daher nahe, im Kind einen ernstzunehmenden Pfützenarbeiter anzuerkennen. Ja was die Welt eines Vorschulkindes angeht, so passt sie beinahe noch in eine Nussschale und reicht doch weit über sie hinaus. Ähnlich weit kann sich die Welt eines Kindergartens erstrecken, zumal wenn das Gebäude auch wirklich noch über einen Garten verfügt, z.B. mit einer blühenden, von Insekten besuchten Sommerwiese und einem Brunnen oder Teich, wie auch mit einem die Wiese umgebenden Laubengang, vornehmlich wenn auch Menschen mit dabei sind, die es in diese Welt einführen und sie ihm erschließen. Da trifft es dann auf die Taube, die gurrt; und auf die Katze, die miaut; und auf den Hund, der bellt. Oder da ist noch aus der Ferne ein Hahn zu hören mit seinem fernen Kikeriki oder ein Kuckuck aus dem Wald, der sich eben zu einem Wettkampf gegen den Sänger Esel bereit macht. Oder es beobachtet eine Libelle und lernt dabei das Fliegen. Oder sind die Arme nicht wie Flügel und muss man sie nicht nur rasch im Kreis herum schlagen? Doch wohin sollte es fliegen? Noch hält es kein Minos hält es gefangen, noch muss es keinem Kerker entkommen. Ihm ist genug, mit den Insekten sich von Blume zu Blume zu begeben. Und sollte sich einem einmal etwas Gefährliches nahen, genügt dann nicht die Vorstellung sich rasch als eine verwandelte Libelle in die Lüfte zu erheben und sich zu retten?"
"Und doch, so denke ich", fügte die Liebste hinzu, "und doch schweift auch ein Kind immer einmal wieder in geheimnisvolle, ferne Welten hinaus. Da ist es vielleicht, auf der Suche nach Beeren oder nach Pilzen oder auch nach kostbaren Steinchen einen kleinen Bergpfad hinaufgekraxelt. Und nun erzählen wir ihm des Abends von dem Kind auf der Himmelswiese, das seine Eltern verloren und das sie suchen gegangen: wie leicht mag ihm da doch der Bergpfad einfallen, den man doch nur geradewegs weiterzugehen hat, bis man vor dem Tor des Himmels ankommt! Und wenn wir dann später zu den Bergen hinauf schauen und hinter manch einem Berggrat von jenseitigen Ländern träumen, knüpfen wir dann nicht an jene frühen Forschungen an und nehmen etwas davon mit, was uns als Sehnsucht und Fernweh das Herz erfüllt! Oder wenn das Kind sich mit den Kaulquappen oder den Goldfischen hinab zum Grund eines Weihers oder eines Sees versenkt und es sich ins goldene Schloss der Fische hineinträumt, worüber es dann auch zu Hause, etwa bei schlechtem Wetter oder nachts im Bettlein, nachzudenken vermag: wie leicht wird es dann später, wenn es in den Märchen von Brunnen, Weihern oder Seen hört, zu eben diesen, ihm wohlbekannten und vertrauten Wegen geführt! Und finden wir solche Orte nicht auch wieder in vielen Weltschöpfungslehren in strahlender Verwandlung und Verklärung!"
Ihre Ausführungen entzückten und entspannten unseren Helden. Und als seine Liebste nun gar noch hinzufügte, dass es in der Welt der Kleinen beinahe einerlei sei, ob sie etwas selber erlebt hätten oder ob sie es nur vom Hören-Sagen kennten, dass ihnen alles zum Aufbau einer Himmel und Erde umfassenden Welt beitrüge, wenn sie nur selber etwas dazu beitrügen, hämmernd und klopfend, singend und springend: da träumte ihm wohl auch ein wenig, als wären sie beide zusammen im Kindergarten gewesen oder er stünde ihnen als eine schönere Welt bevor.
"So muss es denn wohl auch sein", gab er ihr zur Antwort. "Alles scheint ein Gleichnis zu sein für die nächste größere Aufgabe, die auf uns wartet, alles ein Weg zu einem immer umfassenderen, alles miteinander verbindenden Lebens. Das Lebendige lernten wir damals als etwas Bewegliches und das Bewegliche als etwas Lebendiges begreifen. Und das Bewegende erschien zusammen mit dem Bewegten als ein Zusammenspiel, wo es noch keine Ursache und Wirkung gab, wo vielmehr auch das Bewegte zum Bewegenden werden konnte. Wo das Steinchen bald vom Wasser angetrieben wird, bald aber auch als großer Stein das Wasser antreibt. Oder wenn wir uns den Blättern und dem Wind zuwandten, da sahen wir bald die Blätter vom Wind in Bewegung versetzt, bald den Wind durch die Blätter. Sahen wir Blätter in Bewegung und spürten den Wind auf den Wangen, dann war uns leicht, als verursachten die Blätter den Wind, spürten wir aber zuerst den Wind, wenn wir etwa morgens aus dem Haus traten, dann war es wieder der Wind, der bereits erwacht die Blätter der Bäume bewegte. Erst am Abend dann, wenn der Wind müde geworden, zog er sich zurück, um sich zur Ruhe zu legen. Einmal sahen wir ihn dann zum letzten Mal noch im Wellengekräusel über dem See, ehe er sich dann ins alte Laub unter die Büsche verkroch oder in die Tiefe des Sees hinabstieg. - Das Leben", so fasste er nun den Gedankengang zusammen, "das Leben kann man nur verstehen, indem man es erlebt; und das Leben kann man erleben, indem man es zu verstehen sucht."
"Dürfen wir nun annehmen", fragte die Liebste, es klang wie eine leis verschmitzte Anfrage, dass nun unsere Kleinen den Eingang gefunden haben in die Gemächer des Schlafs?" "Das wollen wir annehmen", erwiderte unser Held. "Vielleicht dass der eine und andere von ihnen nun im Traum überprüft, ob sich seine Forschungsergebnisse auch in neuen Situationen bewähren, etwa, ob man sich so leicht machen kann, dass einen eine Wolke davonträgt. Selbst aber, wenn der eine und andere noch wach sein sollte, so kann es ihm nicht schaden, wenn wir uns nun den schon Fortgeschrittenen und Älteren widmen und uns mit ihnen fortbegeben in die weite Welt. Auch hier noch in seinem Bettchen kann er sich ja dabei vergnügen, die Augen und die Ohren für eine Weile zuzumachen, um dann, wenn er, wie bei der Wanderung, sie wieder aufgemacht, nachzusehen, wohin er gekommen, wo einem im Halbdunkel doch leicht alles das erscheint, was man sich vorstellt, und aus dem heraushört, von dem eben die Rede."
Gleichwohl versäumten sie nicht, noch rasch einen Blick in ihre Bettchen zu werfen. Da lagen denn auch wirklich die Meisten von ihnen schon tief im Schlummer, wenn auch nicht tief unter der Decke, denn sie brauchten noch keine, sich darunter zu verstecken; manch eines von ihnen hatte wohl gar noch ein Kinderlätzchen um den Hals, weil die Zeit gefehlt, es rasch abzubinden; und ihre Stofftiere und Puppen lagen um sie herum, wie der Hofstaat eines Monarchen, der gewohnt ist, alles mit dem König zusammen zu tun. Die wenigen aber, die noch nicht so weit waren, blinzelten uns zu, als trüge sie eben ein Zaubervogel oder ein Heißluftballon hinauf in wundervolle Höhen, doch wir sollten uns nur keine Sorgen machen, auf der Erde sei ja, im Fall eines Absturzes alles weich gepolstert.
"Und was erzählen wir nun den Großen?" flüsterte die Liebste ihrem Liebsten ins Ohr, als er mit ihr, er trug sie auf seinen Armen, von seinem Rundgang zurück war. Überhaupt sah er jetzt, dass sie ihren Hochzeitsschmuck angelegt, den er ihr einst geschenkt hatte: die Mondsteinkette, mit den blauschimmernden Himmelstropfen.
"Wie damals, als wir noch unsere Kinder bei uns hatten", sagte er, "könnten wir sie mit Fahrten und Irrfahrten der ersten Weltentdecker unterhalten, aber auch authentische Erlebnisse stünden uns zu Gebot, wenn wir ihnen nicht etwas aus dem eigenen Leben erzählen."
"Ja, die eigenen Geschichten wären wohl wert, erzählt zu werden", bestätigte ihn die Liebste, die sich da selber an so manches erinnert haben mochte. "Was man selber erlebt hat, interessiert ja oft noch mehr als erfundene Geschichten. Ziel des Weggehens ist ja allemal das Wieder-nach-Hause-Kehren, zumal wenn man mit Schätzen beladen zurückkehrt. Und wie das Kleinkind, so sind auch noch die großen Kinder, ja so sind auch wir noch überall zu Haus, wo man uns willkommen heißt. Erzähl uns doch nur ein wenig!"
"Da wären die Radtouren, zu denen wir uns in früheren Tagen in den Schulferien auf den Weg gemacht haben", begann da ihr Held, alten Erinnerungen Raum gebend, indem er den Gedanken unterbrach, der ihm soeben gekommen, wie viel wir nicht doch einander zu erzählen vermöchten, wenn wir nur nicht nachließen, uns dazu anzuhalten und auszubilden. "Von den herrlichen Mühen ließe sich da erzählen", sagte er, "wie wir durch in die Schluchten der Alpen eingefahren und wir uns auf unseren damals noch sehr einfach gebauten Rädern die Straßen zu den Pässen emporgewunden, einer hinter dem anderen, hinauf ins Gebirge, sei es, dass wir uns ein paar Alpengipfel vorgenommen hatten, sei es, dass wir uns auf dem Weg befanden ins goldene Italien oder in den Süden Frankreichs. Das Wetter mochte sein, wie es wollte, das focht uns nie an. Und mochte auch manch ein von Wolkendunst eingehüllter Gebirgszug oder auch nur ein auf uns herabschauender Gebirgsstock begegnete: beeindrucken oder gar einschüchtern ließen wir uns von ihm nicht. Zumal in unwirtlichen und lebensfeindlichen Regionen kam es darauf an, dass man besonnen und furchtlos die wohlabgesteckte Strecke entlang ging. Und sollte einmal etwas Unvorhergesehenes dazwischenkommen, und sei es nur, dass einem ein Schlauch platzte und man ihn flicken musste, so galt es nur doppelt, sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Von einer spartanischen Mittagspause am Randstein abgesehen, bei der es für jeden einen Laib Brot und einen Liter Milch gab, waren wir, wenn alles gut ging, den ganzen Tag unterwegs, teils, wenn der Weg zu steil war, indem wir die Räder bergaufwärts schoben, teils in den Sätteln. Erst gegen Abend, wenn sich die Sonne schon tief zum Horizont herabgeneigt, geschah es dann, dass wir uns nach einer Unterkunft oder nach einem geeigneten Zeltplatz umschauten. Lange freilich mussten wir nie Ausschau halten. Eine wind- und regendichte Almhütte war alsbald schon gefunden, wo wir die Nacht im Verein mit ein paar freundlichen Ziegenhirten verbringen konnten. Strohsäcke aus einem kleinen Schober waren schnell herbeigebracht und auf einem Stück Boden ausgelegt. Wenn man dann auch etwas eng, ja mitunter sogar wie Heringe in einer Dose zu liegen hatte, so hatte man doch immerhin ein wind- und wetterfestes Dach über dem Kopf. Vor nächtlichen Störungen, wie dem Geraschel nach Futter suchender Mäuse, durfte man freilich keine Angst haben. Morgens, in aller Frühe, ging es dann weiter, bergauf und bergab, bis wir dann nach kühner Fahrt straßenabwärts in eine der großen Ebenen jenseits der Alpen gelangten. Von dort aus ging es dann, wenn auch nicht weniger anstrengend, so doch überschaubarer weiter. Da galt es dann zu radeln und zu radeln und zu radeln: Kilometer um Kilometer, von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt. Allenfalls von manch einer Schar von Kindern in den Dörfern bewundert oder auch befragt, fuhr man den ganzen Tag über fest im Sattel, um dann gegen Abend nach einem Rastplatz Ausschau zu halten und die Zelte aufzubauen. Und immer, wohin wir auch kamen, wurden wir von den Leuten, ob sie uns auch nicht kannten, freundlich aufgenommen und freundlich versorgt. Nachts dann geschah es oft, wenn wir hinaustraten in die uns fremde, warmumwehende, südländische Nacht, dass wir nicht wussten, ob uns die Sterne nicht näher waren als die Erde mit ihren fernen Gebirgen. Morgens dann aber, nach dem Abbau der Zelte, ging es zügig weiter, dem Süden entgegen.
Aber auch wir, Liebste", fuhr unser Held dann fort, nachdem er die Hand seiner Liebsten fest an sich gedrückt hatte - es fiel ihm ein, dass seine Liebste noch an etwas anderes gedacht haben mochte -, auch wir sind ja in jenen Tagen schon zusammen gewandert, wenn wir uns auch noch nicht kannten. Wir waren ja damals noch wie die Kinder." Im Rahmen einer Ferienveranstaltung waren sie, wie er sie wiedererinnerte, als Leiter von Jugendgruppen zu einer Ferienzeit in die Alpen geladen. 20-30 Leute mochten es gewesen sein, die in einem alten, ehemaligen Nobelhotel, das später dann auch abgerissen worden, oben auf der Passstraße wohnten. "Erinnere dich nur", so fuhr er jetzt fort, "wie wir die steilsten Berge emporgestiegen! Du in der ersten Seilschaft und ich in der zweiten. Beinahe möchte ich schwören, wenn ich mir jene Bergbesteigungen in Erinnerung hole, dass ich dich wieder sehe, wie du jeden noch so steilen Felsenhang und jedes noch so glatte Schneefeld mit bewundernswertem Schritt hinaufklimmst. Noch sehe ich dich, wie du einem Alpenwiesel gleich von Stein zu Stein und von Fels zu Felsen gesprungen. Ja beinahe toll und übermütig waren wir da hinaufgeklettert, im Besitz unserer Kräfte, dass wir uns gar zutrauten, in Turnschuhen in einer Mittagspause einen Dreieinhalbtausender hinauf zu springen. Ja, damals blickten wir noch mutig und kühn und voller Zuversicht von den Häuptern der Gebirge hinab und sangen den Tälern entgegen, die in der Zukunft da drunten ausgebreitet vor uns lagen. Kein Wimpernschlag einer Unsicherheit verwirrte den Blick, kein Stäubchen eines Zweifels schüchterte ein, keine Behinderung durch eine Krankheit beengte den Gebrauch der körperlichen Organe. Und was endlich die Gesellschaft angeht, in die wir uns einließen, so quälte uns kein Gedanke an Gleichgültigkeit oder gar an niedere Gesinnung. Alles war edel, strebsam, dem Guten und ewig Gültigen zugewandt, Teil einer Gemeinschaft, die sich der Herr des Himmels und der Erde gesammelt und auserlesen zum Tabor der göttlichen Liebe. Nimm doch nur jenes Foto zur Hand, das uns aus deinem Nachlass von damals verblieben! Linker Hand, neben der Treppe zum Aufgang ins Hotel seh ich dich noch stehen, bereit zum Weggang, ausgerüstet mit allem, was man braucht, um das Gebirge zu bezwingen: über dem Rucksack die Schlangen der Seile geschlungen, zu einer Seite den kurzen kräftigen Eispickel, zur anderen aber die mit Krallen besetzten Schuhe. Seitwärts von dir aber schau ich auf die zweite Seilschaft, die einst noch vollständig zu sehen gewesen. Inzwischen aber haben die Jahrzehnte an dem Bild gearbeitet, als wäre es mit uns gewachsen. Und nun sehe ich just dort, wo einst die zweite Seilschaft gewesen, frei von jeder Vergilbung, nur noch deinen Helden. Er allein von diesen allen ist übrig geblieben. Warte, Liebste, lass ihn mich anschauen, denn mich dünkt, als wollte er dir zulächeln nach so langer Zeit!
Und seh ich dich nicht wieder", fuhr er nun abermals fort, "wie du droben auf dem Gipfel der Alpen das Bäumchen der Freiheit gepflanzt hast! Droben über den blaugeaderten Gletscherpanzern und über den Firnfeldern des Lebens! Ja, schau doch hinauf! Aufgewachsen ist es und steht groß da, mit einem hohen festen Stamm, die blühende Baumkrone im Verein mit dem Gewölbe des sternbesäten Himmels. In seinem Wurzelgeflecht am Fuß der Gletscher fand ich damals einen Rauchquarzstift von der Dicke eines Kinderfingers, den wir dann später von einem Juwelier zu einem Anhänger haben fassen lassen. Du erinnerst dich ja!"
Wenn unser Held jetzt auch gern wie früher nach dem Abendmahl ein Fläschchen Wein mit seiner Liebsten getrunken hätte, so holte er nun doch immerhin ein Gläschen herbei, in welches er ein paar Schlückchen einfüllte. Nachdem er die Zunge der Liebsten befeuchtet, was sie noch möglich war ohne Gefahr einer Schluckstörung trank er auf ihr Wohl. Dann aber schaute er sich abermals nach seiner Liebsten um und sagte:
"Ja die schönste aller Geschichten ist und bleibt die Geschichte vom Jüngling, der auszog und der nicht aufhört, immer wieder auszuziehen, seine Liebste zu finden. Er kannte das Ziel nicht und fand es dann doch. Und wenn der Weg zu Beginn auch kein bequemer war, so war er doch der süßeste und herrlichste, zumal wenn man nach all den Prüfungen auf ihn zurück blickt. Oder erinnerst du dich nicht noch an jene Zeit, es war etwa zwei Jahre nach den Ferien in den Alpen, als ich mich auf die Suche nach dir machte? Nein, natürlich kannst du dich daran nicht erinnern. Du wusstest ja noch nichts von deinem Verehrer. Ich aber hatte dich jetzt entdeckt und hatte Worte von dir vernommen, dass mir darüber die Sehnsucht im Herzen erwacht war, sodass mir von nichts anderem mehr träumte, als mich dir zu entdecken. Da eilte ich wie ein Träumer straßauf, straßab, ob es mir gelänge, dein Zuhause zu finden. Freilich war ich fest davon überzeugt, dass ich es fände. Wenn auch nicht heute, so doch morgen oder übermorgen. Wie auch hätte er es nicht finden sollen, wo er eine untrügliche Ahnung und einen Kompass in seinem Sternhimmelherz trug! Und wenn wir dann auch manch eine Stunde durchzustehen hatten, wo uns ängstlich das Herz bebte, weil wir an der Herrlichkeit der Himmlischen noch keinen Anteil nehmen konnten, so wuchs nur der Glaube an unser Glück, dass wir es wohl mit zu unserem Glück rechnen dürfen. Inmitten aller Prüfungen wussten wir uns in den Vorhöfen des Himmels und wurden ja nicht enttäuscht. O all der Orte und Zeiten, Liebste! Wie auch könnten sie vergilben und alt werden und wir sie vergessen, wo sie doch zu Zeugen geworden, dass sich uns das Wunder des Lebens offenbarte! Wenn ich nur an jene Augustnacht zurückdenke, als wir uns, nach einem Tanzabend, auf dem Nachhauseweg befanden, du in deinem Prinzesskleid aus weißen Musselin, an dessen lieblichem Besatz du selber mit mitgearbeitet hattest, ich aber im Glück, einer so holden Perle Schutz bieten zu dürfen. Unter hohen Kastanienbäumen, oberhalb der Stadt und abgeschirmt von aller Welt, war es, als wir, kurz vor unserem Abstieg nach Hause, mit einem Kuss unsere Liebe besiegelten. Das war mehr als die Anziehung zweier Körper und mehr als die Annäherung zweier Herzen, das war die Begegnung unter dem Schutz ewiger Glückseligkeit, für alle Zeit. Trunken vor Glück waren wir damals ins Tal hinab und nach Haus gekehrt. Deine Eltern waren noch auf, wie du später erzähltest. Ohne dass du etwas hättest verraten müssen, war noch zusammen mit dir der holde Schein der Glückseligkeit in die Stube gedrungen und hatte nun auch sie noch verzaubert. Und kommt dein Jüngling heute bei deiner Eltern Haus vorbei, so lächelt er, weil er weiß, dass er fündig geworden, ohne doch zu wissen, wie es geschehen. Und er sieht sein Schätzchen auf die Straße hinaus ihm entgegenkommen, ihn ins Haus der Eltern zu führen. Wieder ein paar Jahre später, vielleicht 10 oder 20 Jahre später, sitzt man dann in Gartensesseln oder man sitzt zusammen auf einer Schaukel und schaut in die stille Nacht hinaus. Und endlich, wieder weiß man nicht, wie das alles geschehen, sind auch die Kinder groß geworden und ziehen nun selber aus dem Haus.
"Kinder aber", so fuhr er fort, nachdem er abermals der Liebsten Hand ergriffen, "Kinder vermissen ihre Eltern nicht allzu sehr, auch wenn sie nicht mehr mit ihnen unter einem Dach leben. Darum aber müssen wir uns nicht besorgen. Wohl aber um die Liebenden, die sich gefunden im Garten der Liebe. Denn wo werden sie bleiben, wenn Herbst und Winter den Garten befallen und Krankheit und Alter ihnen alles genommen?" Als er sie jetzt anschaute, war es ganz still geworden in ihrem Gesicht, diesem zugleich so zuversichtlichen und festen wie auch zu zärtlicher Pflege geschaffenen Gesicht. Für einen Augenblick wollte er noch aufbegehren, als er daran dachte, dass die Leiden das letzte Wort haben könnten. Doch dann fiel ihm wieder des Bäumchen ein, das sie hoch oben im Gebirge gepflanzt hatte und das ihm jetzt wie eine Fahne des Friedens entgegenwehte, und das Gespinst der verworrenen und unentwirrbaren Fäden schien sich wie von allein zu lösen. "Was wissen wir denn?" sagte er zu sich. Zu seiner Liebsten aber sagte er: "Komm!" Nach diesem Wort gab er ihr abermals ein Küsschen und drückte sie an sich. Dann begaben sie sich gemeinsam zu Bett.
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, sagte der gelehrte Aristoteles, und er hatte Recht. Schwieriger zu beurteilen ist schon die Aussage, die mein Großvater machte, wenn er mit mir ans spätherbstliche Fenster trat, um noch nach einem letzten Schwalbenzug hoch oben am Himmel zu fahnden. Solange du noch eine Schwalbe siehst, pflegte er damals zu sagen, ist der Sommer noch nicht verloren. Manchmal im Spätjahr, wenn drunten in den Tälern ein dichter Nebel alle Aussicht versperrte, stiegen wir eigens einen der benachbarten Berge hinauf, um eigens noch von dort oben, von einem etwa 30m hohen Aussichtsturm, noch auf den einen und anderen Vogelzug zu stoßen. Und wenn wir dann einen von diesen auskundschaftet hatten und ihm nachschauten, wie er, von Berggipfel zu Berggipfel strebend, die Täler unter sich ließ, pflegte er noch so manches zu sagen was er von der Sonne und von den Zugvögeln wusste. Und wenn ich mir auch nicht alles gemerkt habe, so erinnere ich mich doch, wie er einmal beim Aufstieg anhielt und, mich zur Seite nehmend, auf die Sonne zeigte. Zwar war sie noch vom Nebel verdeckt, dass man sie noch nicht sehen konnte; doch rings um sie herum war der Nebel bereits rötlicher und lichter geworden. "Ehe die Sonne die Nebel durchdringt", sagte er da, "merkst du schon eine Weile zuvor, wie es dort lichter wird und lichter. Statt aber zu warten und dich von ihr aufsuchen zu lassen, kannst du ihr auch entgegenkommen und zu ihr emporsteigen, so wie wir es jetzt tun." In der Tat dauerte es dann nicht mehr lange, bis sich der herrlichste blaue Himmel vor uns auftat und die Sonne strahlend zum Vorschein kam. Großmutter erwartete uns dann zu Hause. Sie war damals schon so schwer krank, dass sie keinen Schritt mehr gehen konnte und auf den wundervollen Bergaufstieg verzichten musste. Dafür aber war sie umso interessierter, was wir von unserer Wanderung zu berichten hatten. Später dann, Großmutter war die ganze Zeit über schwer krank daniedergelegen und nun verstorben, wurde der Großvater schweigsamer und schweigsamer. Selbst an die Schwalben ließ er sich jetzt nur noch mit Widerwillen erinnern und hinauf auf den Berg stiegen wir von nun an nicht mehr. Ich glaube aber nicht, dass er die Schwalben vergessen hatte. Vormals war ihm noch das Hoffen leicht gefallen; jetzt aber, nachdem er seinen Sommer verloren hatte, schienen ihm auch die Schwalben nicht mehr viel zu bedeuten. - In seinem Nachlass nach seinem Tod fand sich ein Blatt, das einen offenen Brief an den lieben Gott enthielt. "Ich schreibe dir, lieber Gott, diesen Brief, wiewohl ich weiß, dass es dich ebenso wenig gibt, wie ich weiß, dass ich mit meinen Worten meine Liebste nie mehr erreiche. Ich schreibe ihn dennoch, weil ich mich als elender Ritter der Liebe überhaupt nicht darum kümmere, ob es dich gibt oder nicht gibt. Solange ich ein Sehnen in der Brust spüre, das mich nach meiner Liebsten Ausschau halten lässt, eine allerdings hilflose Sehnsucht, solange bist auch du für mich zur Stelle, und wäre es auch nur als Verursacher meines Leidens und meines Unglücks. Auf dich setze ich in meiner Verrücktheit, dir gilt all mein Flehen, von dir erwarte ich die Aufhebung dieses mich betreffenden unseligen Urteils, die mich von meiner Liebsten und meine Liebste von mir getrennt hat. Ja, fast ist mir in meiner Verrücktheit, als müsste ich nur immer eifrig nach dir suchen und mein Wort zu dir erheben, als könnte ich dich, wenn auch nicht aus dem Himmel holen, denn einen Himmel gibt es ja längst nicht mehr, so doch aus dem Nichts erzeugen. Und so rufe ich nach dir und lasse mich nicht irritieren, wenn auch anfangs noch nichts geschieht. Halte mir die Ärzte vom Leib! Dein Reich aber lass kommen und gib sie wieder heraus, meine Liebste! Gib sie mir wieder heraus! Hörst du!?
Muttis Wunsch, noch einmal Weihnachten zu erleben, sollte nicht mehr in Erfüllung gehen. Kaum dass man Hans, ihren Mann, zu Grabe getragen hatte, wurde auch bei ihr eine tödliche Krankheit festgestellt. Zwei schwere Operationen folgten rasch aufeinander, bis wir sie dann für den Rest der ihr noch zugemessenen Tage zu uns nach Haus nahmen.
Unter Tag hatten wir ihr zumeist den Sessel ans Fenster gerückt. Da saß sie dann da und las in den Büchern, die wir ihr zu lesen gegeben hatten. Niemals alle die Jahre zuvor hätte sie sich herausgenommen, sich hinzusetzen und ein Buch zu lesen. Kinder, Küche, Haushalt und selbstverständlich die tadellose Bedienung des Herrn Gemahl waren die Aufgaben, denen sie sich verpflichtet wusste und denen sie nachzukommen hatte! Und wenn sie dann am Abend vor dem Zu-Bett-gehen sagen konnte, dass das Meiste getan war, dass nur die Fensterscheiben und die Vorhänge noch etwas Geduld mit ihr haben müssten, so gestattete sie sich, mit halbwegs befriedigtem Gewissen zur Ruhe zu begeben. Sich aber hinzusetzen und etwas zu lesen: allein schon der Gedanke daran wäre ihr auch an einem Sonntag als höchst verwerflich vorgekommen.
Genauer gesagt, war es nur der David Copperfield, den sie von den vielen Büchern noch durchzulesen Gelegenheit hatte. Übrigens zeigte es sich, dass sie trotz des Mangels an Leseübung sehr genau zu lesen verstand und da und dort durchaus auch in der Lage war, dem Autor über die Schultern zu schauen. So äußerte sie sich, als wir auf das Buch zu sprechen kamen, dass die Mädchen- und Frauenfiguren doch etwas zu liebreich und ein wenig lebensfern gezeichnet seien: ein Urteil, wie wir es ähnlich übrigens auch von Robert Walser vernommen hatten, der angesichts von Dickens Schmeicheleien dem weiblichen Geschlecht gegenüber eine feine Art von Schuldbewusstsein feststellen zu können glaubte. Nur schade, dass wir keine Zeit mehr gefunden haben zum gemeinsamen Lesen. Mutti wäre gewiss eine gute Teilnehmerin gewesen bei unseren samstagnachmittäglichen Lesestunden.
Abends dann, nach dem Abendmahl, blieben wir meist noch ein Weilchen beisammen. Öfters tranken wir dazu auch noch ein Schlückchen Wein. Das mochte sie gern. "Prösterchen!" sagte sie dann, wie sie es von früher her gewohnt war, wenn man das Glas erhoben hatte bei einem schönen Fest. Überhaupt war sie eine wundervolle Teilnehmerin an Festen. Sie brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. Saß sie neben Hans, ihrem Mann auf dem Sofa, so war sie schon fast selber so ein Hans im Glück. "Lach noch ein bisschen! Kriegst auch einen Groschen!" pflegte schon ihre Mutter zu sagen; wir haben ihre Mutter noch gehört; sie wurde über 90 Jahre alt und sang noch vor ihrem Tod in ihrem Kämmerchen "Freut euch des Lebens", auch wenn sie das Leben nicht sonderlich verwöhnt hatte. Etwas von diesem Frohsinn und dieser Lebenslust war wohl auch auf Mutti, eine ihrer fünf Töchter, übergegangen, wenn sie auch nur wenig Gelegenheit hatte, diese Fröhlichkeit frei zu gestalten, und, dass ich es nur sage, auch auf unseres Helden Weibchen, die jüngste der drei Töchter von Mutti.
Nicht selten kam es vor, wenn sie dann so allein über dem Buch saß und las, dass sie Hans sah, ihren verstorbenen Mann, wie er draußen vor dem Fenster vorbeiging, zumal gegen Abend. Er sei gekommen, sie abzuholen, pflegte sie dann zu sagen. Dort, hinter der Hauswand, stehe er und schaue zum Fenster herein. Dabei verriet sie aber nicht die mindeste Angst. Schließlich hatte sie bis auf die Jahre, wo er im Krieg war und sie für den Haushalt und für das Überleben allein zu sorgen hatte, alle Tage ihres Lebens mit ihm zugebracht. Was Wunder, dass er ihr fehlte! Immerhin hatte sie noch ein paar Bilder von ihrem Mann, Totenbilder. Einige dieser Bilder, an denen sie sich nicht satt sehen konnte, zeigten ihn auf dem Totenbett. Wir fragten uns, was sie da wohl sehe? Wusste sie nicht, wie schrecklich der Mensch aussieht, wenn er, nach seinem letzten Kampf, vom Tod besiegt daliegt, zu Tod erstarrt: das Haupt ins Kissen gedrückt, als gäbe das Halt, die Kinnlade nach unten gerissen, die Zähne entblößt, unter den geschlossenen Lidern nach einem Himmel ausgestreckt, den es nirgends mehr gibt oder der sich doch immerhin arg verleugnet! Was auf uns nur abstoßend wirkte, sah sie mit ganz anderen Augen. "Schau doch her, was ist denn dabei?" So schien er zu ihr zu sagen. "Kann denn der Tod etwas Schlimmes an sich haben? Auch ich habe ihn doch überstanden!" Das aber war es wohl, was ihr da beim Betrachten der Fotos so tröstlich aufging, dass der Tod seinen Stachel verloren hatte. Mutti lebte zwar noch unter unserem Dach, doch gehörte sie uns bereits nur noch beschränkt an. Wenn sie den Blick auf uns richtete, war uns, als sähe sie immer noch etwas anderes. Und wenn sie uns etwas sagte, schienen immer noch andere Ohren da zu sein, für die die Worte bestimmt waren.
Vermutlich verstehen wir nicht, wie das ist, allein weiterzuleben, nachdem man alles im Leben mit einem anderen Menschen geteilt hat: tagsüber, vor allem aber auch in der bedrückenden Stille der Nacht. Wenn sie dann keinen Schlaf finden konnte und von Schmerzen gepeinigt dalag, zählte sie, um sich die bösen Stunden zu vertreiben, die Autos, die auf der entfernt vorbeiführenden Landstraße vorüber fuhren. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle etwas innehalten. Denn dass man der Nacht zu entfliehen sucht, die lähmt und ängstigt, und dass man auf das Erscheinen des Morgenrots wartet, mag zwar auf den Gesunden zutreffen. Anders aber ist es, wenn wir nur allzu deutlich spüren, dass wir mit dem Anbruch eines jeden neuen Tages nur der Nacht näher rücken, von der gilt, dass es von da an kein Warten mehr gibt auf ein kommendes Frührot. Einmal, als wir uns nach ihrem Befinden erkundigten, sie sah damals wirklich schon sehr erbarmenswert aus, sagte sie: "Es kann nur noch schlechter werden oder besser."
Ein anderes Mal, als wir wieder des Abends beisammen saßen, sprach Mutti davon, dass sie gern noch Weihnachten erleben würde. Ohne genauer mitzuteilen, was sie sich da erwünschte, war aus ihren mattglänzenden Augen herauszulesen, dass ihr Weihnachten sehr viel bedeutete. Doch warum wollte sie ausgerechnet noch einmal das Weihnachtsfest miterleben? Gewiss war es nicht deshalb, weil jetzt Sommer war und Weihnachten dann noch die Garantie auf ein halbes Jahr Lebenszeit bedeutet hätte.
Jahre noch nach ihrem Heimgang hat mich diese Frage beschäftigt, bis ich glaubte, die richtige Fährte gefunden zu haben. Weihnachten ist das Fest der Familien und der Kinder. Das ist zwar allgemein bekannt, wird aber deshalb nicht überall auch in diesem Sinn gefeiert. Bei Mutti und Papa aber war Weihnachten stets das Fest der Kinder und mithin auch das Fest der Häuslichkeit und der Gemütlichkeit, das Fest aller Feste schlechthin. Da war man beisammen, war miteinander und nebeneinander, zumal als Eltern auf dem bereits erwähnten Sofa, mitunter wohl auch Hand in Hand, und schaute den Kindern zu, die voll Andacht ihre Geschenke auspackten und auszuprobieren und zu spielen begannen. Vergessen waren jetzt alle die Tage des Jahres, wo man sich den Besorgnissen des Tages gebeugt und im Lebenskampf abgemüht hatte; vergessen aller Unmut und Groll, alle die harten und überflüssigen Worte, wenn einmal etwas nicht so hatte gehen wollen, wie man es sich gewünscht hatte. Zumal Papa Hans, das unangefochtene Haupt der Familie, war an diesen Tagen stets besonders ausgeglichen und umgänglich. Wie bei den fastnachtsartigen Tagen der römischen Saturnalien durften die Kinder an diesen Tagen fast alles machen, was sie wollten. Es fehlt nicht viel, wenn wir uns diesen Ausnahmezustand im elterlichen Haus durchaus ohne alle Schranken zwischen Alt und Jung, Erwachsenen und Heranwachsenden, zwischen Eltern und Kindern denken. Wenn da der Glühwein eingeschenkt wurde und man in eitler Freude schwenkte: da mag wohl auch manch eine Kindernase dran gerochen und manch ein vorwitziges Mündchen einen Schluck zu sich genommen haben. Und spielten dann die Kinder mit ihren neuen Spielsachen, so waren es nicht selten die Eltern, die mitzuspielen begehrten. Sie hatten sie ja mit viel Aufwand und Interesse ausgesucht. Undenkbar, dass man sie zum Spielen inständig hätte auffordern müssen. Und freilich war auch die Besichtigung der neuen Bücher wie auch das Vorlesen ein Hauptspaß für sich.
Weihnachten! In der Tat, was für eine von allen ersehnte Zeit! Und mag es mitunter auch etwas drunter und drüber gegangen sein: etwas von der Ankunft des Reiches Gottes hatte Mutti dabei wohl auch immer verspürt. Da war sie nun also, wenn auch nur vorübergehend, nur für eine kleine Weile, diese Ausnahmezeit, diese gesegnete Zeit im Strom der Weltgeschichte, sichtbar vor aller Augen! Und nicht nur sehen konnte man da die Engel in der Höhe, auch als Botschafter ließen sie sich hören. "Friede", sangen sie da, "Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind." Für ein paar Tage war die Welt jetzt so, wie sie sein sollte, ehe sie wieder in den grauen Alltag zurücksank.
Viele Jahre nach Muttis Tod war es dann, gleichfalls an einem Weihnachtsabend, als nun unsere eigenen Enkelkinder zu Besuch waren und wir Weihnachtslieder sangen, dass unser Mütterchen sagte, dass es mit dem Singen nicht mehr so recht voran wolle. Sie war damals schon so schwer krank, dass sie kaum mehr sprechen konnte. Während sie gleichwohl mitzusingen sich bemühte, sang ich neben ihr, nicht ohne auf ihre Stimme zu lauschen. Schön schien sie mir besonders bei den Liedern zu erklingen, die sie zuhause mitgesungen hatte. Und plötzlich, während die Kleinen andachtsvoll dem Gesange lauschten, glaubte ich die Sehnsucht zu verstehen, die uns im Alter und insbesondere auf der letzten Etappe der Reise durchs Leben anweht, eben dorthin zurückzukehren, von wo unser Leben seinen Anfang genommen. Und während mir der Satz einfiel: "Ich will nicht lassen, bis ich ihn ins Haus meiner Mutter gebracht habe und in die Kammer von der, die mich getragen", glaubte ich auch zu verstehen, wie wir die Kette der Generationen zu begreifen haben als den Weg zu den Müttern, und dass etwas davon neu lebendig wird, wenn uns die Eltern noch einmal an sich drücken, ehe sie gehen.
Lange Zeit habe ich über diesen Blick gerätselt, diesen von Liebe überströmenden Blick, ohne zu verstehen, wie er zu erklären wäre und was für eine Bewandtnis es mit ihm haben müsse. Trotz vielen Nachdenkens wollte sich mir dieser Blick nicht erschließen, bis ich dann, nach über 50 Jahren, des Rätsels Lösung glaube gefunden zu haben. Von einer alten Frau ist hier die Rede, die man bereits auf ihr Todesbett gelegt hatte, als wir sie auf die Bitten unserer Eltern im Krankenhaus noch ein letztes Mal besuchten, mein älterer und einer meiner jüngeren Brüder und ich, wobei es zu diesem unsagbar innigen und rätselhaften Blick auf meinen jüngeren Bruder gekommen.
Bei uns Kindern hieß sie nur die Oma Faller. Denn kleine, nichtsahnende Kinder waren wir noch, als wir sie kennen lernten, damals, kurz nach dem Krieg. Seit der Zeit waren über 20 Jahre vergangen und aus uns Kindern waren blühende Burschen geworden. Ihre Tochter aber, die bei ihr wohnte alle die Zeit über, hieß Frl. Faller bzw. Tante Elsbeth. Ihre blühende Jugend hatte begonnen zu der Zeit, als der Weltkrieg begonnen und als man die blühenden Burschen, statt sie mit den Mädchen bekannt zu machen, an die Front geschickt hatte. Natürlich wussten wir Kinder von alledem nichts. Wiewohl überall noch Ruinen standen und Trümmer herumlagen, schienen sie für uns Kinder zu dieser Welt zu gehören wie die Bäume und wie der Himmel. Und dass diese Tante Elsbeth bei ihrer Mutter lebte und nicht verheiratet war, gehörte für uns Kinder ebenso zu den ganz selbstverständlichen Gegebenheiten in unserem Leben. Ja, wir Kinder zählten sie trotz ihres Alters durchaus immer auch gern zu uns, zumal wenn sie bei ihrer Mutter wegen einer Sache nachfragte oder wenn sie von ihr kleinere Anweisungen und Aufträge erhielt, wie es auch bei uns zu geschehen pflegte. Dass die Mutter das Töchterchen dabei vielleicht ein wenig zu sehr beaufsichtigt und bemuttert hat, zumal, wo sie dem Alter nach selber bereits eine Mama hätte sein können, oder gar, dass die Mutter die Tochter brauchte und ein wenig wohl auch zusah, dass die Tochter sie brauchte: das entging uns selbstverständlich. Mutter und Tochter, beide lebten Wand an Wand mit uns in engster, von der Not gezeichneten trauten Nachbarschaft, und zwar im vierten Stock eines vierstöckigen Wohnhauses, das der Krieg so leidlich verschont hatte.
Oma Faller war, auch wenn sie keine höhere Schule besucht hatte, eine umsichtige, tatkräftige und gebildete Frau. Vor allem die Kriegs- und Nachkriegszeit hatten dieser Frau manch eine Gelegenheit gegeben, sich zu bewähren. Und selbstverständlich war sie auch mit dabei, wenn es jetzt, nach dem Krieg, wo es an allem fehlte, etwas aufzulesen und einzusammeln gab. Oftmals, auf ihren Streifzügen, ging sie den Eltern voraus, wo sie im Wald um Holzschläge wusste, wo es Hallimasche und andere Pilze gab. Oder man zog hinaus nach Beeren und Nüssen oder sammelte Holzreste für den Winter. Oma Faller hatte noch eine Schwester, auch sie alleinstehend, die in der Milchzentrale arbeitete und die immer einmal wieder auftauchte mit Butterresten und ähnlichem, was in der Notzeit etwas unendlich Köstliches war, woraus dann Oma Faller die herrlichsten Sachen zu zaubern verstand. Zumal an ihrem Geburtstag wie auch am Geburtstag von Tante Elsbeth, zu denen wir stets wie eigene Kinder eingeladen waren, wurden wir jedes Mal Zeugen ihrer wundervollen Künste.
Ganz genau erinnere ich mich noch, wie wir Platz nehmen durften an dem bereits gedeckten Tisch. Eine weich gepolsterte Bank an der Wand war eigens für uns Kinder reserviert. Und da wir uns stets rechtzeitig eingefunden hatten, wenn nicht gar schon ein wenig zu früh, so waren wir auch mit dabei und fieberten mit, wenn die letzten Handgriffe und Vorbereitungen zum Mahl vorgenommen wurden. In diesem uns zwar nicht ganz unbekannten, ein wenig aber doch immer wieder geheimnisvoll erscheinenden Zimmerchen zu verweilen, in der Vorfreude auf die bereits ihre Düfte vorausschickenden Speisen und Kuchen, war einfach herrlich. Ich erinnere mich noch gut daran, dass es dort meist ein wenig dämmrig war und dass das Zimmerchen zugleich auch als Küche diente. Nur durch einen Innenschacht drang etwas Licht ins Innere, und zwar vornehmlich dorthin, wo die Bank mit dem Tisch stand. Gleichwohl versuchten wir, alles gut zu sehen und zu verfolgen, zumal, wenn sich Oma Faller beim Herd oder am Backofen zu schaffen machte. Das bei weitem größte Interesse war dann aber erreicht, wenn die Schüsseln mit den Speisen auf den Tisch getragen wurden und das Mahl begann! War dann der erste große Hunger gestillt und eine zweite große Extraportion von der Gastgeberin auf unserem Teller, so war dann auch Gelegenheit, das übrige Interieur genauer in Augenschein zu nehmen, wie die Kommode mit dem besonderen Geschirr, sowie die vielen an den Wänden befindlichen Fotos und die mit Blumen verzierte Spruchkarten, die wir Gelegenheit hatten, zu buchstabieren. "Wenn du meinst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her" stand da auf einem herzförmigen, mit Vergissmeinnicht geschmückten Täfelchen, das von zwei Kerzlein wie ein Altarbild flankiert war.
Selbstverständlich nahmen wir Kinder alles ebenso, wie wir es sahen und vorfanden, ohne uns weiter darum zu kümmern oder gar nachzufragen. Wir wussten ja noch nichts von den Zeichenfunktionen, welche die Dinge für den Menschen zu übernehmen vermögen. Vielleicht, dass wir uns einmal Gedanken gemacht hatten, was die Löwenzahnblume mit dem Löwenzahn zu tun hat und ob sie beißt, wenn man sie pflückt. Weiter aber waren wir in unseren Forschungen damals gewiss noch nicht gedrungen. Von all den vielen Gedächtnis- und Hoffnungs-Funktionen, die Blumen für einen Menschen zu übernehmen vermögen, geschweige denn, dass die liebevolle Frau manch eines von diesen abgebildeten Blumen auf einem fernen Grab eingepflanzt haben mochte: davon wussten wir noch nichts.
Neben der erwähnten Tochter hatte Oma Faller nun nämlich auch noch zwei Söhne. Der eine war verheiratet und lebte mit Frau und Kind, der andere, jüngere, war als Bursche mit 17 Jahren gefallen im Krieg. Ob ihr Mann auch im Krieg zu Tod gekommen oder schon vor Ausbruch des Krieges, weiß ich nicht. Was aber ihren jüngeren Sohn angeht, so erfuhr ich später, dass er ihr sehr am Herzen lag, was mir dann schlagartig manches erklärte. Auf ihm hatten einmal alle ihre Hoffnungen geruht. Ihn hatten sie aufs Gymnasium geschickt, dass er es einmal weiter bringe und besser habe als die Eltern. Zum Abschluss der Schule war er aber nicht mehr gekommen; der Krieg war zuvorgekommen und so hatte man ihn damals kurzerhand eingezogen und an die Front geschickt, wo er dann, gegen Ende des Kriegs, beim Einmarsch der Amerikaner in Süditalien, in der Nähe von Monte Casino, des Lebens Ende gefunden. Jedes Jahr im Sommer, wenn der Zug nach Monte Casino zum dortigen Kriegsgräberfriedhof fuhr, war Oma Faller mit dabei. Natürlich hörten wir Kinder davon, dass sie nach Italien führe und fragten uns wohl auch, was sie dort wohl machte, beließen es aber dabei, ohne weiter nachzuforschen.
Jetzt aber, etwas mehr als 20 Jahre waren seitdem vergangen, hatten uns die Eltern zu diesem Besuch geschickt; und da standen wir nun also um ihr Bett versammelt, mein älterer Bruder und ich, so wie mein um 7 Jahre jüngerer Bruder, und lächelten ihr zu. Mag aber auch sein, dass sich bei unserem Eintritt das Licht eines feinen Lächelns auf ihrem stillen und blassen Antlitz entzündet hatte, das dann von uns zu ihr zurückkehrte. Was auch konnten wir anderes tun, als ihr in unserem Unverstand und in unserer Ohnmacht zu bedeuten, dass wir sie gern hatten wie eine Mutter? So waren wir eine Weile beisammen, bis wir uns zur Verabschiedung bereit machten. Da aber war es dann, dass sich noch dieser besonders innige und zärtliche Blick von ihr löste und auf meinen jüngeren Bruder hinüber strömte. Mochte es Zufall gewesen sein oder eine Schickung des Himmels: jedenfalls war er es, der sich als Letzter von ihr verabschiedete. Mit seinen 17 oder 18 Jahren mochte er ihr jetzt besonders teuer erscheinen, hatte er ja doch eben das Alter erreicht, das ihr Sohn erreicht hatte, als man ihn in den Krieg gezogen. Dem Grab des Sohnes, das wusste sie wohl, hatte sie nun lange genug entgegengeweint. Jetzt musste sie nicht mehr in den Zug einsteigen und, sein Foto ans Mutterherz drückend, ihm entgegenfahren; jetzt musste kein Blümchen mehr auf seinem Grab gepflanzt und kein Kerzlein auf der Kommode zu Haus neu entzündet werden. Diese Zeit war vorbei. Alles war jetzt nur noch ein kleiner, ein letzter Schritt, kaum mehr der Rede wert. Da war er nun also noch einmal vor ihr gestanden, ihr Sohn mit seinen 17 oder 18 Jahren, wie damals, als sie Abschied von ihm genommen, als wollte er sagen: "Mutter jetzt ist aber genug geweint! Jetzt komm nur endlich!" Und da war er dann in ihr auferstanden, dieser hoffnungskühne, den Tod überstrahlende Augenblick.
Seit einigen Tagen haben wir wieder Schnee. Endlos, ohne aufzuhören, fällt vom Himmel der Schnee. Jetzt, nach den ersten Tagen des Frühlings, wo er schon längst dem ersten Grün der Wiesen gewichen sein sollte. Mir aber ist es, als läge er schon seit Monaten oder Jahren. Überall, wohin man schaut, sieht man nur noch Schnee: Schnee auf den Bergen, Schnee im Tal, Schnee auf den Straßen und Dächern, Schnee, Schnee, Schnee! Und immer schneit es noch weiter. Kaum dass man einmal auf ein Stück blauen Himmel trifft, als sollte die Welt im Schnee ertrinken. Selbst, wenn einmal ein Stückchen vom Himmel zum Vorschein kommt, und dies geschieht nur sehr selten, schneit es dann weiter: einen feinen, weißen Schnee, so fein wie Staub- oder Puderzucker, der nur sichtbar wird, wenn man ihn sich vor einem dunklen Hintergrund anschaut. Meist aber ist der Himmel so wolkenverhangen, dass die ganze Welt aus nichts anderem mehr besteht als aus dunklen Hintergründen, vor denen dann der Schnee in dicken Schneeflocken daher weht. Es ist dann, als sollte verborgen bleiben, dass sich die Sonne nun endlich dazu durchgerungen hat, sich in eine andere Weltgegend zu verziehen. Nur etwas Winterlicht hat sie noch zurück gelassen, eben so viel, dass man sich noch ein Bild machen kann, wenn die dunkle Wolkenwand vorbeigezogen ist und der Blick frei ist für ein paar Stunden. Wo anfangs noch Ziegelwerk der Dächer oder sonstige Konturen und Oberflächen sich durch den Schnee hindurch bemerkbar gemacht haben, wo leichte weiche Kissen von Schnee die Platten im Garten überpolstert oder wo sich zierlich geschlängelte Schneelinien als Schmuck und Kontrast zu den dunklen Zweigen und Stämmen der Bäume abgezeichnet hatten, ist längst alles von einer schweren und undurchschaubaren Last überdeckt. Auch Mutters Rosenstock, der so erstaunlich lange geblüht hat und dessen verwelkte rote Köpfchen anfangs noch unter den weißen Schneekäppchen aussahen, als blühten sie noch einmal auf, ist inzwischen unter der Schneelast versunken. Die Vöglein, obwohl sie es sehen und erleben, wollen es kaum glauben. Und doch, wenn sie auch schön gepaart nur mehr noch vom Frühjahr geträumt und sich schon wonneselig Häppchen und Bröckchen zugesteckt haben, beginnen sie jetzt wieder, sich um das rar gewordene Futter zu streiten. Wie macht doch der Schnee müde, wie macht er doch hässlich, wenn man ihn so auf der Welt lasten sieht. Gewiss, für die Kinder ist es noch einmal eine fabelhafte Zeit. Sie erkennen in den Schneemassen, die sich in den Ästen und Zweigen der Bäume verfangen haben, seltsame Tiere, und selbstverständlich rücken sie jetzt auch wieder mit ihren Schlitten nach draußen, und sei es auch nur für ein Stündchen, bis sie die Mutter wieder ins Haus ruft. Ja die Kinder, diese Anpassungs- und Verwandlungskünstler, sind die Helden des Tages. Jeder Tag beschert ihnen, was sie brauchen.
Einmal ging auch ich nach draußen, zu einem kleinen Rundgang. Wie einem Archäologen war mir zumut. Als ob ich etwas zu suchen gehabt hätte unter der Last dieser Massen, als ob ich mich von etwas Unausdenkbarem hätte überzeugen müssen, so war mir zu Mute. In der Kindheit und in der Jugend hätte ich wohl nie daran gezweifelt, dass es noch einen Frühling gäbe. Allein, im Alter? Wie viel Bedenken, wie viel Zweifel, wie viel Misstrauen stürmen und stürzen da nicht auf einen ein! Und hab ich nicht Grund dazu? Hör ich nicht alles anders rauschen als früher: das Wasser im Bach und den Wind über den verschneiten Feldern und der Vögel Laute in den Bäumen? Und ist nicht auch das Licht plötzlich anders geworden und die Stille anders: als ob die Sonne in die Totenwelt hinabgetaucht wäre und Mutter mich hören könnte, wenn ich ihr riefe! Sind jetzt Hades und Proserpina unterwegs, die Ausgänge neu zu inspizieren, auf dass nur keiner das düstere Reich der Schatten verlässt, als machten sich sonst die Toten davon? Nur gut, dass ein Blümlein auf dem Tisch steht, das uns mit seinen arglosen Augen ansieht. Dass doch nur keiner eingeschneit bleibe in alle Ewigkeit!
Bis in die Nacht hinein hat es geschneit, nun endlich hat es aufgehört. Still und spurlos unter dem nächtlich noch verdeckten Himmel liegt der Schnee. Auf meinen Skiern habe ich mich hinaus getastet, quer über die Wiesen, hinüber zum Bach. Überall liegt Schnee und überall dominiert seine Farbe. Es ist aber kein reines, helles Weiß. Ein gewisser Grauton ist ihm beigemischt, von dem man nicht recht weiß, wo er herkommt. Wie immer in der Stille der Nacht, wenn etwas Unsicheres und Abwartendes vorherrscht, ist das Wasser des Bachs, schon von weitem zu vernehmen. Als wäre es seine Pflicht, wenn einer herbeikommt, das Neueste zu vermelden, so scheint er mir jetzt, während ich dicht bei ihm auftauche, nicht laut genug sagen zu können, dass er nach der Zeit der Gefangenschaft im klirrenden Eis wieder Herr ist und Meister in seinem Bett. In der Tat: nirgends sind mehr Zeichen seiner Gefangenschaft zu sehen, nirgends mehr eine Eisbrücke oder Reste einer solchen oder auch nur ein Eiszapfen im Gezweig über dem Bach. Selbst die letzten Spuren längs des Uferrands sind verschwunden. Mein Weg führt mich von zuhause weg, bachaufwärts. Wie weit ich gehen werde, weiß ich noch nicht. Als hätt ich mich auf den Weg gemacht nach einem ewig beständigen Zuhause Ausschau zu halten.
Wo sonst wird man so an Zuhause erinnert, wie in der Fremde! Zumal wenn man dort auf Leute trifft, die aus derselben Gegend kommen. Über 20 Jahre haben wir als Nichtschwaben im Schwabenland gelebt in freundlicher Umgebung; doch waren wir, wiewohl aus dem benachbarten Baden stammend, von den Einheimischen gewiss nie als Schwaben anerkannt. Erst in jenem Sommer, als wir am Lago maggiore mit unserem Esslinger Auto auf eine Stuttgarter Auto-Familie trafen, war das anders. Gilt man als Zugewanderter im Schwabenland nur für einen "Roigschmeckten" (einen Hereingeschmeckten), wie man dort ironisch tituliert und klassifiziert wird, so spürte ich damals, am Lago maggiore, echtes blaues Schwabenblut in mir pulsieren, als wir dort einem Schwaben begegneten. Nichts erscheint einem wunderbarer und seltsamer als die Erinnerung an Zuhause, sobald man erst in der Fremde ist. Was auch ist ein Landsmann im eigenen Land? Geht man nicht durch die Stadt, ohne auch nur einen einzigen Menschen zu grüßen? Und leben nicht selbst Brüder und Schwestern und Schwäger und Schwägerinnen um dich herum, von denen du kaum mehr weißt, als dass du dein Leben beenden wirst, ohne mit ihnen jemals ein Erlebnis geteilt zu haben? Bist du aber in der Fremde, wie wunderbar ist es dann doch, einen Landsmann anzutreffen, fast als wär man schon viele Jahre unterwegs gewesen und hätte nach einem solchen gesucht. So scheint es fast unabdingbar, sich immer einmal wieder die Heimat ein wenig zu entfremden, indem man sich auf Reisen begibt. Oder man wendet den Blick zum gestirnten Himmel und schaut über die nahen Sterne des Sonnensystems hinaus, wo man sich hinter jedem noch so kleinen Areal des Himmels in immer noch tieferen Tiefen von Galaxien und Sonnensystemen verliert. Erscheint einem da der eigene Standort nicht wie ein kleines, winziges Nichts? Und ist einem da nicht plötzlich, als habe man sich eingebildet, hier irgendwo zuhause zu sein und muss nun feststellen, dass man sich getäuscht hat?
Inzwischen habe ich mich an das Getöse des Wassers gewöhnt. Ich bin selber zu einem Teil dieses Getöses geworden. Alle Bewegung kommt und klingt auf die Dauer zusammen: Darauf scheinen auch viele, fast an Wunder grenzende Resonanzphänomene hinzuweisen, die wir seit dem Aufkommen der Chaosphysik besser verstehen. Auch der Himmel, als hätte er meine kleine obige Betrachtung mitangehört, kommt jetzt in Bewegung, wenn auch nur erst sehr begrenzt und allmählich. Es ist, als liege jemandem daran, jetzt noch rasch hinter ein paar Wolken die Schönheit des Monds anzudeuten, ehe er westwärts verschwindet. Doch nicht genug damit! Alsbald treten nun auch die letzten Wolken beiseite und der gestirnte Himmel breitet sich über mir aus.
Der gestirnte Himmel! Was hat er denn nur so Besonderes an sich, dass er einen zugleich erhebt und erniedrigt, beglückt und erschüttert, fasziniert und zittern macht? Götter, die auf uns niederschauen, bald so, bald so, und die mit Opfern und Gebeten günstig gestimmt werden wollen, sind es wohl nicht mehr. Auf die Propheten und Gottesmänner folgten die Philosophen mit ihren Fragen. Was aber sollen diese Massen von Wasserstoff, durch Gravitation zusammengedrängt, erhitzt, Energie, Teilchen, Licht erzeugend oder ausgebrannt und abgekühlt, die durch die Leere des Alls driften? Ist nicht eine Frühlingswiese tausendmal schöner, eine Blume im Gras, ja schon ein einziger Grashalm? Einige von ihnen blieben hier stehen. Andere wieder versuchten, mit Zirkel und Lineal die eigentümliche Schönheit des mit seinen Sternen ausmessbaren Himmels zu erkunden. Und doch ist es zugleich auch eine ferne und kalte Schönheit, eine hoheitsvolle und unberührbare, abgrundtiefe Schönheit, voller Leere und Unbekümmertheit, voller Gleichgültigkeit und Lebensfeindlichkeit, eine herrisch tyrannische Schönheit, die auch noch das Fragen der Philosophen verbietet. Weh dem, der nachfragt! Weh dem, der genauer hinschaut! Weh dem, der sich nicht damit begnügt, einen göttlichen Traum zu träumen und den es gelüstet, den Schleier zu lüften. Als sollten wir uns nicht darum bekümmern, was das für Experimente sind, was für Prozesse, was für Vorgänge, die da ablaufen, wenn jener Wasserstoff oder jene geladenen Urteilchen, die auch den Keim des Organischen und des Lebendigen in sich tragen, Leben entstehen lassen. Geschweige denn, dass wir uns die Frage vorlegen sollten, ob das All die Erde deshalb besonders lieb hat, weil sich auf ihr so wundervoll Organisches gebildet hat wie der Mensch. Was für Illusionen, was für Fiktionen! Oder sind die vielen Szenarien des Endes nicht längst abzusehen und herrscht am Ende aller Enden nicht wieder das Nichts? Mitunter, in kritischen Augenblicken, wenn unseren Helden seine tollen fünf Minuten überkommen, ist ihm, als läge auf ihm nicht nur die Last der Verantwortung für die Fortdauer und das Wohl seiner kleinen Familie, sondern auch noch die des ganzen Weltalls. Und doch: was für ein närrischer Einfall! Zumal wenn er da steht und hinauf schaut in die unermesslichen Weiten, mag er leicht erkennen, dass hier kein Steuermann mehr verlangt wird. Hier regelt sich alles von selbst. Hier zeigt sich der Mensch in seiner gläsernen Gebrechlichkeit. Hier ist er zu sehen in seiner angemaßten, kurzen Majestät. Ah und was unser Held oftmals in Grimm und Selbsthass gesagt hat, dass sich das Beste erübrigt, dass nur das Notwendige und das Gemeine besorgt werden müsse: wie zeigt es sich hier als wahr! Wenn es ein Bestes gibt, so kann es nur der gestirnte Himmel selber sein, der es besorgt. Wenn jemand das Regiment zu führen hat, so ist es das All selbst. Mögen sich denn seine Energien und Galaxien, mitsamt ihren Sternhaufen und Sternen wie ein Vogelschwarm ausdehnen und zusammenziehen, sich aufladen und entladen, bald raumerzeugend und raumerobernd, bald raumeinbüßend und sich vernichtend, bis auch sie einmal müde werden und niemand mehr da ist, an irgendjemanden oder an irgendwas sich zu erinnern.
Gleicht der Beginn des Lebens nicht einem sommerlichen Maimorgen, der daran erinnert, dass Gott, der Herr, sein "Es ist gut!" ausrief, als er sich noch einmal im Garten der Schöpfung umsah? Was für ein Glanz, was für eine Pracht, was für eine großartige Stimmung, wenn die Sonne nun endlich wieder im Triumphwagen des Frühlings über den Wolken des Himmels dahinfährt, die unter ihr liegenden Wiesen und Felder und Wälder erquickend! Alles, was eine Kehle hat zum Jubeln und Jauchzen, jubele und jauchze ihr zu! Schon beim Aufstehen, wenn du die Vorhänge beiseiteschiebst und das Grün der Bäume zu dir ins Zimmer dringt, hörst du das pausenlose Geschalle der Vögel. Und Lieder fallen dir ein, die man schon vor vielen tausend Jahren gesungen hat wie etwa das Lied "Im Garten von Ebabbar, den du liebst,/ erfreue dich Nanaja diese Nacht!" Oder "Deine Liebe ist ein Licht,/ das die Finsternis erhellt!". Und du spürst, dass jetzt ein Tag beginnt, wie du ihn dir das ganze Jahr über ersehnt hast. O, was man an einem solchen Tag nicht alles machen kann, was einem da nicht alles gelingen mag! Zuerst wirst du dir zusammen mit deinem Weibchen etwas Zeit für ein kleines Frühstück erlauben. Und wenn ihr dann beim Kaffeetrinken zum Fenster herausschaut, lacht euch so recht der Tag entgegen. Nach den nasskalten Regentagen steht das Gras hochaufgesprossen für das Vieh; und auch die Gewächse stehen in üppiger Fülle, "dass sie dienen dem Menschen und er aus dem Boden das Brot und den Wein gewinne, der das Herz erfreut." Aber auch die Blumen im Garten locken so übermächtig, dass du nicht umhin kannst, die Fenster zu öffnen. Die Azaleen im Vorgarten blühen so überschäumend, dass eine Besucherin gar meinte, da könne man sich wohl noch das nächtliche Oberlicht sparen. Seitwärts im Garten haben die Margeriten zu blühen begonnen und auch die Akelei haben ihre blauen Blüten entfaltet. Daneben sind die gelben Iris, die ja nur für wenige Tage in Blüte stehen. Auch sie haben mit ihrem jährlichen Sternentanz begonnen. Endlich beginnen auch noch fünf Tomatenstöckchen am Terrassenrand, die unser Held zur Freude seines Weibchens dort eingepflanzt hat, Wurzeln zu schlagen. Wie kostbar ist doch die Lebenszeit, wie kostbar all der feine, lebendige, nur für kurze Zeit währende, in unsere Hände gegebene Besitz! Ein Paar Grünlinge kommen zur Vogeltränke geflogen. Dann drängt sich ein schwarzbefiederter Gelbschnabel, ein Amselmann, ans Becken. Erst nimmt er ein paar Schluck Wasser, dann aber macht er sich fertig zum Bad. O wie er sich prustet und die Flügel schlägt! Wie er das Wasser weit über die Tränke hinaus verspritzt! Wie er sich dreht und wendet, wie er sich säubert und putzt! Da wird kaum mehr viel Wasser in der Tränke übrig bleiben. Aber das ist ja auch nicht schlimm. Wofür haben wir unseren Helden, den Schüler Enkis, den Wassermann, wenn nicht dazu, dass er pünktlich das Trink- und Badewasser erneuert! Auch die zierlichen Rosen am Hag werden bald zu blühen beginnen, die ersten Knospenbildungen sind schon zu erkennen, und wenn sich die Rosen von Paestum nicht noch ganz besondere Mühe geben, werden sie diese noch an Duft übertreffen. Selbst die gestern flügge gewordenen Kohlmeisen bleiben dir nicht verborgen. Sie sind wohlberaten, sich noch ein wenig unter den Schatten des Gartenhauses zu ducken, solange sie noch nicht sämtliche Übungsstunden mit ihrer Mutter absolviert haben. Fünf waren es an der Zahl, die gestern ausflogen. Die erste Nacht im Freien haben sie im Schutz des alten Holunders verbracht. Vorher aber haben noch zwei Elstern mächtig für Aufregung gesorgt, als sie pfeilschnell von hoch oben in den Holunderstrauch einfielen. Und auch der Neuntöter, der den Rotschwanzeltern ganz offensichtlich ein Dorn im Auge ist, ist jetzt wieder zur Stelle. Ob auch die Amseleltern andauernd knapp über ihn hinwegfliegen, so lässt er sich keineswegs dadurch vertreiben. - Doch was ist denn das da, was da dicht vor den Schiebetüren auf der Terrasse liegt: ein langes Schwänzchen zwischen den Füßchen, als habe es sich entschlossen, sich daselbst ein wenig auszuruhen? Als hätte es sich weiße Stiefelchen angezogen, so sehen die Füßchen aus, dass dir der gestiefelte Kater einfällt. Oder du erinnerst dich an die majestätischen Löwen, die behaglich Platz nehmen und es sich bequem machen, wenn sie sich satt gefressen haben. Geht aber denn von diesem Lebewesen etwas derart Majestätisches aus? Schaut es so drein oder scheint das perlengleiche schwarzglänzende Äuglein nicht nur soweit offen zu stehen, als sänne es über etwas sehr Wichtiges nach? Wozu aber stehen dann die Ohren so weit offen? Lange dauert es nicht, bis du bemerkst, dass das scheinbare Ausschau-Halten von einer Ameise herrührt, die dem Tierlein noch immer über das Auge krabbelt. Auch das rote Halsbändchen ist ja kein Schmuckstück, mit dem es prunkt. Es ist die Todeswunde, die ein satter Mörder, wohl vor Sonnenaufgang, dem neugeborenen Mäuslein beigebracht hat und die nun wie ein hochaufgeworfener, erloschener Vulkankrater über dem Hals steht. Die Ohren aber stehen noch offen, als wartete es noch auf eine Antwort, vielleicht aber auch nur, weil es keine Zeit mehr gefunden hat, sie zu verschließen.
Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang! So sagte bekanntlich Martin Luther Und er hatte wohl Recht, jedenfalls aus der Sicht des Mannes. Verleiht ihm eine Frau, die zweifellos zum Wunderbarsten im Leben eines Mannes gehört, Lebensmut und Zuversicht, so verschafft ihm der Wein darüber hinaus, zumal, wenn ihm sein Weibchen beim Zechen hilft, Fröhlichkeit und Übermut, und singt er noch dazu in den höchsten Tönen, so wird leicht ein Größtes und Schönstes erreicht. Im Übrigen halten ihn weder Türen auf, noch Fenster. In der Tat ist der Mann im Unterschied zur Frau, wie uns Balthasar bei Shakespeare so nett zu Gehör bringt, stets schon mit einem Bein zur See, während das andere noch zaudernd an Land verharrt. Der Tristesse des Alltags sich entziehend gelangt er, wenn anfangs vielleicht auch nur in Gedanken, gern und schnell dahin, wo immer ihm das Leben wild und abwechslungsreich zu sein scheint. Ein paar Schlitzohren indessen glaubten der Trias von "Wein, Weib und Gesang" noch eine zweite zur Seite stellen zu sollen. Seitdem macht auch die Rede von "Bier, Mann und Gebrüll" die Runde. Ob Frauen sich nach dem Zusammenspiel von Bier, Mann und Gebrüll sehnen, wenn sie sich nach der Demonstration von männlicher Kraft und Pracht umtun, bleibt vorerst eine noch nicht überprüfte Behauptung. Fürs erste vermutlich ist dem nicht so. Eine Frau, die uns früher einmal im Haushalt half, schickte ihren Mann in die Wüste, weil er zu viel Bier trank. Andere mögen ihrem Mann entflohen sein, weil er sich angewöhnte, sie allzu roh anzufassen und anzubrüllen. Wie man nun aber auch beim Trinken eines sehr guten Weines Maß halten kann, so kann man wohl auch beim Trinken von Bier Maß halten, denken wir nur an den Bierbrauer, den uns Adalbert Stifter schildert, der stets nur einen Fingerhut voll verkostete. Und hat man sich körperlich etwas abverlangt und ist durstig, so ist ja der erste Schluck, selbst wenn es Wasser wäre, eine Delikatesse. Was aber das Gebrüll angeht, so ist es zweifellos nicht fein, nicht salonfähig. Gebrüll ist allenfalls etwas gegen den Feind, dem man mit seelenerschreckendem und betäubendem Eleloi Alalah entgegeneilt. Selbst auch ein Ares, der auf Ilions Schlachtfeld verwundet aufbrüllt, dass es dem Himmel durch Mark und Bein geht, vermag uns kaum mehr zu gefallen, wiewohl ihn die wunderschöne Kypris deswegen nicht minder mochte. Vermutlich erwarten die Frauen von den Männern, dass sie durchaus auch brüllen können, freilich fern von ihnen oder doch zumindest zu ihrem Schutz. Wenn der Feind glaubt, die Wohnstätte einer Frau angreifen oder gar ausrauben zu können, dann ist wohl ein ausgiebiges Kampfgeschrei zu ihrer Verteidigung geduldet. Im Übrigen aber können Männer auch auf schöne Weise brüllen. Das muss nicht nur so geschehen wie im Sommernachtstraum, wo der Löwe so gesittet und sanft zu brüllen versucht, dass er die Damen nicht erschreckt. Männer können auch kräftig laut und wonniglich aufbrüllen. Zumal beim Eintreffen kleiner unverhoffter Freuden ist so ein männliches Freudengeschnatter oder Triumphgeschrei allerliebst, mag es einen Beobachter von außen auch an Gänse oder an Paviane erinnern. "Gigel, schrei Triumph!" Ist uns dieses Sätzchen nicht wohlbekannt! O eine Frau, die ihren Mann kennt, sieht und hört im Nu, um was für ein Gebrüll es sich handelt. Und handelt es sich um ein fürchterlich-schönes Gebrüll, so hat sie unmöglich etwas dagegen, vielmehr stimmt sie gerne mit ein, wenn es ihr Männchen dazu drängt. Erst jüngst, als unserem Helden wieder einmal gelang, ein Aufsätzlein bei einer, versteht sich, ganz exklusiven und renommierten Zeitschrift unterzubringen, da geschah es, dass er zu seinem kranken Weibchen sagte: "Jetzt könnte ich vor Lust und Freude geradezu losbrüllen. Und dann würd ich dich holen und an mich drücken; und dann würden wir einen Walzer tanzen, weit über Wien hinaus, ja meinetwegen bis in den Himmel, und um uns herum würden die Bäume mitsamt allen Zedern des Libanon nur so rauschen und ihren Duft verströmen. - Weißt du noch", fuhr er dann fort, "wie wir damals mit dem Helikopter den Berg in die Höhe hinauf geflogen sind und wie die Bäume unter uns sich zur Seite bogen und rauschten? Wenn ich mich recht erinnere, nahmen wir darauf ein Vesper ein und tranken etwas zusammen: du ein Schlückchen Wein, ich aber zu einem Schweinshäxlein einen tüchtigen Schluck Bier."
Wie dunkel und unerforschlich, wie rätselhaft und unerreichbar fern erschien uns doch das Leben! Manchmal glaubten wir, uns vor einer unübersteigbaren Mauer zu befinden, kleingläubig, ratlos und verzweifelt. Jetzt aber, nachdem schon fast alle Lebenszeit hinter uns liegt, erscheint es so, als hätte es niemals anders auf uns zukommen können, als hätte alles so kommen müssen und kommen sollen, als wär da eine unsichtbar freundliche Macht gewesen, die für uns vorhergesehen und vorgesorgt hätte. Wie eine Mutter ihre Kinder bei der Hand nimmt und auf sie achtet, ohne dass sie es merken, wenn die Fährnisse des Lebens auf sie zukommen, so scheint uns eine Macht durchs Leben hindurch geführt zu haben. Mein Herz ist voll Freude, weil du bei mir bist: heißt es in einem Lied aus dem alten Ägypten. Weit über unser Fassungsvermögen und fern von allem Verdienst haben Mächte und Kräfte über uns gewaltet und uns menschenfreundlich durchs Leben begleitet, so will uns scheinen, dass wir nicht fehl gehen, auch das noch vor uns liegende Leben, auch wenn es für uns, wie wir wissen, nicht nur Freuden bereit hält, getrost auf uns zukommen zu lassen. Nur hin und wieder in unseren Träumen ist uns, als stünden wir noch immer inmitten der Jahrzehnte des Berufs- und des Familienlebens und hätten unser Leben noch ein zweites Mal zu bestehen.
Der Vater war eben nach Hause gekommen, müde von der Arbeit, und wollte das Abendessen zubereiten für sich und für seine kranke Frau, als der Anruf kam. Der Anruf aber kam von der Tochter, dass er erst noch einmal den Herd abstellen und die Vorbereitung zurückschieben musste. Hocherregt und erfreut wie sie war, gedachte sie, den Eltern das Neueste mitteilen, dass sie nämlich bei der Ärztin gewesen. Und dann erzählte sie von ihrem bald zur Welt kommenden Baby, wie sie es zum ersten Mal bei einer Sonografie gesehen. Natürlich nahmen sich die Eltern die Zeit und freuten sich mit. Immer sollte man imstand sein, sich die Zeit zu nehmen, sich über etwas Wunderbares mitzufreuen, mag auch die Bequemlichkeit etwas zu kurz kommen und der Magen ein wenig knurren. Wenn es etwas Wichtiges gibt, was wir erlernen sollten für unser Leben, so doch dies: da zu sein, in Erwartung von etwas, worüber wir uns miteinander freuen können, allem Vorrang und Vorrecht des Magens zum Trotz. Besser als immer nur noch mehr sich einzuspinnen und abzuplacken, ohne nach rechts oder links zu gucken, besser ist es wohl, das Dasein als etwas zu begreifen, das vornehmlich für einen solchen Anruf da ist. Schrecklich eine Welt, in der niemand mehr da wäre, dem man etwas anvertrauen, mit dem man ein süßes Geheimnis teilen könnte!
Ich erinnere mich auch an jene Zeit, als wir selber froher Hoffnung waren. Damals war es auch, dass ich das erste Mal so recht empfand, was Mutter sein heißt. Nämlich zu seinem Kind sagen zu dürfen: "Es ist für dich gesorgt. Du musst nichts befürchten! Selbst auch wenn das Leben für deine Mutter nun etwas härter werden mag, so ist es doch süß für sie, für dich da zu sein. Ja deine Mutter freut sich schon darauf, dich bei deiner Geburt entgegenzunehmen und dich an ihrer Brust anzulegen und dann auch alsbald schon dein erstes Lächeln zu erwidern." Erst jüngst, als wieder einmal ein Taifun mit gewaltigen Wassermassen über die Philippinen hinweg zog, eine Schneise der Zerstörung hinter sich lassend, sagte eine Frau, die eben dort niedergekommen, nachdem ihr der Taifun Haus und Besitz zerstört hatte: nur ihr Kind zu sehen, nur danach habe sie noch verlangt; zwar habe ihr das Schicksal alles genommen, aber dafür auch alles neu wieder gegeben.
7 cm ist das Kindchen jetzt groß, hat Beinchen und Arme und ist das grenzenlose Glück seiner Eltern. Als sie es sich auf dem Bildschirm anschauten, begann es, mit denselben zu strampeln, als wolle es seiner Mutter zeigen, was es schon alles kann. O, das ist schon so ein Persönchen, dieser kleine Däumerling. Ohne Mitwissen seiner Mutter denkt er sich schon Sachen aus, sie zu erfreuen, und strampelt und atmet und bewegt sich!
Meine Seele ist eine Schlange, schrieb Georg Heym, wie mir noch aus der Jugendzeit in guter Erinnerung ist. Meine eigene Seele hatte damals wohl auch noch etwas von einer das Weltunterholz durchschlüpfenden, alles erforschenden Schlange an sich. Später dann fand sie auch die Eigenschaft in sich, sich einem Kampf zu stellen, wenn er unvermeidlich war. "Komm mir nicht zu nahe!" sollte dann bedeuten, wenn sie sich mit dem Kopf in die Höhe aufrichtete, zum Gegenschlag bereit. Seit aber mein Weibchen so schwer krank geworden ist, dass ihr kaum mehr gelingt, den kleinsten Schluck Flüssigkeit zu sich zu nehmen, ist nicht mehr viel von der einstigen Wehrkraft übrig geblieben. Immer wieder, zumal in den Abendstunden, windet und krümmt sie sich müde am Boden; doch schnellt sie längst nicht mehr so trotzig und mit bleckenden Zähnen in die Höhe, wenn sich ihr etwas in den Weg stellt. Immer mehr scheint sie sich zu einem ahnungslosen Kind zurück zu verwandeln, das es noch nicht gelernt hat, sich auf die Gefahren in dieser Welt einzustellen. Unverhohlen und beinahe für jedermann verräterisch klar, steht auf ihrem Gesicht geschrieben, wie ihr zumute ist.
Nun ist natürlich nicht gut, leichtfertig darüber hinweg zu sehen, dass inzwischen eine leicht verletzbare Seele in uns schlummert. Nie sollten wir vergessen, ihr aufzuhelfen und sie, solange wir noch auf der Erde weilen, so unverletzlich wie nur möglich zu machen. Mit einem Panzer aus Eisen sollten wir sie umgeben oder, wenn uns das nicht gelingt, sie wenigstens als unauffindbar verstecken. Wie unschlüssig taucht sie nicht immer wieder auf und blickt uns an, diese unsere Seele! Hilflos, wie einer, der weiß, dass ihm von nirgends mehr Hilfe zukommen kann, untröstlich gespannt, fast als hätte sie sich längst aufgegeben und wartete nur noch auf das auf sie zukommende Unheil. Und wahrlich: längst hat sie ja hinter ihren dunklen Verschanzungen die Vorhut des feindlichen Heeres erspäht, dass du unschlüssig dastehst und nicht weißt, wie du dich verhalten sollst: Sollst du sie einschläfern und dann einmauern oder ist besser, ihr ein Fenster offen stehen zu lassen, eine kleine Scharte, ein Aussichtsloch? Ist es besser, dass sie weiß, was schon morgen auf sie zukommt oder wäre besser für sie, sich in sich zusammen zu krümmen und die Augen fest zu verschließen?
O, wie bald schon werden wir an dem Punkt angelangt sein, wo man nur noch alles rasch hinter sich gebracht haben will! Dass es uns doch gelingen möchte, unsere Seele davon zu überzeugen oder, wenn dies unmöglich ist, ihr wenigstens weiß zu machen, dass sie sich niemals mit dem Allein-Sein abfinden muss!
Wie an milden Wintertagen oftmals geschieht, dass sich die Sonne strahlend über den Morgenhimmel erhebt, die fast schon grünen Morgenwiesen wieder mit ihrem Licht erfüllend, freilich nur für ein Weilchen, denn dann ist von ihrer Herrlichkeit an diesem Tag nichts mehr zu sehen: so ergeht es uns oft auch beim Zuhören von Lebensgeschichten. Der Anfang ist groß und herrlich. Die drei Weisen kommen, dem Gottessohn zu huldigen, und der greise Simeon steht überwältigt, weil er das alles noch hat miterleben dürfen; und vielleicht, dass auch noch Gott Vater spricht, dass dies sein einziger, lieber Sohn sei, wobei er zu verstehen gibt, dass man sich durch das Ende nicht schrecken lassen soll.
Welche Geschichten könnten uns gefallen, wenn nicht die, die wir gern auch als unsere eigene Geschichte gelten ließen, indem wir uns an etwas Großes, ja auch an etwas Gefährliches gewagt haben, dabei aber immer des guten Ausganges gewiss sind! Nur hält selbst bei den herrlichsten Geschichten der herrliche Eindruck zu Beginn nicht sehr lange an. Beim Märchen beschließt man die Geschichte deshalb mit der Hochzeit. Bei den Heldenlegenden aber kommt man nicht umhin, kaum dass sich der Held mit dieser Welt eingelassen hat und ihm nun im Kampf immer gefährlichere Mächte entgegentreten, ihm eine Schar himmlischer Mächte zu Hilfe kommen zu lassen.
Schade, dass nur Goethes Faust, nicht aber dem heldenhaften Ritter aus der Mancha eine solche Hilfe zu Teil wird. Auch bei der Schlussgeschichte aus 1001 Nacht, wo, wie kaum sonst, Hoffnung und Verzweiflung gegeneinander streiten, wird mit dem Fortgang der Geschichte die Notwendigkeit eines wunderbaren, von höherer Macht eingefädelten Schlusses immer dringlicher. Als ein Habenichts kommt der Schuster Maruf in ein fremdes Land und gelangt Dank seines Mentors, eines Landsmannes, zu Ehren und Ansehen. Vornehmlich seiner Freigebigkeit hat er es zu verdanken, dass alle Welt ihm glaubt, wenn er behauptet, ein reicher Kaufmann zu sein, der von allen Waren jede Menge besitzt. Wir gönnen ihm alles Gute, weil er, im Unterschied zu vielen anderen, freigebig ist; wir fiebern mit ihm, wir wünschen ihm Heil und Segen, und doch sind wir ratlos, wie alles gut ausgehen mag, während die Schulden immer größer werden. Wiewohl wir genau wissen, dass er ins Blaue spricht, wenn er sagt, er habe von allem die Menge, so warten wir doch auf nichts sehnlicher, als dass er als einer zum Vorschein kommt, der die Wahrheit gesagt hat. Insofern als wir mit ihm fühlen, ist es ja auch unsere Sache, die da zur Verhandlung ansteht. Plötzlich aber geschieht das Wunder: die Lüge wird zur Wahrheit und der Held findet einen Zauberring, mit dem das gute Ende in greifbare Nähe rückt. Und nun beginnen mächtige Dämonen ins Spiel einzugreifen. Ist es nun aber das, worauf man gewartet hat? Oder fühlt man sich nun nicht etwas überrumpelt und enttäuscht. Mag auch der Zweck die Mittel heiligen, der Eindruck bleibt am Ende, dass der Erzähler ein wenig mit falschen Karten gespielt hat. Das alles ist ja leider nicht wahr, ist nur erfunden; und ist es auch gut erfunden, so ist es eben doch nur erfunden. Man spiegelt uns eine Welt vor, die es so nicht gibt.
Man kann diese Geschichten freilich auch etwas anders erzählen, so dass das Göttliche nicht als etwas Überraschendes und Plötzliches in die Welt des Helden einbricht, sondern wo es sich als Schutzmacht von Anfang an mit dem Helden auf den Weg begibt. Denken wir etwa an den jungen Gilgamesch, der mit dem Sonnengott Schamasch als seinem Schutzgott in die Welt hinauszieht. Oder denken wir an den jungen Telemach, der wie auch sein Vater, von Athene beschützt und begleitet wird. Auch die biblische Geschichte vom jungen Tobias, der zusammen mit Raffael aufbricht, erwähnt diesen Schutz. Mit etwas Glück müssen wir in unserem Leben freilich nicht stets mit dem Schlimmsten rechnen, auch dann nicht, wenn wir uns Großes vorgenommen haben. Vielmehr dürfen wir im Vertrauen leben, dass für uns gesorgt ist, wie schon unsere Eltern, lange ehe wir es wussten, für uns gesorgt haben. Und so machen wir uns auch auf den Weg in die Welt, voll guter Vorsätze und Pläne, frohgemut und siegesgewiss, nicht anders als ob es auserlesene Taten gäbe, die von niemand anderem zu verrichten wären als von uns. Alle Geschichten aber, die wir uns genauer ansehen, zeigen uns, dass uns auf die Dauer auch der beste Mentor nicht helfen kann. Herakles kommt aus der Unterwelt hervor, er hat also das Kühnste erreicht, was ein Mensch nur erreichen kann, und verfällt dann dem Wahnsinn, in welchem er seine eigenen Kinder tötet, wie uns Euripides erzählt. Steht am Anfang die Erstürmung der Unterwelt oder des Himmels, so steht am Ende oft die beklemmende Einsicht, dass alle diese Heldentaten uns zum Schluss nur Unheil einbringen. Eine Himmelfahrt wartet auf keinen von uns. Und so gehen ein Gilgamesch und Herakles elend zu Grunde, auch wenn sie als Stifter imposanter Heilswerke gelten und die Ehren eines Heros genießen. Wie schön wäre, das Sprichwort träfe auf uns alle zu: Ende gut, alles gut. Wie viel Phantasie aber muss selbst auch noch der große Shakespeare walten lassen, um sein so benanntes Schauspiel zu gutem Ende zu bringen!
Eine böse Geschichte mit einem guten Ausgang, das wünschen sich wohl die Kinder. Wo aber findet sie statt und wo finden wir sie? Wo sonst, als allenfalls in der kindlichen Domäne des Glaubens? Im Übrigen werden wir am Ende alle von Tod und Teufel geholt. Gleichwohl aber sollten wir uns nicht vorschnell schwächen, indem wir das Menschenunmögliche von uns abverlangen oder, noch schlimmer, indem wir uns von der Schlange des unweigerlichen Endes paralysieren lassen. "Du musst dich nicht grämen und grübeln, Liebster", sagte einmal die Liebste zu ihrem Helden. "Wenn wir nur am guten Anfang festhalten und weiter arbeiten, wird uns auch ein gutes Ende nicht fehlen."
Am Anfang ist für ein Kind noch alles möglich. Nichts gibt es, was es in Erstaunen versetzt. Was immer es umgibt und was es erlebt: alles ist so selbstverständlich wie es zugleich rätselvoll ist. Es ist ein Kommen und Gehen, ein Auftauchen und Verschwinden in immer neuer, noch nicht gesehener Gestalt, ein neues, sich erneuerndes und veränderndes Angebot. Auch für den Jugendlichen ist noch sehr vieles selbstverständlich und zugleich rätselvoll. Wie in einem ewigen Leben lebt er in seiner Lebensepoche; warum also sollte ihm nicht auch ein Leben in ewiger Glückseligkeit für möglich erscheinen? Entsprechend träumt er dann auch, seine Ideale zu verwirklichen. Indem er an das Gute glaubt und an die Tugend und sich nach einem Reich der Gerechtigkeit und der Liebe sehnt, glaubt er auch, Wege ausfindig zu machen und beschreiten zu können, die dorthin führen. Erst bei den älter und müder Werdenden, die auf den Wegen durchs Leben manches haben hinnehmen müssen und vielleicht auch selber verschuldet haben, schleichen sich Zweifel ein. Zwar erinnern auch sie sich noch an die Ideale der Jugend, doch sie lächeln dann meist, schamhaft und ein wenig resigniert, wenn sie sich daran erinnern. Wenn es von uns, von der Menschheit abhinge, sich einen lieben Gott zu verdienen, wäre n die Aussichten wohl gering, dass einem der Wunsch, dass es einen lieben Gott gibt, in Erfüllung ginge. Und doch", fuhr der Großvater dann fort, indem er sich meiner Großmutter zuwandte, deren Kopf er jetzt zärtlich an sich heranzog, "ist es so, dass zwei, wenn sie sich nur fleißig küssen, keine Angst haben müssen!" "Gewiss", versetzte Großmütterchen, "Küssen ist etwas Wunderbares. Wer küsst, muss keine Angst haben, den Liebsten aus den Augen zu verlieren." Kaum aber, dass sie dies gesagt hatte, wuchs plötzlich zwischen ihren Lippen und der Nase ein Muttermal, wie eine erdbeergroße, abstoßende Wunde. Der Großvater, dem der Vorgang nicht verborgen geblieben, ließ sich indessen nichts anmerken. Kaum dass er die Wunde erblickt hatte, hatte er sich auch schon wieder gefangen und sagte: "Nur indem wir nicht davon ablassen, uns zu küssen, ist nichts zu befürchten!" Und presste seine Lippen an Großmutters Lippen, als wollte er nie mehr damit aufhören. Dann aber war ein Lautsprecher zu hören, der wie in einer Bahnhofshalle die Abfahrt eines Zugs bekannt gab und zur Eile antrieb. Und ich bemerkte, dass die Durchsage dem Großvater galt. Der aber, immer wieder "Mütterchen! Mütterchen!" sagend, hing an Großmütterchens Mund, als hätte er sich vorgenommen, nichts sich anmerken zu lassen, als bis er ihr die böse Wunde hinweg geküsst hätte.
Es scheint, als hielte die Welt den Atem an, doch das stimmt nicht, nur unser Held hält ihn an. An ihm ist jetzt die Reihe. Längst ja ist noch nicht alles gesagt oder getan. Nicht zu rebellieren im Geist und nicht unmutsvoll zurückzuschauen auf das vergangene Leben und auch vom kommenden Leben nicht allzu viel zu verlangen, sondern geduldig zu sein und abzuwarten und sich hineinzuschicken in das, was kommt, und selbst auch bei noch anwachsender äußerster Beschränkung eine immer noch größere Freiheit zu erwerben. Wie weit ist unser Held davon noch entfernt! Da freut er sich lieber aufs Zubettgehen am Abend, um sich dem süßen Schlaf zu ergeben: wenn er sich endlich ausstrecken und die Decke über sich ziehen kann, bis über die Schultern, und die Wärme bemerken, wie sie wohlig zum Körper zurückkommt. Und liegt er endlich so da, so hält er es durchaus nicht mehr für unmöglich, einmal auch so glücklich zufrieden im Grab zu liegen und zu träumen, auch wenn er es zu nichts gebracht hat.
Dabei geht es ihm nicht schlecht! Noch hat er unter keiner heimtückischen Krankheit zu leiden oder unter unerträglichen Schmerzen. Er geht für sich allein oder hält inne und schaut. Sein Blick fällt oft vor sich hin auf den Boden; mitunter hebt er auch den Kopf und schaut sich um. Dann ist ihm, als wäre alles Leben vergangen und er, zurückgekehrt aus ferner Zukunft, suchte sich zu erinnern. Wenn er darauf schaut, was er sich früher in seinem jugendlichen Ehrgeiz an Projekten und Plänen zur Ausarbeitung vorgenommen, als er noch davon überzeugt war, Bäume ausreißen und den Ida auf den Ossa türmen zu müssen, verwandt sich haltend mit der Giganten wilden Geschlechtern, und wenn er dann vergleicht, was dabei herausgekommen und wie sehr er hinter dem zurückgeblieben, was er damals hat tun wollen, muss er meist über sich schmunzeln. Nur wenn das Wetter nicht ganz danach ist und ihm der Erfolg, den ihm das Leben vergönnt hat, nicht genug zu sein scheint, beschleicht ihn der Wurm der Verzagtheit. "Ist das Alter dazu da, zu erkennen, wie viel man hätte machen können", fragte er sich dann, "auf dass man sich eingesteht, wie wenig man gemacht hat?" Und er verwundert sich über die geheimen Hoffnungen der Jugend, sich einmal als groß und bedeutsam erkannt und anerkannt und geachtet und gefeiert zu sehen. Dann aber rafft er sich wieder auf. Und wenn ihm auch das Nimmermehr beständig näher auf den Leib rückt und die Zeit der Meisterschaft mehr und mehr schrumpft, so gibt er dennoch nicht auf.
Ein klein wenig hat er inzwischen gelernt, auf Schwächen sich zu versehen und ihnen duldsam zu begegnen. Erprobe dich nur, so sagt er zu sich; erprobe dich vor allen Dingen. Und wenn es nichts Großes ist, so erprobe dich eben an etwas Kleinem! Widerwillen zu hegen gegen ein Ungemach verbietet er sich. Anpassungsfähig möchte er sein, auch wenn sich ihm nicht alles so ergibt, wie es ihm am besten gefiele. Soviel weiß er, dass man nicht unter Menschen leben kann, wenn jeder glaubt, die anderen müssten begeistert sein von den Taten ihres Mitmenschen oder Nachbarn. Wiewohl er das alles weiß und wiewohl er weiß, dass es besser ist, den Menschen freundlich zu begegnen, ohne von ihnen allzu viel zu erwarten, begehrt er doch immer wieder einmal auf. Kaum nämlich, dass er die Mauer der eigenen Erbärmlichkeit aus den Augen verloren, nimmt er sich auch schon wieder so wichtig, dass er aufheult, wenn ihm etwas in den Weg kommt, was ihn hindert, an ein großes Werk zu denken. Doch was will er denn noch? Etwas erschaffen und sich damit Lob und Beifall erkämpfen, koste es, was es wolle? Was begehrt er denn auf, wo er doch weiß, dass alles noch so schön Verfertigte und Gelungene nach seinem Dahinscheiden sich wie ein Wölkchen verflüchtigt? Hat ihn das Schicksal so emporgehoben und ausgezeichnet, dass ihn der Gedanke an eine ihn besonders beachtende und auszeichnende Vorsehung beschäftigen müsste? Oder hat ihn eine gewisse Zeitkrankheit erfasst, wo jeder sich verpflichtet glaubt, mit dem eigenen Namen zum Ruhm und Reichtum der kommenden Generationen beitragen zu müssen? Freu er sich doch lieber über das ewig herrliche Theater, das wir Menschen aufführen. Lach er lieber noch ein wenig über die pfauenhaften Eitelkeiten der Welt! Lach er doch lieber über alle die Großen, die sich über jedes Lob erhaben fühlen, ausgenommen die Selbstbewunderung. Oder sei er meinetwegen auch ein wenig stolz auf sich, auch wenn ihm nicht viel mehr gelungen sein mag als ein paar Kinderlüftchen. In dürftigen Zeiten tut auch etwas Selbsttäuschung, tut auch etwas Selbstbewunderung gut. Was aber die Angst betrifft, von unserem Helden überrundet zu werden, muss sich keiner Sorgen machen. Lange freilich wird es nicht mehr dauern, dann ist auch für unseren Helden der Augenblick gekommen, dass er nichts mehr braucht. Was wir getrieben und erlebt haben, werden wir vergessen, und was wir nicht erleben konnten, werden wir nicht vermissen. Und alles wird sein, wie es war, und somit wird alles gut sein.
Nimm den Hund! Ist er ein verächtliches Tier, weil er bei Sonnenschein vor der Türe liegt und sich damit begnügt, dazuliegen und die schönsten Stunden des Tags zu verdösen? Und der Mensch verdiente Beachtung und Achtung, weil er von Unruhe geplagt, sich nach großen Erfolgen sehnt? Weil er von Unruhe geplagt und von Ehrgeiz zersetzt nach einem Wind und Wetter trotzenden, die Zeiten überdauernden Monument Ausschau hält? Und weil er noch gar sich Götter erfindet, die ihm nach Krieg und Sieg Tischgemeinschaft im Himmel und ewiges Leben verleihen? - Ein Hundeleben ist es nicht, Freund Diogenes, was uns erstrebenwert zu sein scheint, weder als Hund in der Tonne noch als Wachthund davor. Aber ein Menschenleben, das, getrieben von Machtverlangen in immer schnellerem Konkurrenzkampf geführt wird, erbarmungslos und atemlos, bis das Herz bricht: das ist es auch nicht.
Um sich in der Verantwortung zu üben, ein echter und rechter Herr zu werden, wäre ein Hund noch nicht einmal das Schlechteste. Denn ein Hund verwehrt es dir nicht, sein Herr zu sein. Vielmehr ist er seiner Natur nach ganz Anschmiegsamkeit und Hingebung und Treue und Verlässlichkeit, und so bedarf es eigentlich nicht viel mehr, um des Hundes Herr zu sein, als von ihm diese, ihm zu seinem Glück dienenden Eigenschaften abzuverlangen. Und hat nun der Herr gelernt und weiß und versteht er es, mit seinem Hund umzugehen, wie auch der Hund, was er im jeweiligen Augenblick an der Seite seines Herrn zu tun hat, so haben wir fast schon ein ideales Paar. Denn der Hund, der sich anzupassen gelernt hat und die Regeln beachtet, macht kein großes Aufheben von seinem Gehorsam. Natürlich braucht er immer wieder einmal ein Lob zur Bestärkung oder auch eine Anerkennung in Form eines leckeren Happens, zumal er es nicht versteht, sich selber zu loben. Dann aber ist alles so, wie es ist und sein soll.
Mein Bruder, der samstags zu Besuch kommt, berichtet immer wieder einmal von einem guten alten Freund, den er regelmäßig besucht. Dieser Freund, er ist bereits über die 80 hinaus, hat einen Hund zum Begleiter, der wie es scheint, den genannten Anforderungen genügt, so dass der Besuch des Freundes stets auch ein Besuch für ihn ist. Um was für eine Sorte Hund es sich genau handelt, weiß ich nicht. Genug, dass ich nicht an einen kleinen unartigen Kläffer oder an einen eigensinnigen Pudel denke, schon eher an ein stattliches, wohlerzogenes Tier, wie es in jenem berühmten Hunderegister im Macbeth an oberster Stelle angeführt wird. Oder es lässt sich an jenen herrlichen und wohlgeratenen Argos auf Ithaka denken, dem dann freilich später, als der Held mit in den trojanischen Krieg ziehen muss, nur noch mangelhafte Pflege und Missachtung zu Teil werden. Im Übrigen genügt mir, wenn ich höre, dass er jedes Mal auf den abendlichen Besucher wartet, dass er Tag und Stunde genau kennt, dass er auch nach den Ferien noch diesen Termin im Gedächtnis hat und hocherfreut ist, wenn der Besucher wiederkommt. Überhaupt wird jedes Kommen in den höchsten Tönen bewillkommnet, während ihn jeder Abschied oder, noch genauer, jedes Ende des wöchentlichen Festbanketts aufs Heftigste mitnimmt. Dabei ist es gar nicht viel, was da an Köstlichem auf ihn wartet. Mitunter sind es nur ein paar Brotbröckchen, die er vermutlich, wäre er allein, unbeachtet liegen ließe. Aber mit dabei zu sein ist einfach etwas Wundervolles. Oder gibt es etwas Höheres und Schöneres im Leben, als mitteilzunehmen, und sei es auch nur auf dem Boden, während die beiden Männer zu Tisch sitzen und ein Glas Wein trinken und sich dabei unterhalten! Ah, wie er ihnen da zu Füßen liegt, zwischen Herr und Gast und vor Behaglichkeit vor sich hin schnurrt! Schade ist nur, dass alle diese Herrlichkeit stets ein Ende findet. Wenn dann mein Bruder die rechte Hand hebt und ihm drei ausgestreckte Finger zeigt, dann weiß er, dass es jetzt noch dreimal etwas zu fressen gibt; und wenn er dann nach diesen drei Malen die beiden Arme gegeneinander bewegt, dann wendet er den Kopf seitwärts, der zuvor so begrüßungsfrohe Schwanz wird matt, die Ohren schlaff und mein Bruder merkt, wie schwer ihn der nun schon wieder bevorstehende Abschied ankommt.
Ja, solche Blicke gehören ohne Zweifel mit zum Rätselhaftesten, was uns die Welt zu bieten vermag.
Wie die Arglosigkeit dem Hund doch aus den Augen leuchtet! Da ist kein böser Gedanke, der sich jemals dazwischen schleicht, wie es bei uns Menschen stets möglich ist und den hässlichen Abgrund eröffnet zwischen Schein und Sein. Verräterische Absichten sind da nicht im Spiel und von einem Königsmord kann schon überhaupt keine Rede sein. Unterhielt sich nicht Karl V., während er mit den Höflingen spanisch parlierte, mit seinem Hund auf Deutsch? Diese gewaltige Kraft ist ganz zahm, ganz geduldig, ganz demütig, wie es in der Regel auch augenfällig wird, wenn solche Hunde mit Kleinkindern zusammen kommen. Fast möchte man dieses Verhalten mit der jungen frommen Liebe vergleichen, wie sie uns Shakespeare geschildert hat: "Ganz Anbetung, Ergebung und Gehorsam, ganz Demut, ganz Geduld und Ungeduld, ganz Hingebung, ganz Reinheit und Bewährung." Nur schade, wenn wir bedenken, wie oft der Hund in seiner grenzenlosen Ausdauer den Menschen beschämt, bei dem die zarte Pflanze der frisch gehegten Liebe oftmals schon nach kürzester Zeit nur noch ein erbärmliches Dasein fristet.
Von einem Bekannten erfuhr ich vor einiger Zeit, dass sie nun für ihre zwölf Jahre alte Tochter alles besorgt hätten: sodass, wenn sie einmal nicht mehr da wären, auch für sie hinreichend gesorgt wäre. Die Tochter ist jetzt etwas über 20 Jahre alt und so schwerbehindert, dass sie sich niemals wird selber versorgen können. Der Einschätzung der Ärzte nach hat sie noch etwa 10 Jahre zu leben. Nun also haben die Eltern dafür gesorgt, dass die Tochter in ein Dorf kommt, wo ähnlich Kranke in einem Haus beisammen sind und gemeinsam betreut werden. Dort gibt es Werk- und Arbeitsstätten, wo sie sich mit ihren Fähigkeiten einbringen können. Im Dorf ist auch ein Friedhof, wo das Kind dann nach seinem Leben die ewige Ruhe findet. Ich war ziemlich mitgenommen, als er mir das erzählte. Ist das nicht ein schreckliches Leben, so fragte ich mich, dass, kaum dass man auf der Welt ist, schon nach einem Friedhofsplatz gesucht werden muss? Und doch! Verläuft nicht unser aller Leben so ähnlich? Man muss ja kein großer Mediziner sein, um eine obere Schranke anzugeben für die Jahre, die einem noch verbleiben. Zähle bis hundert! Mehr ist es nicht. Dann heißt es, sich aufs Totenbett legen, um nimmer aufzustehen. Im Schlaf, wie mir scheint, stirbt man nicht. Zum Sterben muss man zuerst aufwachen. Im Grab oder in der Aschenurne aber müssen wir uns nicht mehr quälen; da ist dann für uns gesorgt.
Schwiegervater war der erste, dem der Weg bevorstand. Er hatte ein Leberleiden und bewegte sich schon einige Zeit nur noch mühsam am Stock. Eines Tages nun aber kam er nicht mehr aus dem Schlafzimmer. Von seinem Bett aus im Obergeschoß versuchte er noch die Abläufe im Haus zu dirigieren oder wenigstens zu verfolgen. Ich erinnere mich an Schwiegermamas Geburtstag. Wir hatten uns zu Besuch eingefunden und saßen unten zu Tisch, als seine Stimme noch einmal mächtig erschallte. Schwiegerpapa lag oben im Bett, die Türe ins Haus hinein offen. Keiner von uns war hinauf gegangen, ihn zu begrüßen; das hatte er sich verbeten. Nur aber war die Schwiegermama zu ihm hinaufgegangen, ihm etwas aus der Bibel vorzulesen, doch kam sie alsbald wieder zu uns herab. Laut brüllend hatte er sie aus dem Zimmer gejagt. Noch war er da, so wollte er ihr damit bedeuten; noch hatte ihn niemand wegzuräumen oder sonst wie zum Narren zu halten.
Kurze Zeit danach kam Schwiegermama an die Reihe. Nach zwei Operationen an einem Krebs, der schon metastasiert war, wusste auch sie, was nun auf sie zukam. Noch sehe ich sie, wie sie zwei Tage vor ihrem Tod auf einem Stuhl im Flur saß, ein Schatten ihrer selbst, während man ihr das Bett aufschüttete. Die Türe zum Krankenzimmer, das nun ihr Sterbezimmer werden sollte, stand auch dieses Mal offen. Ihre Sinne und ihr Wille indessen waren bereits gebrochen. Leer gingen die Augen in die Runde, als suchten sie nach etwas. Wär da ein Engel gekommen und hätte sie darauf eingestimmt, dass nun etwas Wunderbares käme, das einer letzten Anstrengung durchaus noch wert wäre, vielleicht dass er sie damit noch einmal hätte erreichen können. Dann kam der eigene Vater. Auch er schien Bescheid zu wissen, was auf ihn zukam. Ein knappes halbes Jahr zuvor schon wollte ihm nichts mehr schmecken, nicht einmal mehr sein Gläschen Wein am Abend. Er hatte mich zu sich gerufen, um Abschied zu nehmen. Selbstverständlich hatte ich mich ihm nicht verweigert, tröstete ihn aber und sprach allerlei Törichtes, um ihm über den Augenblick hinweg zu helfen. Eines Morgens war es dann so weit. Wie er die letzte Nacht verbracht hatte, um dann den Todeskampf anzutreten, ich weiß es nicht. Nach dem Vater kam dann schließlich noch die Mutter. Ein Schlaganfall warf sie nach dem Aufstehen zu Boden. Das war an einem Samstag. Am Nachmittag hatte sie noch zu uns zu Besuch kommen wollen. Als sie dann ausblieb, rief ich ihre Nachbarn an, die einen Hausschlüssel hatten. Drei Tage zum Leben waren ihr noch vergönnt, die sie in einer Klinik zubrachte. Wir waren eben dabei, in die Klinik zu gehen; ich suchte noch eben nach einem passenden Mitbringsel, während es draußen in Strömen regnete: da rief uns die Oberschwester an, dass die Mutter nicht mehr lebe; dass sie sie zurechtgemacht und aufgebahrt hätten und ob wir sie noch einmal sehen wollten. Doch lehnten wir ab. Mutters lebendiges Bild wollten wir uns nicht von den Zügen des Todes verwirren lassen.
Seit Schwiegervater mit dem Sterben den Anfang gemacht hatte sind über 25 Jahre vergangen, die Zeitspanne einer Generation. Nun ist die Reihe an uns. Mütterchen ist sehr krank. Sie ist auf Hilfe angewiesen. Andauernde Unselbständigkeit und Angewiesen-Sein auf andere zu ertragen ist nicht leicht. Das kann bedrücken, zumal wenn unser Held bei der Pflege noch immer an andere Dinge denkt, die er gerne besorgte. Aber auch wenn er sich alle diese Unarten abgewöhnt hat, bedrückt die Frage, was kommen mag. Doch ich will nicht daran denken, was dann ist, wenn es zu keinem Austausch mehr kommt; und wenn man für den Kranken nichts weiter mehr tun kann, als geschehen zu lassen, was geschieht.
Selig alle, die es schaffen, Ja zum Leben zu sagen. Und wenn wir uns auch hin und wieder nicht ganz wohl in der Haut fühlen, so ist es doch tausendmal besser, sich vorzumachen, als ginge es uns blendend und wir hätten keinen Grund uns zu beklagen, als dass wir uns als die Ärmsten und Elendesten vorkommen. Man behält leichter seine Souveränität, wenn man sich auch vor sich selber möglichst von seiner starken Seite zeigt. Solche Lebensweisheiten erteilt man freilich leicht, solange es einem gut geht. Sobald man aber angeschlagen ist und verwundet und man kaum mehr Luft bekommt, sieht alles ganz anders aus.
Ja zu sagen zum Leben! Sollten wir uns das nicht alle angelegen sein lassen und so zusammen bauen an einer goldenen Zeit! Zum allgemeinen Glück gehören als notwendige Bedingung die Beschaffung und die Sicherung der Grund- und Nahrungsmittel zum Leben. Freilich genügen da nicht klares Bachwasser und frische Eicheln, wie Ovid meint. Am klaren Wasser und an den frischen Eicheln ist nur so viel richtig, dass man bei solcher Nahrung kaum je der Begierde und dem Übermaß verfällt. Ist man satt, so ist man eben satt. Einer niemals satt werdenden Lust zu huldigen gibt es da nicht. Ebenso wichtig wie die Selbstbeherrschung wäre für die Schaffung eines goldenen Zeitalters aber auch, dass wir neben einer guten Lebenspraxis, zu der ein weiser Gebrauch aller Dinge gehört, auch den rechten Umgang mit unserem Schicksal gewännen, insbesondere, dass wir zurechtkommen mit den über uns verhängten und unabwendbaren Widerwärtigkeiten des Lebens. Ein einziger, dem es neben dir elend geht, genügt ja schon, Schatten des Unheils auch über dir heraufzubeschwören; ein einziger schon könnte ein goldenes Zeitalter vernichten! Sodann wären es Wohl und Wehe der Kinder, die über unser Schicksal bestimmen: ein guter und fester Beruf, der das Kind ausfüllt, und ein echter und zuverlässiger Partner fürs Leben, das sind Dinge, die nur sehr begrenzt oder gar nicht in unserer Macht liegen, die aber, sofern sie uns fehlen, wie kaum etwas anderes geeignet sind, unser Leben mit betrüblichen Wolken zu umziehen und zu verhängen. So schrieb uns unsere Schwägerin, die selber mehr krank als gesund ist, die vornehmlich aber wegen ihrer Kinder viele Sorgen auszustehen hat: "Wir hoffen, es geht euch gut", und fuhr dann fort: "Auch von A. und ihrer lieben Familie und von P. im hohen Norden habt ihr nur gute Nachrichten." Wenn uns auch der leise anklagende Aufschrei nicht fröhlich zu stimmen vermochte, so hat sie gleichwohl Recht. Wie viel leichter lebt es sich doch, wenn es den Kindern gut geht! Gute Nachrichten sind ein Glück, mit dem man sich ebenso leicht arrangiert, wie man vergisst, dass es anderen abgeht. Zumindest etwas Anteilnahme sollte uns stets begleiten. Wahrhaft gut und tief ließe sich indes nur dann schlafen, wenn wir alle von einem beseligenden Guten umfasst würden.
Ihr Pflegerinnen und Gärtnerinnen des Schönen! Jetzt, wo das Frühjahr erwacht, wo die ersten warmen Winde die Bienen hinaustragen auf die blütengeschmückten Fluren, wo der Rotschwanz heimkehrt aus den südlicheren Ländern und wo auch die Schwalbe nicht mehr lang auf sich warten lässt, jetzt, wo alles zur Frühlingssonne empordrängt, jetzt seid auch ihr wieder da, eure Gärtchen zu besorgen. Frühmorgens schon sehe ich euch die Stufen zu den Gärten hinab steigen, nach jedem Samen in den Beeten Ausschau haltend, dann des Mittags, wie ihr mit einer kleinen Hacke die Erde lockert, da und dort ein Unkraut auszupfend, das nicht dahin gehört. Oder ich sehe euch noch mit der Gießkanne eure Pflanzungen begießen, wenn die Abendglocken läuten. O, wie viele so kleine und doch so wichtige Arbeiten ihr da nicht wahrnehmt! Manchmal meine ich fast, ihr braucht sie und wäret ratlos ohne sie: so ganz in eurer Arbeit vertieft sehe ich euch da. Ein trefflicher Maler könnte kaum aufmerksamer vor seiner Leinwand stehen und zusehen, ob ihm sein königliches Werk gelingt, als ihr, wenn ihr euch in euren Gärten bewegt: bald gebückt, die Erdkrumen lockernd, bald in der Hocke den aufgegangenen Samen bewundernd, bald hin und her schreitend, einer zur Blüte ansetzenden Blume zu dienen. Wie doch unter euren besorgten und zugleich von Zuversicht erfüllten Augen das Werk gedeiht, dass schön aufwächst und erblüht, was das Herz erfreut.
In der Erde verwurzelt, die Wipfel empor zum Himmel streckend, stehen sie da, die Bäume des Waldes: nicht anders, als hätte in den Wäldern die Welt ihren Anfang genommen und dort droben wohnte jemand, an den sie sich zu erinnern suchten. Im Wald hausen sodann auch die Zwerge und die Riesen, die Kobolde und die Elfen, die Nachtraben und die Eulen, die Hexen und die Zauberer. Eine andere Welt! Oder hast du jemals von Büschen oder Bäumen oder auch nur vom Gras unter den Bäumen sagen hören, was für ein Wochentag ist? Hat jemals einer der Waldbewohner einen Kalender benutzt oder auf die Einhaltung von Gesetzen gepocht? Geh nur hinaus und betritt den Wald! Außer ein paar munteren Waldvögelein scheint nichts da zu sein, was auf dein Erscheinen wartet. Aber selbst die haben sich schnell an dein Kommen gewöhnt. Vielleicht, dass du noch ein paar Ästchen knacken und knistern hörst, und da und dort vielleicht noch ein Wässerlein sprudelt, dann bist du auch schon eingetaucht in die alles verschlingende Stille und bist nur mehr noch ein Teil jenes großen, alles umfassenden Ganzen.
Zu den Wäldern der Kindheit hast du dich nun also noch einmal auf den Weg gemacht, in aller Herrgottsfrühe, um nachzusehen, was von ihrem einstigen Leben noch geblieben. Und wie schon vor Jahrtausenden, wenn nach sternklarer Nacht, zur Stunde, wo das erste Sonnenlicht die Gipfel der Berge ins Frührot hüllt und nur noch ein feiner Dunsthauch über den weißbetauten Wiesen schwebt, ehe der Tag beginnt: so scheint es noch immer zu sein. Tauperlenbehangen aber, vom Morgenlicht durchstrahlt, leuchten und glänzen dir nun schon von Ferne die Gräser und die Blätter aus dem Dickicht des Waldes entgegen. Alles scheint dir wieder auf dich zuzukommen, wie es früher einmal war. Zumal als Kind, noch ehe die Sonne über den Wipfeln zum Vorschein gekommen, da warst auch du hinaufgestiegen oder, besser gesagt, warst hinaufgeflogen, denn du musstest es dir ja nur recht angelegen sein lassen, dann warst du auch schon droben, um von einer hohen Tanne aus das Land zu überschauen. Da saßest du dann den lieben langen Tag und träumtest davon, wie du die Berghöhen und die Täler durchstreiftest; und sahst wohl auch manch einen Riesen vorbeikommen, der einen Baumstamm auf der Schulter trug, auf dem ein tapferes Schneiderlein saß; oder du sahst einen Königsohn, der vergeblich den Wald durchirrte, auf der Suche nach einem Ausweg. Bis zum Nachhall der letzten, ängstlich im Dämmer verklingenden Amsellaute, saßest du dort droben und schautest und lauschtest. Und wenn du dich dann auf den Nachhauseweg begabst und alles rings um dich stille war, da gabst du Acht, keines der Vöglein aufzuscheuchen, die nun auf ihrem Schlafzweig saßen und der Ruhe genossen. Natürlich hast du dich auch später noch in solcherlei Wäldern herumgetrieben. So hast du viele Male mit Liebchen den frühlingsgrünen Ardennerwald aufgesucht, zu Rosalinde und Orlando, mit seinen unermesslichen Freiräumen zur Liebe; und auch im Wald von Athen warst du freilich, wo es den Oberon zu sehen gab mit seiner Sippschaft, wie auch mit den zwei verrückten, von Zuhause entlaufenen Pärchen. Wenn man es recht bedenkt, warst du immer im Wald zu Hause gewesen. Schließlich ist ja die ganze Welt nichts anderes als ein großer Wald.
Doch gibt es da noch eine andere Seite. Denn der Wald, wiewohl er ein Anrecht auf sich selbst zu haben scheint, hat viele Herren, die ihn als ihren Besitz erachten. Das aber ist ja schon lange so. Mochtest du als Kind auch Motorsägen gehört und Waldarbeiter bei ihrem Geschäft gesehen haben, so schienen sie dir zum Wald zu gehören wie die Wege und Steine am Wegrand. Vielleicht, dass du damals noch an den Wolf und an andere wilde Tiere gedacht hast, denen der Wald gehört und denen man nicht zu nahe kommen sollte. Heute aber weißt du, dass der Mensch schon immer Hand angelegt hat, wo es etwas zu erraffen gab. Und da er gerade auch um die Schätze des Waldes wusste, so begann er schon vor langer Zeit, Wege in die Wälder hinein zu legen und Schneisen zu schlagen für den Abtransport von Stämmen und Stollen zu graben nach edlem Gestein. Rasthütten und Nachtasyle aber wurden erstellt für die Männer, die mit den gefährlichen Geschäften im Wald beauftragt waren. Die Köhler, von denen du in den Märchen gehört hast, waren ja nur kleine Leute, die Dienst taten in anderer Herren Gnaden; und die Zwerge, die in den Bergschächten nach Silbererz suchten, waren auch nichts weiter als arme Schlucker, die sich verdingen mussten, um zu überleben. Und hörtest du von fürstlichen Jägern, die die Wälder durchstreiften, und von Jagdgesellschaften, so erachteten sie es als ihr Privileg und wehe, wer sich erwischen ließ als Wilddieb.
Oder kennst du nicht die Geschichte von Gilgamesch und Enkidu, dem ehrgeizigen und verwegenen Königssohn und seinem Vasallen, dem Herrn und seinem Knecht, die auszogen, das Fürchten zu lernen? Wenn sie es vielleicht auch noch nicht auf der Fahrt zum Zedernwald gelernt haben, mit dieser Fahrt sollten sie den Grundstein dazu legen. Der Riese Chumbaba hauste ja dort. Schon auf 100 Doppelstunden des Wegs war er zu hören, dann auf 50 Doppelstunden des Wegs, tosend laut. Wie Sintflutrauschen hörten sie sein Gebrüll durch die Einsamkeit der Wälder. Vollends als sie nur noch 10 Doppelstunden von ihm entfernt waren, war jede kleinste Bewegung von ihm so zu vernehmen, als sähe man sein alles versteinernde Gorgonengesicht. Ei, wie sie sich da versteckt hielten, ehe sie diesen Minotaurus listenreich aus seinem Labyrinth gezogen und ihm den Garaus gemacht hatten. Dann freilich war keiner mehr da, der ihnen das Fällen der Zedern verwehrt hätte! Aber der Preis war doch hoch, vielleicht zu hoch, als dass sich die Fahrt gelohnt hätte. Zur Eroberung der Freiheit waren sie ausgezogen, sich als Männer der Heldentugend einen Namen zu machen, als Zerstörer und Diebe aber waren sie nach Haus gekommen, und fanden daselbst nun den Tod.
So war es in der Frühzeit und so sollte es bleiben. Streng ausgerichtet, Stamm hinter Stamm, Baum hinter Baum, abzählbar und bestimmbar, taxiert und überwacht, ausgerichtet in Reih und Glied sollten die Wälder wachsen und sich fällen und abschlagen lassen. Wen mag es verwundern, wenn die Pythagoreer zu fürchten begannen, nirgends mehr ein Plätzchen zu finden für die Wanderung ihrer Seelen! Wenn sie erschrocken den Faltern im Mondlicht zusahen, weil ihnen um eine unsterbliche Seele bangte, und wenn sie die Rückkehr des goldenen Zeitalters aus der Welt dahin schwinden sahen! Daran änderte sich auch nichts, als man sich in unseren Tagen entschloss, sich in Friedwäldern bestatten zu lassen. Nun aber hat man weltweit damit begonnen, in noch nie gekanntem Ausmaß an die letzten riesigen Wälder und Urwälder Hand anzulegen. Was nur an Technik aufzubieten war, hat man aufgeboten. Und das ist nicht wenig. Mit Autos und Bulldozern und gigantischen Apparaten hat man begonnen, die Wälder zu erschließen. Ohne dass auch nur noch ein Mensch eine Hand zu bewegen braucht, nach einprogrammiertem Plan, arbeiten speziell dafür gebaute Maschinen bei Tag und bei Nacht. Gleichwohl aber, um jede Gefahr zu bannen, hat man überall Hochstände gebaut und sie mit gutausgerüsteten Beobachtungsposten besetzt. Zum Vorhaben passend sind auch die Zugänge, breit genug zur Ein- und zur Ausfahrt. Kreissägen pfeifen und quietschen pausenlos und Riesenstämme stürzen im Sekundentakt krachend zu Boden. Man muss aufpassen, wenn man da vorbeikommt. Ordnung, so heißt es jetzt nur noch, Ordnung muss sein. Die steifgefrorene Katze, die du nach einer klirrend kalten Frostnacht vor dem Haus tot aufgefunden und zum Wald hinaufgetragen und begraben hast, hat man ausgescharrt und zur Sektion getragen. Auch den Judas, der dort an einer Astgabelung sein Leben ausgehaucht hat, hat man abgehängt und weggetragen. Wer sich nicht ausweisen kann, hat kein Lebensrecht. Vorerst sind nur die Säume der unermesslichen Wälder davon betroffen. Ökosprit soll hier einmal gedeihen und Geld erbringen. Was dann noch weiter kommen mag, weiß keiner. Nur ein altes Orakel spricht davon, dass mit dem letzten Wald auch die Welt verschwinden wird. Und das, so ist abzusehen, ist schon bald der Fall.
Wie reizend ist doch unsere Nachbarin, die uns immer wieder den lieben langen Sommer über mit frischem Grün und Erträgnissen aus ihrem Garten versorgt hat. Im Unterschied zu mir, der ich mich nie im Garten sehen lasse, es sei denn zum Ausschnaufen an Sommerabenden oder zur sonntäglichen Erbauung, ist sie eine passionierte Gärtnerin, dass ich mir gut vorstellen kann, dass sie einen lieb zur Entfaltung gebrachten Salatkopf erst noch um Verzeihung bittet, ehe sie ihn aufisst. Das ist bei uns, ihren Nachbarn ganz anders. Einer Schüssel Salat, wenn er nur gut angemacht ist, wird da ganz bedenkenlos zu Leibe gegangen. Schon mein Vater sagte schmunzelnd, wir hätten nur einen Garten zum Ernten, und er hatte ja Recht. Denn der Herr gibt's den Seinen im Schlaf; und da er dies auf vielfältige Weise zu tun vermag, so schenkt er uns den Löwenzahn auf der Wiese zum Frühlingssalat mitsamt den ersten Brennnesseltrieben zur Frühlingssuppe; und ist dann weiter nicht mehr viel zu holen, so bedient er sich der reizenden Nachbarin als Spenderin guter Gaben, welche sie gut sichtbar am gemeinsamen Grenzzaun deponiert. Das aber hat sie sich ausbedungen, dass wir uns mit keiner Gegengabe bedanken oder revanchieren dürften; sonst sei es aus mit dem kleinen Grenzverkehr. Dabei haben wir doch den Keller voll Wein. Was auch sonst könnte auf unserem Grund und Boden gedeihen? Und wenn es vielleicht auch nicht ganz so edle und vorzügliche Gewächse sein mögen wie einst im Keller des Friedrich Dürrenmatt, so findet man doch manch Wohlschmeckendes aus der Provinz, insbesondere aus dem nahe gelegenen Kaiserstuhl oder aus der fröhlichen Pfalz, die man, mit Liebe im geselligen Kreis getrunken, durchaus nicht zu verachten braucht. Doch davon will sie nichts wissen. "Wenn Sie mir Wein an den Zaun hängen", so sagte sie einmal recht ernsthaft, "dann hör ich auf; dann gibt es nichts mehr." Ich war damit einverstanden. Und so ging es denn durch den herrlichen Sommer. Während sie liebevoll ihre Gartenerde umsorgte und ihre Gewächse betreute, schlich ich jede Woche einmal an den Zaun und holte mir von den köstlichen Tomaten und den strammen Zucchinis; und Salat und Maggiblätter und kräftigen Schnittlauch, alles, wie sich versteht, aufs liebvollste verpackt und dargeboten. Erst als dann der Sommer seinem Ende entgegenging und die letzten Äpfel und Nüsse zum Abernten bereit standen und die Gärten allgemach wieder durchsichtig geworden waren, sagte sie, gleichsam als Vorwarnung: "Jetzt gibt es dann aber nichts mehr." Ich hatte verstanden und lächelte. An einem der nächsten Morgen hing dann ein Säckchen mit zwei Fläschchen Wein am Zaun in der Gegenrichtung. "Haben wir nicht ausgemacht, dass da nichts zu entgelten ist?" fragte sie, tief bekümmert. "Wer auch spricht von Entgelten?" rief ich dagegen. "Haben Sie nicht gesagt, dass es nichts mehr gibt, wenn Wein am Zaun hängt? Und jetzt gibt es doch nichts mehr, wie Sie mir selber neulich anvertraut haben." Und während ihr ein Lächeln übers Gesicht huschte, sagte ich noch: "Lassen wir nur den lieben Garten für eine Weile ruhen. Er hat es verdient."
Es war ein wundervoller Garten, den wir als Kinder mit unseren Wimpeln und Fähnchen durchzogen. Schon beim Hinaustreten aus dem Haus, wenn wir die Treppenstufen zum Garten hinab stiegen, war uns, als müssten wir nur noch inbrünstig unser Liedchen singen, und dann würde der Sommer kommen und Einzug bei uns halten. Später dann, als wir einander entdeckten, mein Liebchen ich und mein Liebchen mich, und wir aufeinander zugingen, da war er wieder da, dieser zauberhafte Garten, als hätte er aufs Neue auf uns gewartet. Herrlich eignete er sich in der Tat, als wir die ersten Male vom Glück der Liebe durchdrungen, Hand in Hand dahinspazierten. Und war uns nicht, wenn wir uns dabei aus den Tagen der Kindheit erzählten, als wären wir damals schon immer hier beisammen gewesen und nun wäre endlich ein lange von uns gehegtes und gehütetes Geheimnis offenbar geworden? Oftmals freilich blieben wir auch stehen, weil alles doch immer noch so neu für uns war. Wie herrlich musste es doch sein, in einem Garten Platz zu nehmen, wenn im Hintergrund ein hübsches Gartenhäuschen sich befand, um welches die schönsten Blumen blühten. Oder wenn wir durch ein duftendes, von Bienen umsummtes Rosentor hindurch in einen Garten sahen, so erinnerte er uns an Märchen, die aus der Ferne verlockten. Die Gärten, an denen wir vorüber kamen, sahen uns an und lächelten uns zu, selig im Dasein, ohne dass sich einer über den anderen hätte erheben wollen. Und dann waren da die immer putzmunteren Vöglein, die wir gern als unsere Zeitgenossen ansahen. Wie wichtig sie es doch hatten, durch die Gärten zu fliegen und Futter zu sammeln für ihren Nachwuchs! Freilich war auch schön, wenn wir sauber bestellte Salat- und Gemüsebeete vorfanden, wie in den Gärten des alten Laertes. Wenn die Tomaten saftig an den Stöcken hingen oder die Bohnen grün um die Stangen wucherten oder wenn von einem Komposthaufen Gurken oder Melonen herab ihren Weg suchten. Zu jeder Jahreszeit fanden wir dort etwas Schönes. Selbst noch im spätesten Spätjahr, nach den ersten Nachtfrösten, war meist noch die eine oder andere Rose zu sehen, die ihre zwar sehr späte, gleichwohl aber wundervolle Blüte so unbeirrt entfaltet hatte, als wollte sie sagen: "Ist denn jemals zu spät, sich im Blühen zu üben?" Damals war es nun aber auch, dass wir eine Blume entdeckten, wie wir sie noch nie gesehen hatten. Wie aus dem Hohelied die Narzisse der Täler und wie die Lilie unter den Disteln schaute sie uns entgegen. Während sie uns wie mit leuchtenden Augen entgegenblickte, überbrückte sich der Abstand, dass ich hätte glauben mögen, nichts mehr könnte sich uns in den Weg stellen. Alles geschah so behutsam leise und geheimnisvoll notwendig, dass mir das Ziel der Zeit, das ewige Heil nicht hätte näher kommen können.
Seitdem habe ich viel darüber nachgedacht, was sich da eigentlich ereignet hatte. Waren wir nicht als Bewunderer und Verehrer gekommen? Warum aber war dann die Polizei aufgetaucht? Was hatten wir uns zuschulden kommen lassen, dass man glaubte, uns festnehmen zu müssen? War es denn schon ein Verbrechen, dass wir als ein glückliches Paar ins Paradies gelangt waren? Damals wusste ich noch nicht, dass ein Zuviel an Freude durch ein entsprechendes Leiden aufgewogen werden muss. Damals wusste ich noch nicht, dass im Innern des Glücks das Unglück wacht und dass im Kern des Lebens der Tod mit wächst. Wie wir es auch deuten mögen: Zum Leben erwacht schulden wir dem Leben den Tod. Wer Leben gebiert, der zahlt auch mit dem Leben. Heute, wo die Liebste nicht mehr ist, weiß ich, dass sie es war, die das Begleichen der Schuld auf sich genommen hat. Ohne zu stöhnen und aufzubegehren und ohne sich zu beklagen, unsäglich still ist sie den bitteren Weg gegangen. Von den einstigen Gärten aber ist nichts übrig geblieben. In Friedhofsgärten haben sie sich verwandelt, in Anlagen, die von einem kommerziellen Maschinenpark gepflegt werden. Nebenan aber, wo aber einst die Blumen blühten, führt jetzt eine breite Schnellstraße vorüber.
Und kannst du, Liebste, nur noch stammeln,
will ich das Tor der Worte auch verrammeln!
Morgens, nach dem Aufwachen, wenn ich an der Seite meines Liebchens so recht das Glück empfinde, dass ich sie noch habe, und wenn ich ihr dann den rechten Arm um den Leib lege und den linken unter ihren Kopf und wir noch ein Weilchen beisammen liegen, Kopf an Kopf und mein Mund nah an ihren Wangen: lässt sich etwas Schöneres ausdenken? Und dann beim Frühstück, wenn ich ihr vom Tellerchen das Kipfelchen und aus dem Tässchen den Kaffee anreiche, damit sie esse und trinke, und wenn ich dann zusehe, dass ihr nichts fehlt: dann kommt schon auch vor, dass ich ihr das Haar ein wenig zur Seite streiche. Zumeist nämlich hat es sich etwas zu weit ins Gesicht hereingewagt, dass sie es gewiss gerne hat, wenn ich es ihr wieder ein wenig zur Seite zurücklege. Manchmal aber kommt mir in den Sinn, als hätte das Haar sich nur ein wenig verrückt, um mich auf sich aufmerksam zu machen. Als hätt es sich unbemerkt von aller Welt mit meiner Hand unterhalten und hätte ihr zugeflüstert: "Zeig mir ein bisschen, dass du mich magst!" Ja, dieses einst so schön schimmernde Haar sehe ich noch immer, und daneben diese feinen langen, die zarten Wangen einhüllenden Locken! Mögen die Maler es unter sich ausmachen, wie Lebendiges festgehalten und vorgestellt werden kann. Mag auch sein, dass alle Kunst uns nichts als einige wenige Merkmale vor die Sinne gaukelt, in deren illusionärem Spiegel wir jeweils die uns bekannten Dinge zu erkennen oder uns ihrer zu erinnern vermeinen. Allein dieses mir schon in der Frühe zugewandte, feingelockte Haar bedeutet mir mehr, als dass wir nur scherzen und tändeln und uns um Flüchtigkeiten und unnütze Dinge bekümmern. Wie ein göttliches Wesen schlängelt sich diese Locke durch meine Hand. Ist es meine Seele, ist es ihre Seele, ist es unsere Seele?
Was auch nützte das schönste Gemälde, was die herrlichste und feinste Beschreibung, wenn das fehlte, was uns belebt und beseelt? Mag der eine es so halten, der andere so. Wir indessen, meine Hand und ich, glauben zu wissen, was diese Locken für uns bedeuten. Jetzt, wo wir sie liebkosend zur Seite streichen, erscheinen sie wie Hyazinthenblüten, die sich in den Höhen des Himmels widerspiegeln. Ja, jetzt schauen sie mich wieder an mit dem Glanz jener frühen Morgen, jetzt jubeln sie mir wieder entgegen wie das Jauchzen jener Lerchen, als Eos erschien auf goldenem Throne, jetzt kommen sie mir wieder vor wie der Wonnehauch, der über die ersten frühen Blumenwiesen hinweg zog. Schau dir diese Locken an und du weißt, dass der Blick deiner Liebsten, dass das feine, heitere, vertrauensselige Lächeln auch noch bis weit hinein ins rotgolden schimmernde, schmaler und niedriger werdende Tor des späten Abends anhält! Du liebes feingewelltes Haar, das vom Scheitel meiner Liebsten herabfällt! Lass dich noch lange von mir umkosen und umschmeicheln! Damals wusste ich noch nicht, dass ich nach ihrem Heimgang als ein Zeugnis ihrer Liebe, behütet in einem Briefumschlag, eine von ihren lieben strahlenden Locken in unversehrter Frische auffinden würde.
Da hatte ich also ein Foto hervorgeholt, das mich mit dem Enkel festhält, wie wir uns eben andächtig ein Bilderbuch anschauen, hatte es in die Runde gereicht und hatte gesagt: "Damit ihr nicht meint, ich würde nichts anderes studieren als immer nur die Bücher meiner Physik." Es war zu meinen Berufskollegen gesprochen während einer kleinen internen Weihnachtsfeier.
Als das Bild die Runde gegangen war und man den Lockenschopf des Blondins ausgiebig bewundert hatte, fragte einer, ob das ein Kind der Tochter sei, was ich bejahte. Dann aber kam als nächste Frage, ob die Tochter auch so blondes Haar habe. Da war nun allerdings guter Rat teuer. Ich wusste es nämlich nicht. Leichter wäre mir da schon gefallen, die Haare meiner Frau zu beschreiben, zumal als ich sie als Mädchen kennen lernte und wie ich es auch heute noch nach vielen Jahren sehe. Um mir nun aber nur ja keine Blöße zu geben, sagte ich frisch drauf los, das Haar der Tochter sei dunkelbraun. Später, auf dem Nachhauseweg, ich war gerade zu Fuß, denn die Straßen waren vereist und glatt und das kleine Bankett während der Dienstzeit war vorübergegangen, griff ich für mich die Frage noch einmal auf. Ich wollte doch wissen, ob ich gelogen oder die Wahrheit gesagt hatte. Als ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, kam ich zu dem Ergebnis, welches ich, wie zu meiner Entlastung, hier gerne noch mitteile: Das Haar meiner Frau ist wunderschön, wie überhaupt alles an ihr wunderschön ist: von golden schimmerndem, morgenländischem Glanz; glatt und weich und anschmiegsam ist es wie ihr Geist; lieblich wie ihr Geschmack und natürlich wie ihre ganze Gestalt und Erscheinung. Ja, wundervoll ist alles, was ich an meiner Liebsten kennen und schätzen lernen durfte in der Reihe der Jahre, die uns das Schicksal zugestanden hat. Und ob auch bei anderen Leuten das Haar alt und grau werden mag, das Haar meiner Liebsten wird immer so schön bleiben, wie es war, als ich es zum ersten Mal sah und solange ich das Leben mit ihr teile. Und wenn es auch heute nicht mehr so frisch leuchten mag wie in den Tagen der Jugend, wie manch ein Beobachter vielleicht feststellt, dem nur die Augen eines Fotoapparates eignen, so betrifft das nicht mich. Wenn ich auch selber längst nicht mehr weiß, wie ich ausgesehen habe als Jüngling, und ich mich vergebens mühen würde, diese Bilder in mir wachzurufen, so fällt mir doch nichts leichter, als mir das Bildnis meiner Liebsten vor Augen zu stellen. Wann immer ich will, ist es da, sodass ich sagen möchte, dass mir nichts so gegenwärtig ist wie dieses Bild. Jeden Zug des Gesichtes, fast noch jede Strähne ihres Haares, zumal wenn es als Locke und Löckchen die Schläfen und die Stirnwand zierte, sehe ich vor mir, als ginge sie mir eben als holde frühsommerliche Sonne auf. Und selbstverständlich sieht auch meine Hand alles das in wunderbarer Fülle. Meine Frau hat schönes Haar, weil sie meine liebe Frau ist. Meine Tochter aber hat schönes Haar, weil sie anpassungsfähig ist und wie die Mutter zur Liebe taugt.
Es gibt gewisse Reizworte, bei denen sich uns wie von selbst assoziationsartig Lawinen loslösen, die mit schlechten Erinnerungen und Erfahrungen auf uns niederdonnern. Ein solches Lawinen auslösendes Reizwort ist für unseren Helden der Name "Thomas Mann". Mag er auch im Allgemeinen für ein erhabenes Künstlertum, für einen unbedingten künstlerischen Willen wie auch für ein privilegiertes, künstlerisches Dasein stehen: dagegen ist ja nichts einzuwenden. Mag sein, dass auch unser Held gern so ein Leben geführt hätte, und vielleicht wäre er dann auch in Versuchung geraten, über seine Lippen das triumphierend-selbstbewusste Wort hingleiten und hinauswehen zu lassen: "Wo immer ich bin, da ist Deutschland!" Was aber kann dieser Mann dafür, dass unser Held nicht zu den Auserwählten gehört? Oder dass er an einem anderen Begriff von Literatur laboriert?
Tatsache ist allerdings, dass ihm dieser Mann, wann immer von freiem und unbeschwertem Arbeiten die Rede ist, stets als ein vielumsorgter und verwöhnter Künstler auftaucht. Was immer er braucht, stellt man ihm selbstverständlich und in Geisterstille zur Verfügung: Stifte und Papier und Quellen und Bücher. Und ein frischer, die Aufgaben des Artisten in Erinnerung bringender Blumenstrauß fehlt freilich auch nie neben seinem Schreibtisch. Umgeben von einer Aura des Erhabenen legt sich die ganze Welt ihm zu Füßen und scheint nur auf den nächsten Befehl vor dem nächsten Wunder zu warten. "Sagt mir, womit ich euch aufwarten soll! Und ich will euch mit Jota und Komma bedienen!" So scheint er ihm in seiner weltmännischen und geschäftstüchtigen Art unentwegt zu sagen. Und so scheint es ihm noch immer zu sein, viele Jahre nach dessen Tod, dass es ihn kaum verwundert, wenn es inzwischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die sich der liebevollen Beschreibung seiner Arbeitsgeräte, wie etwa seines Schreibtischs widmen, als wären es Stücke vom heiligen Gral, mit denen sie dann ihrerseits weiter zu zaubern vermögen.
Anders unser Held. Da sitzt er, wie ein unfähiger und schäbiger Wicht oder wie ein Hungerkünstler der Kunst, der an seinem Hungern satt geworden, und grämt sich oder plärrt darauf los wie eine boshafte Dohle, dass es andere besser hätten: dergestalt dass sein Liebchen bereits die Lektüre des "Joseph und seine Brüder", welche ihr ein Besucher auf einer Sprechplatte mitgebracht, vorzeitig aufgegeben. Vornehmlich, wenn unser Held bedenkt, dass alle Welt berechtigt und befugt zu sein scheint, ihn bei seiner Arbeit zu stören, der Elektroableser und der Kaminfeger ebenso wie die Postboten und die Paketträger und, selbstverständlich nicht zu vergessen, die vielen, die sich durchs Telefon ins Haus drängeln und die seine Frau krankheitshalber schon lange nicht mehr von ihm abzuhalten vermag, wird er leicht grantig und ungenießbar. Da wird dann freilich auch das bitterböse geflügelte Wort in ihm lebendig, das man sich von Thomas Mann erzählt: dass er seiner Frau jede Störung untersagte, wenn er am Schreiben amtierte, "und wenn sie ihm auch aus Stockholm den Nobelpreis überbrächten!" Mögen aber auch Berge von Literatur über diesen Mann geschrieben werden: muss es unseren Helden stören? Ah, dieses Wort "Stören", was für ein Reizwort im Ohr unseres Helden! Ungestört zu arbeiten, was für ein hässlicher, giftdurchsetzter Traum!
Es gab da einen Kollegen unseres Helden, ein Psychologe seines Zeichens. Der pflegte zuhause an seine Türe ein Schild zu hängen, mit der Aufschrift "Bitte nicht stören". Das war auf seine Frau gemünzt, für den Fall, dass er sich einmal allzu sehr ins Forschen und Nachdenken einlassen würde. Dabei war er meist nur dabei, aus 12 Büchern der Psychologie ein dreizehntes zu verfertigen oder Klausuren mittelprächtiger Studenten stundenlang zu korrigieren. Unseren Helden aber darf alles und jedes stören, als hätte er nichts Besseres verdient!
Und doch können und wollen wir die Geschichte nicht so abbrechen. Auch unser Held wird nämlich geschont, auch er genießt eine Ungestörtheit. Ja, wir sind durchaus gewillt zu behaupten, dass die Opfer, die für ihn gebracht werden, jene für Thomas Mann noch weit überragen. Oder kam er da nicht auch heute wieder aus seinem Schreibzimmer ins Wohnzimmer herunter und fand sein Liebchen still vor ihrem Buch sitzen und seine Liebste war immer noch auf derselben Seite, auf der er es ihr vor eineinhalb Stunden aufgeschlagen und zur Lektüre gereicht hatte! Und als er sie nun fragte, erfuhr er, dass sie nicht in der Lage gewesen, das Buch umzublättern, da ihr die Hände den Dienst versagt hatten! Auf seine weitere Frage aber, warum sie ihn denn dann nicht um des Himmels willen gerufen habe, hatte sie, wie zur Entschuldigung, nur leise hinzugefügt, dass sie ihn nicht habe stören wollen.
Ein wenig schämen wir uns für unseren Helden, wenn wir bedenken, was für ein elendes Geschrei er macht, wo Liebchen sich für ihn beschränkt und hungert. Wären wir unser Held, wir würden das Wort "stören" ganz aus unserem Vokabular streichen und würden von nun an besser darauf achten, dass Liebchen sich nicht noch einmal genötigt sieht, solch ein Opfer zu bringen.
Dezembernacht! Schon seit Einbruch der Dunkelheit regnet es, ohne Unterlass, nur von vereinzelten Windstößen unterbrochen. Ich aber liege im Bett und bin wach. Neben mir schläft mein Weibchen. Ich bin froh, dass sie schläft. Sie braucht den Schlaf. Nichts wäre schlimmer, als wenn sie schlaflos daläge und ich würde ruhig schlafen. Oder wäre das fein, ich würde schlafen, sie aber läge da, schmerzgepeinigt und unfähig, auch nur einen Arm oder einen Fuß zu bewegen? Sobald ich den Atem anhalte, höre ich ihren Atem: einen harten, rasselnden Atem, ein Gesurre der Lungen, deren Arbeit immer wieder von einem um Luft ringenden, stoßweise hervorgebrachten Röcheln unterbrochen wird. Außer dem höre ich fast nichts mehr oder soll ich versuchsweise sagen, ich höre um diese Geräusche herum nur noch das Nichts? Jedenfalls ist es etwas, was mir im Ohr hallt, als strömte irgendwo Gas aus, aus einer undicht gewordenen Stelle, bis dann wieder einer jener Windstöße sich erhebt, der pfeifend aufheult und an den Läden rüttelt, als suche er nach etwas Verbotenem. Wie fern gerückt sind doch die Tage, wo man noch in aller Unschuld nach etwas ewig Gültigem, Göttlich Verborgenen strebte, wo einem in liebenswerter, naiver Unwissenheit alles noch erreichbar zu sein schien: der Gott im Himmel und das Glück auf Erden: wo man noch den Weg zum ewigen Leben erforschte und man noch Menschen mit ähnlichem Bestreben um sich zu wissen glaubte. Zumal nachts, wenn der Regen so recht gegen die Fenster prasselt und der Wind gegen die Hauswand anstürmt, und wenn es dann wie mit Kübeln von oben herab schüttet, magst du dich des Daches erinnern, das dir damals als Kind Obdach gegeben. Wie schön war das damals, in einem geschützten Raum sich aufhalten zu können, sicher vor allen Widerwärtigkeiten des Lebens. Jetzt freilich, wo eine böse Krankheit deine liebe Frau quält, ist alles anders geworden. Fremd bist du dir geworden, fremd dir die Menschen, fremd dir auch der Gott im Himmel, fremd die Welt und fremd der Mensch, der in dieser Welt sich herumtreibt. O, wie doch eine solche Krankheit demütigt und peinigt und erniedrigt, wie sie einen niederbeugt und zermartert, wie sie endlich einem auch noch das Bewusstsein raubt, dass man nicht mehr weiß, wer man selber eigentlich noch ist! Und hat sich die Krankheit erst einmal den Weg ins Haus gebahnt, dann macht sie auch vor der Liebe nicht Halt. Zumal, wenn sich alle Hilfsversuche als umsonst erweisen, wendet sie ihr böses Gesicht auch noch dem Helfer zu. Da reizt sie ihn und lacht ihn aus, weil sie sich stärker weiß als alle seine noch so wohlgemeinten und raffinierten Pläne. Warum denn helfen, so raunt sie dem Helfer ins Ohr, warum sich Mühe geben, wenn alles umsonst ist? In seiner gereizten Stimmung sucht er bald nach dem Unhold, ihn sich vorzunehmen, bald hat er den Eindruck, als habe er an der Seite seiner schwer kranken Frau weiter nichts mehr zu tun, als nur noch schnell die letzte Handvoll Lebenstage hinter sich zu bringen. Und es entfahren ihm Worte, die besser nie in ihm emporgestiegen wären. Ja, Krankheit steckt an, sie macht krank, was immer in ihre Nähe kommt: das Zimmer, in dem das Krankenbett steht, die Wände mitsamt den Bildern an den Wänden, das Fenster, das Haus, das Leben und die Landschaft vor dem Fenster, den Himmel mit seinen weißen Wolken, ja den gesamten, einmal doch so schön gefügten, nun aber sinnentleerten und gottverlassenen Kosmos. Glaube, Hoffnung und Liebe, Gegenwart und Zukunft, und endlich auch noch der liebe Gott: alles wird krank. Das Paradies aber, auf das wir uns einmal auf den Weg gemacht haben, erscheint nur noch wie eine große Krankenanstalt, in die es durchs haltlos gewordene Dach wie in ein Behältnis sintflutartig hineinregnet, während eine panisch erregte Belegschaft hin und herrennt, dem Tod des Ertrinkens zu entkommen. Wie unleidlich, wie unhaltbar, wie unerträglich ist doch diese Lage! Was immer man sich ausdenkt, ob man alles stillschweigend in sich hineinfrisst oder ob man es aus sich heraus zu schreien versucht: es ist einerlei! Etwas Stärkeres ist über einem. Plötzlich hält es einen und umschließt einen und drückt einem die Gurgel zu, dass selbst noch der ärgste Angstschrei erstickt.
Fällt einem aber etwas ein, so ist es nichts Gutes. Enttäuschungen, wohin man schaut. Nicht nur in den Krankenhäusern. Lange schon ist der Sommer vorbei und doch sind alle die schrecklichen Erlebnisse noch immer lebendig. Eines davon brach über ihnen herein, als er mit seinem Liebchen zum Waldsee aufbrach. Es ist ein kleiner künstlich angelegter See, am Fuß des waldbestandenen Gebirges, am Rand der Stadt. Kaum mehr als zehn Minuten Fahrt mit dem Auto bedarf es, und du hast den kleinen See erreicht, ein künstlich errichtetes Becken von 20 auf 100 Metern für Schwäne und Fische und für ein paar Boot-Fahrer. Um den See herum, umgeben von hohen Eichen, ist eine Promenade angelegt mit diversen Bänkchen zum Sitzen. Wenn die Sonne scheint, gibt es Plätze in der Sonne, aber auch im Schatten. "Es muss ja nicht der Titicacasee sein", sagte unser Held zu sich, "noch auch der Bodensee, es muss noch nicht einmal der Schluchsee oder der Titisee sein, wo man ohnedies auf Leute im Rollstuhl keinen Wert legt; der Waldsee genügt uns ja doch!" Als er dann aber alles soweit hatte für die kleine Tour, vornehmlich das Buch der Wahlverwandtschaften, aus dem er ihr eigens noch einmal die paar Seiten mit dem Unglück am See hatte vorlesen wollen, und als dann auch der Weg hinter ihnen lag und er sein Liebchen aus dem Auto gehoben und zum Waldsee hinübergeschoben hatte: da sank ihr schon, kaum dass sie Platz genommen hatten, der Kopf auf die Brust, den in der Höhe zu halten ihr an Kraft gebrach. Ein Bild des Jammers. Was blieb ihm da übrig, als ohne auch nur noch einen ruhigen Blick auf den See und ohne eine Zeile aus dem Buch zu lesen, sich zu erheben und wieder nach Hause zu fahren? Der Hoffnung auf ein Stündchen im Grünen folgte die bittere Erfahrung, dass nun also auch dies nicht mehr möglich war. Jeden Tag gab es eine neue Erfahrung, jeden Tag eine neue Lektion zu erlernen! Dabei waren sie doch schon längst bei den Fortgeschrittenenlektionen angekommen, dass man hätte meinen können, die letzte Lektion läge nun hinter ihnen. Die Übungsstunden indessen nahmen kein Ende. Was gestern noch zu ihrem scheinbar so unveräußerlichen Besitz gehört hatte, konnten sie heute schon vergessen, und was heute noch ihr eigen war, war morgen schon vergangen. Wehe aber, man lehnte sich auf und reklamierte ein kleines Recht auf das Leben! Keinen größeren Unverstand kann man ja finden, als aufzubegehren gegen ein unumstößliches Geschick. Man holt aus, um nach der Krankheit zu schlagen, und trifft den Kranken oder man holt aus und trifft sich selbst! Was auch bleibt einem übrig, wenn man nach dem Täter ausholt und den Kranken trifft, als sich zum Schluss selber eine Tracht Prügel aufzumessen!
"Es wird alles wieder besser", sagte sie damals noch, als sie den See so schnell wieder verlassen mussten. " Du wirst sehen, wenn wir das nächste Mal ... " Doch er, unduldsam und enttäuscht, ließ sie nicht aussprechen. "Ja, wenn wir das nächste Mal hierher kommen", sagte er, "dann können wir uns in unseren Särgen auf dem See treiben lassen!"
Natürlich ist nichts besser geworden. Schon nach dem Sommer war der Körper so schwach geworden, dass ein Sitzen nicht mehr möglich war. Besuche waren jetzt nur mehr noch am Krankenlager möglich, eine demütigende Angelegenheit für meine Liebste. Manche, die es immerhin gut meinten, lobten sein Weibchen, weil es so tapfer alles ertrug. Aber unser Held hasste solche Lobsprüche. Was auch bedeutet schon Tapferkeit, wenn jeglicher Sieg ausgeschlossen ist! Musste der Kranke nicht auch noch dieses Lob wie eine schwere Last der Ohnmacht ertragen? O wie unseren Helden die Bilder schwarzbefrackter, uniformierter Angestellter quälten, die immer näher auf ihn zukamen! Wie ihn diese Hallen verwirrten, wo man den Menschen durch die Hintertüre hinausschafft! Überall stieß er nur mehr noch auf Geschmeiß und Fliegen, die sich ihm in dichten Schwärmen in den Weg stellten. Und kämpfte er sich auch durch, so erwarteten ihn nur jene Hinterhöfe, wo man einem eine jede Antwort verweigert.
"Was möchtest du tun?" so fragte sie ihn neulich. Ihre Sprache war nur noch sehr schwer zu verstehen. "Was kann ich tun?" gab er ihr zur Antwort. Und er fuhr fort: "Was kann ich tun und was kannst du noch tun? Ginge es nach mir, da würd ich jetzt vorschlagen, wir machten einen Spaziergang, Hand in Hand, unter einem gemeinsam ausgespannten Regenschirm; denn es regnete leicht; das wäre etwas Wunderbares. Und kämen wir dann zurück, dann genehmigten wir uns ein Glas Wein und ein anregendes munteres Gespräch. Doch kann ich es denn? Wird uns nicht schon der kleinste Schritt nach draußen verwehrt? Und was das Glas Wein angeht, muss man nicht bei jedem Schlückchen den Atem anhalten, dass du dich auch nicht verschluckst? Muss einem die Welt nicht eng werden, wenn man nirgends mehr einen Trank und eine Speise findet? Nur unliebsame Mahlzeiten sind uns noch übrig geblieben, Riesenmahlzeiten voll von Unliebsamkeiten!"
Auf diese Weise begann er, sie und auch sich selber wieder zu quälen. War das fein? War das eines Liebhabers würdig? Dabei hatte er ihr einmal versprochen, alles zu tun, was sie belebte und was ihr das schwere Leben erträglicher machte. Statt sich als ein Leben erweckender Orpheus einen Namen zu machen, verschandelte er auch noch die guten Erinnerungen. Und um seiner Ohnmacht den Triumph zu überlassen, beendete er dann seine Rede mit den Worten: "Oder sind wir nicht schon dabei, wo wir schon nicht mehr zum gemeinsamen Sprechen kommen, auch noch das gemeinsame Weinen zu verlernen?"
Dass keiner jemals das Menschenleben ganz versteht und dass die Weltordnung nicht die allerbeste zu sein scheint, wird kaum geleugnet. Doch nützt es etwas, auf alles mit der Axt loszuschlagen? Wollten wir nicht die Freiheit lieben und uns wie Vögel vom Erdboden losmachen, und da lasse ich mich jetzt von bleierner Erdenschwere erdrücken! Unterdessen hat es aufgehört zu regnen. Es hat zu schneien begonnen. Am liebsten ginge ich hinaus, weit hinaus in den Schnee, und weinte bitterlich.
So hatte unser Held vor acht Jahren geschrieben. Gestern Nacht aber, im dritten Jahr nach dem Heimgang der Liebsten träumte ihm, dass ihm der verstorbene Vater im Traum erschienen, ihm vertraulich mitzuteilen, dass er als Verbrecher gesucht würde; man habe es ihm von Wien aus gemeldet. Unser Held war darüber zwar erregt, weiter aber nicht erstaunt. Dass er als Verbrecher gesucht würde, fand er irgendwie verständlich. Da er aber fest damit gerechnet hatte, dass die Verbrechen längst verjährt seien, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. Selbst noch nach dem Erwachen war ihm elend zu Mute. Erst allmählich, beim Wachen-Werden und seines Verstandes wieder mächtig, wurde er sich unsicher, was es mit den Verbrechen auf sich habe, bis er sich nach und nach einredete, dass er doch gar nichts getan hätte und dass er das alles nur geträumt haben könne. Und doch hatte ihm der Traum durchaus keine Lügen erzählt.
In der Jugend war das gewesen, als ich mich wohl auch ein wenig darin geübt habe, stets etwas größer von mir zu denken, als es meinem augenblicklichen Können entsprach, vielleicht als Kompensation zu den lieben Leuten, die mich lieber klein und bescheiden sahen und die sich die allergrößte Mühe gaben, mir jeden Ansatz von Einbildung auszutreiben. Hängen geblieben ist aus jenen Tagen nun allerdings nicht weiter viel mehr, als dass ich es mir zur Gepflogenheit machte, mich niemals ohne genaueste Prüfung dem Urteil der Zeitgenossen anzuschließen. Wohl aber ist mir aus späterer, ja fast muss ich sagen, aus spätester Zeit, als eigentlich alle Zeit zum Träumen längst aufgesaugt war, noch etwas im Gedächtnis geblieben, was mich an einen Traum von einem großem Leben erinnert.
Das war damals, als Mütterchen bereits sehr schwer krank geworden; nun aber waren auch noch zwei Lungenentzündungen dazugekommen, einmal bei ihr durch eine Speisepartikel, die wegen bereits anhaltender Schluckstörungen in die Lunge gelangt war, wie auch zeitgleich bei mir, aus welchem Grunde auch immer. Genug dass ich, nachdem ich sie ins Krankhaus hatte bringen müssen, mich auch selber gezwungen sah, in ein Krankenhausbett zu steigen, wenn auch nicht, wie ich gerne gehabt hätte, in demselben Krankenhaus. Indessen war ich bei der guten Pflege, die man mir von allen Seiten angedeihen ließ, schnell wieder so weit, dass ich aufstehen und die ersten Gehübungen vornehmen konnte. Was meine Einschätzung betrifft, so hätte ich nun ja schon wieder nach Haus gehen können, um dort für mich zu sorgen. Da es nun aber das Geschick so wollte und mein Mütterchen nicht auch schon so weit war, so wehrte ich mich nicht gegen das Privileg, noch ein Weilchen länger bedient und gestärkt zu werden. In der Tat war es durchaus angenehm, dass mir des Tags keine Pflege abging; und wenn ich des Nachts etwas über Gebühr hatte schwitzen müssen, so war auch stets jemand zur Stelle, der mir einen trockenen Schlafanzug und frisches Bettzeug brachte. Ja, schmerzfrei und der Krankheit entrissen fühlte ich mich plötzlich wie einer, der in der Gesellschaft als groß gilt, weil er weiter nichts zu tun hat, als sich darein zu fügen, dass man ihn rund um die Uhr umsorgt und dazu noch mit Hochachtung überschüttet. Die Mühe, die man sich um mich machte und die mir fremd war, war es wohl, die mir mein Selbstbild plötzlich als ein anderes gewahr werden ließ. Hier in der Klinik, fern von Zuhause, sah ich mich plötzlich in ein Dasein verpflanzt, das zu sich gekommen war und das sonst weiter nichts mehr bedurfte, als sich seiner Häuslichkeit zu freuen. War es eine wunderbare Fügung? Wer mag es wissen? Vielleicht entsprang ja diese kleine Verschnaufpause, die mir das Schicksal damals gönnte, einer weisen Providenz.
Um nun aber den aufmerksamen Leser nicht unnötig darauf gespannt zu machen, als hätte damals ein außerordentliches Geschehen seinen Anfang genommen, vermerke ich gleich, ehe ich weiterschreibe, dass auch in jenen Tagen mich weder ein ungeheurer Gedanke ergriffen noch auch ein himmelstürmendes Werk aus mir heraus seinen Anfang genommen. Und doch war da etwas in Gang gekommen, das mir Vertrauen einflößte, dass ich mich für alle Zeit auf mich selber verlassen könnte.
Ohne mich hier näher darzulegen, teile ich nur mit, dass es die Umstände so fügten, dass ich damals einige Male von einem Neurologen aus der Klinik meiner Liebsten aufgesucht wurde, einem durchaus nicht nur auf medizinischem Gebiet gebildeten, gesprächssicheren jungen Mann, der mir, wie ein Abgesandter aus einer anderen Welt, liebe Grüße von dort brachte und der sich dann auch mit mir unterhielt, was ich weiter nach ihrer Entlassung gegen die Krankheit unternehmen könne. Sehr viel Mut und Kraft und Hoffnung müssen damals in mir geweckt worden sein. Ja, es war wohl das einzige Mal, auf jeden Fall aber das letzte Mal in meinem Leben, dass mich die Woge des Lebens derart ergriff und wundersam emportrug, dass mich der Glaube an mich derart beseelte, dass ich hätte Berge versetzen mögen. So viel war mir auf jeden Fall klar, dass es jetzt an mir lag, mir Allergrößtes abzuverlangen, sowohl für meine Liebste als auch in eigener Sache, gleichsam als hätte das Schicksal in seiner unerfindlichen Laune mir noch einmal eine Chance gegeben. Da ging ich nun also im Krankenzimmer auf und ab, vorbei am Bett des Mitpatienten, hinüber zum Fenster, wo sich mir trotz der Winterzeit, die damals herrschte, ein wunderschöner Ausblick ins Tal bot, um dann wieder zurück ins Zimmer zu schreiten, bis zur Türe am Eingang. Hätte mein Anblick einen unkundigen Zuschauer vielleicht auch an den Gang eines eingesperrten Löwen erinnert, für mich war das Dahinschreiten eher so etwas wie ein leichtfüßiger Tanz oder eines Königsadlers Flug, der mich nichts von der Härte des Bodens oder sonst etwas Begrenzendes verspüren ließ. Diese sieben bis acht Meter des Zweibettzimmers waren eben das rechte Maß, mich erkennen zu lassen, dass auch ich nicht minder berufen war als einst Mose, Riegel und Schlösser aufzubrechen. Am Fenster blieb ich dann für kurze Zeit stehen, um mich, nach einem Anblick der unter mir befindlichen schneebedeckten Dächer, wieder der entgegengesetzten Richtung zuzuwenden.
Mag sein, dass ich hie und da auch die Gelegenheit nutzte zu einer Aufzeichnung in eines meiner Hefte, das auf dem Tischchen lag, etwa auf der Mitte des Wegs. Ich habe in meinen Heften nachgesehen und bin dort auf drei Einträge gestoßen. Der erste Eintrag lautet: "Du bist nicht, der du bist; du bist der, den du aus dir machst!" Der zweite: "Wir müssen scheinen, um zu sein, auch vor uns selber!" Der dritte aber: "Es gibt keinen Zufall! Tritt hinzu und erfasse es genau und du erkennst den Zusammenhang der Welt!"
Daraus geht hervor, dass ich mich damals berufen fühlte, etwas aus mir zu machen. Was auch wären wir, wenn wir nur wären, was wir sind? Mochten die Alten auch ihren Gott so verstehen: ein Mensch war kein Gott, der von Anfang an bereits alles war. Der Mensch war dazu geboren, sich zu einem Unbedingten, Ewigen zu erheben. Der zweite Satz liest sich wie eine Explikation des ersten. Auf den Wunsch, etwas aus uns zu machen, auf die Vornahme kam alles an. Und es war keine armselige Welt, wo man die Stärke der Wünsche mit zu ihren Befriedigungen zu rechnen hat, sondern eine neue, die vor mir aufging. Wie bei den Kindern und den Jugendlichen, die ausgeführt wähnen, was eigentlich noch nicht einmal in die Planungsphase gegangen, die sich nur ein Ziel zu wünschen brauchen und schon haben sie es in ihrer liebenswerten Einbildung gemeistert, ähnlich müssen auch wir davon überzeugt sein, ein Ziel zu erreichen, wenn wir es uns nur einmal für uns als bedeutsam erkannt und wir es uns fest vorgenommen. In diesem Glauben und in diesem Wollen hatte ich meine ersten Schritte probiert und hatte es geschafft, mich zu erheben und über den harten Untergrund des Zimmers zu schweben. Und wenn es auch nicht mehr war als die Breite einer Hand oder eines Fußes, ein Nichts, gemessen am Abstand zu einer göttlichen Freiheit! Und wenn ich auch lächeln musste über mich und über das mich aus Versehen den Heiligen in die Nähe rückende Glück des Epigonen: so war es doch ein himmelweit anderes Lächeln, als es ein Philister oder ein Spötter aus sich hervorgeholt hätte, wären sie mit dabei gewesen. Im Verhältnis zum Ewigen war das, was ich erreicht hatte, ein Nichts. Sie aber, mit der Messlatte der klinischen Norm, hätten daraus ein Verhalten konstruiert, das sie mit lächerlich und vermessen abqualifiziert hätten, allem ehrenwerten Verhalten abhold, oder als einen bedenklichen Rückfall in kindliche Welten, wenn nicht gar mit Anzeichen eines zum Ausbruch kommenden Größenwahns. Doch was gingen mich solche Gesellen an! Genug, dass sie nicht da waren! Nicht einen einzigen Wimpernschlag lang habe ich damals an sie gedacht, an diese Spürhunde und Überwacher der Normen, diese Aufpasser der strikten Einhaltung des vorgeschriebenen Geschmacks und Verhaltens. Berauscht vom Glück war ich nur damit beschäftigt, mich loszulösen und zu befreien von allen Zweifeln und Zwängen einer vorgeschriebenen Wirklichkeit, und hatte Erfolg. In mir und aus mir heraus war ich ja der Erhebung innegeworden. Hilfreich und belebend war mir dabei auf jeden Fall, dass ich wusste, dass meine Liebste noch lebte und dass sie es war, für die ich lebte. Nichts könnte sich mir in den Weg stellen, was auch immer auf uns zukäme, davon war ich aufs Innigste überzeugt, ließ ich es nur nicht zu. Und aus diesem Glauben sog ich mein Glück.
Kinder, die schon in die Schule gehen, wissen, dass das Wort Bienenstich zu den Teekesseln gehört. Und wenn denn die folgende Geschichte auch mit etwas Bedauerlichem zu tun hat, so schließen sie, dass sie, wenn sie denn nicht von einem echten Stich einer Biene handelt, mit einem Stückchen Kuchen zu tun haben muss. Doch wartet, bis wir alles vermessen haben! Wie leicht geschieht es, dass etwas, was süß ist und gut schmeckt, zum Anlass von etwas Traurigem zu werden vermag! Wie leicht, dass du dich zu etwas Gutem entschieden zu haben glaubst, was dann plötzlich noch ein anderes nach sich zieht! Ja wie leicht kann es nicht geschehen, zumal wenn die Vorfreude riesengroß ist, dass schon eine kleine Unachtsamkeit die bittersten Folgen auslöst.
Morgens aufstehen und dann abwarten, was der Tag bringt, zeugt nicht von Weitsicht und Klugheit, wenn man es auch noch so oft tut. Da ist schon besser, wenn man sich etwas Rechtes vornimmt und sich den Tag entsprechend einteilt. Und vergisst man auch nicht, die Stolperstellen mit zu bedenken, die einem Schwierigkeiten bereiten, und sich die dazu passenden Verhaltensweisen einzuprägen, dann ist schon sehr viel getan. Das gilt für jeden Tag, für den Werktag ebenso wie für die Sonn- und Feiertage, ja, für diese Tage ganz besonders, zumal wenn man sie, wie unser Held, auf ganz besonders schöne Weise zu verbringen gedenkt. Dadurch nämlich,, dass ein Tag im Kalender als ein ganz besonderer ausgezeichnet ist, ist er noch lange nicht zu einem ausgezeichneten geworden. Im Gegenteil: wie schnell ergibt es sich nicht, dass du ganz besondere Tage ganz besonders schön zu machen gedenkst, um dann am Ende des Tags nicht ohne Schmerzen festzustellen, wie weit du hinter dem Ziel zurückgeblieben!
Die Festtage waren schon stets die Problemkinder seines Herzens gewesen, auch damals schon, als sein Weibchen noch nicht so elend danieder gelegen. Er wusste es doch und kannte es auch schon von Zuhause; und hätte er es nicht von Zuhause gekannt, so hätten ihn eine Reihe von Sprichwörtern darauf aufmerksam gemacht, dass kaum etwas schwerer zu ertragen als eine Reihe freier Tage. Und doch aller der Erfahrung und allem Wissen zum Trotz, gerade an solchen Tagen die Erwartungen nicht in allzu große Höhen zu schrauben, tappte er immer wieder in die Falle.
Unser Held, so wollen wir ihn nennen, auch wenn er damals wahrlich alles andere war, unser Held weiß ganz genau, dass ihn sein Weibchen unmöglich mit einem frischgebackenen, duftenden Gugelhupf überraschen kann, wie gern sie das auch tun würde, da sie schon seit langer Zeit unfähig geworden ist, ihre Arme und Hände zu gebrauchen. Und freilich weiß er auch, dass er sich auf keinen Spaziergang und auf keine kleine Autofahrt mehr freuen sollte. Genug hat er es probiert und sich und sein Weibchen dadurch strapaziert. Sein Schätzchen schafft das einfach nicht mehr, auch nur noch den Kopf frei in der Höhe zu halten und aufrecht dazusitzen. Vielleicht, dass er sie am heutigen Pfingsttag etwas länger schlafen lässt und mit dem Anziehen und mit den Vorbereitungen zum Frühstück wartet? Damit ist allerdings noch herzlich wenig getan. Auch nach dem Frühstück, wenn die anderen in den schönen Frühlingstag hinaus wandern, will ja der Tag gestaltet sein. Vor allem aber verbiete dir jeglichen Kommentar, wenn dir am Tag etwas nicht so gelingen sollte, wie du es dir ausgedacht hast. Kommentare der folgenden Art dürfen weder in dir selber, noch gar nach außen laut werden: "Ach wie lob ich mir doch den Werktag! Da erhofft man sich zumindest weiter nichts, als dass alles getan wird, was eben zu tun ist. Da geht alles seinen, wenn auch elenden, so doch gewohnten Weg und du musst niemanden beneiden, weil einen jeden die Knechtschaft der Arbeit zwingt."
Nun aber passt auf, liebe Kinder, weil ich euch nun von der Falle zu berichten habe, in welche unser Held getappt ist. Leider ist es ja nämlich nicht so, dass die schwachen und zu einer Heldentat unfähigen Menschen nur unter den Kindern zu finden wären und Erwachsene hätten genug Zeit gehabt, einen standfesten und kühnen Helden aus sich zu machen!
Wie schon erwähnt haben gewöhnliche Bienenstiche wahrlich nichts Süßes an sich. Ein echter, wohlplatzierter Bienenstich tut weh, ganz davon abgesehen, dass er, wenn er durch Unachtsamkeit im Mundraum erfolgt, sehr gefährlich werden kann. Bei dem nun folgenden Bienenstich handelt es sich aber um ein leckeres süßes Stückchen Kuchen, da ist die Sache anders. Keiner wird bezweifeln, dass so ein Stückchen höchster Konditorkunst etwas sehr Gutes ist; und auch das trifft zweifellos zu, dass nichts zur Unzeit kommt, wenn es etwas Gutes ist, wie schon der große Euripides gesagt hat. Leider aber müssen wir hinzufügen, dass keine Handlung, wie gut sie auch gemeint sein mag, nicht auch zur Quelle werden kann für eine böse Geschichte.
Sagte da nicht unseres Helden Liebste, als er sie am Morgen jenes Pfingstsonntags danach befragte, und er tat es inständig, ihr eine kleine Freude zu machen, sie würde mal gern wieder ein Stücklein Bienenstich essen? Natürlich würde sie nur eine oder zwei Gabelspitzen davon verzehren, das wusste unser Held. Doch was tat`s? War für die Liebste nicht auch ein einziges Gabelspitzchen einen Gang zur Konditorei wert? Kaum dass ihr der Wunsch über die Lippen gegangen, erhob sich unser Held auch schon, setzte sich ins Auto und fuhr dorthin, wo man derlei Sachen auch an Feiertagen aufs Vorzüglichste überreicht bekommt. Frisch und freudig, wie er gestimmt war, machte es ihm nichts, dass er etwas länger anzustehen hatte, Hauptsache er bekam sein Stückchen Bienenstich. Freudig kehrte er mit dem begehrten Stück Torte nach Haus, wo er denn auch unversehrt wieder eintraf. Und das war gut. Nun aber fragte er seine Liebste, wann sie den Kuchen essen wolle. Sie erwiderte: "Jetzt!" Und das war auch noch gut. Da dieses Jetzt aber bereits in der beginnenden Mittagszeit lag, er inzwischen aber auch selber nach einem kleinen Frühstück oder Vesper verlangte, etwas Festtägliches durfte er sich schließlich jetzt auch erlauben, so gedachte er, wenn er Mütterchen wieder aufs Sofa gebettet hätte, sich selber etwas für den leeren Magen zuzubereiten. Um was für einen kleinen Schmaus es sich da gehandelt, hat der Erzähler gründlich vergessen; er hatte wohl auch etwas für sich im Kühlschrank. So viel steht fest, dass sich unser Held darauf nicht wenig gefreut hat. Auch dagegen wäre nun weiter nichts einzuwenden, hätte unser Held nur nicht vergessen, dass in ihm mit dem gähnend leeren Magen nun auch ein Raubtier mit gähnendem Rachen erwacht war, vor dem es sich in Acht zu nehmen galt.
Nun also begann er, alles hübsch herzurichten: das schneeweiß schimmernde, mit Honig und Schlagsahne und wohl auch einem guten Schuss Kirschwasser getränkte gigantische Stück Torte, das für eine ganze Familie gereicht hätte, stellte er wie eine imposante Pyramide auf einen Teller, und hatte dann auch den heißen duftenden Mocca bei der Hand, zusammen mit zwei Moccatässchen, ein von ihnen besonders geschätztes, in Japan verfertigtes Geschirr aus der Hinterlassenschaft ihrer Hochzeitsgeschenke; denn Kuchen ohne Kaffee, das geht ja wohl nicht, und ein oder zwei Schlückchen Mocca trinkt Liebchen nun mal fürs Leben gern, ohne dabei aber das dann stattfindende eigene Wohlergehen aus den Augen zu lassen. Nun aber wollte es ein böses Geschick, dass eben, als er für die Liebste alles soweit ins Zimmer getragen und auf den Tisch gestellt hatte - unser Held hörte die Mittagsglocken, die währenddessen eingesetzt hatten -, dass eben noch ein unvorhersehbarer Gang zur Toilette fällig wurde. Solche Gänge waren zwar in Windeseile zu beginnen, nicht aber in Windeseile abgetan. Der ganze Mann war da gefordert. Es begann mit dem Wegschieben des Tischs, dem Umsetzen des Kranken auf den Rollstuhl etc. etc, kurz mit all den vielen Handgriffen, zu deren Besorgung außer Geschick und Kraft und Schnelligkeit, vor allem auch Geduld und uneigennützige Liebe gehören. Wären die Dinge in der Liebsten Hand gestanden, so hätte sie sich diesen Gang ganz gewiss aufs Strengste untersagt. Da sie aber plötzlich über den Kranken kommen und da sie, wie gesagt, meist mit vielen, rasch auszuführenden und länger andauernden Dienstleistungen Hand in Hand gehen, so war unserem Helden schlagartig klar, dass mit dem eben trinkfertig gewordenen Mocca nichts mehr anzufangen war. Kalt würde er dastehen nach ihrer Rückkehr. Und selbst das Stückchen Kuchen, das er eben noch so wonnestrahlend nach Hause gebracht und auf den Tisch gestellt hatte, gereichte ihm jetzt plötzlich zum Ärgernis: Warum auch hatte er sich zu Besorgungen hinreißen lassen, von denen er doch wusste, dass sie außer Arbeit und Anstrengungen nichts einbrachten? Wäre er zuhause geblieben, so hätte er Zeit gehabt, die Toilettenarbeit in aller Ruhe zu besorgen. Geschah ihm also nur Recht, wenn er Kopf und Verstand vergessen hatte! So erhitzte er sich noch auf dem Weg zur Toilette, bis ihm die Galle überkochte. Plötzlich fühlte er sich verstoßen und verlassen, vernachlässigt und missbraucht. Und als wär damit nicht genug, waren auch die ihm selber längst verhassten Bekundungen seiner Sonntagsmelancholie wieder zur Stelle, in denen er sich angewöhnt hatte, sich auf erbärmliche Weise Luft zu verschaffen, indem er sich zu bemitleiden begann, weil alle Welt jetzt ihrer Lust frönte, nur er nicht, und dass einem selbst jetzt, an Pfingsten, dem lieblichen Fest der Christenheit, als sähe er die Scharen durchs Grüne ziehen, ein harmloser Spaziergang in den Garten unmöglich geworden.
Wie abscheulich, wenn ein erwachsener Mensch, ja wenn ein geliebter Mensch sich plötzlich so daneben benimmt! Wie abscheulich, wenn er die Spielregeln der Liebe außer Acht lässt! Wie abscheulich, wenn der Verehrer seines über die Maßen geschätzten Mütterchens dazu beiträgt, in demselben die Lebenslust abzutöten und auszulöschen! Hatte nicht auch schon Vater Homer davor gewarnt, dass es nichts Hündischeres gibt als den Magen. Und hätte er nicht auch beim Horaz lernen können, dass man im Umgang mit der eigenen Natur vorsichtig sein müsse! Hatte er nicht gelernt, dass man zwar eine Sau aus dem Stall, nicht aber einen Saumagen aus seinem Körper treiben könnte! Dass unser Held nach seinen Ausfällen gegen die Liebe und gegen die Liebste, denn das waren sie zuletzt, zutiefst elend und unglücklich war, könnt ihr euch denken. Jetzt hatte ihn nicht nur eine Biene, jetzt hatten ihn alle Taranteln und alle Furien der Hölle gestochen. Nichts hatte er mehr, was ihm zur Verfügung stand. Leer und einsam war ihm geworden. Das ganze Weltelend hatte ihn eingeholt. Schlimmer kann einem nicht vor dem Weltuntergang bangen, schlimmer einem nicht das ewige Nichts vor Augen stehen, als es nun bei unserem Helden der Fall war. Jetzt war ihm, als wartete er nur noch darauf, dass sich die Erde auftäte und alles und alle verschlänge. Da dies aber nicht geschah, so blieb ihm, außer der Scham und der Schande, nur noch die hochnotpeinliche Muße, darüber nachzudenken, wie er es geschafft hatte, den Pfingsttag so restlos zu zerstören. Der schlimmste Fehler war zweifellos gewesen, dass er den Mund geöffnet und seinen Unmut aus sich heraus geschleudert und in die Welt hatte fahren lassen, nein, nicht in die Welt hinaus, sondern ins Ohr, ins Herz der Liebsten. Hätte er es doch fertig gebracht, diesen seinen Unmut nicht über die Schwelle der Lippen zu lassen! Der Tag wäre ja noch zu retten gewesen. Der Ursprung des Unheils lag indes noch entschieden weiter zurück. Es war ja nicht das erste Mal, dass er gegen das Schicksal rebelliert und sich zur Wehr gesetzt hatte. Wäre es wenigstens noch gegen einen Gott gewesen, wie einst bei Hiob, der Tag hätte ja vielleicht noch gerettet werden können. In seiner Ohnmacht aber hatte er sich gegen seine Liebste vergangen. Statt aufzubegehren und gegen das Geschick zu hadern, hätte er eine Prise Humor nehmen sollen, als es mit dem gemütlichen Kaffeetrinken und Kuchenessen nichts werden sollte, um dann mit pfiffiger Fröhlichkeit zu sich zu sagen: "Nun gut, so brauchen wir uns doch wenigstens keine Sorgen zu machen, wie wir den Pfingsttag gestalten. Wir tun eben ganz lieb hintereinander, was zu tun ist. Und wenn du auch erst am Abend zu deinem Vesper kommst, was tut es? Dann haben wir den Tag doch immerhin wundervoll zusammen verbracht." Da unser Held aber doch etwas zu viel auch an sich gedacht und damit für seine Liebsten nur einen engbegrenzten Rahmen gesetzt hatte, war in ihm das Ego erwacht. Ah, wie doch dieser gemeine Hund im Untergrund unbemerkt rumort und keine Ruhe gegeben hatte, als bis das Himmelsbrot, herabgerissen vom Altar der Liebe, im Schmutz dalag, das jetzt als besudelter Rest in der Mülltonne verschwand!
Was aber lernen wir aus der Geschichte, was aus dem katastrophalen Verhalten unseres Helden? Dass wir oftmals viel zu ahnungslos mit uns umgehen und unseren Kräften zu sehr vertrauen. Hätte unser Held das alles zuvor schon auf sich zukommen sehen, er hätte sich gewiss anders verhalten. Nie sollen wir unseren Kräften und Fähigkeiten zu sehr vertrauen, zumal wenn wir um unsere eng begrenzte Selbstkontrolle wissen. Mag unserem Helden der Bienenstich noch eine Weile ins Herz stechen, damit so etwas nie wieder vorkommt!
Nachdem die Kinder ihre lange gehegten Wünsche an dich haben laut werden lassen und du gewiss vielen ihrer Wünsche nachgekommen bist, gestatte auch ich mir, liebes Christkind, ein paar Worte an dich zu richten. Du brauchst aber keine Angst zu haben, dass ich dich mit unerfüllbaren Wünschen plage, auch wenn diese bei den meisten meiner Zeitgenossen überhaupt nicht zur Auswahl stehen, da sie ganz selbstverständlich erfüllt sind. Ich will dir nur kurz berichten, wie es um mich steht, weil ich mitunter den Eindruck habe, als wärst du ob dem vielen Kinderverlangen gar nicht mehr in der Lage, auch noch die stillen Gedanken eines ratlos gewordenen Erwachsenen in Augenschein zu nehmen. O, ich finde den Glauben an dich rührend schön, ja der Welt fehlte etwas, wenn es keine Kinder mehr gäbe mit ihren Wünschen, und keine Jugend mehr, die Zeit hätte, den Glauben an dich zu erwecken. Was mich angeht, so gäbe ich etwas darum, dir wie ein Kind lobsingen zu können. Doch was soll ich singen, wo ich alt geworden bin und mein Weibchen schwer krank ist und die Welt um mich herum mich auch nicht gerade zum Singen einlädt? Mochte mir früher noch mein Weibchen als Gehilfin zur Seite gestanden und mit mir gesungen haben beim Lobpreis auf die Liebe, so sind diese Zeiten vorüber. Alles ist ja so schwierig geworden. Selbst ein Tässchen Kaffee vermag mir die Liebste nicht mehr zuzubereiten, und koch ich ihr einen, so hat sie Beschwerden beim Trinken. Wie oft sitz ich nicht allein bei Tisch und beende mein Essen wie ein Eremit oder wie ein Strafgefangener, da meinem Weibchen das Sitzen inzwischen zu schwer geworden ist und ich es längst wieder auf das Sofa habe legen müssen. Und wenn ich dann gegessen habe, räume ich alles hübsch ordentlich wieder ab: das Geschirr in die Küche, die kaum berührten Speisen aber ins Speisefach oder in den Keller. Natürlich wär ich stille, wär das schon alles. Doch was ist von früher noch geblieben? Was überhaupt können wir noch tun? Ist uns nicht selbst ein Schrittchen vor die Türe zu gehen kaum mehr möglich, selbst nicht mit dem besten Rollstuhl der Welt? Kaum hat der Tag seinen Anfang genommen, da muss ich mein Weibchen auch schon wieder aufs Sofa legen und dann zieht und schleppt sich der Tag so dahin, bis endlich auch der gottverdammte Abend wieder beginnt. Mögen das auch Kleinigkeiten und Harmlosigkeiten sein, doch wehe, wenn ihrer immer mehr werden. Auch Kleinigkeiten und Harmlosigkeiten können sich summieren.
In der Tat, was haben wir nicht bereits zu leiden gehabt und was türmt sich nicht immer noch an neuem Unheil über uns zusammen! Seit 30 Jahren begleitet uns nun schon diese Krankheit. Vorher konnten wir in unserer Freizeit noch wandern und Berge besteigen, konnten uns noch in Bergseen erfrischen und in Flüssen schwimmen, konnten noch paddeln und Rad fahren oder uns auch in den Schatten des Waldes zurückziehen, wenn es sehr heiß war. Und standen uns ein paar Tage im Winter zur Verfügung, so konnten wir rodeln und Ski fahren oder wir stapften durch den tiefen Schnee, um uns dann zuhause bei einem heißen Tee allerlei Lustiges und Winterliches zu erzählen. Alles das ist nach und nach abhandengekommen. Und während wir lernen mussten, bald auf dieses zu verzichten und bald auf jenes, schlichen sich neue und immer nochmals neue Erschwernisse und Hindernisse in unser Haus ein. Wenn es wenigstens Regeln gäbe und Abmachungen, so dass Gewohnheiten entstehen könnten! Wie es scheint, ist es inzwischen aber ausgemacht, dass wir täglich nur immer noch mit neuen Malaisen gequält werden. Ist nicht schon längst der Tag gekommen, der aus nichts anderem mehr besteht als aus einer dichten Abfolge von Anstrengungen, dass es gemein wäre, den Kranken danach zu fragen, was ihn noch außerhalb der Krankenpflege interessierte? Gefangen genommen und gezeichnet von dem auf ihm lastenden Schicksal bleibt ihm nicht einmal mehr die Freiheit, sich darein zu ergeben. Man wird also gut daran tun, sich darauf zu beschränken, dem Kranken seine Stunden zu erleichtern, hoffend, dass der Tag nicht zu schnell herbeikommt, wo man auch noch vor der Hoffnung auf die kleinste Erleichterung resigniert.
O, wie war das doch alles noch so anders, damals, als wir damit begonnen hatten, einen kleinen Weinberg für uns zu erwerben! Als wir begonnen hatten, ihn umzugraben und mit Rebstöcken zu bepflanzen und von der Ernte zu träumen. Auch an die Füchse hatten wir gedacht und Vorsorge getroffen, dass sie nicht nachts kämen, ihn zu verwüsten. So zu leben hatten wir uns vorgenommen, dass, wenn es einen guten, der Liebe zugewandten Gott gibt, er sich auch an uns ein wenig zu erfreuen vermöchte! Und liebten wir ihn damals nicht auch mit solch einer Inbrunst, dass es gar nicht anders sein konnte, als müsse es ihn geben? Eine solche Krankheit indes lässt vielleicht noch ein wenig Glauben zu an ein Gutes, kaum aber mehr eine Erfahrung. Dabei wären die zuhause zu besorgenden Arbeiten noch zu schaffen, kämen da nicht noch die Besuche hinzu bei unseren emsig Geld scheffelnden Ärzten. Einen Rollstuhl will der Zahnarzt in seiner Praxis nicht mehr sehen; trotz der guten Einnahmen könnte das die Atmosphäre im Wartezimmer vergiften; und, wer mag es wissen, ihm auch Mobiliar zerschlagen; drum hat er uns dringlich nahegelegt, doch einen anderen, uns näher gelegenen Zahnarzt aufzusuchen. Und von den Hausärzten rede ich jetzt lieber gar nicht. Einer wohnt ganz in der Nähe, der davon überzeugt ist, dass er gleich nach dem lieben Gott der wichtigste Mann ist auf dem weiten Erdenrund. Vollends die Besuche vonseiten der Sozial- und Pflegestationen sind eine ewig wiederkehrende Tortur. Trotz der immer wieder proklamierten Pflege von Schwerstkranken durch Familienangehörige, die sich freilich auch für den Staatshaushalt günstig auswirken, können es gewisse konfessionell gebundene Dienstleister nicht lassen, einen immerfort zu bereden, dass man zum Pflegedienst nicht tauge und dass man ihnen die Arbeit überlassen müsse. Zuerst sagen sie einem dies, als flössen sie von Mitleid und christlichem Erbarmen über; nützt das aber nichts und bekommen sie nicht den begehrten lukrativen Job, dann weigert man sich, eine korrekte und gesicherte Pflege zu unterschreiben. Ja, sie treiben es so lange mit ihrem Geschwätz, bis man wirklich selber mürbe und müde geworden ist. Von den Auseinandersetzungen und Querelen mit den Krankenkassen will ich nicht sprechen; es ist ein ewiger Krieg, der zwischen den Kassen und den Ärzten tobt, mit den Kranken zwischen den Fronten. Käme dann noch die Öffentlichkeit hinzu, mit den vielen neugierigen Gaffern, denen ein Kranker, zumal im Rollstuhl, ausgesetzt ist! O das strengt an, wenn man sich dauernd fragen muss, ob man den umherschweifenden Blicken ausweichen muss oder ob man ihnen standhalten kann. Als Kranker gehört man noch immer zu den Aussätzigen und Sündern, den streng zu Meidenden, auch noch in unserer aufgeklärten Zeit. Von den unerträglichen Demonstrationen des aufgepflanzten Mitleids will ich gar nicht sprechen. Aber selbst das Verhalten der meisten Verwandten und der Freunde ist strapaziös geworden! Wo man gern ein gutes Wörtchen hörte, herrscht zumeist Totenstille. Und wenn man etwas zu hören bekommt, sind es gute Ratschläge, denen man unbedingt nachkommen muss; etwa, dass ein deutliches sichtbares Abzeichen und Plakat für Schwerstbehinderte einem in christlicher Liebe überall Wege und Türe öffnete, ob man auch genug anderslautende Erfahrungen gemacht hat. Oder, wenn man ein wenig auf das eigene Los eines Pflegers verweist, der an den Pflegeort festgenagelt ist, ohne je einen Tag Ferien machen zu können: dass man sich nicht zu beklagen habe, da es noch andere gäbe, die es noch viel schlimmer hätten! Nicht viel besser nehmen sich die vielen Ratschläge aus, zu welchem Arzt man gehen solle oder welche Therapie durchzuführen sei.
Liebes Christkind! Muss ich dir sagen, dass der Mörder, wenn er sein ahnungsloses Opfer im Schlaf ermordet, nicht nur mit seinem Opfer den Schlaf ermordet wie ein Macbeth, sondern dass er ihm daneben auch noch alle die Hoffnungen raubt, vornehmlich die Hoffnung auf die Auferstehung? Doch genug der Jeremiaden! Nach der so getätigten Erleichterung kam er sich nun nämlich sehr klein und gemein und wehleidig vor, vornehmlich weil er bei der Betrachtung all des Elends seines Weibchens so viel an sich selber gedacht hatte. Hätte er nicht wenigstens mit seinem Weibchen beginnen können, mit ihren Leiden und Schmerzen? Was auch bedeuteten seine kleinen Dienste und Einschränkungen dem gegenüber? Dabei wusste sie sich in alles zu schicken, duldete alles und ertrug alles, ohne zu murren. Wiewohl kraftlos, besaß sie doch noch die Kraft, alles Ungemach herunterzuspielen, wiewohl von Schmerzen geplagt, wusste sie sich in alles zu schicken. Ja mehr noch! Eines ihrer Lieblingswörter, das sie noch immer fleißig benützte, lautete: "sehr gut!" Sie, auf der so viel Mühsal und Krankheit lastete, fand alles gut. Und er, dem kaum etwas fehlte, glaubte Grund zu haben, sich beklagen zu sollen?
"Ich hoffe, dass ich dich nicht enttäusche, wenn ich mich nicht so verhalte, wie du es gerne hättest!" hatte sie jüngst einmal zu ihm gesagt. Ah, wie sie ihn aufzumuntern sucht und wie es ihr doch gelingt, zumal wenn ihr Blick auf ihm ruht! "Sieh nur, wie vieles wir noch immer anzuerkennen vermögen! Und selbst, wenn wir hilflos wären wie ein Säugling und uns nichts mehr gelänge: können wir nicht noch morgens zum Fenster herausschauen auf die weite Wiese und teilnehmen an der schönen Natur? Was für ein Schauspiel, wenn ein Wintertag mit einem wolkenlosen Sonnaufgang beginnt! Ist es nicht wie beim Einschalten einer Reihe von Lichtern? Zuerst sehen wir den Gipfel des Kybfelsens erleuchtet; dann dringt das Licht schlagartig durch die Bäume am Eschbach und färbt sie rötlich braun und grün; und endlich dringen dann auch schon die ersten Streifen des Morgenlichts über die Wiese in unser Zimmer! Und sehen wir nicht die Berge, wie sie, bald von Wolken umhüllt, bald von Regen verhangen, bald auch wieder, wie sie die Häupter in den blauen Himmel erheben und den weiten Wiesenplan begrenzen? Waren wir nicht jüngst mit dabei, als der Schäfer noch einmal durch den Schnee mit seiner Herde vorbeikam? Haben wir da nicht den Lämmern zugeschaut, wie sie immer wieder zu ihren Müttern gerannt kamen, um rasch noch nach Milch zu stoßen? Und war es nicht vergnüglich, die älteren Herrschaften, die Herren Böcke zu studieren, wie sie gemächlich hinzutrabten und Ausschau hielten?"
Liebchen hat ja Recht. Dass nur nicht die Füchse kommen und uns unseren kleinen Weinberg vernichten! Und er glaubt den lieben Gott dasitzen zu sehen, den so unendlich langmütigen und geduldigen, wie er noch immer lächelt, trotz aller Ungeduld und törichten Schwäche unseres Helden.
Sagt mir, wenn ihr es wisst, was alles dem Menschen möglich ist! Nennt mir die Anstrengungen, die zu unternehmen sind, den einem bei weitem liebsten von allen Menschen aus den Banden des Todes zu befreien! Schildert mir die Leiden, die auf mich warten, ob ich sie nicht für ein Nichts erachte! Zeigt mir die Wege und Stege, und mögen sie auch an Abgründen vorbeiführen!
Zwar versuche ich, aus allem das Beste zu machen, so dass es manchmal fast gar so aussieht, als hätte sich alles so entwickeln müssen. Doch da sei Gott vor. Allein schon zu sagen "Mir fehlt nichts!" oder "Mir geht es gut!", ist unpassend und taktlos, wenn das Weibchen schwer leidet. Ja, wenn mein Weibchen leidet, finde ich es nicht gut, zur Zufriedenheit zu neigen. Zu sagen: "Mir geht's gut!" das hieße wohl gar noch, mit dem Elend der Krankheit einen gemeinen Handel abschließen. Immerhin kann ich gehen und stehen und essen und trinken und sprechen und schreiben: alles, was mein Schätzchen nicht mehr kann.
Vorgreifend dem Lauf der Zeit erschaudere ich, wenn ich daran denke, was unausweichlich auf uns zukommt, sofern nichts dagegen geschieht. Und dann höre ich schon die Leute, wie sie mir versichern, dass doch nun alles so gut und schön zu Ende gegangen sei. Mag nämlich auch der Tod zum allgemeinen Menschenlos gehören, jede Beerdigung kommt mir vor wie die Inszenierung eines zu vertuschenden Skandals und jeder Friedhof wie ein Ort, wo es passend zu sein scheint, sich vor der Gemeinheit gewisser Mächte zu verleugnen und zu verbergen. Und so sind es ebendieselben Leute, aus deren Mund wir vernehmen, dass der Verstorbene doch nicht nur ein schönes Leben gehabt habe, sondern auch einen schönen Tod. Ein schönes Leben gehabt zu haben scheint für sie das Beste zu sein, was ein Menschenleben bietet. Das Zweitbeste für sie ist aber ein schöner, und das heißt, ein möglichst schneller und schmerzloser Tod.
Über die Jahrtausende hinweg treffen wir indessen auf Helden und Heroen, denen es unbegreiflich gewesen wäre, etwas zu erleben, wenn man ein Leben lang nichts als ein schönes Leben geführt hätte. Damals war die Zeit, wo man sich abmühte, das Leben mit großen erzählenswerten Taten zu schmücken, wie es ihnen Götter vorgemacht hatten. In ihnen feierte man gleichsam die dem Menschen mögliche Unsterblichkeit. Und sind nicht auch schon unsere Ureltern aus dem Paradies ausgezogen, nicht weil sie der Engel daraus vertrieben hätte, sondern weil ihnen dort das Leben zu erlebnisarm und langweilig geworden? Dass der Tod dann fortan zum allgemeinen Menschenlos gehörte, gedachten sie nicht kampflos hinzunehmen. Und so suchten sie nach der Speise, die ihnen die gewünschte Verjüngung brächte, oder sie suchten nach einem Aufstieg in den Himmel oder auch nach den Toren in die Unterwelt, um von dort den Keim des Lebens heraufzuschaffen. Was immer sie aber auch versuchten, es blieb alles erfolglos. Nur Dämonen scheuchten sie auf, die ihnen nachsetzten und sie verfolgten, weil sie verbotene Wege gegangen. Und doch: rauscht und braust nicht auch in uns noch immer etwas von jenem Blut, das den alten Gilgamesch durchrauschte und durchbrauste, und das ihn durch die weite Welt trieb? Und ob wir auch wissen, dass jener Gilgamesch nichts weiter zustande gebracht hat, als dass er den alten Chumbaba ermordete, wo er hätte opfern sollen, und dass er sich dann abhärmte, als er den Freund verloren: so ist mir doch, als könnte ich für meine Liebste noch etwas erreichen, wenn ich nur nicht nachlasse, das gewaltige Werk zu versuchen.
Jeden Morgen, wenn ich erwache und ich mich umsehe, bis ich wieder alle meine Sinne beieinander habe, und wenn ich dann, während ich mich so ausrichte und bedenke, dass ein neuer Tag begonnen hat und was an demselben getan werden kann, und ich dann mein Weibchen aus dem Bett geholt und für den kommenden Tag vorbereitet habe, wenn dann das Frühstück gerichtet und eingenommen ist, wenn ich dann das Geschirr in die Küche zurückgetragen und das Weibchen in einem Stuhl zurechtgesetzt und mit etwas Lektüre versorgt habe, und wenn ich mich dann endlich, schon etwas müde, die Treppe hinauf schleppe, in die Gemächer des Geistes, zu sehen, was mir noch gelingen mag und sei es auch nur ein einziger, leise vor sich hin tönender, um Hilfe flehender Satz: dann ist mir, als eröffnete sich vor mir das Tal Josaphat wie ein vom Sommer verabschiedetes, lange schon abgeerntetes, dürr gewordenes Tal, von dem man nicht glauben mag, dass hier die Sonne einmal stille gestanden, während jetzt nur noch der Wind die letzten Distelköpfe durchs Tal jagt.
Schon lange haben wir nicht mehr zusammen erfahren, was einem ein Baum alles zu bedeuten vermag, wenn man sich unter einem glühend heißen Himmel auf Wanderschaft befindet und nach einem Schattenplatz Ausschau hält, um dort Rast zu halten. Zu früh wurde mein Weibchen krank, fast noch in der Blüte ihrer Jugend, zu früh, als dass wir uns noch gemeinsam auf Wanderschaft begeben konnten. Nur daran erinnert wurden wir, als Schwager und Schwägerin jüngst von ihren Wanderungen durch Spanien berichteten. Zumal, seit sie als Pensionäre Gefallen daran gefunden haben, auf alten Pilgerwegen entlang zu gehen und sie dabei manch einen Baum mit ihrem Foto festgehalten haben , wissen wir, dass es sie noch immer gibt, diese uralten Marken und Wegweiser auf den Wegen der Wanderschaft: große, hoch aufragende Bäume mit festem Stamm, vor allem aber mit einem prächtig weiten, geschlossenen Blätterdach, Korkeichen und Feigenbäume zumeist, die einem ein Obdach bieten.
Wenn du da zum Beispiel dahinziehst durch die unendlichen Weiten der Sierra Morena und der Estremadura, seit dem Morgengrauen, als noch ein feiner Morgennebel die Welt einhüllte, bist du bereits unterwegs, sechs oder sieben Stunden, und nichts ist mehr um dich, soweit das Auge reicht, als Hitze, Hitze über dem Weg, Hitze über dem verdorrten Gras und Hitze über den kargen Feldern, Hitze in der nächsten Nähe und Hitze bis in die fernsten Fernen des Horizontes, Hitze, nichts als Hitze, wohin auch immer das Auge schaut, bis hinauf zur Sonne, die aus wolkenlosem Himmel ihre sengend heißen Strahlen herniederschiesst: dann gehst du dahin und hältst zugleich immer auch Ausschau, ob nicht irgendwo ein dunkles Pünktchen am Horizont zu sehen ist, in dem sich dir beim Näherkommen die Gestalt eines Baumes zeigt. Wenn du nun aber ein solches Pünktchen entdeckt zu haben glaubst, so gilt doch noch immer, die Freude in Maßen zu halten. Wie oft kommt es nicht vor, dass wir zu sehen glauben, wonach wir verlangen, weil ein Bild davon lebendig in uns wohnt, ohne dass wir uns dem Erhofften auch nur um ein Schrittchen näher bringen! Leicht ja geschieht es gerade in der flimmernd flirrenden Hitze, dass du einen Baum zu sehen glaubst, hübsch mit einem Schatten ausgestattet und umgeben vom herrlichsten Gewässer, während nichts dort ist als heiße Luft, die dieses täuschende Spiel der Wellen und Linien erzeugt. Wie anstrengend, den Trug von der Wahrheit zu scheiden, wie anstrengend, sich einzugestehen, wenn man glaubte, das sichere Ziel vor Augen zu haben, sich getäuscht zu haben! Und doch lernst du es auch noch mit der Zeit, die wahren Bäume mit ihren Schatten von den Trugbildern der Bäche zu unterscheiden. Und vielleicht lernst du es auch, dich ihnen zu zeigen und mit ihnen vertraut zu werden, so dass sie dich ihrerseits kennen und sie dich schon aus der Ferne auf sich aufmerksam machen. Warum auch sollten nicht auch die Bäume sehen, wenn ein Wanderer in der Ferne auftaucht, den es nach einem Schattenplatz verlangt! Warum sollte ihnen das Vermögen fehlen, ihm zuzulächeln, wenn sie sehen, dass ihn nach einem Schattenplatz verlangt. Hast du nun aber endlich den dir vorbestimmten Baum entdeckt und hat dieser dich entdeckt, so gilt es nur noch, den Zwischenraum zu überwinden. Mühsam ist es und süß zugleich, wenn das Auge und der Geist bereits bei ihm weilen und nun nur noch der Körper nachzubringen ist! Mögen es auch noch einige Kilometer sein, die dich von ihm trennen, so kann dich nun nichts mehr von deinem Ziel trennen.
Hast du dann vollends den Baum erreicht und unter seinem Schatten Platz genommen, so ist plötzlich ein Lüftchen um dich, ein angenehm erfrischendes, alle Hitze milderndes, die aufgeregten Sinne entspannendes Lüftchen. Du weißt nicht, woher der Baum die Luft und die Kühle nimmt. Doch du musst es auch nicht wissen. Dir genügt, die Blätter zu sehen, wie sie sich leise bewegen. Als hätte der Baum dich verstanden, hört er nicht auf, dir erfrischende Kühle zuzuwehen. Und wenn du dann nach kurzer Stärkung die Arme reckst und die Füße ausstreckst und du daliegst, den Rücken auf der Erde: dann ist dir, als beginne er damit, dir Patriarchenluft zuzufächeln. Unter solch einem Baum mag Abraham einst mit seinen Herden Zuflucht gefunden haben; unter solch einem Baum mag er auch jene Gottheiten angetroffen haben, die er dann zu sich nach Haus einlud, wo sie ihm die Geburt eines Sohnes prophezeiten; unter solch einem Baum mag sich Jakob, der Gottesstreiter, zur Ruhe gelegt haben, als sich ihm der Weg zwischen Himmel und Erde über eine Leiter erschloss. Unter solch einem Baum mag endlich auch Jesus seinen Jüngern vom Anbruch des Reiches Gottes und das Gleichnis vom Feigenbaum erzählt haben. Ihr Bäume, die ihr Schatten und Zuflucht spendet, Leben und Einsicht, Hoffnung und Sicherheit! Haltet Ausschau, dass euch findet, wer nach euch sucht! Lächelt uns zu, wenn wir müde und niedergeschlagen dabei sind, den Weg zu euch aufzugeben! Lächelt uns zu, dass wir in froher Hoffnung auf euch zukommen, um dann gestärkt und fröhlich weiterzuziehen!
Flügelross und Himmelswagen
seien keinem je verwehrt,
der in gut´ und bösen Tagen
Gott auf seinem Thron verehrt!
Wer nie sein Brot in Tränen aß, der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte, heißt es im Lied des Harfners. Elija konnte ein Lied davon singen. Er kannte die himmlischen Mächte. Und das nicht nur so gelegentlich und nebenbei. Er brauchte keinen Misserfolg, um an die himmlischen Mächte gemahnt zu werden. Von Hunger und Durst, von Prüfungen und Misserfolgen, von Niederlagen und Verfolgungen war er stets umgeben. Als Jugendlicher hatte er sich für den Dienst als Prophet entschieden oder, besser gesagt, hatte sich der Herr für ihn entschieden. Nach dieser Entscheidung oder Berufung hatte Elija mit besonderem Eifer an sich zu arbeiten begonnen. Ohne Unterlass und unbeirrt, besessen nur von seiner Berufung hatte er darum gerungen, seine Talente zum Vorschein zu bringen. Mit wenig auszukommen, wenig zu essen, wenig zu trinken, wenig zu schlafen, das war das Eine; dann aber verlangte er von sich auch Ausdauer und Geduld und Selbstbeherrschung. Am wichtigsten aber war, haargenau und unverfälscht, das Wort Gottes zu sagen, wann immer ihm eines anvertraut wurde. Angesichts der vor ihm liegenden gewaltigen Aufgaben musste er wissen, was er vermochte und von sich abzuverlangen hatte, bis dahin, wo ihm der Herr aufhelfen musste. Schrecklich war ihm die Vorstellung, Gott, seinen Herrn, um Hilfe zu ersuchen, wo er aus eigener Kraft fähig war. Nun schrecklicher aber die Vorstellung, aus eigener Kraft unfähig zu sein, wenn er es versäumt hätte, sich fähig zu machen. Wo aber lag die Grenze des ihm Möglichen? Niemals durfte er als gemeiner und fauler Knecht vor ihm erscheinen. Von daher musste er all seiner Stärke und Kraft einsichtig sein, vor allem aber auch all seiner Schwäche und Begrenztheit, ob er sie auch nie und nimmer glaubte anerkennen zu dürfen. Was auch bedeutete das, was er zu leisten vermochte, angesichts einer Unermesslichkeit, die ihn umgab? Und wenn er auch noch so wortgewaltig zu reden vermochte, dass man ihn bis nach Damaskus hinab und noch im fernen Sidon hörte, so war es doch nichts angesichts der Aufgaben, für die er sich berufen glaubte. Endlich, nach mühevollen Kämpfen der Vorbereitung war er vor den Herrn getreten und hatte zu ihm gesprochen: "Schau nicht auf mich, der ich nichts bin vor dir, wenn nicht dein heiliger Eifer mich beseelt. Schau nicht auf mich, der ich stumm bin, wenn nicht deine Sprachgewalt mich begeistert. Schau nicht auf mich, der ich nichts zu bewegen vermag ohne die Kraft deiner Leidenschaft! Mit glühender Kohle reinige mein Herz!" Es war ihm da nicht um schönklingende Worte gegangen. Ernst war ihm dabei gewesen, als er so sprach. Besessen von seinem Auftrag, die Welt für seinen Gott zu durchstürmen, zu erobern und zu gewinnen, wusste er, dass niemals genug sein konnte, was immer er auch besaß an Talenten des Geistes und der Kraft. Und wenn es ihm auch gelänge, Städte und Länder zu besiegen und Könige in Ketten gefangen davon zu führen, und wenn er den Tempel des Herrn so heiligte und verherrlichte, dass die Nationen von überall herbeikämen, dem Gott auf dem Zion zu huldigen, so wusste er, dass damit noch immer kaum etwas getan war. Nun aber, wie über Nacht, war aus dem Prophetenschüler ein alter Prophet geworden. Aufgerieben und verausgabt hatte er sich und hatte, wie er sich selber gestehen musste, kaum etwas erreicht. Ratlos war er, wenn er jetzt zurückschaute. Inwiefern hatte er dem Ewigen, dem Unsterblichen, dem Gott des Alls gedient, wenn er auch nicht eines von seinen Zielen erreicht hatte? Doch nicht genug, dass er an sich zu zweifeln begann! Auch sein Gott schien an ihm Zweifel zu hegen. Je mehr Elija erkannte, wie wenig ihm gelungen war, umso ferner rückte ihm Gott. Hatte dieser ihm anfangs noch geholfen, um ihn dann fallen zu lassen? Oder waren die Aufgaben, von denen er geträumt hatte, Versuchungen gewesen? Alles Große und Erhabene erschien ihm plötzlich wie etwas Rätselhaftes, nicht näher Bestimmbares. Jawohl, er hatte sein Ziel aus den Augen verloren. Er konnte nicht mehr. Erschüttert und irre an sich selbst, machte er sich auf den Weg, hinaus in die Wüste. Gehen, ohne zu fragen, wohin; Gehen, weil man seine Bestimmung verloren hat; Gehen, bis man nicht mehr kann, bis man niederfällt und sich daliegen sieht. Dort, in der Wüste, gedachte er zu sterben. Unter einen Ginsterbusch wollte er sich niederlegen und abwarten, bis der Tod kommt.
Gut und schön und beruhigend ist es wahrlich, wenn, wie wir lesen, dass ein feuriger Wagen mit feurigen Rossen ihm Hilfe brachte. Gut und schön und beruhigend ist es wahrlich auch, wenn ein Engel an uns denkt, uns nach Haus zu bringen. Dass wir uns nur nie einfallen lassen, dass kein Engel mehr da sein könnte, mögen wir auch einsehen, dass wir, allen Anstrengungen zum Trotz, die Aufgabe des Lebens nicht gelöst haben.
Den Mantel hatte er ausgezogen,
der ihn noch mit der Welt verband,
die ihn so schnöd, so bös betrogen,
eh dass er ihrem Blick entschwand.
Schön ist es, wenn man allezeit weiß, was man tun soll und tun kann. Was aber soll man tun an dem Tag, an dem man es nicht mehr weiß? Gewiss, noch wehren wir uns, uns als Müde-gewordene oder gar als Ohnmächtige zu begreifen. Doch die Stunde kommt, sie kommt auf uns zu, wie in Windeseile kommt sie auf uns zu. Mütterchen hat Mühe beim Essen und nichts will ihr mehr schmecken. Die Augen suchen angestrengt in immer weiter entrückenden Fernen. Als lebte auch schon in uns eine Sehnsucht, tot zu sein, winken an heißen Sommersonntagen die Asphodeloswiesen mit ihren taugrünen Ufern frisch und schattenbietend zu uns herüber.
Nun aber sehe ich aus der Tiefe des Horizontes, eben während das Dunkel der Nacht sich im Morgendämmer auflöst, meine Mutter heraufsteigen und auf uns zukommen. Und so, als hätte sie sich nur gut ausgeruht und es wäre weiter nichts geschehen, sehe ich sie bei uns Einkehr halten und das Tagewerk aufnehmen wie einst. Vom Tisch nimmt sie das Tischtuch mitsamt der silbernen Vase, die sie zur Hochzeit bekommen; dann legt sie ein neues Tischtuch auf, auf welches sie die Vase zurück stellt. Soll ich dir helfen, Mutter, frag ich, während sie sich daran macht, für uns das Frühstück aufzutragen. Doch sie schüttelt den Kopf. Nimm nur dein Mütterchen und ruh dich noch ein wenig bei ihr aus, scheint sie zu sagen, indem sie auf den Sessel zeigt. So nehme ich denn mit Mütterchen Platz und schaue ihr zu, was sie uns Gutes zum Frühstück bereitet.
"Du sollst Schabernack und Mutwillen treiben, du sollst närrisch sein und fröhlicher als ein Zaunkönig zwitschern!" So spreche ich immer wieder einmal zu mir, mich zur Ermahnung an beiden Ohren nehmend. Oder meint ihr, meinem Weibchen würde wohler werden, wenn ich damit begänne, als stummer Hans mit leichenschwerem Kopf durchs Haus zu schleichen, als wären wir schon angekommen, da drunten im Hades? Lasst mich nur meine Lektionen durchgehen, wie ich sie für uns ausgedacht habe, wann immer es mich überkommt! Lasst mich nur des Lebens Käsperchen spielen, wann immer die Aufgabe mich ruft! Es wird schon nichts schief gehen. Sollte es mir dabei aber einmal zu wohl werden, so lass ich es euch wissen.
Natürlich kann nicht sein, dass wir Wein nur dann ausgehändigt bekommen, wenn wir zuvor ein von uns verfertigtes Weinliedchen zum Besten gegeben haben. Die Winzer müssten sonst ja verhungern und die Menschheit verdursten. Und doch beschleicht einen eine sanfte Trauer, wenn man bedenkt, wie viel erstklassiger Wein getrunken wird, ohne dass dabei mehr geschieht, als dass Mund, Zunge und Kehle feucht werden, allenfalls dass man sich wohlfühlt, wenn man in erlauchtem Kreis mit dabei sein darf. Schade um den schönen Wein möchte man da beinahe ausrufen! Um wie viel besser ist es nicht, sich ein Schlückchen in einer gemeinsamen Stunde mit Liebchen zu genehmigen! Ich erinnere mich an ein Liedchen aus dem Buch der Schenke von Goethe, das mir einst sogar ein Tränchen aus dem Auge gelockt hat. Er singt dort und sagt:
Denn meine Meinung ist
Nicht übertrieben:
Wenn man nicht trinken kann,
Soll man nicht lieben;
Doch sollt ihr Trinker euch
Nicht besser dünken:
Wenn man nicht lieben kann,
Soll man nicht trinken.
Aus tiefster Seele stimmte ich ihm bei, wobei ich mich damals schon fragte, wer denn von sich behaupten kann, er könne lieben. Und so dichtete ich damals getreu meinen bereits altersgrauen Schläfen die folgende kleine Gegenstrophe:
Doch wer darf trinken, frag ich, wer, wer kann es?
So frag ich Überbleibsel eines Mannes.
Den Mund zu öffnen fiel mir niemals schwer.
Liebchen zu lieben war stets mein Begehr.
Dabei hat unser Altmeister vornehmlich auch das Lieddichten im Sinn, wenn er vom Lieben spricht, wie er an benachbarter Stelle verrät. Doch wollte er wohl niemandem zu nahe treten, dass, wenn man nicht dichten kann, man auch nicht trinken solle. Da genügt wohl, dass man des Dichters Liedchen singt. Zum Dichten hatte man ja doch ihn, den Meister der Lieder und Gesänge. Obiges Liedstück verweilt im Übrigen ganz in der Gedankenwelt Luthers, wenn auch die Singweise etwas verfeinerter und gehobener daherkommt.
Zum Glück bleibt die Freude des Trinkens nicht auf die Reichen beschränkt. So sah es auch schon Plautus vor weit über 2000 Jahren. Oder hat er uns kein herrliches Tableau hinterlassen mit den beiden Sklaven Sagarin und Stichus und der Sklavin Stephanium, wenn sie zum Bankett schreiten? Als ich meinem Weibchen die köstliche Szene dieses Banketts vorgelesen hatte, zumal mit dem altgriechischen Liedchen: "Trink fünf, trink drei, doch niemals vier!", die auch im lateinischen Text auf Griechisch stehen, packte mich die Lust, es auch mal wieder mit einem Weinliedchen zu versuchen. Ich schrieb also die griechische Zeile ab, worauf mir dann nur so weitere Ströphchen zuflogen, fast als hätten die Weinmusen nur darauf gewartet, mir zu Diensten zu sein. Und wenn auch mein Weibchen nicht mehr mit mir anstoßen und trinken kann - ich kann ihr nur noch etwas die Zunge befeuchten -, so war doch sie es stets, die großen Wert darauf legte, dass auch die letzten drei Tröpfchen als kostbarer Rest nicht in einer Flasche verblieben. Stets war es eine wundervolle heilige Andacht, wenn wir auch noch den letzten drei Tröpfchen in der Flasche zu Leibe rückten. "Dem Lümpchen das Stümpchen!" würde hier Sancho sagen oder "wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert!", Sancho, der ja von Weinbauern abstammen soll und dem Wein ebenso zugesprochen hat wie der Benutzung unendlich vieler Sprichwörter. Mütterchen aber verband mit diesen letzten Tröpfchen wohl noch etwas anderes: Gottesliebe, Gattenliebe, Kinderliebe, wie es auch im französisch-sprachigen Raum bekannt und geläufig ist: les dernieres gouttes, les gouttes d´amour.
Nach einem knappen Stündchen war dann das Liedchen fertig, fast so schnell wie das Trinklied des Musensohns in Raimunds Bauer als Millionär. Hier ist nun also mein Liedchen!
Herr Wirt, geschöpft vom alten Wein
und hergebracht, verschenket!
Freund Bacchus soll willkommen sein,
der unsre Seelen tränket.
Hübsch ordentlich tun wir Bescheid
nach Vorschrift und Befehle.
Kein Maul steh auf sperrangelweit
nackt offen bis zur Kehle!
Trink fünf, dann drei, doch niemals vier,
das wussten schon die Griechen.
Herr Wirt! Mariechen ist nicht hier!
Wo bleibt nur mein Mariechen?
Je leerer dir dein Fläschchen wird,
je höher musst du´s heben.
Wo bleibt Mariechen nur, Herr Wirt?
Herbei! Hoch soll sie leben!
Und sind nur noch drei Tröpfchen drin,
auch nur drei letzte Tröpfchen,
Kostbares bleib uns nicht im Sinn,
muss aus dem Denkerköpfchen.
Steht dann der Weinkrug auf dem Kopf,
wär nichts mehr zu bedenken,
als dass auch einem armen Tropf
man mal was sollt´ einschenken.
Kennt auch Mariechen uns nicht mehr,
von uns nichts mehr will wissen,
so rufen wir ein neues her
zu uns aufs Ruhekissen.
Und da ein Liedchen allein sich einsam fühlt, so haben wir gleich noch ein Zweites verfertigt. Und wenn es sich wohl auch etwas didaktischer und damit auch etwas für die Wein- und Singzunge schwerfälliger und in einer anderen Tonart voran bewegt, so mögen sich beide bei der Hand fassen und zusammen aufmarschieren.
Du weißt nicht, Menschlein, wer du bist,
doch musst du´s auch nicht wissen,
Denn was zutiefst Geheimnis ist
beschwert nur das Gewissen.
Erkenn dich selbst; das heißt lass sein,
dich selber zu erkennen!
Schenk lieber süßen Wein dir ein,
lass süß ins Maul ihn rennen.
Nie steh der Weinkrug leer vor dir,
Und schaust du in den Spiegel,
zeig sich dir nie ein wildes Tier,
gemacht für Schloss und Riegel.
Nimm lieber Liebchen an die Brust,
mit Liebchen dich zu laben,
denn nur in Liebchens Lebenslust
kannst du recht lieb dich haben.
Nun aber drängte es mich, zu den beiden Liedchen auch noch ein passendes Fläschchen aus dem Keller zu holen. Und da ich nicht klein von mir denken will, so mag es nun auch nichts Geringes sein. Bei Licht besehen war dann das Fläschchen ein 10 Jahre altes, wohlgelagertes Gewächs der Gran Reserva aus Spanien, dass ich fast selber etwas Angst bekam vor meinem heldenhaften Ungestüm. Im Unterschied zum Dichter, der ja in seinem Eilferlied darauf hinweist, dass Freunde von ihm sich den Genuss des Eilfers vom Munde absparen, um ihn dem Dichter darzureichen, auf dass er trinke, sei es zum Preis des Weines, sei es, um dann noch manch ein anderes Liedchen von der Wein und Lied geübten Zunge zu vernehmen, versuch ich mich mit meinem Weibchen und mit unserem Eilfer, genau 200 Jahre nach Goethes Eilfer. Manchmal klappt es ja auch. Wenn es aber nicht mehr so recht klappen will mit dem Trinken, weinen wir deshalb auch nicht. Immerhin haben wir ja noch den Weinkeller unserer allerbesten Küsse.
Jede Woche einmal den Briefkasten leeren! So steht es in der Hausordnung und daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern. Sollte aber einmal ein Briefchen von Tochter Annette im Kasten sein, so lässt sie es mich wissen, damit ich die berühmte Ausnahme von der Regel mache. Um indes die Spreu vom Weizen zu trennen, d.h. um die vielgeliebten Rechnungen wie Handwerkerrechnungen und Arztrechnungen und Versicherungsschreiben mit all ihren Gaunereien und Erpressungen zu sondieren, muss ein Tag in der Woche genügen. Einmal überlegte ich mir schon, ob ich mir die Zeitungen und Reklamesachen, die das Aussortieren gewaltig in die Länge ziehen, ein für alle Mal verbeten solle. Doch warum auch. Diese Träger haben es auch nicht leicht. Und wenn sie jeweils im Fünferpack ihre Zeitung bei uns loswerden, so soll es auch recht sein. Manchmal freilich, wenn du dem Töchterchen der Nachbarn zuschaust, wie es mit besonderem, täglich wiederkehrendem Zeremoniell den Briefkasten öffnet und nach der Post sieht, ertappst du dich plötzlich in der Erinnerung, wie auch du schon andere Tage erlebt hast. Das liegt ja noch gar nicht so lange zurück, als du in regem Briefaustausch mit deinem Verleger gestanden; als du noch an einen Verleger Heckenast dachtest oder an einen Mäzen wie den Grafen von Lemos und an die vielen anderen Verleger und Mäzene, denen du in deiner verträumten Romantik deinen Verleger zur Seite gestellt hast. Wenn jetzt aber noch Post kommt von deinem alten Verleger, so weißt du, dass es sich nur noch um nüchterne Drucksachen handelt, wie sie jedermann zugeschickt bekommt, in dem man einen potentiellen Käufer sieht. Und doch! Sollte sich nicht doch noch einmal in die Flut von Post, die in deinen Briefkasten hinein geworfen wird, ein echter Brief verirren? Wie, wenn da jemand von dir gehört und etwas gelesen hat, und er hat es seinen Freunden weitererzählt, und von denen kennt zufällig einer einen Verleger, der es ernst meint mit der Literatur und der nicht nur auf das Geschäft achtet? Und dieser Verleger würde nun gleichfalls die Probe machen und er würde deine Literatur als kernig und wunderbar entdecken? Und nun würde er an dich herantreten mit der Frage, ob du nicht die Güte hättest, ihm für seinen Verlag etwas aus deiner Zauberfeder darzureichen? "Mein Herr", so würde er dir eigenhändig schreiben, "ich habe jüngst die Gelegenheit gehabt, ein Prosastück von Ihnen kennen zu lernen. Ich glaube mich zu entsinnen, dass Sie es mit dem Titel "Spleen" versehen haben, und ich muss Ihnen sagen, ich war davon beeindruckt. Einer meiner engsten Vertrauten, die ich als Literatur-Agenten in alle Welt hinausschicke, unbekannte talentierte Autoren aufzustöbern, hatte es mir mitgebracht und mir vorgelesen. Jawohl, ich muss Ihnen sagen, sogleich war ich hell begeistert. Doch nicht nur das. Zugleich auch war ich zutiefst in meiner Eigenschaft als Verleger berührt. Es darf ja doch nicht sein, dass ein Talent unter uns weilt und keiner ist da, der es wahrnimmt! Es darf ja doch nicht wahr sein, dass auch nur ein Span, ja dass nur eine Molekül von etwas Gutem verloren geht! Mag auch das Schicksal sich selbstherrlich gebärden und die Natur verschwenderisch umgehen mit allem Samen: uns Menschen ziemt nicht, auch nur einen Keim des Guten achtlos bei Seite zu lassen. Selbst schon gute Vorsätze sollten wir achten und hegen, auf dass sie einmal schöne Früchte bringen, um wie viel mehr aber die schönen Früchte unserer lieben deutschen Sprache, die nur noch gepflückt und angeboten und verzehrt werden wollen? Soll Gutes verkommen und verfaulen? Nimmermehr. Deshalb bitte ich Sie ganz herzlich ..."
Doch nein, mein Freund! Solcher Träumereien sind nichts als Versuchungen, deren du dich getrost entschlagen darfst. Und mag es auch von ausbündiger Phantasie zeugen, von besonderer Lebensweisheit zeugt es nicht, als du jüngst dir ausmaltest, nachdem deine Diskette mit den zweifellos feinst geschriebenen Sätzen der Dichtkunst ihr Ziel verfehlte und nicht dort ankam, wo du wolltest, ein Dieb könnte dein Werk abgefischt haben und würde es nun als sein eigenes Werk einem Verleger feilbieten. Jedes Kind weiß doch, wohin ein dem Postweg entzogener Brief gelangt, wenn er von allen, ihn beschwerenden Geldscheinen befreit ist! O mein Freund! Mit dem Schreiben ist es wie mit dem Leben. Um es gut zu bestehen braucht man einen gehörigen Schwung, eine gehörige Begeisterung, eine jugendliche Frische und Freude, einen Drang und einen Eifer, bis einem alles schön vollendet und fertig vor Augen liegt. Man braucht darüber hinaus aber auch noch eine Erwartung, einen kleinen Spleen, der einen lachen macht, wenn man sich an ihn erinnert. Nur wenn man über eine solide Ausgelassenheit, eine bodenständige Wurstigkeit, eine unverwüstliche Gleichgültigkeit und Narretei verfügt, wenn man mithin nie vergisst, dass man sich hübsch artig in den Schranken des absurden Theaters bewegt, darf man sich auch auf Onkel und Tante, auf Freunde und Verwandte, auf Kollegen und Nachbarn freuen und es sich ausmalen, wie sie daherkommen, das neugeborene Kindlein der Literatur zu bestaunen. Noch besser aber ist, man richtet sich von vorn herein darauf ein, dass man in einer Welt lebt, in der niemand auf einen wartet. Im Alter muss man es wirklich nicht mehr zu den Enttäuschungen des Lebens rechnen, dass keiner kommt, einem zu beweisen, dass man eine wundervolle Erscheinung ist. Und bleibt einem dann nicht umso mehr Freiheit, sich noch ein wenig zu bessern?
Ich mache kein Hehl daraus: den Cäsar habe ich schon immer beneidet und werde ihn wohl auch weiterhin beneiden, es sei denn, es geschähe ein Wunder und ich fände mich selber als Gaius Julius Cäsar wieder. Freilich machte ich dann ganz schnell Schluss damit, umgeben von Peitschen gedrillten Soldaten, hoch zu Ross wie der römische Mars, mich in männermordenden Schlachten auszutoben. Kriege brauchte ich keine mehr, um mich hervorzutun, noch auch Feinde, um sie niederzustechen. An Feinden hat es nebenbei auch hier in unseren friedliebenden Gauen keinen Mangel. Dem Vercingetorix indessen schickte ich eine Postkarte nach Gallien, er möge verschwinden, und einen Arminius als Rebell und Aufrührer jenseits des Rheins oder einen wildgewordenen Cloten auf den britischen Inseln ließ ich wissen, dass in Rom schon in Bälde der Posten eines Pontifex maximus frei würde, um den sie sich bewerben könnten. Nirgends müsste einer sich umsehen, ob ich nicht von irgendwoher käme, ihm sein kleines Herzogtum streitig zu machen.
Gesetzt, ich wäre Cäsar, so stünden mir jetzt vielmehr ein Dutzend Sekretäre zur Verfügung, wie sie den aus der Historie bekannten Helden überall umgeben haben: in jeder Hinsicht wohlausgebildete und durchtrainierte, loyal ergebene, junge Männer, die keine andere Lebenslust kennen, als einem in jeglicher Hinsicht immerfort zu Diensten zu sein. Um aber mein Cäsarentum noch ganz besonders zu vergolden, hätte meine Mutter Venus mir die wohlverdiente Gnade verliehen, sie nicht als störende Hilfskörper um mich herum zu haben, vielmehr sie aus dem Unsichtbaren hervorzuholen, wann immer ich sie brauchte, um sie dann nach getaner Arbeit dorthin zurück zu versetzen. Säße ich da z.B. beim Frühstück, wie eben jetzt mit meinem kranken Weibchen, und ein lustiges Liedchen zöge uns durch den Sinn, und wir fragten uns dann, ob es wohl aus der Feder Shakespeares stammt oder aus einem Volkslied: so zauberte ich uns einen meiner arbeitshungrigen Sekretäre hervor, sagen wir den Sekretär Nr. 12, und schickte ihn aus, diese Frage zu klären.
Meine Liebste bezweifelt nun aber, ob das die Nummer 12 auch fertig bringt oder ob wir nicht, der Schwierigkeit der Fragestellung entsprechend, auf einen prominenteren Sekretär zurückzugreifen hätten. Doch meine ich, dass das Nr. 12 schon schaffen sollte. Und während ich auf die Reihe der Kommentarbücher verweise, die inzwischen auch im Internet stehen, sage ich zu ihr: "Dann würde ich ihn schlimmstenfalls anweisen, einen Lehrgang im Surfen zu besuchen." - Da wir nun aber schon einmal die Reihe der Sekretäre angesprochen haben und uns ein jeder von ihnen bereits aus dem Dunkel seiner Unsichtbarkeit heraus anschaut, seine Tagesordre entgegenzunehmen, so fahre ich fort, wobei ich unbestimmt lasse, ob ich noch zur Liebsten rede oder bereits zum Dutzend der befehlsgewärtigen Sekretäre: "Nr. 11", so sage ich also, "schicke ich aus zum Einkaufen und zur anschließenden Essenszubereitung. Nr. 10 zum Hausputz, wo der Staub schon meilendick liegt und die Fenster bald keinen Sonnenstrahl mehr durchlassen, Nr. 9 zum Reparieren der Steckdosen und Lichter, wozu ich mein Lebtag keine Lust habe. Nr. 8 erledigt mir die Post, ein kurzer pointiert witziger Brief an meinen Freund XY ist überfällig, zumal mir der nur mit ein paar glatten wohlfeilen Worten geantwortet hat. Nr. 7 macht mir die längst druckreife Publikation noch fertig, an der eigentlich nichts mehr fehlt als ein paar kleinere Scheißereien wie Formatierungen, Bildeinfügungen, Anmerkungen und Quellenangaben. Auch Autoren, die nicht im Buch vorkommen, soll er gleichwohl nicht vergessen, in der in der Bibliografie aufzulisten; das macht sich immer gut. Wissen wir doch, dass ein eitler Autor (und welcher Autor wäre nicht eitel?) stets zuerst danach sich umsieht, ob das Buch auch auf der Höhe der Zeit steht, das heißt, ob er selber auch fleißig zitiert worden. Nr. 6 umsorgt das Telefon, wo ich für die kommenden 7 Stunden nach Belieben zu verleugnen bin. Nr. 5 behalte ich mir vor zur Wartung des Computers und des Druckers. Denn wenn diese Geräte mitunter auch ihre Arbeit wieder aufnehmen, wenn man sie nur recht ordentlich ausgeschimpft und durchgeschüttelt hat, so sollte man sich doch nicht allzu sehr auf diese Methoden verlassen. Eine regelmäßige Sicherung der Texte wäre da ein unbedingter Bestandteil seiner Arbeit. Vielleicht würden sich dann auch die Alpträume verziehen, die mich nicht selten quälen, als würden im Speicher des Computers des Nachts die Texte gelöscht oder doch so verunstaltet, dass an eine Verbesserung nicht mehr zu denken wäre. Sodann wären noch die Sekretäre Nr. 4 und Nr. 3! Die müssten mich jetzt hinauf in mein Schreibzimmer tragen, auf dass ich nun endlich mit dem lange ersehnten Schreiben beginnen könnte; und wenn ich die Brille geputzt wünschte oder ein Schnupftuch brauchte, so stünden sie allzeit bereit.
Doch halt! Du hast ja Recht. Da wären dann noch die Nr. 1 und die Nr. 2. Sie, die den Ruhm am Himmel aller Sekretäre ausmachen, dürfen wir am allerwenigsten ohne ein, ihrer würdiges, Stück Arbeit lassen. Und so würde ich, während man mich die Treppe hinauftrüge, als wäre ich kein Geringerer als Thomas Mann, in altgewohnter Lässigkeit zu Nr. 2 sagen: "Du kennst doch die Schufte und Halsabschneider von Da-und-da." Nr. 2 wüsste selbstverständlich gleich, dass von nichts anderem die Rede wäre als von leidigen Handwerkern und Ärzten oder von den Kunstgriffen der gottverdammten Krankenkasse. Man kann ja nicht immer nur lachen, wenn man auf die Frage an einen Handwerker, warum er zwei Stunden Arbeitszeit berechne, wo er doch nur eine halbe Stunde dagewesen, zur Antwort bekommt, dass schließlich auch viel zu tun gewesen wäre; oder dass der Herr Doktor, wenn er eine nicht erbrachte Leistung abrechne, durchaus korrekt handle, da er ja auch die Putzfrau in seiner Praxis zu bezahlen habe, wie mich mein würdiger Mediziner-Schwager belehrt hat. Und so würde ich nun zu Nr. 2 sagen: "Schick der Krankenkasse die Unterlagen da, und mach ihnen Feuer unter dem Hintern. Und wehe, da untersteht sich einer, die Beträge nicht restlos zurückzuerstatten. Sodom und Gomorra. Sag ihnen, dass wir nicht mit uns spaßen lassen. Ja, sag ihnen, dass wir ihnen, wenn sie nicht prompt bezahlen, die 10. Legion auf den Hals schicken, dass ihnen Hören und Sehen vergeht."
"Nr. 1 aber, unseren allerletzten Sekretär, wollten wir uns vorbehalten und uns aufsparen für den Fall, dass es irgendwo zum Äußersten kommt", fuhr nun unser Held fort. "Zu welchem Zweck, das wissen wir selber noch nicht so ganz genau, und vermeiden es auch, uns genauere Gedanken darüber zu machen."
Hier nun wird unser Held etwas nachdenklich. Und auch seine Liebste - er hat ihren Kopf an seine Brust gedrückt - wird nachdenklich und stille. Das Leben ist gut, gewiss, aber wenn es sich einmal als überhaupt nicht mehr erträglich herausstellen sollte und man keinen Ausweg mehr sähe aus der Jammerhöhle, dann sollte Nr. 1 kommen und uns glaubhaft versichern, dass alles wieder gut würde, wenn wir auch schon alle Hoffnungen aufgegeben hätten.
Träumen wir nicht alle davon, einen Text zu erstellen, der wahr ist und der zugleich im Stande wäre, uns jederzeit mit einer neuen Botschaft zu erfreuen? Freilich müsste ich rot werden, wenn mir jetzt, nach diesem Beginn, jemand zuschaute, wie ich mich daran mache, eine Skizze zu verfertigen, mein Tagewerk betreffend. Selbst die Eichhörnchen, die im Vorgarten die herabgefallenen Haselnüsse aufsammeln und für den Winter vergraben, und die Vöglein beim Gartentor scheinen mir mehr zu tun bei ihrem Nahrung-Verstecken als ich. Vielleicht, dass sie den Vorbeikommenden drüber hinaus noch bedeuten, dass in diesem Haus nur mehr noch ein begrenztes, beschauliches Leben seinen Gang nimmt und dass hier wirklich weiter nichts mehr geschieht als die Besorgung des Allernötigsten. Wenn wir nun aber auch kein Tagewerk mehr anpeilen, wo man gespannt sein darf, was dabei herauskommt, so mag es uns doch gestattet sein, uns mit uns selber zu unterhalten, zumal wenn wir uns dabei bemühen, immer auch den für uns gültigen und rechten Ton zu finden. Ja, das Feld ist weit und wenn wir es trotz unseres fortgeschrittenen Alters noch immer nicht besser können, so mag man uns lächelnd verzeihen.
Ein Busfahrer äußerte sich jüngst unserer Tochter gegenüber, die zu einem Kurzbesuch nach Haus gekommen war und auf unser Haus hinwies, dieses Haus stehe leer, darin wohne niemand. Ja viele, die auf ihrem Verdauungsspaziergang bei uns vorbeikommen, mögen vor dem Tor stehen bleiben und sich fragen, was wir wohl so den lieben langen Tag in unserem Haus treiben. Und sie haben ja Recht. Nie wird hier eine Zeitung aus dem Briefkasten gezogen und nie ist jemand an einem Fenster oder hinter der Küchengardine zu sehen. Jüngst erst stellte unser Held fest, dass sein Personalausweis und der seines Weibchens stillschweigend abgelaufen waren, und zwar bereits seit einem halben Jahr. De jure gab es sie also bereits seit einem halben Jahr nicht mehr. Nur gut, dass das die Zahlstelle der Pensionsgehälter noch nicht bemerkt hat! Andererseits aber braucht unser Held ja eigentlich auch keinen Ausweis mehr. Oder etwa zum Milcheinkaufen? Auch ein Briefchen fand sich schon einmal im Briefkasten, mit der Anfrage, ob das Haus zum Verkauf ausstehe oder wann damit zu rechnen sei; der Garten vor allem sei wunderschön; man interessiere sich sehr dafür. Tatsache ist auf jeden Fall, dass hier nicht mehr viel getan wird, weder im Haus noch um das Haus herum und dass das Haus bis auf den wöchentlichen Lebensmitteleinkauf geschlossen bleibt.
Nein, hier wird wirklich nicht mehr viel getan. Mütterchen pflegen, gewiss: alle zwei Stunden Milch mit künstlicher Nahrung, beides zu gleichen Teilen, in den dafür geschaffenen Eingang oberhalb des Magens einflößen und die übrigen kleineren Pflegedienste vornehmen, sodann, wenn sie wach und aufnahmefähig ist, ihr etwas zur Unterhaltung anbieten, wohl wissend, dass dies das Wichtigste ist, was an Arbeiten ansteht. Doch was reden wir da von Arbeiten, wo wir bereits bei der Besorgung des Besten angelangt sind? Wenn es einen lieben Gott gibt, so schrieb unser Held jüngst in das Krankenbüchlein, so bitte ich ihn, dass er nie zulässt, dass ich in der Pflege meines Mütterchens versage. Zum Glück gibt es ja immer noch ein paar Stunden, wenn auch nur noch herzlich wenige, wo mein Schätzchen sich nicht an der verheerenden Krankheit abzuarbeiten hat. Und wenn wir auch nicht mehr mit dem Rollstuhl spazieren gehen können, geschweige denn auf ein Fährtchen mit dem Auto hinaus können, so gibt es doch immer noch die Ausflüge im Geist: Etwa wenn wir uns in der heißen Sommerszeit mit Odysseus über das windbewegte Meer treiben lassen, um dann bei den Lotophagen mit ihrem Heimat vergessenden Kraut anzulangen oder bei den ungeschlachten Riesenmännern, den Kyklopen, dem Tod ins Auge zu schauen oder endlich, um nach Besichtigung der Unterwelt auf Scherija, der Halbinsel der kultivierten Phäaken, zu landen. Oder, was für ein Zeitvertreib, wenn wir uns im Winter mit dem Punsch-trinkenden Autor an der Geschichte vom "Nussknacker und Mäusekönig" oder am Märchen Klein Zaches delektieren oder wenn wir uns wieder einmal den Geschichten aus 1001 Nacht widmen oder dem auf Aventüren ausziehenden Ritter von der traurigen Gestalt. Freilich wären da auch noch einige fliegende Blättlein und Textlein zu nennen, vor allem Prosatextlein aus eigener Werkstatt, die sehr wohl eine letzte, sorgfältig säubernde und feilende Hand vertrügen. Sofern sich dafür eine Lichtung an freier Zeit zeigt, wollen wir alles mit der schönsten Handschrift emendieren; wo aber nicht, ist auch gut.
O ihr kindischen Reste eines auf allzu viel Ehrgeiz dahingeschmolzenen Lebens! Haben wir nicht einen Großteil des Lebens im Irrwahn zugebracht, um jeden Preis Anerkennung zu erringen? Haben wir nicht unsere Seele verraten, als es galt, ein paar gedruckte und im Buchhandel erschienene Büchlein in Umlauf zu bringen? Sollte ich denn noch immer nicht zur Einsicht gekommen sein, dass ich alles, was immer ich noch unternehme, gelassen zu unternehmen habe, und dass es mir einerlei sein darf, ob später einmal einer kommt, dem das eine oder andere Textlein gefällt? Ja sollte mir nicht endlich dämmern, dass es besser wäre, wenn mich überhaupt kein Gedanke mehr an irgendeinen Leser verwirrte, um ausschließlich nur noch für die Liebste da zu sein? Hier nun freilich mag der Leser die Frage aufwerfen, weshalb ich mich denn dann im Internet habe veröffentlichen lassen? Darauf möchte ich in aller Bescheidenheit zur Antwort geben, dass das meine Tochter für mich getan hat und dass es sich hier, was mich betrifft, um nichts weiter als um die Laune eines Ungläubigen handelt. Schließlich falle ich niemandem zur Last, wenn keiner etwas von mir liest: weder einem Verleger mitsamt der Schar seiner Lektoren und Zensoren, noch auch einem Buchhändler mitsamt seinen Bücher empfehlenden Verkäufern und Verkäuferinnen, noch Lehrern und Schülern. Und wenn jemand zufällig etwas lesen und Geschmack daran finden sollte: muss ich´s ihm verbieten? Jedermann, der sich im Internet auf große Fahrt begibt, darf mich links liegen lassen und an mir vorbeisegeln. Die Tatsache indessen, dass mich heute vielleicht nur wenige brauchen können, schließt ja nicht aus, dass ein Chinese, wenn er in tausend Jahren das längst versunkene Europa durchkreuzt, auf eines dieser Textlein stößt und Gefallen daran findet. Mag er dann über seinem Fund ebenso nachdenklich dasitzen und ins Träumen geraten, wie wir selber, meine Liebste und ich über den Blättern aus der Blütezeit des Tang. Ohne Tätigkeit kein Glück. Das wussten schon die Alten. Und wenn uns auf unseren spätherbstlichen Spaziergängen im Haus noch das eine oder andere Blättlein entgegenflattert, so mag es uns dazu verhelfen, leise lächelnd uns aus dem allgemeinen Gewühl zu entfernen.
Herrlich, als Mütterchen gestern Abend anhub, vom verehrten Ernst Theodor Amadeus Hoffmann zu erzählen, wie ihn das Gelüst überkam, ein Magenschnäpschen zu sich zu nehmen. Dabei lachte sie, als ob sie ihn eben dabei erwischt hätte. Immerhin hatte sie den Nachmittag mit Lesen verbracht und war dann in eine Szene geraten, wo der gute Autor, nachdem er einmal in einer Kirche etwas zu viel gesungen, nicht mehr anders sich zu helfen gewusst als mit einem tüchtigen Schluck aus der Flasche eines köstlichen Magenschnäpschens, was ihn dann wohl ein wenig verwirrte.
Was sie dabei so fröhlich stimmte, das war, dass sie sich wie zuhause fühlte. Wie sich nämlich herausstellte, war ihr eben zu diesem Schnäpschen ein Schränkchen eingefallen, das früher zuhause bei ihnen inmitten des Wohnzimmers stand, welchem der Vater bei ähnlichem Gelüst oder Bedürfnis hin und wieder einen Besuch abzustatten pflegte. Was sich alles in diesem Schränkchen befand, blieb zwar für gewöhnlich den kindlichen Augen verborgen, gleichwohl hinderte das die in geheimnisvollen Karaffen befindlichen Schnäpschen und farbigen Likörchen nicht, sich durch einen gewissen Geruch der Kindernase bemerkbar zu machen und den kindlichen Geist zu emsigem und stetigem Forschen anzuhalten. Endlich aber waren da die Hochfeste im Jahr, wo auch für die Augen der Kinder das Schränkchen immer einmal wieder offen stand. Da war denn auch Gelegenheit, einmal mit der Nase etwas näher zu rücken, bisweilen auch mit der Zunge zu schmecken, was schon der Nase so wohlvertraut war. Einmal in der Weihnachtszeit durfte Mütterchen, sie war damals noch ein aufgewecktes Kindergartenkind, zusammen mit dem Vater und einer Flasche Cognac aus eben jenem Schränkchen ins Finanzgericht, die Arbeitsstätte des Vaters, wo dieser mit der Sekretärin aufs Neue Jahr anstieß. Auch Mütterchen, vielleicht weil eben kein Saft für das Kind da war, durfte da ein Gläschen mittrinken. Als sie dieses unter der besonderen Beobachtung der Anwesenden kühn ausgetrunken hatte und man sie fragte, ob sie noch eines wolle, zögerte sie nicht, herzhaft mit "Ja" zu antworten und ihr Können unter Beweis zu stellen, was ihr dann aber bei einer späteren Revision als gefährliches Manöver erschienen. "Der Vater", so sagte sie, auch noch nach beinahe 50 Jahren darüber einigermaßen verwundert, "der Vater habe sie damals um dieser Kühnheit willen gar nicht gescholten."
Als wir uns nun unterhielten und die gute alte Zeit wieder so recht lebendig vor uns wurde, stellte es sich heraus, dass es durchaus eine Reihe weiterer Übereinstimmungen gab zwischen dem guten Hoffmann und dem Vater meiner Liebsten. Beide kamen aus ärmlichen Verhältnissen und beide sehnten sich in die große weite Welt hinaus. Beide versuchten sich sodann im Beruf eines Juristen. Als Juristen und Liebhaber unerhörter Kriminalfälle hatten sie auch beide ihren Pitaval gelesen. Beide hatte die Mutter Natur etwas untersetzt zur Welt gebracht, doch hatte sie dafür ihrer beider Gestalt mit einem dicken norddeutschen Schädel gekrönt, der bei Schwiegerpapa schon in zeitigen Jahren herbstlich kahl war, so das er wie ein erratischer Block wuchtig über die Schultern hinausragte. Trotz eines ordentlichen Appetits bei den Hauptmahlzeiten nahmen beide Männer stets noch gern zwischen den Mahlzeiten Süßigkeiten zu sich, wie Marzipan und Zucker-Bonbons. Von letzteren soll die gute Schwiegermama nach Schwiegerpapas Tod in seinem Arbeitszimmer eine ganze Schublade voll gefunden haben, was sie zu dem Ausruf verleitete, dass ihr Hans das doch nicht vor ihr hätte geheim halten müssen. Beide endlich teilten neben dem Brotberuf noch den Hang zur schönen Literatur wie auch zum unterhaltsamen Gesang. O wie schön, wie vergnügt muss Schwiegerpapa doch gesungen haben, zumal, wenn er sich morgens, während seine liebe Antonia Katharina das Frühstück in der Küche besorgte, rund um die Kehle den Bart abschor, was er natürlich mit Seife und Rasiermesser tat und nicht, wie seine schwächlichen Schwiegersöhne später, mit einem Rasierapparat. Vergessen wir endlich nicht, dass er ein Süßer war, wie wohl der gute E.T.A. auch. Dazu passte, dass seine Antonia Katharina in der Johannisbeerzeit für ihn in der Küche stand und "Träuble", zupfte, um ihm daraus die Morgenmarmelade und den Morgengelee zuzubereiten, den er zum Frühstück rund ums Jahr hochaufgetürmt auf seinem Butterbrot zu verspeisen pflegte.
Vermutlich hätte man ihm bei seinem meist gestrengen und undurchschaubaren Blick niemals einen besonderen und zusätzlichen Hang zu schönen Kindern zugetraut, zumal wo er doch bereits eine hübsche Frau nebst drei nicht minder hübschen Töchterchen hatte! Und doch war es nicht seine Art, sich etwas Schönes zu verbieten, zumal, wenn es auf ehrbare Weise geschah. Man hätte ihm nur einmal zuhören müssen, mit welcher Andacht er die Champagnerarie schmetterte, mit dem berühmten "Mille e tre" oder als Tenor auch die Arie der Donna Anna mit dem berühmten "O que mi dice mai quel barbaro dov´ e´"? Das Herz wär einem vor Freude gehüpft. Immerhin darf von dem hier als Chronist amtierenden Schwiegersohn mitgeteilt werden, dass auch er einst ein Sänger vor dem Herrn war, der immer wieder einmal seine Mozartarien in die frische Frühlingsluft hinauszuschmettern beliebte. Wir verheimlichen auch nicht, dass er sich in müßigen Stunden schon einmal ausfabuliert hat, wie das gewesen wäre, wenn sie beide, der Schwiegerpapa und der Schwiegersohn, sich als Heldentenöre bei der großen Oper begegnet wären und wenn dann dort der Herr Schwiegersohn auf des Schwiegerpapas Töchterchen aufmerksam geworden wäre.
Doch kehren wir zum Porträt unseres Schwiegerpapas zurück! Dass er Dutzende von Gedichten auswendig konnte, versteht sich fast von selbst. Er brauchte keinen Spickzettel wie ein gedächtnisschwacher Schüler. Bei seinem herrlichen Gedächtnis konnte er sie schockweise vortragen, und zwar nicht nur an Silvesterabenden, sondern zu manch einer Abendstunde bei einem Gläschen Wein, die denn auch zu den wundervollsten Stunden von Schwiegermütterchen gehörten. Und wenn auch unser Wilhelm Busch auf der Liste der präferierten Poeten ganz oben stand, so kamen hin und wieder doch auch die deutschen Klassiker zu Wort. Auch Fabeln von Lafontaine und kleinere Sachen von Daudet fanden da Wege zur Improvisation. Vornehmlich aber war er ein intimer Kenner von Wilhelm Busch, vorzüglich des Max und Moritz, für die er gewiss die ihm unbekannt geblieben griechischen Klassiker ohne mit der Wimper zu zucken hingegeben hätte. Noch kurz vor seinem Tod sagte er Gedichte auf. Da hält der Mensch noch einmal Umschau in den Kammern seiner Fähigkeiten, meinte Mütterchen. Das war ihm jedenfalls ungleich sympathischer als die Totengebete, die ihm seine Antonia noch vorlesen wollte, die er sich aber aufs energischste verbat, auch wenn er sich Zeit Lebens zu den geharnischten Paderborner Christen zählte.
O, er war ein König in seinem Haus, das wie eine Burg hoch über der Straße lag. Er liebte es, das ausschlaggebende und letzte Wort zu haben. Widersprüche brauchte er nicht, nicht im Finanzgericht, wo er als leitender Richter tätig war, noch gar im eigenen Haus. Und dass er als ein Richter sich hin und wieder einmal auch selber angeklagt hätte, und sei es auch nur am heimischen Herd, davon hielt er rein gar nichts. Ihm genügte die Weltordnung, die ihn zum obersten Richter bestellt hatte. Ein Gericht über Richter war in dieser Weltordnung nicht vorgesehen, wohl aber eine gelegentliche Klage bzw. Anklage, die durchaus deftig ausfallen konnte, wenn etwa der Tag im Gericht nicht ganz nach seinen Wünschen abgelaufen war. Und da er, wie gesagt, ein exzellentes Gedächtnis hatte, so bedurfte es nicht viel, dass er sich dann auch an diese oder jene Szene im Umkreis der Familie erinnerte, etwa, dass man ihn bei einem Erbe übervorteilt hatte oder dass es ein Schwiegersohn gewagt hatte, seine Kinder nicht taufen zu lassen: so dass es immer wieder einmal vorkam, dass er wie aus heiterem Himmel zu toben begann und kaum mehr Ruhe finden konnte. Von solchen, unberechenbaren Gemütsausbrüchen abgesehen verkörperte er aber Würde, Größe und Schönheit der Justitia selbst. Wenn man ihm am späten Abend zur Sommerzeit zusah, mit welcher Andacht er durch seinen Garten wandelte und seine Blumen tränkte, so hätte man sich wohl auch leicht des seine Zicklein liebevoll umsorgenden Polyphem erinnert. Dass er sich dabei in eine Gärtner- oder Schäfertracht begeben hätte? Davon fand sich keine Spur. Wann immer er sich außer Hauses sehen ließ, und sei es auch nur im Garten, erschien er als ein Grandseigneur. Mit einem Domestiken verwechselt zu werden, war nicht seine Sache. Das einzige, worauf er hin und wieder bei der Gartenarbeit verzichtete, war der Hut. Auf sein Erscheinungsbild indessen legte er unbedingten Wert und lange noch, als es längst aus der Mode gekommen, gab er beim Schneider Anzüge in Bestellung. Selbst der Präsident des Landesgerichts äußerte sich einmal beeindruckt von seiner Erscheinung. Er war wirklich ein prächtiger Bursche, ein echtes Original, mit einem so stolzen und aufrechten Gang unter seinem Hut, dass er, trotz seiner durchweg norddeutschen Vorfahren, an einen Granden aus Italien oder Spanien erinnern mochte.
Ehe wir uns nun anschicken, Licht ins Dunkel jener Kirche fallen zu lassen, wo dann das Hoffmannsche Magenfläschchen zum Vorschein kommt, sollten wir uns darauf besinnen, was für ein Ort eine Kirche gerade auch für einen Mann wie unseren Hoffmann war. Ob er dabei stets fromm an den lieben Gott geglaubt hat oder nur an ein höheres Prinzip, das sich meist dämonisch-diabolisch kundtut, sei dahingestellt. Immerhin führen uns einige Szenen aus seinen Nachtstücken in Kirchen. Möglicherweise gehörten für ihn die Empore einerseits und Chor und Altarraum andererseits so zusammen wie Menschliches und Göttliches, wie Erde und Himmel oder auch wie Hölle und Himmel und Gott und der liebe Satan. Fast möchte man meinen, Hoffmann habe ähnlich wie die Kinder empfunden. Nicht nur der liebe Gott erscheint einem da auf wunderbare Weise, auch die Mutter Gottes, z.B. als Ordensschwester verkleidet. Aber auch die Erwachsenen geben dem Kind in der Kirche mancherlei zu denken. Oder kann es etwas Wunderlicheres geben für ein Kind, als bei der Verwandlung eines Erwachsenen mit dabei zu sein, kaum dass der eine Kirche betreten? Kann es etwas Wunderlicheres geben als einen ansonsten allmächtigen Mann zu sehen, wie er, von einer noch höheren Macht ergriffen, plötzlich lammfromm wird? Man mag sich an den Mann von Gogol erinnern, der plötzlich seine Nase oder gar sein ganzes Gesicht verliert! Zumal wenn Väter, die das Kind auf der Großbildfläche der häuslichen Leinwand oft als lautstarke Tyrannen erlebt hat, beim Betreten einer Kirche plötzlich still und mäuschenklein werden, ist das schon ein erstaunliches, der kindlichen Erforschung wertes Phänomen, zumal, wenn dieser schöne Himmelsglanz gleich wieder verschwindet, sobald die Kirche wieder verlassen. Die Verwandlungskraft des Himmlischen scheint sich auf den Binnenraum der Kirche zu beschränken. Ungeheuerliches bleibt im Übrigen ungeheuerlich, zumal in unseren nördlichen Breiten, vielleicht Dank der Aufklärung und der Reformation.
Nun wollen wir uns aber nicht auch noch mit jenen fern abgelegenen Forschungen befassen, die damals gewiss auch vonstattengegangen sind, das Vaterbild betreffend. Denn wenn wir auch angedeutet haben, dass das Kind den Vater als Tyrannen erlebt hat, so trifft das ja nur aus der Außenperspektive des später sich hinzugesellenden Erwachsenen zu, zumal aus der Perspektive des von vornherein unwillkommenen Schwiegersohnes. Leider habe ich es versäumt, mit Mütterchen gründlich Hoffmann zu lesen und mich noch gründlicher über dessen Welt und Personen zu unterhalten. Was für Möglichkeiten der Unterhaltung haben wir uns da nicht entgehen lassen! Zumal die Fragen, wer oder was ein Liebhaber ist und was für Leute das sind, die die Liebe zusammenführt, hätten uns trefflichen Stoff geboten. Was wissen wir auch über den ersten Händedruck oder über den ersten Kuss? Wir wissen ja nicht, wer wir sind, wenn wir zusammen kommen, noch auch, was aus uns wird. Auch wenn wir uns der Bewährung eine Weile ausgesetzt haben mögen, wissen wir nicht, ob wir nicht am Morgen drauf schon als unser Doppelgänger erwachen. Vielleicht, dass wir der Liebsten die Treue versprechen, die dann unser Doppelgänger einhält? Hoffmanns Erzählungen hätten gewiss auch einen vorzüglichen Nebenschauplatz geboten, den Widerfahrnissen und Problemen meiner Liebsten auf den Grund zu kommen. Hier wären auch Wege gewesen, das Vaterbild eines Kindes zu erfassen: eines Vaters, der für das Kind eher ein Zauberer war als ein Tyrann: einer, der selbstverständlich alles konnte und der alles durfte und der auch über alles entschied. Bei solchen Gesprächen wäre dann im Vergleich des Vaters des Autors zwanglos noch jenes andere, tiefer gelegene und noch wichtigere Verhältnis ins Licht gerückt, das die von Hoffman beschriebenen Väter den Kindern gegenüberstellt, wie etwa im "Sandmann". Das Magenfläschchen wäre dann ganz zwangslos in die Nähe jenes Elixiers gerückt, die dem Medardus in Hoffmans Roman das Verderben bringt, und die Lektüre wäre zum Roman sich widerspiegelnder Erinnerungen, ja zum eigenen Lebensroman, dem Roman eines beinahe zerstörten Lebens geworden.
Doch kehren wir zu unserem Prosastück zurück, wo wir jetzt meinem Mütterchen, meiner Liebsten und ihrem Vater in der Kirche begegnen. Dass da nun nur niemand meint, in der Kirche dürfe man einen Vater beim Bart fassen! Mag sich der Vater in der Kirche auch ein wenig verwandeln, mächtig wie ein Kirchenvater bleibt er allemal noch immer. Mütterchen hat das ja selber erlebt. Sie war, wie damals in der Kirche so Sitte, vorn bei den Kindern in der Bank. Und als nun der Pfarrer zur Spendung des Segens sich zur Gemeinde umdrehte, da verlockte sie der Satan oder zumindest der Drang zur Nachahmung, sich gleichfalls umzudrehen und den Segen zu spenden. Und da hatte sie auch schon die rechte Hand zum Zeichen des Kreuzes über die Häupter der Gemeinde geschwungen: als ihr plötzlich aus dem Hintergrund drohend und überlebensgroß die Gestalt des Vaters erschienen. So erschreckend muss diese Erscheinung auf sie gewirkt haben, dass die Segenshand auf der Stelle erlahmte und der Heilige Geist, der eben noch mächtig aus ihr auszufahren gedachte, auf der Stelle in sich zusammensank. Jedenfalls haben sich seit jenem Tag keinerlei Ambitionen auf ein geistliches Amt mehr gemeldet, weder auf das Amt einer Bischöfin oder auch nur einer Landpastorin.
Was nun aber unseren guten Hoffmann angeht, so muss er wohl einmal des Sonntags in der Kirche etwas zu viel und vielleicht auch zu laut gesungen haben. Vielleicht hatten die anderen Tenöre gefehlt und da hatte er dann zur größeren Ehre Gottes für viere gesungen, dass ihm anschließend, als er auch noch das Allerletzte aus sich herausgeprustet hatte, war, als krabbelten ihm Mäuse durch den Magen. Gewiss gehen wir auch nicht fehl, wenn wir uns noch eine kleine heiße Flamme ganz in seiner Nähe hinzuzudenken haben, sie mag Bettina geheißen und sich im hübschesten Backfischalter befunden haben, der zu Liebe sich unser Hoffmann doppelt bemühte, als grandioser und famoser Sänger in Erscheinung zu treten. Das aber dürfte kein rechter Mann sein, der unter solchen Umständen, wenn er das Letzte und das Äußerste von sich abverlangt hat, nicht innig davon überzeugt wäre, das überhaupt nur denkbar Beste und das heißt auch, einem Helden Mögliche, abgeliefert zu haben. Dass nach einer solchen Helden- und Glanztat sich das Bedürfnis nach einem Magenschnäpschen meldete, ist für einen Freund solcher Erfrischungen kaum verwunderlich. Ein Schnäpschen musste da her. Das fühlte unser guter Hoffmann nur allzu deutlich. Was aber war da zu tun, wo der Kirchengesang nun hinter ihm lag, während sich der Gottesdienst wie eine Prozession noch in endlose Fernen dahin zog? Selbstverständlich war nicht erlaubt, die Kirche wegen eines Schnäpschens vor Beendigung des Gottesdienstes zu verlassen. Andererseits aber war ebenso unvorstellbar, dass man das Innere einer Kirche zu ein paar Schlückchen missbrauchte. Was also war zu tun? Im Unterschied zu unserem Mütterchen, die sich, als sie den Segen zu spenden gedachte, ins Gerede der Leute gebracht hätte, kannte unser Hoffmann die Schlupfwinkel hinter der Orgel, wo man von niemandem mehr gesehen wird, es sei denn noch vom lieben Gott. Und wenn Hoffmann sich vor seiner Bettina auch als herrlicher Sänger offenbart haben mochte, was nützte es ihm, wenn er dann als Säufer in der Kirche erwischt würde und als Gotteslästerer in die Kirchengeschichte einginge! Hoffmann war kein Reformator und schon gar kein Revoluzzer, weder im politischen noch auch im geistlich-religiösen Sinn. Das hätten auch die preußischen Zensoren merken müssen, die ihm noch gegen Ende seines kurzen, keine 50 Jahre währenden Lebens übel mitgespielt haben. Ein Mann, der sich korrekt benimmt, morgens korrekt sich erhebt und abends korrekt sich zu Bett begibt, sieht man einmal von den gelegentlichen Punschgesellschaften ab, und der darüber hinaus nie vergisst, der lieben Öffentlichkeit sein wohlgepflegtes Bäuchlein als Zeichen herzlicher Zuneigung entgegenzustrecken, war der etwa ein Revoluzzer? Vor unserem Hoffmann musste kein Landesherr Angst haben. Der machte weder einem Zeitgenossen, noch gar dem lieben Gott etwas streitig. Und wenn er etwas von Dämonen erzählte, so erzählte er nur, wie es um den Menschen stand, so wie er selber einer war. Vermutlich wird es betreffs des Magenschnäpschens so gewesen sein, dass Hoffmann, der auch etwas von einem Hofmann an sich hatte, sich mit dem lieben Gott ins Benehmen gesetzt hatte, dergestalt, dass er schließlich den für so nötig erachteten Schluck frohgemut einzunehmen vermochte. Dabei könnte der liebe Gott folgendes zu ihm gesagt haben: "Lieber Ernst Theodor! Seit ich Adam und Eva erschaffen, habe ich mir angewöhnt, möglichst alles geschehen zu lassen und dazu zu lächeln. Schließlich ist man als lieber Gott keine so infernalische Macht, wie sie ansonsten gern durch die Ritzen deiner Prosa hindurchspäht. Betreffs der Maus bzw. des flauen Gefühls im Magen kann ich dir nun auch weiter nichts sagen, als dass du besorgen musst, was du nicht lassen kannst. Trink also, wenn du trinken musst. Und merk dir vor allem zwei Sachen. Erstens, dass ich, im Unterschied zu den uralten Gottheiten, den Bau von Kirchen nicht erfunden habe, und zweitens, dass es ein großer Irrtum ist, zu meinen, in der Kirche könne man keine Dummheiten begehen.
Nein, ein Revolutionär war unser Hoffmann nicht, ebenso wenig wie unser Schwiegerpapa, noch auch ein Terrorist. Hoffmann war ein unverbesserlicher Humorist, der sich seinen Humor nicht klauen ließ, auch wenn man ihn deswegen eingesperrt hätte. Was sich an Kritik in seinen Werken findet, ist von duldsamster Art. Niemals hätte es ihn gedrängt, die Fanfaren der Revolution anzublasen oder auch nur ein Vereinsfähnlein vor sich her zu tragen, was freilich die Behörden nicht daran hinderte, ihn als gemeingefährlich auf ihre Listen zu setzen. Wenn Hoffmann auch über das Brodeln und Treiben in unserer Seele Bescheid wusste, so war er doch ein Mann des Maßes. Weder war er ein unduldsamer Robespierre, noch ein unersättlicher Don Juan, noch auch verkörperte er den Typus eines rechthaberischen Philosophen. Weit entfernt, als Nichtwissender Nichtwissenden Ratschläge zu erteilen, schmunzelte er wohl ein wenig, wenn man ihn nach dem besten Leben befragte, um dann zu gestehen, dass er es selber auch nicht wisse. Doch verfiel er deshalb noch lange nicht der Verzweiflung. Genug, wenn ihm in seinen Erzählungen jemand in effigie umkam. Da konnte er ihn doch immerhin wieder aufleben lassen. Auch war Hoffmann kein unerträglicher Philister, sonst hätten sich nicht stets Freunde um ihn versammelt. War er zufrieden mit sich? Jedenfalls brauchte er niemanden, der auszog, sein Lob zu verkünden.
Nun, und was hätten wir dem sonst noch hinzuzufügen? Dass unser guter Hoffmann sich in Bamberg als Kapellmeister und Organist eine Zeitlang herumgetrieben. Ob da nicht noch das eine und andere Tagebuch hübscher Sängerinnen existiert, das uns von besonderen Angelegenheiten des Herzens und von geheimnisvollen Zusammenkünften erzählt? Überhaupt war er so etwas wie ein geselliger Tausendsassa. Seinem Vornamen "Ernst" zum Trotz! Tierisch ernst kann er seine Geschäfte kaum jemals betrieben haben, zumindest nicht so ernst, dass ihn jemand ernstlich dabei hätte stören können. Zumal im Umgang mit Kindern und schönen Kindern dürfte sich in ihm ein Naturell bemerkbar gemacht haben, das wir mit lausbübisch und schalkhaft und schlitzöhrig zu umschreiben versuchen. Zum Ertragen länger andauernder Liebesschmerzen war er nicht aufgelegt, so dass wohl auch seine Suche nach der Liebe regelmäßig zwischen Liebesverlangen und Liebelei verebbte. Auch war er kein Schriftsteller, der seine Sätze dirigenten- und feldherrnmäßig, mithin unduldsam und rechthaberisch hätte aufmarschieren lassen. Niemals hätte er sich dazu verstiegen, in irgendeiner Disziplin Weltmeister werden zu sollen: weder in der hohen Kunst der Literatur noch auch in sonst einer der entlegeneren Künste. Auch erbitterte Zweikämpfe auszutragen war nicht seine Sache. Er war kein Schriftsteller, der für sich und für sein Werk das Prämiensiegel der Ewigkeit reklamierte. Gab er ein Buch von sich der Öffentlichkeit preis, so nahm er sich augenzwinkernd etwas anderes Hübsches dafür. "Nehmt es und lest es! Und wenn es euch nicht gefällt, macht es auch nichts aus." Was endlich die vielen anderen Eigenschaften angeht, mit denen man noch zu seiner Zeit gern auf sich aufmerksam machte, wie etwa das Geniewesen, dass einem ein Gott den Blick geradewegs in die Tiefen der menschlichen Psyche in die Wiege gelegt habe und solcherlei mehr: das hat er immer mal wieder bespöttelt und belächelt.
Nun denn: da alles ein Ende hat, so kommen nun auch wir mit unserem kleinen Prosatext zu Ende! Hätten wir auf den Grabstein des lieben Hoffmann, aber auch unseres lieben Schwiegerpapas einen Spruch zu schreiben, von dem wir annehmen dürften, dass er ihnen halbwegs gefiele, zumindest aber, dass er sie in ihrem ewigen Schlummer nicht störte, so schrieben wir:
In dieser Welt sitzen wir alle
der Maus gleich in der Mausefalle.
Dass nicht umsonst des Lebens Lauf,
geb Gott, sonst frisst die Katz uns auf.
Schwiegervater Hans, Gott hab ihn selig, erzählte einst schmunzelnd von einem Fall, wo man ihn nach einer Unachtsamkeit habe beleidigen wollen, wo er die Beleidigung aber als durchaus erlaubt, ja als ehrenvolle Auszeichnung anerkannt habe.
Es war da am Ende eines heißen Sommertages. Schwiegerpapa war mit dem Schlauch bei der Bewässerung seines Gartens beschäftigt gewesen, als ein Zeitgenosse unterhalb seines Gartens, vom hohen grünen Zaun verdeckt, eilends des Weges dahergekommen sein musste. Da Schwiegerpapa eben vom Sprengen seiner Bäume zur Erquickung seines Zaunes überzugehen im Begriffe war, so muss es geschehen sein, dass er im Eifer des Gefechts den Schlauch etwas zu weit geschwenkt und zu hoch hinausgehalten hatte, dergestalt, dass dabei auch ein Schwall Wasser über sein Grundstück hinaus auf die Straße herab flog, wo eben besagter Zeitgenosse des Weges dahin ging. Wie viel Wasser ihn dabei getroffen hat, wissen wir nicht. Nur so viel glauben wir zu wissen, dass alles aus Versehen geschehen sein muss; denn als ein allseits bekannter, hoher Richter war Schwiegerpapa damals schon weit über die Flegeljahre hinaus war. Und wohl auch dies scheint uns unabweisbar, dass Schwiegerpapa gleich mit dem ersten Aufschrei des benässten Mannes, der nicht auf sich warten ließ, den Strahl des Wassers korrigiert hat. Schwiegerpapa hätte sich ja wohl noch entschuldigt; doch der Mann drunten auf der Straße hatte es eilig. "Sie Individuum!" rief er nur hinter sich drein und zwar so laut und mit solch einem Ton und immer wieder, als riefe er "Du unverschämtes, arrogantes Subjekt da droben auf deiner Burg!" Hast wohl nicht nötig, Acht zu geben, was du da treibst!", bis er ihn nicht mehr hören noch sehen konnte. Schwiegerpapa aber war damit zufrieden. Hatte sich der Zeitgenosse im Ton einer Schmährede an ihm gerächt, so schien ihm seinerseits nun passend, sich an den Sinn der Worte zu halten. Mit dem Titel eines Individuums konnte er sich jedenfalls einverstanden erklären. Oder war nicht allzu vieles, was uns zu schaffen macht, nur darauf zurück zu führen, dass wir nur allzu oft sowohl den anderen als auch uns selber als ein unerforschliches Einzelwesen in Erscheinung treten?
Als wir uns als Jungvermählte auf unserer lieben Eltern Kosten in Rom aufhielten, da traf es sich, dass wir uns auch einmal auf den Weg machten, uns die Sehenswürdigkeiten der Vatikanischen Museen anzusehen. Von der Masse an Gegenständen, die eine über Jahrhunderte währende fürstliche Sammlerleidenschaft zusammengebracht hatte, wollten wir uns freilich nur einiges weniges zu Gemüte führen. Nur die Besichtigung von ein paar zuvor bereits sorgsam ausgewählten Objekten wie etwa den Laokoon, hatten wir uns vorgenommen, die wir uns nun aus der Nähe zu beschauen gedachten. Wie aber war dorthin zu kommen, ohne uns zuvor schon satt und müde zu sehen, wo doch jedermann weiß, dass dort alle Wege und Wände mit Kunstsachen überfüllt sind? Da keiner von den Kardinälen zufällig abkömmlich war, uns auf einem Schleichweg zu den erwünschten Kunstwerken zu führen, so galt es zuerst einmal, sich durchs Grobe hindurch zu arbeiten, d.h. die vorgeschriebenen Gänge und Säle und Galerien hinter uns zu bringen, ohne uns unserer Frische und Aufnahmekraft berauben zu lassen. In der Tat war das kein kleines Kunststück. Denn als hätten sie sich verabredet, uns festzuhalten, drängten sich uns die Exponate auf, und zwar nicht allein dadurch, dass sie immer wieder ein schönes Detail verlockend sehen ließen, sei es ein Stückchen herrlich paradiesischer Natur, geschaffen für eine mythische Szene, oder eine Ansicht mitten hinein in eine Stadt, wo sich edle Menschen bewegten, sondern auch dadurch, dass sie sich in eine schier unabsehbare Ferne vor uns dahinzogen; ja, alles war zum Träumen verlockend. Schlimmer kann es auch dem Odysseus nicht ergangen sein, als er an der Insel der Sirenen vorbeifuhr.
Als Erstes waren es die Gobelins, die wir zu bewältigen hatten: Wände voll behängt, auf der linken wie auf der rechten Seite, ein Teppich neben dem andern, kaum dass man noch ein Stückchen Wand dazwischen erkennen konnte. Als hätten die Menschen der Vorzeit nichts anderes getan, als Gobelins herzustellen und alle Gobelins der Welt hätten sich auf den Weg gemacht oder der Wind hätte sie hereingetragen, geordnet nach Zeiten und Themen, so schauten sie auf uns, wie wir vorüber kamen. Wie schwierig war es schon gleich zu Beginn, der Versuchung zu widerstehen, den zuvorderst aufgehängten Exponaten die Aufmerksamkeit zu verweigern, die sie doch verdienten. Da uns aber anderes im Sinn lag, als hier unsere Hütten zu bauen, so galt es erst mal, uns wacker dieser Welt zu entwinden wie auch der weiteren Welten, die noch auf uns zukommen sollten. Und wer weiß, ob uns dies nicht misslungen wäre, und hätten wir auch die Augen tief verschlossen, hätten wir nicht in der Ferne des weithin sich ziehenden Ganges ein paar Fenster erblickt, durch die ein freundlich grünes Licht zu uns herüberfiel. Und wie der müder und erschöpfte Wanderer, wenn er in nächtlichem Wald ein Licht sieht, auf dieses zueilt, um Rast und Einkehr zu halten, so eilten auch wir auf jene Fenster zu. Nun zeigte sich aber, dass sich ein Schwarm von Besuchern uns an die Fersen geheftet hatte. Vom Anschauen der Überfülle der Objekte bereits übermüdet und eingesperrt in die Säle der Kunst waren wir ihnen als Helfer in höchster Not erschienen. Kaum nämlich, dass sie uns erspäht, wie wir kühn, ohne zu zaudern und zu zögern mitten auf dem Gang des Weges dahinzogen, von den Objekten rechts ebenso weit entfernt wie von denen links, hielten sie sich dicht an uns, um uns als Anführer und Retter nicht aus den Augen zu verlieren. Wir aber schritten nun voran, unseres Führungsamtes und des Ernstes der Lage durchaus bewusst, wenn uns auch ein geheimes Lächeln beseelte: weil sich der Mensch doch ewig leicht verirrt, sodass er immer wieder einen braucht, der ihm die Wege zeigt aus seiner Weglosigkeit. So kam es, dass eine Vielzahl von Leuten zusammen mit uns jene Fenster erreichten, die dann, beinahe ganz unerwartet und überraschend den schönsten Ausblick auf einen Ausschnitt der Vatikanischen Gärten bot. Was für ein erfrischendes Grün uns doch von dorther erreichte! Was für eine erquickliche Ruhe, was für ein lebendiger Frieden! Als hätte ein Zauberer dieses Stück Natur zu einem gelobten Land bestimmt, durchsäuselte ein frischer Wind den Garten und trug seine Botschaft, die Botschaft der Befreiung und der Erlösung ans Fenster. Auch den Leuten hinter uns war kaum anders zu Mute. Als hätten sie noch nie einen echten, grünenden Baum gesehen, noch nie eine Gruppe von schlankgewachsenen Pinien über einem kurzgeschorenen grünschimmernden Rasen, noch nie mit weißen Kieseln ausgelegte, von blühenden Blumen eingefasste Gartenwege, noch nie eine Fontäne, voll von lebendig schimmerndem Wasser, noch nie eine Landschaft unter einem römisch blauem Himmel, sahen sie mit uns aus dem Fenster.
Für einen Augenblick waren wir uns nun selber unsicher geworden. Wozu waren wir denn hier hergekommen? Deutete es sich nicht eben an, ja zeigte es sich nicht eben jetzt, dass alle Kunst doch eben dazu bestimmt war, uns in die Arme der Natur zurückzuführen, dass man sie besser verstünde mit all ihren Schwierigkeiten und Nöten, aber auch mit ihren geheimen Freuden und Überraschungen? Dass wir das Unerhörte und Unverhoffte, ja vielleicht auch das Jähe und Unvorhersehbare brauchten, um zum Einverständnis zu gelangen zu dem uns gewährten Leben? Und so zogen wir denn dahin, von einer Fensteraussicht zur nächsten, wie Moses vor dem Volke Israels, und lächelten, während dahinzogen, die übrigen aber, weil sie es glücklich geschafft hatten, mit uns als ihren Rettern ins gelobte Land zu gelangen.
Wir denken hier nicht an den Lieder trällernden Familienvater, der wohl auch einmal in der Küche eine Zeile aus einem Kirchenlied etwas frech zu Gehör bringt wie etwa die herrliche Frage "Wo seid ihr klugen Jungfrauen?" aus dem Bestand der Adventslieder, während die Hausfrau, die Mama am Herd ein schmackhaftes Sonntagsbrätlein zurichtet. Es geht uns hier aber auch nicht vornehmlich um die Beurteilung des Schatzes unserer Kirchenlieder, welche von ihnen als literarisch wertvoll zu gelten haben, welche Melodien künstlerisch bedeutsam gestaltet sind oder, in summa, welches die Kriterien sind, dass ein Kirchenlied als einigermaßen gottwohlgefällig eben noch durchgehen dürfe, geschweige, dass wir uns vermessen wollten, die Prediger Lügen zu strafen, weil sich doch über die Jahrhunderte hinweg, trotz des so oft gepredigten Satzes, dass das Kirchenvolk als Gottesvolk ein Volk von Priestern und Propheten sei, die geistig-geistlichen Zeugnisse doch sehr rar sind und Mangelware: es geht uns in diesem Prosastückchen vornehmlich darum, auf die geistige Arbeit aufmerksam zu machen, die unsere kleinen Zuhörer und Sänger beim Mitsingen von Kirchenliedern zu leisten haben.
Dass Kirchenlieder allesamt lieb und wacker gereimt sind, weiß jeder, auch wenn manch einer den lieben Gott bedauert, dass er sie sich jeden Sonntag von Neuem anhören muss. Wer sie so wacker gereimt und die Töne gesetzt hat, das kann man sogar am Ende eines jeden Liedes nachlesen, einerlei, ob sie etwas taugen oder nicht. Man muss also nicht unbedingt eine Kirche stiften, damit der Name überlebt, wie Shakespeare im Hamlet etwas bissig meint; wenn man Glück hat, genügt schon ein Kirchenlied, wenn denn die geistliche Behörde einen für fromm erachtet und ihren Segen dazu gibt. Ob ein Shakespeare freilich, hätte er es unternommen, ein geistliches Liedchen zu dichten, ein solches Imprimatur bekommen hätte, ist eine ganz andere Frage. Vermutlich war er den dickbäuchigen Kanonikern als Glaubensheld und Kirchgänger nicht zuverlässig genug. Ähnlich mag es auch einem Dante ergangen sein, ähnlich auch einem Cervantes oder einem Schiller. Zum Glück aber kommt es bei den Kirchenliedern nicht auf die dichterische Qualität an; viel wichtiger ist, dass es dem singenden Volk das Gemüt erhebt und es in heilige Begeisterung versetzt, was ohne Zweifel bei einem von einem Heiligen gedichteten Lied besser gelingen sollte als bei einem unsicheren Liedergesellen, den der Heilige Geist nur hin und wieder beim Liedermachen erleuchtet oder der sich wohl gar noch, wenn ihn sein Stündchen überkommt, als Heide outet. Hinzu kommt nun ja auch noch, dass der Text gesungen wird. Und wie in der Oper, so ist es auch in der Kirche: aus voller Brust lässt sich mancher Schmarren singen, zumal wenn man obendrein noch innig davon überzeugt ist, dass er dem lieben Gott gefällt. Und auch darin pflichten wir den geistlichen Herren durchaus bei, dass ein schlechtes Lied, welches das übervolle Herz erleichtert und frei macht, besser ist als ein kunstvolles Lied, zumal wenn sich die Gemeinde mitsamt dem Dichter und dem Komponisten eitel brüsten, dass nun der liebe Gott doch endlich mal wieder was Rechtes zu hören bekommt.
Nach diesem, sich etwas lang im Kritischen ergangenen Präludium, verraten wir, dass wir uns nun aber durchaus ernsthaft mit unseren Kleinen befassen wollen. Was da an Aufgaben, zumal intellektueller Art auf sie zukommt, wenn sie sich plötzlich von einer großen singenden Gemeinde umgeben vorfinden, etwa an den Hochfesten und Feiertagen, ist durchaus des Bedenkens wert. Wenn sie da an Weihnachten dicht um sich herum einige hundert Männer und Frauen singen hören: "Ihr Engel allzumal/ vom hohen Himmelsaal/ wollt Gloria singen!": muss ihnen da nicht sein, als ob der Himmelssaal die Chöre und Hierarchien der Engel entlässt, dass es nur eine Frage von Augenblicken ist, wann sie durch die hohen Kirchenfenster hereingeflogen kommen und mitsingen? Oder da sind wir nun mit unseren Kindern aufs Land hinaus gefahren, daselbst die Ostertage zu verbringen. Im Ort steht eine Barockkirche, in die wir uns zur Feier der kirchlichen Festtage begeben. Was für ein Erlebnis, wenn da der österliche Weihrauch zu den vom Frühlingslicht umfluteten Chorfenstern emporsteigt, als läge dort irgendwo die Grenze zwischen dem Diesseits und dem himmlischen Jerusalem, während viele stramme Männer in ihren schwarzen Anzügen, begleitet von einer übermächtigen Orgel, wie in überirdischer Verzückung und Entrückung "Großer Gott wir loben dich" singen. Wie froh ist man doch, dass nun endlich die Fastenzeit mitsamt der Karwoche hinter einem liegen! Diese freudvolle Entspannung geht auch an unseren Kleinen nicht vorbei. Auch sie haben ja längst erfahren, wie angenehm es ist, nach einer Weile des Luft-Anhaltens wieder befreit durchatmen zu können.
Wie viele unbekannte Worte da nun auch vorkommen oder unverständliche Gedanken: den Alten scheint es einerlei zu sein, wenn sie da singen. Man freut sich beim Singen, das ist die Hauptsache, und das versteht auch der liebe Gott. Anders aber als bei den Erwachsenen ist es bei den Kindern. Neugierig und wissbegierig, wie sie sind, wird ihnen ein falsch gehörtes Wort oder ein ihnen noch unbekannter Ausdruck durchweg zu einer bedeutsamen Aufgabe. Jetzt gilt es, gut aufzupassen, was oftmals noch dadurch erschwert wird, dass so ein gesungener Satz ganz schön lang sein kann, dass man selbst als Gelehrter am Anfang noch nicht wissen kann, was da am Schluss herauskommt. So ein Kirchenbesuch kann also für ein Kind ganz schön in Arbeit ausarten. Andauernd ist es gefordert, neue Bedeutungen aufzuspüren und ausfindig zu machen und sich Fremdes in Bekanntes umzuwandeln. Und während es so für manches in seinem bereits vorhandenen Wortschatz eine mehr oder minder taugliche Ersatzvokabel auffindet, sieht es sich doch immer wieder gezwungen, etwas als eine Hieroglyphe auf sich beruhen zu lassen und sie sich mit dem erlebten Gesamteindruck einzuverleiben.
Wer kennt nicht jenes Paradebeispiel mit den Nerven! "Was sind Nerven?" fragte da ein fünf Jahre alter junger Mann sehr vorsichtig seinen Vater. Das geschah nun zwar nicht eben in der Kirche, zeigt aber etwas von der anstrengenden Spracharbeit, die gerade auch in der Kirche, beim Kirchengesang von ihm abverlangt wird. Er war eben aus dem Kindergarten gekommen und befand sich bei seinem Vater im Auto auf der Heimfahrt. Übrigens hatte er, wie sich alsbald herausstellte, durchaus Grund, vorsichtig die Frage zu stellen. Vielleicht, dass es ihm gelänge, einem Problem auf den Grund zu kommen, ohne sich zu verraten. Denn dass hinter dem Ganzen etwas Ungutes sich verbarg, das wusste er wohl, wollte es aber vor seinem Vater geheim halten. Ahnungslos wie Eltern meist sind, begann da auch der Herr Papa mit seiner Erklärung: dass das Zellen seien, Körperorgane, die warm und kalt und hell und dunkel und anderes mehr zu unterscheiden gestatten. Da es aber nicht das war, was der junge Mann wissen wollte, so blieb ihm nichts übrig, als mit der Sache genauer herauszurücken. "Nein das nicht!" sagte er. "Was anderes. Weißt du, einem auf die Nerven gehen!" Das also war es! Da hatten wir es also! Den Ton, mit dem die Tante im Kindergarten das zu ihm gesagt hatte, hatte er wohl schon verstanden, nur eben noch nicht die ganze Musik!
Ähnlich verhält es sich nun auch mit den Erlebnissen im Schoß der Kirche. Vornehmlich an Weihnachten, wenn man die Kinder zu den Krippen mitnimmt, wo es viel Glanz und Herrlichkeit zu bestaunen gibt, sind auch die Leistungen, die von den Kleinen abverlangt werden, immens. Schließlich geht es beim Jesuskind um ein Kind. Und da man selber auch ein Kind ist, so liegt nahe, dass man alles fachmännisch begreifen muss, was da geschieht. Gerade auch bei den Weihnachtsliedern sind mithin die Kinder aufs Äußerste herausgefordert. Da ist zum Beispiel das Lied "Stille Nacht, heilige Nacht". Wie ich hörte, hallt es an Weihnachten sogar noch über den atlantischen Ozean hinüber, bis in die amerikanischen Urwälder. Ich sage das nur, um noch einmal auf die für die Kinder unabweisbare Arbeit der Rekonstruktion aufmerksam zu machen. In diesem Lied kommt die Stelle vor: "Gottes Sohn, o wie lacht/ Lieb aus seinem göttlichen Mund,/ da uns schlägt die rettende Stund." Was für ein verrückt gedrechselter Satz mit seinem Enjambement, den selbst mein Computer glaubt bekritteln zu sollen. Von 100 Fragen an einen 2-3jährigen befassen sich 90 damit, was einer macht. Was macht der Bär und was der Frosch und was die liebe Sonne? Hat man nun umgekehrt ein Prädikat, so möchte man auch wissen, wer es ist, der da auf die geschilderte Weise tätig ist. Wer ist also der, der da lacht? Wie soll da ein Kind just auf die "Lieb" kommen "aus seinem göttlichen Mund"? Da liegt doch entschieden näher, einen Owi zu postulieren. Auch wenn man den Namen noch nie gehört hat, warum soll es nicht einen Owi geben, der die Aufgabe hat, an Weihnachten zu lachen?
Ein anderes Beispiel bietet uns das Lied "O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit". Was ist das für eine Zeit? Gnadenbringend? Was sind das: Gnaden? Nein das ist selbst noch für einen Grundschüler zu viel. Wie kann man Gnaden bringen? Selbst wenn er in etwa eine Ahnung davon hat, was man unter Gnaden versteht, nämlich etwas Unsichtbares, so erhöbe sich als nächste Frage, ob man überhaupt etwas bringen kann, wenn es doch kein Mensch sieht? Da hat sich der 5jährige Forscher doch weise für eine Konjektur entschieden, nämlich die Weihnachtszeit als knabenbringende Zeit anzuerkennen. An Weihnachten kommt ja das Jesuskind zur Welt. Und das ist ja ein Knabe. Wenn da also Knaben zur Welt kommen, so kann man die Weihnachtszeit durchaus als eine knabenbringende Zeit bezeichnen. Nein, der Beispiele ist kein Ende. Nach 20 oder 40 oder 60 Jahren, wenn du allein in der Küche stehst und dem Küchendienst nachkommst, denn Töchter und Küchengehilfen hast du schon lange nicht mehr, fällt dir plötzlich das Eine und das Andere wieder ein. Und du beginnst zu schmunzeln, wenn du dich daran erinnerst.
Gehört der Austausch von Briefen nicht mit zum Herrlichsten, was es nur gibt? Wie viel lustige Einfälle, wie viel Spannendes oder auch Entspannendes, wie viel Ernstes und Geistreiches, aber auch wie viel Heiteres und Humorvolles lässt sich nicht auf einem Stückchen Papier zu Gesicht bringen! Das Nebenbei und das Zufällige werden plötzlich zu geheimen Angestellten, Hauptsächliches und Brandneues zu umschleichen und schicklich zu machen. Sich ansonsten Wichtig-Machendes, wie frischer Ärger, quälende Sorgen, bedrückende Nachrichten, sinken so zu etwas Fernstehendem und Erträglichem, wenn nicht oft sogar zu etwas Unbedeutendem herab. Und erst das Beschreiben von Postkärtlein, einer cartolina postale oder einer carte postale oder einer picture postcard! Ist die kleine Fläche, die uns eine Postkarte zum Schreiben bietet, nicht ideal dazu angetan, auf lustige Weise, mehr oder minder versteckt zum Ausdruck zu bringen, dass es uns gut geht?
Wenn wir in vergangenen Tagen, als wir noch verreisen konnten, von zuhause wegfuhren, sei es ins Gebirge oder in ein liebliches, vom Fremdenverkehr noch nicht heimgesuchtes Städtchen Italiens, da dachten wir weniger an diesen oder jenen zackigen Dreitausender, den wir besteigen und wo wir unsere Wimpel hissen würden, noch auch an diesen oder jenen See mit hochsommerlichen Bootsfahrten, da dachten wir eher an die vielen kleinen Eindrücke, die wir tagsüber sammelten, um sie dann des Abends bei einem Mocca oder einem Gläschen Chianti zusammen unter den Arkaden eines pittoresken Marktplatzes sitzend auf einem Postkärtlein aufgeschrieben für die zuhause Gebliebenen losfliegen zu lassen. Oder wir saßen in einer Bauernwirtschaft und ließen uns so recht eine Jause schmecken, derweilen unter unserer Hand, fast wie von allein, ein Wanderspruch zur Welt kam.
Natürlich handelt es sich bei den hübsch beschriebenen Postkarten nicht um eine Erfindung von uns. Zumal die stichische Form, wie sie sich dem Raum einer Postkarte anzupassen weiß, gehört schon seit Jahrtausenden mit zum Elegantesten, was sich guter Geschmack und literarisch gebildeter Geist nur auszudenken vermögen. "Jena im Tal der lieblichen Saale", begann da einer aus der Zeit des Expressionismus eine Postkarte zu bekritzeln. Aus jener Zeit oder ein klein wenig früher stammt auch eine Postkarte von Apollinaire: "Je t' écris de dessous la tente", dessen Gedichte fast alle wie auf Postkarten geschrieben zu sein scheinen. Allbekannt ist auch die Antwort, die uns Julius Cäsar einst auf eine Einladung von uns zukommen ließ. Dass er, als der Mann der Kürze, sie auf eine Postkarte niederschrieb, versteht sich beinahe von selbst. Er befand sich damals in der Schweiz, in Richtung Germania superior, sodass es für ihn ein Katzensprung war bis hinauf zu. Mitsamt dem eidgenössischen Poststempel für Frühgeschichte kann man die Karte noch heute im Basler Museum bewundern. Sie lautet: "Hinauf, hinab, die Alpenpässe nacheinander/ wünscht Cäsar Waidmanns Glück Freund Martin Ganter!" Ja; damals hatten wir, um gleich die volle Wahrheit zu sagen, Julius Cäsar zu einem Abendessen geladen. Er hatte uns auch schon zugesagt, war dann aber noch etwas länger auf der iberischen Halbinsel bei den vierschrötigen Lusitaniern, wie er selber sagte, aufgehalten worden. Später erfuhren wir dann allerdings, dass er sich etwas zu lange am Gardasee mit Catulls Lesbia befasst hatte und dies gewiss nicht nur, weil er seinem Freund Catull noch ein Schmähgedicht auf Cicero in Auftrag gegeben hatte. Wie dem aber auch immer gewesen sein mag, jedenfalls wusste er, was sich Freunden gegenüber geziemt. Und so schickte er, nachdem er die Karte von einem nubischen Elefanten herab geschrieben, einen Eilkurier davon, die Nachricht nach Basel zu überbringen. Nicht nur der kundige Historiker, jedes Schulkind kennt die weltgeschichtlich so bedeutsame Stelle. Sie befindet sich in der Nähe des großen St. Gotthard, wo es hinab nach Andermatt geht. Und selbstverständlich weiß auch jedes Schulkind, dass unser Gastfreund noch vor seinem Kurier bei uns eintraf. Letzterer versuchte uns weiß zu machen, als er verschwitzt und außer Atem bei uns ankam, von alemannischen Räuberbanden im Höllental aufgehalten worden zu sein, was natürlich ein großer Schwindel war. Cäsar, geistig behände wie er war, versetzte darauf, er sei mit Catulls Phaselus den Höllenbach hinab gefahren. Dieser Phaselus wisse die kürzesten und gefahrlosesten Sturzbäche und Schleichwege ganz von allein. Und so gab es denn damals ein großes Gelächter, zumal da wir uns bereits bei der dritten Flasche Malvasier befanden.
Wie der Leser wohl zu ahnen beginnt, ist gut, wenn einem bei einer solchen Konversation ein riesiges Register von Einfällen und geistreichen Bemerkungen zur Verfügung steht. Dann bliebe einem nur noch das Problem der Auswahl. Wie man nämlich beim Briefschreiben den Adressaten in Gedanken umschweift, so wacht gleichsam auch der Adressat bei unserem Schreiben über uns, dergestalt dass wir stets der sozialen Rangfolge und anderer Rücksichten Rechnung zu tragen haben. Cäsar konnte wohl auf die oben angegebene Weise schreiben. Doch wir? Hätten auch wir von uns aus so an ihn zu schreiben vermocht? Wir, die wir noch keinen Hannibal, noch nicht einmal einen Offizier oder Scharführer des Vercingetorix besiegt und gefangen genommen hatten? "Sehr geehrter Herr", beginnen wir ein Schreiben an einen Hochgestellten, wie etwa an einen Schulrat, an einen Bürgermeister "in aller Demut übersende ich Ihnen hiermit dieses Schreiben, in der Hoffnung etc." Und wenden wir uns an einen Theatervorstand unserer Stadt wegen eines von uns geschriebenen Schauspiels und wir bitten ihn um Mitteilung einer Stelle, die für neuere Erscheinungen zuständig ist, so entschuldigen wir uns eine Woche später bei ihm, wenn wir keine Antwort bekommen, ihn belästigt zu haben, indem wir ihn versichern: "Als Diener des Theaters mussten Sie ja immerhin unser Schreiben in den Papierkorb werfen." Schreiben wir aber an einen Ministerpräsidenten oder an einen Außenminister, und wir begehren etwas, so lassen wir klüglich auch keinen seiner vielen Titel außer Acht. Ein Schiller wird, bei allem Stolz und aller Selbstbewusstheit, nie übersehen, dass der geheime Rat Goethe eben der geheime Rat Goethe ist. Mag er auch seinen Freund Körner mit den Worten "liebes, altes Haus" anreden, und mag er dem Hölderlin in Tübingen auch den Marsch blasen, weil die Welt nun einmal nicht zum Träumen da ist. Einem Goethe gegenüber bleibt er stets ein wenig jener Karlsschüler, als welchen Goethe ihn mit dem Herzog in Stuttgart das erste Mal getroffen.
Wann bin ich ganz frei? Wann bin ich "ich selbst"? Wann weiche ich am wenigsten ab von dem mir schicklichen Naturell und der mir geschuldeten Selbstachtung? Wann entwickle und entfalte ich mich am besten?
Mitunter gerät selbst eine Postkarte an einen der jüngeren Brüder zu einem hochproblematischen Unterfangen. Zum Teufel, denkst du dann. Muss ich denn immer den Oberlehrer spielen? Da stockt dir der Atem, da verfliegt dir alle Lust, und schon ist aus dem wundervollen Vergnügen, die Feder tanzen zu lassen, eine saure Pflicht geworden. Hast du aber einmal die Adresse geschrieben und den Adressat ins Visier genommen, dann musst du auch etwas niederschreiben. Endlich, nach vielem Hin und Her, in deinen Haaren findet sich längst keine Ferienlaus mehr, so sehr hast du es schon zerwühlt, kommst du doch noch auf ein Zeilchen. Es lautete: "Singst du nur viele schöne Lieder, scheint dir die Sonne immer wieder." Freilich ist das Sprüchlein nicht eben der allerhöchsten Weltweisheit voll. Und doch: ist es nicht allerliebst, wenn wir Menschen fröhlich auf die Sonne warten, mag sie auch gleichermaßen über Gerechten und Sündern aufgehen? Und lässt sich nicht an die Sonne glauben, als käme sie, uns mit ihrem Kommen zur Fröhlichkeit zu stimmen?
Es gibt da indessen, sofern einem nichts Produktives zum Niederschreiben einfallen will, noch einen Ausweg. Man rede sich ein und mache sich vor, als hätte sich nicht an den bestimmten Menschen zu schreiben, sondern an einen ganz anderen! Wie manches Mal dachte ich doch schon, teils heiter, teils beklemmend, wenn ich ein Bündel Briefe zum Briefkasten trug, wie das wäre, wenn ich mich in den Adressen geirrt hätte! - Da stand nun also ein Schreiben an den jüngsten Bruder an, der eben 46 Jahre alt geworden. Erst hatte ich den Eindruck, niemand anderem beim Schreiben zu begegnen als dem alten Oberlehrer in mir, eine Rolle, die ich nun schon 46 Jahre ausübe, die mir aber längst gewaltig zuwider ist. Schon juckte es mich, etwas wenig Kultiviertes von mir preiszugeben, doch dann erinnerte ich mich plötzlich daran, dass wir ja das 200. Todesjahr Schillers haben und dass der Herr Bruder eben gerade Schillers Lebenszeit erreicht hatte, während wir selber uns bereits im Dasein eines Patriarchen befinden. Das war dann der archimedische Punkt, als hätte mich die deutsche Literaturwissenschaft um einen Vierzeiler gebeten, mich ins Verzeichnis ihrer zur Unsterblichkeit auserwählten Autoren aufzunehmen. Ja, das war dann so recht der Kondensationspunkt, von dem aus der folgende Vierzeiler lebendige Gestalt annahm:
Als wir so alt wie Schiller waren,
bliesen wir auch der Freiheit Fanfaren.
Doch alt geworden wie ein Goethe,
liegt näher uns der Weisheit Tröte.
So schrieben wir da. Und wenn man das Postkärtchen nicht weggeschmissen hat, so lebt es auch heute noch.
Ein feiner Spruch, ein Zweizeiler oder Vierzeiler auf einer Postkarte muss freilich nicht immer nur ironisch oder witzig pointiert sein. Mitunter lässt sich in einer solchen Form auch eine Summe einfangen. Jedenfalls muss man sich vor einem solchen Versuch nicht scheuen, wie auch wir uns nicht gescheut haben.
Ruth, die Frau meines lieben Kollegen Karl aus der Physik ließ uns nämlich jüngst wissen, dass es nicht mehr allzu gut um seine Gesundheit bestellt sei. Vor allem sei er schrecklich vergesslich geworden und finde sich nicht mehr zurecht. Und da nun sein Geburtstag bevorstand, so war guter Rat teuer, wie wir uns zu seinem Geburtstag einbringen sollten. Zuerst dachten wir noch daran, es mit einem Glückwunsch durchs Telefon bewenden zu lassen. Doch dann, während wir am Frühstückstisch saßen und die Novembersonne sich anschickte, mit ihren rosenfingrigen Strahlen die grünen Wiesenmatten mitsamt den noch auf ihr grasenden Kühlein noch einmal zärtlich zu betätscheln, erinnerten wir uns an Karls jährlich wiederkehrende Melancholie bei der Sommersonnwende, und wie nun die Tage schon wieder so kurz geworden waren, dass sie schon bald nicht anders mehr könnten, als wieder länger zu werden. Die ganze Familie weiß davon ein Liedlein zu singen und der Sohn vergisst nie, an Johannis uns daran zu erinnern. Und doch: wird nicht alles kürzer um uns herum und verliert an Festigkeit und Halt, und was wir in den Tagen der Jugend einmal als unabänderliche Wirklichkeit und feste Natur bezeichnet haben, verschwimmt und verblasst es nicht nach und nach, dass einem wohl scheinen mag, als sei alles um einen herum nichts als eine große Märchenlandschaft?
Ja, einst hatten wir uns gemeinsam an die Erforschung der Natur gemacht, da hatten wir sie beobachtet und Experimenten unterzogen, da hatten wir gemessen und Korrelationen aufgestellt und Gesetze aufgefunden, über die wir dann wieder Vorhersagen trafen, um weitere neue Experimente zu starten. Die Natur aber hatte sich alles ruhig gefallen lassen. Jetzt aber , leise lächelnd, hatte sich die Natur diesen unseren Überprüfungen entwunden und war wieder zurückgekehrt zu den Tagen der Kindheit. Jedenfalls für uns. War also nicht auch für uns die Zeit gekommen, uns leise lächelnd zu bescheiden und zufrieden zu geben? Und so schrieben wir ihm nun also die folgenden Zeilen:
Der Wendekreis des Krebses ist vorüber,
Novemberlicht streift jetzt die leere Flur,
Einst forschten wir zusammen, Karl, mein lieber,
jetzt werden wir erforscht von der Natur.
"Ob sie es so verstanden haben?" überlegte sein Weibchen. Es war da von einem Postkärtlein die Rede, das unser Held in die Welt hinaus geschickt hatte. Genauer noch handelte es sich um einen Kuchen, den ein ihnen bekanntes Paar beim Sommerbesuch mitgebracht und das sie nun im Winter in aller Behaglichkeit und Stille aufgegessen oder - wie er schrieb- aufgefressen hatten. Sein Weibchen macht sich halt immer mal wieder so seine Gedanken, ob da nicht das eine und andere Wörtlein provokativ klingt und ins falsche Öhrchen gelangt. Und statt sich frei auszudrücken und souverän mitzuteilen, wie sie es empfindet und wie ihr ums Herz ist, bemüht sie sich, alles nur Mögliche zu tun, dass es zu keinen Missverständnissen kommt. Und da ist ihr dann eben das abscheuliche Wort vom Auffressen des Kuchens im Ohr hängen geblieben, als wär er ein wilder Wolf aus dem Märchen. Unser Held hat schon öfters einmal nachgehakt, bald heiter scherzend, bald etwas ärgerlich über diese ihre gewiss gutgemeinten Ratschläge und ihre restriktive, sich den Leuten anpassende Redeweise. Sich notfalls auch einmal etwas klein zu machen, um verstanden zu werden, das ist nicht seine Art, es sei denn dass er es auf die Aufführung einer Posse angelegt hat. Meist sind es die Erstklassenlehrerinnen, die er dann aufmarschieren lässt, von denen er noch so manch eine in Erinnerung hat. Nichts verdirbt seiner Meinung nach die Schar der angehenden Männer so sehr wie diese Sittenwächterinnen, die nur deshalb immer wieder die Flöten des guten Tons anstimmen, weil sie nichts Besseres gelernt haben. Oder er spricht von jenen Frauen, deren unendlich ewige Aufgabe er dahingehend beschreibt, dass er sie ihre Fensterscheiben so lange und so sauber putzen lässt, bis selbst der Herr Pfarrer dahinter als böser Wolf erscheint. - Was einer tut, so unseres Helden unmaßgebliche Meinung, mag man vergleichen mit dem, was die anderen tun; letztendlich aber muss jeder vor sich selber verantworten, was er tut, wenn er nur niemanden verletzt. Und ein frisch beherzter Ton sei eben doch auch nicht immer nur zu verachten. Da sollte man nicht immer danach schielen, was zartbesaitete Seelen dabei empfinden. Wer auch könnte jegliches Menschen Meinung treffen, wenn jeder eine andere hat? und meist ist es ohnehin keine gute; ganz davon zu schweigen, dass da ein fein gekleideter Rattenfänger auf die Idee kommen könnte, sich als meinungsgebende Instanz vor dem Heer der Duckmäuser aufzuspielen! Frauen indessen sind keine Männer. Von daher ist auch fraglich, ob sie so sehr nach Freiheit und Selbstdarstellung aus sind wie die Männer. Nicht dass sie wünschten, von den Männern unterdrückt zu werden, von solcherlei ist hier nicht die Rede. Ein Schuft, wer als Mann seine Frau unterdrückt! Jene Freiheit aber, um die es unserem Helden geht, ließe sich etwa so umschreiben: "Ich rauch mein Pfeifchen und pfeif mein Lied. Heil dem, wer mich hört und mich gerne sieht!" Es ist da wohl auch etwas von einem Revier zu hören, das die Männer für sich reklamieren. Frauen scheinen mehr auf Eintracht aus zu sein, auf harmonisch geselliges Zusammensein, auf Austausch statt auf Diskurs. Unser Weibchen kennt natürlich ihren Pappenheimer. Und wie sie ihm in allen Kleidchen gefällt, so auch er ihr in seiner Freiheitsliebe. Am liebsten nähme sie seinen Kopf jeden Tag 24 mal zur Hand, drückte und presste ihn an sich und sagte dann zu ihm: "Was für ein kleiner Dickkopf du doch bist!" Weil das aber nicht genügt und er jederzeit in der Lage ist, um seiner Freiheit willen Schicklichkeit und Vernunft über Bord zu werfen, so hat sie ja durchaus auch Recht, wenn sie ihm stets auch etwas Mäßigung nahelegt. Im Übrigen wollen wir nicht vergessen, wie wenig unser Held schon ein Held war, als er sein Mädchen kennen lernte. Das war vor nun schon 40 Jahren. "Ihr Mädchen und ihr Frauen", sagte er damals, "wie wunderbar seid ihr doch geschaffen zum Leben, wie so ganz anders als wir Männer, so wunderbar passend zu uns, bald uns anspornend zu großen Taten, bald uns beschwichtigend, wenn man uns und unser Riesentalent verkennt!" Mehr sagte er damals nicht. Er wusste aber, zumal als sein Mädchen krank wurde, dass es von nun an vornehmlich an ihm lag, sie so recht zu verzaubern. Und wenn er sie auch nicht mit allem Gold und allen Perlen und Geschmeide der Welt überhäufte, ein kleiner Knauser war er leider noch immer, so wollte er ihr wenigstens so erscheinen, dass ihr bei seinem Anblick warm ums Herz würde. Jawohl, wie ein kleiner Magier wollte er alle Traurigkeit aus ihrem Leben bannen. Sie aber lächelte und sprach: "Komm nur mit! Aus uns lässt sich schon noch etwas machen. Lass es uns nur versuchen!" Und so mag für dieses Mal einerlei sein, ob er den Kuchen sorgsam und schicklich nach Bilderbuchart aufgezehrt hat oder nicht. Mag, wen es gelüstet, zu uns kommen und nachsehen, was sie aus ihrem Helden gemacht hat. Wir meinen, es lässt sich sehen.
Seit der Etablierung der Herrschaft durch Zeus bis hinein in unsere Tage ertönen Geschichten vom goldenen Zeitalter. Allbekannt ist dieses Zeitalter als die Zeit, als jeder noch für sich lebte, glücklich und zufrieden, ohne dass einen fortwährend Gewissensbisse quälten, ob man alles auch allen alles recht getan hatte, oder wo man Angst haben musste wegen gemeiner und niederträchtiger Absichten eines Zeitgenossen. Gedanken an eine oberste Machtinstanz und an eine Weltzentrale, die das Gute belohnte und das Böse bestrafte, verseuchten damals noch nicht unser Denken. Erst nach der großen Flut, wie die alten meinten, und als die Menschheit anfing, Weltgeschichte zu treiben und Hass und Neid und Habsucht die Herzen verstörten, kamen die Defizite so recht zum Vorschein und so richtete sich von da an denn die Hoffnung auf ein Reich des ewigen Friedens. Griechen und Römer, und vor ihnen schon die Völker des Alten Orient, sangen Lieder, zumal nach Jahren Jahrhunderte währenden Bürgerkriegs, in der Hoffnung auf einen ewigen Frieden. Die Väter des Christentums vollends waren sich sicher, noch in ihren Lebtagen sich in dieser Hoffnung bestätigt zu sehen. Und wenn sie es auch nicht in allen Einzelheiten auszusprechen vermochten, so träumen sie doch gerne von einem großen Tag, an dem ein goldenes und glückliches Zeitalter Einzug hält in unsere Welt, mit einem Weltenherrscher, dem die Guten Liebe schulden, die Verständigen Achtung, die Übrigen aber in schuldigem Respekt verharren. Die Weltgeschichte schert sich im Übrigen schon lange nicht mehr um ein goldenes Zeitalter. Sie hat am geraubten Golde genug. So war es schon immer und so wird es wohl auch bleiben. Der rote Faden der Weltgeschichte ist und bleibt das rote Gold. Und während das Gold der ausgeraubten Inkas das Reich Karls V. überstrahlte, war es nur der Ritter von der Mancha, dem noch das goldene Zeitalter lieber gewesen wäre. Er saß damals bei den Ziegenhirten. Und während er von ihrem Käse aß und von ihrem Wein trank, fand er es passend, in Zusammenhang mit dem Beruf des fahrenden Ritters dessen Rückeroberung zu verkünden. Versteht sich, dass er dabei weder von den Hirten verstanden wurde, noch auch, dass er dadurch den weiteren Zerfall jener im goldenen Zeitalter so hochgepriesenen Werte wie den der Bescheidenheit, der Genügsamkeit, der Züchtigkeit und der Gerechtigkeit hat verhindern können.
Man mag sich im Gegenzug dazu fragen, was denn unser Säkulum zu erreichen sich vorgenommen, wenn es so rücksichtslos auf den Erfolg setzt. "Um des Erfolges willen mach, was du willst; nur bring zuerst die Gesetze auf den Weg, wie sie dir am besten dünken und wahre dann die Form, die eben diesen Gesetzen entspricht!" Das ist die Losung, die überall und durchweg gilt.
Der Tag indessen, als das Gerichtswesen entstand und die ersten Gerichtssäle zusammen mit den ersten Gesetzbüchern und den ersten Gefängnissen das Licht der Welt erblickten, war für die Menschheit gewiss kein guter Tag. Von nun an stand fest, dass die Freiheit als allgemeine Lust auf Gutes und Schönes ausgedient hatte. Von nun an musste der Zwang zum Guten verhelfen. Und wehe, wer sich renitent zeigte! Doch die Freiheit ist seitdem vergiftet. Keiner denkt mehr an die Freiheit aller, jeder nur noch an die Freiheit für sich selbst. Die Freiheit als das Recht eines jeden für sich selbst pocht unter der Fahne der Gleichheit auf Sonderrechte von Gruppen und Grüppchen, sodass ein allen gemeines Gesetz kaum mehr möglich ist, noch auch ein Abwägen der verschiedenen Interessen.
Wir ja sind auch Zeuge geworden, wie sich die Unordnung Bahn zu brechen suchte! Oder hatten wir nicht mit Ingrimm wahrgenommen, wie sich eine Gruppe von Studenten und Studentinnen vom Studiengeschehen eigenmächtig absetzte und sich dem Diktat von ein paar trüben, im Hintergrund agierenden Mannsgestalten beugte? Ging es zur Beobachtung hinaus ins Freie, so hieße es: "Müssen wir denn da hinaus? Das Wetter ist so schlecht. Man kann nichts sehen. Man wird da nur nass. Da werden wir krank." Und wenn es galt, die Grundlagen zu erlernen, so hieß es: Das ist zu viel; das schafft ja kein Mensch; wir haben noch andere Fächer, für die wir arbeiten müssen!"
Einen Aufstand anzuzetteln, wenn man ihnen nicht nachgab, lag diesen Leuten durchaus nicht fern. Was in einem großen Fach, wo ein Heer von Experten einstimmig beschließt und durchsetzt, was sein muss und gelernt werden muss, das glaubt in einem kleinen Fach eine kleine Schar selbstherrlich zur Disposition stellen zu sollen. Und läuft nicht alles nach Wunsch, so versucht man es eben mit Kampf. Endlich - die Grenze des Erträglichen war nun erreicht! - hatten wir uns verschworen, den Lernstoff gnadenlos bis aufs letzte Tüpfelchen gemäß der Studienordnung einzufordern. Hatten wir früher bei ähnlichen Veranstaltungen für die leiseste Artikulation des guten Willens bereits unser Wohlwollen bekundet und einen Schein ausgestellt, so sollte jetzt keiner mehr mit einer kleinen Bekundung seines guten Willens davonkommen. Keiner von dem renitenten Gesindel sollte sich sein Testat auf die Schnelle erwerben, keiner mit einer faulen Ausrede sich durchschlagen! Und doch! Begannen wir, als wir uns vornahmen, sie kluges Verhalten zu lehren, nicht damit, unserer eigenen Klugheit einen Streich zu spielen?
Als müsste die Gerechtigkeit immer erst das Vorgelände der Ungerechtigkeit durchwaten, traf es als Erstes einen harmlosen Sünder: eine Mitläuferin, eine Studentin. Sie hatte in den Veranstaltungen nie gefehlt und hatte sich weiter auch nichts zuschulden kommen lassen, als dass sie unauffällig geblieben war und nichts zum guten Geist in der Gruppe beigetragen hatte. Man schweigt eben, mischt sich weiter nicht ein, lässt alles laufen, wie es läuft, ob die Wölfe auch heulen und Unschuldige niedergeschlagen werden, wenn man nur selber mit heiler Haut davonkommt. Dieser Studentin aber fiel eines Tages ein, dass sie dringend einen benoteten Schein brauchte, um sich zum Examen anzumelden. In vier Tagen war der letzte Termin für die Anmeldung. Da hatten wir nun also bereits unseren Präzedenzfall. Hatten wir uns nicht vorgenommen, für dieses Mal keinen benoteten Schein blindlings auszustellen? Hatten wir uns nicht dazu durchgerungen, die Meute fühlen zu lassen, wo sie schon nicht hatte hören wollen? Und nun sollten wir nach drei Tagen bereits den ersten benoteten Schein herausgeben, wo wir sie zwei Wochen mindestens hatten schwitzen lassen wollen?
Besagte Studentin hatte nun, wie ich wohl annehme, einige Tage fest gearbeitet. Als sie uns ihre Arbeit brachte, zeigten wir uns gleichwohl nicht zufrieden. Wir fragten nach diesem, wir fragten nach jenem; dabei pickten wir auch heraus und ließen uns zeigen, wovon wir wussten, dass es ohne konzentriertes Studium nicht zu bewerkstelligen war; an allem endlich hatten wir etwas auszusetzen, sodass wir sie ohne Zusage entließen. Vor dem entscheidenden Stichtag war die Studentin dann noch einmal bei uns. Wieder ließen wir uns die Dinge zeigen. Natürlich war trotz einiger Verbesserungen noch immer nicht alles so, dass man restlos damit hätte zufrieden sein können. Im Stillen gedachten wir, die Studentin noch bis zum nächsten Tag zappeln zu lassen, um dann beide Augen zuzudrücken; doch dann kam es plötzlich ganz anders. Plötzlich nämlich stand die Studentin auf und eilte davon. Unvorbereitet, wie wir waren, blieb uns nichts anderes übrig, als sie ziehen zu lassen. Erst zuhause, als wir alles noch einmal Revue passieren ließen, merkten wir, dass wir doch wohl über das Ziel hinaus geschossen waren. Wir erinnerten uns, wie die Finger der Studentin gezittert hatten, als wir uns die Sachen hatten vorführen lassen. Aus alledem ergab sich für uns jetzt, dass wir das Prinzip der Verhältnismäßigkeit außer Acht gelassen hatten. Da wir es an gutem Willen hatten fehlen lassen, waren in unserem Prüfverfahren Demütigungen und Unterdrückungen mächtig geworden. Den zu respektierenden Stolz der Studentin hatten wir verletzt und waren damit zweifellos selber weit über das schickliche Maß hinausgegangen. Jawohl, der Sache nach war ich zwar im Recht, nicht aber dem Verfahren nach, wie ich es bislang praktiziert hatte.
Wozu habe ich das alles erzählt? Nun, um deutlich zu machen, dass ganz zweifellos auch wir unseren Beitrag dazu geleistet haben, wenn die Rede vom goldenen Zeitalter inzwischen verstummt ist. Und wenn uns am jüngsten Tag die Studentin verklagt, dass wir Mitschuld tragen, dass das goldene Zeitalter nicht zurückkehren konnte, so hat sie ja Recht. Wenn jedermann mit sich zufrieden und ausgeglichen glücklich wäre, wenn er alles hätte und nichts bedürfte vom dem, was sein Nachbar hat, so dass ihn auch nie das Gelüst ankäme, etwas zu rauben, selbst wenn ihm der Teufel eine solche Versuchung einflößte, wenn er rücksichtsvoll und guten Willens wäre: dann könnten alle so leben wie jene Kyklopen, von denen es heißt, dass ein jeder für sich auf einem Felsgebirge hauste, umtürmt nur von Gesteinsbrocken und Kraterschlünden. Da wir aber nicht so zufrieden und glücklich sind, da wir einen Brotberuf brauchen, um Geld zu erwerben und das Leben zu fristen, hausen wir wie die wilden Tiere und hetzen uns zu Tode, und sei es auch nur, um uns selber am Leben zu erhalten.
Bei den Wanderungen im Freien, die er mit Studenten der Pädagogik unternimmt, damit diese später mit ihren Kindern ähnliche Wege beschreiten und Aufgaben übernehmen, zählen für unseren Helden die beiläufigen Gespräche der Studenten oftmals zu den unvorhersehbaren Bereicherungen , wenn sie etwa beim Sammeln oder beim Beobachten von Tieren oder beim Erkunden geschichtlicher Zeugnisse von zuhause zu erzählen beginnen, insbesondere wenn sie von Vater und Mutter erzählen, die für einige von ihnen noch ganz selbstverständlich und unanfechtbar die großen Vorbilder sind. So war es, als wir uns das Verhalten der Vögel in ihren Brutrevieren ansahen, so war es auch als wir uns den Schanzarbeiten zuwandten, die hier rings um Freiburg auf die Zeiten des 30jähirgen Krieges wie auch auf ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts verweisen. Kinderlieder wie der Hoppe Reiter erzählen ja noch davon und auch manch ein Schanzlied, das in des Knaben Wunderhorn eingetragen steht, erinnert an jene Zeiten. Als ich dann Zu Straßburg auf der Schanz intonierte, war es eine Studentin, der das Lied von Seiten ihres Vaters her bekannt war und auch bei den Tierspuren und Sammelobjekten wie Steinen, Blättern, Nüssen, Beeren oder Heilpflanzen war stets jemand zur Stelle, der von Zuhause etwas dazu zu berichten wusste.
Noch ehe das Kind weiß, was es mit dem Leben auf sich hat, sind ja die Eltern da. Kaum anders als die Berge und der Himmel über den Bergen sind sie da, mitsamt der Sonne und dem Lächeln des lieben Gottes, beinahe alterslos und zeitlos, bis dann eines Tages, plötzlich und unerwartet, das Unfassbare geschieht und sie den Weg gehen, der uns allen bevorsteht. Während unserem Helden diese ihm so liebe Welt längst untergegangen ist, ist hier oftmals noch alles so, als könnte es nicht anders sein und müsste immer so bleiben. "Meine Mama sagt mir dann ..." oder "Als meine Mutti so alt war ..." oder "Mein Papa kennt sich aus. Der hat schon alle Alpengipfel bestiegen", hört dann unser Held. Was für ein fundamentaler Besitz, die Eltern, zumal wenn er so selbstverständlich ist, als wär man noch immer ein Kind! Was für eine Gelegenheit, die herrlichsten Erinnerungen Gestalt werden zu lassen.
Hier nun erinnere ich mich eigens an eine gewisse Katharina Z. Vom Aussehen würde ich sie zwar kaum wiedererkennen, würde sie aber gleichwohl aus einer großen Schar herausfinden, indem ich nämlich etwas von Pilzen vor mich hinmurmelte, die manche Väter fein zuzubereiten wissen. Da würde sich gewiss die Studentin voller Zustimmung zu Wort melden und ich wüsste wieder, dass sie es ist. So etwa war es nämlich auch, als die Studentin in die Sprechstunde kam, ihre Hausarbeit abzuholen. Kaum dass sie erwähnte, dass sie mit Kindern auf Pilzsuche in den Wald gegangen sei und darüber geschrieben habe, war mir alles wieder gegenwärtig. Wie hatte mir der Bericht doch gefallen! Ein Mädchen, eine junge Frau, die noch so begeistert von ihrem Vater sprechen konnte, den sie als einen Pilzkenner erwähnt hatte und der dann darüber hinaus die Pilze am Abend auch noch schmackhaft zuzubereiten wusste! War das nicht eine allerliebste Empfehlung, sowohl für den Vater wie auch für die Tochter? Auf meine Bemerkung, dass mir der Bericht sehr gut gefallen habe, meinte sie: leider hätten sie dieses Mal mit den Kindern nur wenige Pilze gefunden. Doch beruhigte ich sie, dass es darauf ja nicht ankomme; dass für Kinder das Sammeln allemal das Wichtigste ist und dass die Erträge dafür dann das nächste Mal reichlicher ausfallen. Dann hatte ich ihr auch schon den Seminarschein ausgehändigt und sie wieder entlassen. Anschließend war mir fast wie einem verliebten Jüngling zumute. In der Tat! Haben wir nicht auch in unseren Tagen noch immer durchaus liebevoll erzogene und liebenswerte, nette Mädchen und Jungen bei uns? Katharina so hieß das liebe Kind, das mich an die Mädchen, die, auch wenn sie zu Frauen heranwachsen, auf wunderbare Weise Kind bleiben. Mögen die Männer nicht aussterben, deren Sorge es bleibt, dass ihre Frauen nichts von dieser ihrer kindlichen Frische verlieren, so dass sie auch noch im Alter heiter und unbeschwert mit ihnen zusammen zu leben vermögen!
Vielerorts kennt man sie nur als einsilbige Gesellen, die Straßenbahnfahrer und die Busfahrer, das heißt die Männer und Frauen, die tagaus. tagein die öffentlichen Transportmaschinen durch unsere Städte steuern. Nur durch eine schmale Öffnung zwecks Fahrkarten-ausstellen und Kassieren mit der übrigen Welt verbunden, sonst aber abgetrennt in ihrer Kabine, steuern sie die Verkehrsmittel durch unsere Städte. Dass man sich während der Fahrt nicht mit ihnen unterhalten darf, darauf machen einen darüber hinaus auch noch Hinweisschilder an mehreren Stellen im Fahrzeug aufmerksam. Zumal in unserem ewig sausenden und brausenden Verkehr wäre das Risiko einer verminderten Aufmerksamkeit viel zu gefährlich. Das einzige, was man von ihnen noch zu hören bekommt, wenn es nicht auch schon längst überall automatisch geregelt ist, ist die Ausrufung der nächsten Haltestelle, auf die man gerade zufährt.
Einmal aber, das ist schon lange her, wir besuchten damals noch das Gymnasium in der Stadt, gab es einen Fahrer, der eine Ausnahme machte. Er hieß Erich. Der ließ es sich nicht nehmen, aus der grauen Unpersönlichkeit des Amtes herauszutreten, so dass man in erster Linie nicht mit dem Bus, sondern mit Erich in die Stadt fuhr. Wir Schüler liebten diesen Erich, der, wie uns schien, mit Leib und Seele seinen Beruf ausübte. Wann immer wir morgens an der Haltestelle warteten, hofften wir, dass es Erich wäre, der uns mitnähme. Dabei fuhr er immer dieselbe Strecke: vom Bahnhof in der Stadtmitte hinauf nach Wäldenbronn und von Wäldenbronn zum Bahnhof zurück. Jeden Tag, ob im Winter durch Eis und Schnee oder im Sommer im heißesten Sonnenschein, immer fuhr er diese Strecke, nur mit dem Unterschied, dass sich zwar das Wetter, nicht aber seine gute Laune änderte. Trat man in den Bus ein, so wurde man von Erich stets freundlich empfangen, mitunter, wenn man sich krank fühlte oder wenn man Bauchweh hatte, etwa ob einer anstehenden Klassenarbeit, durchaus mit einer kleinen aufmunternden Nachfrage nach dem Wohlbefinden. Und fuhren wir dahin, so kommentierte Erich das Wetter und den Verkehr und was ihm sonst alles der Erwähnung wert schien. Ja er mit seinem offenen Gemüt und mit seiner mitteilsamen Seele hatte so recht ein Gespür für den Augenblick. Oder war es nicht wunderbar, wie Erich, wiewohl einer scheinbar nur sehr kleinen Tätigkeit nachkommend, ganz in ihr aufging?
Später dann habe ich Erich aus den Augen verloren. Erst seit geraumer Zeit, als wir wieder einmal auf ihn zu sprechen kamen, mache ich mir plötzlich Sorgen um ihn. Dabei ist er doch längst über alles Dienstalter hinaus! Hoffentlich wurde er mit seinem Bus nie in einen Unfall verwickelt. Wie so leicht kann man doch der Menschenfreundlichkeit den Strick drehen! Wo man als Fahrgast nicht mit dem Busfahrer reden darf, weil man ihn sonst beim vorsichtigen Fahren stört, hätte er ja im Sinn der Dienstvorschriften nie von sich aus ein Gespräch mit den Fahrgästen anknüpfen und aufnehmen dürfen! Wie viel Gutes er auch getan haben mag, wäre damals etwas geschehen, man hätte selbstverständlich ihm allein die Schuld gegeben. Dabei könnte ja sein, dass er zuhause eine kranke Frau hatte oder ein krankes Kind und dass er auf diese Weise sich ein wenig über die Sorgen erheben und alles vergessen wollte. Gebe Gott, dass er nie mit einem Miesepeter hat Bekanntschaft machen müssen, der mit Erichs Fröhlichkeit nichts anzufangen wusste und der ihn denunzierte! Es ist ja leider nur allzu wahr, dass einer, der aus einem Beruf etwas Besonderes zu machen sucht und sich dabei nicht sklavisch genau an die Vorschriften hält, nur allzu leicht zu Fall kommt.
Was für ein Bild, wenn die Müllautos sich durch die tiefverschneiten Straßen der Stadt ihren Weg bahnen, gefolgt von ein paar jungen Männern, die die Mülleimer fast wie Schneebälle so leicht dem Müllauto zuwerfen, um sie dann gut geleert wieder an ihren Platz zurückzustellen! Am liebsten möchte man, wenn man das sieht, noch einmal jung sein und mitmachen oder doch in einer solchen Gesellschaft leben, wo man durch keine irreführenden Erwägungen bei solch einem Vergnügen gestört würde. Morgens früh stünde man da auf, in aller Herrgottsfrühe, und los ginge es mit frisch zupackenden Händen und flinken Füßen, durch Gottes weite, weißverschneite und reine Welt, bis auch noch der letzte Schmutz aus dem letzten Eimer entfernt wäre.
Wer sonst war es als unser hier anwesender Schreiber, der so sprach! Vor Dreck hatte er jedenfalls keine Scheu, zumindest wenn er nicht allzu viel mit ihm in Berührung kam. Und wenn er auch verschmutzte Tischtücher nicht unbedingt stets als appetitzerstörend ansah, so beeilte er sich doch, wenn er einmal beim Abendmahl einen Flecken auf das reine und frische Tischtuch hatte kommen lassen, einen Gang in die Küche für selbstverständlich, denselben nur ja gleich wieder zu tilgen. Auch das Ausschütteln von Brosamen und anderen Schmutzteilchen vor Einnahme eines Mahles hielt er durchaus für geboten. Und doch stimmt es ja keineswegs, wenn wir solchen Impressionen des Augenblicks Dauer verleihen. Denn es macht doch einen riesen Unterschied, ob man es sich herausnimmt, als ein Wirklichkeit verkennender Schreiber oder als volksnaher Oberbürgermeister einmal hinter einem Müllwagen Dienst zu tun, oder ob man einer solchen Arbeit wie ein Galeerensklave Tag für Tag nachkommt, und das meist noch für einen erbärmlichen Lohn. Ähnlich mag man den Zugfahrer oder den Schaffner beneiden, dass er immer mit der Bahn fahren darf, weil man sich die Ankunft so wundervoll ausmalt. Ja, Kinder mögen das tun und sie mögen in ihrem Herzen eine solche Tätigkeit als etwas Grandioses und Erstrebenswertes erachten, da sie ausschließlich an den Handlungen Gefallen haben. Doch wo kommen diese Leute denn an? Ist es nicht gerade ihr Los, unentwegt unterwegs zu sein, ohne jemals irgendwo anzukommen?
Vom Gebrauch des Wortes "Dreck" und des Wortes "Dreckeimer" und ähnlicher Worte wäre jetzt noch im Besonderen zu sprechen. Seine Mutter war stets gegen solche Wörter, die sie "wüste Wörter" nannte. "Mülleimer" war das zulässige und erlaubte Wort und die Männer, die diese Eimer leerten, waren die Müllmänner. Kübel hätte sie wohl als Bezeichnung gleichfalls zugelassen wie auch Kübelmänner, wie die Müllmänner bei den Eidgenossen beinahe liebevoll heißen. Zu Lebzeiten seiner Mutter lachte unser Held nur leise oder er spöttelte gelegentlich auch über ihren restriktiven Sprachgebrauch, den übrigens auch seine Liebste mit ihr teilte, wiewohl er ihn als ein Kennzeichen guter Frauen uneingeschränkt gut hieß. Im Übrigen hatte sie ja auch Recht. Nebenbei bemerkt hat hier amtierender Schreiber noch nie anders Umgang mit Müll gehabt als auf die säuberliche Weise eingebildeter Vorstellungen. Noch nie hat er mit Müll zu schaffen gehabt, noch nie auf die Frage nach seinem Beruf antworten müssen, er sei ein zur Dreckeimerleerung verdammtes Subjekt oder ein Bediensteter der Müllabfuhr oder ein Gefängnisinsasse, den man zu diesem Geschäft ausgeschickt. Und noch auf etwas anderes kam es der Mutter da an. Da waren nicht nur die Müllmänner, die ihr am Herzen lagen. Da war auch ein gewisser Hang, den sie vornehmlich beim männlichen Geschlecht wahrnahm, der sie wachsam und aufmerksam auf den Sprachgebrauch achten ließ. Oder kommt man nicht leicht von den Dreckeimern zu den Dreckeimermännern, und von den Dreckeimermännern zu den Dreckspatzen, den Dreckskerlen und den Drecksäcken? War man bei solcher Nachbarschaft nicht auch schon bei den Wörtern abschätziger Rede, ja bewegte man sich da nicht bereits auf dem Feld der Diskriminierung, im Vorfeld der Verachtung und des Hasses, zumindest aber der gassenhaften und arroganten Gleichgültigkeit? Und fällt nicht endlich auch alle unsere Sprechweise auf uns selber zurück: dass, wer viel vom Dreck redet, selber auch mit Dreck zu schaffen hat und leicht Dreck an sich hat?
Wir stoßen hier in Regionen vor, wo der Soziologe und der Ethologe auf den Plan gehören, jener, indem er Licht ins Dunkel der gängigen Empfindungs- und Denkweisen bringt, dieser, indem er die entsprechenden Verhaltensweisen durchmustert.
Lust auf unflätige Wörter eignet uns Männern allemal, dass man beinahe etwas dafür gäbe, bei jedem Mann den entsprechenden Wortschatz als sein alter Ego und als seinen Charaktermesser zu erkennen. Wenn ich nur daran denke, in welcher genüsslichen Weitschweifigkeit Cervantes im 13. Kapitel des 2. Teils seines Don Quichote den Knappen des Spiegelritters, also seinen Nachbarn Tome Cecial sich weltmännisch über die Adelung durch den Namen "Hurenkind" vor Sancho ergehen lässt. Hier wäre auch ein Bereich, der für die Comedia del arte wie überhaupt für die Volksbühne bedeutsam sein dürfte. Gerade die Sprachgewohnheiten, wie sie spezielle Typen eines Volks bzw. die breite Masse besitzen, bis hin zu subtilen Unterscheidungen, die man nur in vivo, in der Tönung der Sprache und in Begleitung von mimischen und gestischen Zeichen versteht. Auf der Straße oder, wie es noch heute im Schwäbischen arglos heißt, auf der Gass, hörten wir als Kinder, dass man von einem Kind aus den ärmeren Schichten sagte, es strahle wie ein lackierter Dreckeimer, wenn es zufällig Glück gehabt hatte und selig staunend dastand; oder man sagte, einer schaue drein wie eine glänzende Speckschwarte: Ausdrücke und Redewendungen, die noch nicht ganz gemein gemeint waren, denen aber gleichwohl bereits etwas Von-oben-herab-Schauendes, Klassierendes und Deklassierendes beigemischt war. Mutter mochte diese Ausdrücke nicht leiden. In ihrem Sinn hatte man Sorge zu tragen, dass man sich von solchen, leicht zur 2. Natur werdenden Wertschätzungen und Redeweisen distanzierte.
Jawohl, Mutter hatte Recht. Und nebenbei sollten wir auch nicht unerwähnt lassen, zumal für Leser, die nichts lesen, dass oben genannter Cervantes zwar seine diebische Freude hatte an seinem Hurensohn, dass er gleichwohl aber auch seinem Sancho vor seinem Weggang zur Statthalterei unter den guten Ratschlägen, die er ihm erteilt, auch der findet, nicht nur nicht zu rülpsen, sondern auch nicht dieses Wort zu gebrauchen. "Eruktieren" soll er dazu sagen und damit einen Beitrag leisten, die spanische Sprache im feinen Sprechen zu bereichern. Selbst das Tätigkeitswort "schmeißen" hätten meine Mutter und mein Weibchen ob seiner lautlichen Ähnlichkeit zu einem Gassenwort nie gebraucht, wiewohl es als solches harmlos und in jedem Wörterbuch zu finden ist.
Wörter sind eben mehr als bloße Zeichen im Saussureschen Sinn. An den Gebrauch der Sprache sind immer auch Welten des Denkens und des Dafürhaltens, der Erinnerung und des Verhaltens verknüpft. Und was die Wahl und die Artikulation von Berufsnamen und Bezeichnungen betrifft, so kommt immer auch etwas von der Einschätzung zum Ausdruck, die man den jeweiligen Berufen entgegenbringt. Fragst du dich, was ein Müllmann und ein Regierungsrat oder ein geheimer Rat miteinander gemein haben, so ist es die allgemeine Bezeichnung der Berufe, wobei aber jener stets mit bedingter Achtung oder Verachtung einhergeht, dieser aber schon beim bloßen Aussprechen Respekt heischt. Mag man sich noch so sehr über die Errungenschaften der französischen Revolution freuen, mit Gleichheit und Freiheit ist es da vorbei. Mit einem Müllmann assoziiert man eben Müll oder Dreck oder, wenn man sich ein wenig in der Geschichte auskennt, Strafgefangene, die als Dreck- und Gassenkehrer zu solchen Diensten gezwungen worden, mit einem Präsidenten oder Kanzler aber einen tadellosen Mann der öffentlichen Gewalt. Und wenn es jemals Freiheit gegeben hat, einschließlich im Raum der Kunst und im Raum der sogenannten freien Berichterstattung, so nur die Freiheit, vor dem großen Mann in Ehrfurcht zu erstarren, im Blick auf den Armen und Kleinen, den Narren und Delinquenten sich großmächtig zu erheben. Zu den Freuden und Freiheiten des kleinen Mannes gehörte es, seinesgleichen zu verspotten und zu verlachen; tödliche Vermessenheit indessen wäre es gewesen, die Geschäfte der Mächtigen zensieren oder sich über sie mokieren zu wollen.
In Mutters Sinn spielten solche geschichtlichen oder soziologischen Betrachtungen kaum eine Rolle. Sie suchte keine Belehrung von außen, nach keinem Pragmatismus und opportunistischem Erwägen. Für sie war allein von Bedeutung, wie wir in unseren vier Wänden mit uns zu Streich kommen, wie wir uns beherrschen und in den Griff bekommen. Sich Schranken setzen zu können, ist gut. Und dies nicht nur des anderen wegen, den wir beleidigen könnten, auch um unseretwillen. Wie leicht und schnell werden wir nicht durch unachtsames und unbeherrschtes Tun zum Verräter an uns selber! Wie leicht vergehen wir uns nicht an unseren Lieben wie überhaupt am Menschen, wenn wir es mit der Selbstbeschränkung und Selbstbeherrschung nicht genau genug nehmen! Gerade auch an uns Männer mochte Mutter gedacht haben, an das Wilde und Vagabundische, das immer wieder zum Durchbruch strebende Unbeherrschte des Mannes, an seine Reizbarkeit und Unmäßigkeit, an seinen Ehrgeiz und seine Machtsucht. All diesem Rumor in der Rumpelkammer des Mannes durch stete Vorsicht mäßigend zuvorzukommen, das war es wohl, was sie damit bezweckte. Viel leichter geschieht es vermutlich, dass ein rechtschaffener Mann sich nicht mehr kennt als eine rechtschaffene Frau. Und wenn beide auch, wie es ab und zu bei ehelichen Auseinandersetzungen geschehen soll, die Fenster öffnen und ihren Unmut auf die Straße hinaus schreien, so ist es vermutlich meist doch die Frau, die dabei den Kürzeren zieht: weil sie sich mitten im Schreien schneller der peinsamen und unhaltbaren Lage ansichtig wird und sich schämt, während es dem Mann an diesem Punkt nicht mehr darauf ankommt, ob ihn einer mit seinem vor Zorn bebenden Karnickelkopf aus der obersten Etage seines durchlöcherten Baus herausschauen und pfeifen hört.
Jawohl, Mutter hatte Recht, wenn sie auch etwas dabei vergessen haben mochte. Schließlich braucht man hin und wieder auch einen Ort, wo es einem erlaubt sein mag, ein wenig zu wettern und Dampf abzulassen. Es muss ja nicht eben der Blitzstrahl Jupiters sein, es reicht ja, wenn man hin und wieder zum Schein aus der Haut fährt. Wenn uns einmal der Unmut packt, wenn es in uns blubbert und wallt und kocht, dann wäre ja gut, wenn man es gelernt hätte, den leidenschaftlich gewordenen Unmut vielleicht auch einmal mit einem Unwort oder einem Theaterdonner zu kanalisieren. Solche Fälle sollten sich freilich nur auf Ausnahmen beschränken, wobei aber auch hier noch immer zu gelten hätte, dass nicht sie uns beherrschen, sondern wir sie.
Vielleicht passt als eine kleine Illustration hierzu ein Traum, den meine Tochter jüngst sehr zu ihrem Vergnügen geträumt hat. Als Voraussetzung zum Verständnis desselben muss man kaum mehr wissen, als dass eine Fliege Dreck erzeugt, eine Zahnpaste aber mithilft, Zähne zu säubern. Als sie nämlich die Kinder im Badezimmer gebadet und gesäubert hatte, wurde sie Zeuge der folgenden Szene! Auf dem Boden lag eine Zahnpastatube, die sich eben in die Höhe aufrichtete, um eine Fliege zu fangen. Endlich, nachdem sie es geschafft hatte, richtete sie sich abermals auf und begann, nun überglücklich über den Erfolg, voll Jubel hin und her zu hüpfen. Eine andere Tube, die noch am Boden lag und schlief, wurde dadurch geweckt und unterrichtet. Ob diese dann auch den Triumphtanz mitgetanzt hat und wie viele Tänzer es zum Schluss waren, davon ist uns nichts überliefert. Um die volle Wahrheit zu sagen, war die Träumerin dann aber doch nicht wenig beunruhigt, als sie erwachte, da ihr das Bild der nun fliegenverdauenden Zahnpastatube nicht eben appetitlich vorkam.
Die Frage nach der rechten und angemessenen Bezeichnung ist damit freilich noch längst nicht gänzlich beendet. Sie lässt sich auch noch im Blick auf die Gegenstände ergänzen, die zum Abtransport anstehen. Ich denke da z.B. an einen Anruf, den ich jüngst des Morgens erhielt, als mich eine alte Bekannte davon in Kenntnis setzte, dass sie nun ihr Haus samt Inventar verkaufen werde. Ein vertrauenswürdiger Makler habe sich schon eingefunden. Sie habe nämlich eine Wohnung im Altersheim zugesagt bekommen, eine Einzimmerwohnung für 3000 Euro im Monat. Nun müsste sie sich eben nur noch von all ihrem Hausrat trennen. Ihr verstorbener Mann habe ja nämlich jeden Nagel gesammelt. Das aber sei noch längst nicht alles. Dokumente und Besitztümer der Vorfahren stapelten sich zu Hauf: Zeugnisse, Briefe, Fotos und Bilder, Bücher und Tagebücher. Die könnten unmöglich alle in dem neuen Zimmer untergebracht werden. Ein Großteil derselben müsste nun eben den Weg des Vergänglichen antreten. Als Müll oder als Dreck? fragte ich mich im Stillen. Aber das war da jetzt wohl einerlei geworden. Für das restliche übrig bleibende Geld war zumindest gesorgt; darum würden sich die Herren Makler bekümmern.
Doch grämen wir uns nicht. Am besten ist allemal, wenn wir alles von der humorvollen Seite nehmen. Aufs Weite betrachtet sind ja auch wir eine Art von Fliegen, von der gilt, dass sie der Pastatube des Alls zur Verdauung anheimfällt.
Lange, noch ehe der erste Schnee gefallen, begannen wir auch schon wieder, die Rennstrecke fachmännisch daraufhin abzuschreiten, wie wir sie in diesem Winter nur noch kühner und schneller herabsausen würden. Alles, vom Startplatz bis zur Ausfahrt vor dem Haus wurde inspiziert: das Anfangsstück droben, wo es galt, nur ja rasch Fahrt aufzunehmen und in Fahrt zu kommen, sodann etwas weiter drunten, wie man den Schlitten führen und gut beschleunigen könnte, sodann die Kurven, wie man sie anzufahren und zu nehmen hätte, ohne dass es einen aus der Bahn heraustrug, bis zum Ende der Bahn wurde da einer kritischen Visitation unterzogen. Schließlich galt es, die alten Rekorde einzustellen, wenn nicht gar, sie noch zu unterbieten. Lag dann endlich der lange ersehnte Schnee, so konnten die Vergnügungen auf der Stelle beginnen.
Wie eine auf Not und Tod verschworene Truppe stapften wir den kleinen Hausberg hinauf, um uns dann zu einem regelrechten Bob zusammenstellten. O, wie wir uns da startbereit machten zum Wagnis der Fahrt! Wenn wir dann nach gekonntem, kurzem Anlauf zur Beschleunigungsstrecke kamen und es hinab ging: hei, wie wir da über die Piste hin segelten! Jetzt zahlte sich aus, dass wir so genau Bescheid wussten. Jedes Schlagloch des Wegs und jeden Baum am Wegrand kannten wir und verfügten über die Aufmerksamkeit und über die Geschicklichkeit, die jedem Teilstück gebührte. Versteht sich, dass ein jeder von uns wusste, was er zu tun hatte. Da war zuerst unser Steuermann, in dessen Händen vornehmlich unser Heil lag. Auf dem Bauch liegend, die Händen an den oberen Enden der Kufen, die Füße eingekrallt in den auf ihn folgenden Schlitten dirigierte und navigierte er unser Gefährt. Auf die kleinsten Unebenheiten und Hindernisse hatte er zu reagieren, um dann die notwendig werdenden Kursänderungen an die auf ihn folgenden Schlitten weiterzugeben. Ähnlich verantwortungsvoll war die Aufgabe des zweiten Piloten, dessen Aufgabe es war, für die beste Fahrlinie zu sorgen. Nicht nur schnell, auch elegant wie die Wellenbewegung einer Schlange sollte sich unser Bob hangabwärts winden. Das war keineswegs nur eine Sache der Ästhetik. Was schön aussah, war auch in besonderem Maße gut. Hielt man nämlich jederzeit die beste Fahrlinie inne, so war es auch um die Geschwindigkeit wohlbestellt, ganz davon abgesehen, dass auch nur wenig Gefahr bestand, der Fahrt durch einen Sturz ein vorzeitiges Ende zu setzen. Zu den Aufgaben des letzten Piloten schließlich, denn zumeist rodelten wir zu Dritt, gehörten neben kleineren Kurskorrekturen eventuelle Bremsungen vor den Kurven und gegebenenfalls auch, wenn sich eine nicht vorgesehene Gefahr zeigte, ein energisches Abbremsen mit den Füßen. Er war der einzige, der aufrecht auf seinem Schlitten saß.
Wer auch wäre da gewesen, der nicht das Äußerste, ja das Letzte aus sich hätte herausgeholt hätte! Wie fieberte man da, wenn es oben zum Start ging, wie dachte man mit, ehe man in die Kurven hineinfuhr, dass man sie gut packte, um sich dann auch gleich blitzschnell der nächsten zuzuwenden und alles zu tun, dass man nicht der Zentrifugalkraft erlag. Waren der Schnee und die Piste vielversprechend, so musste selbstverständlich auch eine Stoppuhr mit dabei sein. Grandios war es, wenn man nach einer aufregenden Fahrt glücklich und erschöpft am Ziel angekommen feststellte, dass man einen neuen Bahnrekord aufgestellt hatte! Aber auch wenn einmal ein Sturz ein aussichtsreiches Rennen vorzeitig beendet hatte und das Unternehmen neu gestartet werden musste, was focht das an! Nach getaner Arbeit dann, draußen war es längst stockdunkel, saßen sie bei herrlich heißer Bohnensuppe mit Speckwürfeln beisammen, die Fahrten zu besprechen und die Fahrzeiten ins Fahrtenbuch einzutragen!
Nur leider spielte das Wetter nicht jedes Jahr mit. Oftmals schien der Winter seinen Auftritt förmlich zu verschlafen. Mochte man auch Schneelieder singen, so viel man wollte, oder den Schnee auf die Liste der Weihnachtswünsche setzen: es nützte nichts. Es schien, als habe sich der Winter hinter dem Ofen verkrochen und niemand würde ihn mehr von dort hervorlocken. War dann der Winter aber auch nach Weihnachten noch nicht in Sicht, so wurde die Saison eben ohne ihn eröffnet. Nicht, dass wir uns nun mit unseren Schlitten bis zum Himalaya begeben hätten; auch nicht bis nach St. Anton oder nach Davos, und nicht einmal bis nach Titisee mussten wir uns begeben. Mitten im Wohnzimmer, in der Nähe des Christbaums, nahmen wir den Bodenteppich zur Piste, ohne uns weiter um den fehlenden Schnee zu bekümmern; und was die Schlitten betraf, so ließen wir sie meist auch noch im Keller. Kissen taten es da vollauf. Schließlich bestand ja der Höhepunkt dieser Fahrten im Zimmer im Sturz vom Schlitten, wenn es uns in einer der Todeskurven aus der Piste herausgetragen hatte. Rechts herum kommandierte da der Papa und links herum; denn der Papa, wieder zum Kind geworden, war ja einer von uns dreien. Und so, eine immer tollere Fahrt aufnehmend kommandierte er des Weiteren rechts herum und abermals links herum, bis die Fahrt so rasant geworden, dass ein Sturz nicht mehr aufzuhalten war. "Sturz" rief er dann, worauf wir uns alle einem toll-gelungenen Sturz hingaben, ehe wir uns, stolz lachelnd, zur nächsten Fahrt zu erhoben. Selbst das Christkind, statt mit den Engeln auch noch die letzten Strophen der fromme Lieder zu singen, konnte da oft nicht anders, als aus seiner Krippe heraus auf uns Schlittenfahrer zu schauen.
Die zweifellos gefährlichsten Abenteuer draußen im Freien galt es dann aber noch gegen Ende des Winters zu bestehen, wenn ein Nachtfrost noch ein letztes Mal den Weg mit etwas Glatteis überzogen hatte und vom Aprilschnee eben noch so viel da lag, dass man es noch riskieren konnte, auch über kleinere, bereits eis- und schneefreie Asphaltflecken hinweg zu fahren. Freilich, wie bremste es ab, während unter den Kufen die Funken nach hinten stoben, wenn es über ein solches Stück hinwegging! Wie aber jagte der Schlitten dann auch wieder davon, wenn man dann auf ein Stück spiegelglatter Fahrbahn geriet. "Das Eis beschleunigt aber ganz gut", sagte da unser 5-jähriger Pilot. Selbst die aus den Mauerritzen ausgeflogenen Jungmeisen hatten ihr Lebtag noch nicht so etwas Aufregendes gesehen. Versteht sich, dass von jenen großartigen Schlitten keiner mehr zu Haus steht. Mit durchgebrannten eisernen Beschlägen auf den Kufen sind sie, wie alle großen Helden, nicht allzu alt geworden.
Man mag bezweifeln, ob es ein reines, für sich bestehendes, von allem losgelöstes Kinderlachen gibt. Selbst dem unschuldigsten Kinderlachen geht etwas vorauf, was es motiviert. Es mag ein glücklich zufriedenes Lachen geben, ein schalkhaft wissendes Lachen, ein Lachen, das man sich wie eine Maske vors Gesicht hält, oder auch ein um Erbarmen bittendes Lachen. Und auch das kann man wohl unter Kindern öfters erleben, dass es zu einem leise aufschluchzenden, befreienden und entspannten Lachen kommt, zumal wenn es der Erzieher versteht, den Sprössling über eine bittere Angelegenheit hinwegzuheben. Wie ja auch der Volksmund weiß, hat ein Kind Heulen und Lachen in seinem Säckel. Mitunter hat Lachen auch mit einem Überschreiten und Umspielen oder kurzzeitigen Aufheben von Grenzen zu tun: mit einer Tätigkeit also, die wohl auch immer wieder einmal vom Kind getätigt sein will, um sich über die es umgebende Welt wie auch über die eigene Befindlichkeit ein Bild zu verschaffen.
Da hatte die Lehramtsanwärterin den Kindern die Aufgabe gestellt, zu der Erzählung vom Schneider von Ulm, eines von jenen Männern bzw. Schneidern, die vor zwei bis dreihundert Jahren höchst naiv die Vögel nachgeahmt hatten, um dann mit seinem Fluggerät unter dem Hohngelächter seiner Mitbürger im Donauwasser zu landen, eine kleine Reportage zu erfinden; und nun sollten die Kinder vor die Klasse treten und vorlesen, was sie geschrieben hatten. Ein paar der kleinen Schlitzohren und Schwerenöter hatten indessen urplötzlich die Gelegenheit erkannt, zumal in Abwesenheit des die Lehramtsanwärterin umgebenden Lehrers, mal tüchtig zur Sache zu kommen.
Einer von diesen, der sich als erster mit seiner Reportage hervorwagte, war Mark. Der Lehrer nennt ihn gern Marki, wie ihn seine Mutter nennt, die nie vergisst, ihren Liebling morgens zur Schule zu bringen und ihn mittags wieder von der Schule abzuholen. Da war nun also unser Marki aus der Schulbank heraus vor die Klasse getreten und begann zu lachen. Ohne dass er noch erst auch nur ein Wörtchen von seinem Bericht vorgetragen hatte, überwältigt nur von dem, was er nun zu präsentieren hätte, begann er zu lachen. O wie er lachte! Arme und Beine, Kopf und Bauch, alles an ihm lachte, und selbst aus dem Innern heraus schien noch eine Menge Gelächter nach außen zu drängen, dass ihm unmöglich war, auch nur ein einziges Wort über die Lippen zu bringen. Altersmäßig gehört Mark noch immer zu den Kindern, die es nicht verschweigen können, aller Welt mitzuteilen, wenn es soweit ist, dass ihr Geburtstag bevorsteht. Und auch dies passt gut zu seinem Alter und zu seinem zart-behüteten Wesen, dass er in der letzten Woche einmal bitter weinend und zutiefst in seiner jungen Männerseele gekränkt aus dem Pausenhof ins Klassenzimmer zurückkam, weil sich einer seiner Mitschüler darüber lustig gemacht hatte, dass er noch immer von seiner Mutter in die Schule gebracht würde.
Nun aber war die Stunde seines Auftritts gekommen. Wie wuchs er jetzt doch über sich hinaus, wo er als großer Reporter von der großen Welt-Sensation zu berichten hatte! Wie er sich vor Lachen bog, wie er die Äuglein rollte und die Backen aufblies, wie er dann prustend sich erschöpfte und verausgabte, statt zur Sprache zu kommen! Kein Clown der Welt hätte es mit Einsatz all seiner Kunst besser machen können, was dem kleinen Lockenschopf wie von selbst gelang. Er brauchte keine rote Pappnase und kein Clownshütchen. Er war einfach, was er spielte. Endlich, staksend und unsicher und mit einer gehörigen Portion "Schiss", wie er sich später ausdrückte, ließ er die folgenden Worte über seine Lippen marschieren: "Hallo, hallo. Hier ist der Süddeutsche Rundfunk. Nehmen Sie bitte jetzt alle ihre Finger aus der Nase!" Natürlich musste er jetzt erst mal wieder eine Weile mächtig lachen! Vermutlich gehen wir nicht fehl, wenn wir den Hinweis mit dem Nasebohren auf sehr Frischerlebtes beziehen, z.B. einen kleinen Rüffel, den der Reporter am Abend zuvor von seinem Vater bei Tisch hatte einstecken müssen. Und wenn er nun jene Geschichte des Schneiderleins reportierte, die sich vor 200 Jahren in Ulm abgespielt hat, so war er jetzt selber so ein naseweises Schneiderlein, mit seinen vom vielen Vorlachen produzierten Clownstränchen in den Augen.
"Jetzt kommt nämlich", so las er nun weiter fort, "jetzt kommt nämlich die Reportage eines Ereignisses, das Sie noch nie erlebt haben. Vor uns steht der Schneider von Ulm, der eben seine Kleider auszieht, um sich für seinen Flug über die Donau fertig zu machen. Doch was ist das, meine Damen und Herren? Sie werden sich fragen, ob den Schneider friert, wenn sie ihn so zusammengekauert und gänsehäutig unter seinem Fluggerät dastehen sehen! Nun, wir werden ja sehen, wenn seine Majestät, der König von Württemberg, das Zeichen zum Abflug gibt!" Und nun berichtete er weiter von jener bekannten Geschichte, die, so drollig sie auch klingen mag, dem Historiker gleichwohl eine Menge zu denken gibt, bildet sie doch einen gewissen Meilenstein auf dem Weg zu der knapp 100 Jahre später erfolgenden Erstflugüberquerung über den atlantischen Ozean. Unser junger Reporter war indessen zu der Stelle gelangt, wo sich drei Fischer bemühen, den inzwischen ins Wasser gestürzten Piloten-Schneider wieder an Land zu ziehen. "Drei Fische", las da unser junger Reporter noch zum Schluss, "drei Fische bemühen sich jetzt, den Schneider aus der Suppe zu ziehen, die er sich selber eingebrockt hat." Natürlich hatte unser Reporter "drei Fischer" lesen wollen. Nur dass er in seiner Lachlust das Schluss-R verschluckt hatte. Die anderen Kinder korrigierten ihn denn auch prompt und fanden Gehör. Und doch! War das nicht ein nettes Bild, ein hübscher Einfall, wenn nun drei Fische auf den die Donau bereits hinabtreibenden Flughelden zu geschwommen kamen, um ihn aus der selber eingebrockten Suppe zu ziehen?
Mäuschenstill saß ich im Hintergrund und hörte mir alles an, ohne mir mehr zu erlauben als ein schmunzelndes Lächeln. Nur für mich selber nahm ich die Gelegenheit wahr, wieder einmal zu bedenken, wie doch bei so vielem von unserem Tun Ernstes und Närrisches, Tragisches und Komisches so dicht beieinander liegen. Wie sich Mächtige oft als Weise vorkommen, weil sie ihr Bisschen Macht mit wahrem Können verwechseln, während Narren unter den Peitschenhieben des Schicksals da und dort den Gipfel der menschlichen Weisheit erklimmen. Hier, wo scheinbar alles nur Ulk war, fehlte es nicht an Tragik, während andernorts, wo scheinbar nur Großes und Lebenswichtiges auf dem Spiel steht, kaum mehr als eine kostspielige Farce zur Aufführung kommt. Doch hielt ich mich still, um das augenblickliche Vergnügen nicht zu gefährden.
Kommt her, ihr Musen, und sagt mir, was gestern geschah, als wir mit Kriegsgeschrei zu dem oberhalb der Stadt Freiburg gelegenen Kanonenplatz vorstürmten und den glänzendsten aller Siege errangen! Kommt und besingt jetzt Waffen und Helden oder erzählt doch wenigstens in leicht fasslicher und gefälliger Form für prosaisch ausgerichtete Deutschlehrer mein schönstes Ferienerlebnis! Ihr müsst nämlich wissen, dass wir, sobald die Schulferien zu Ende sind, etwas unter dieser Rubrik werden abliefern müssen.
Morgens in aller Frühe, nachdem der Tambourmajor den Trommlern das Zeichen gegeben und diese die Trommelbotschaft in alle Welt hinaus gewirbelt, die einst Heraklit erfunden: dass nämlich der Krieg der Vater aller Dinge: zogen wir los. Ähnlich wie beim Aufbruch des Marc Twain in die Alpen, den ja der geneigte Leser aus dem Buch "Bummel durch Europa" kennt, machten auch wir uns auf den Weg zusammen mit unseren Expertenteams, mit ortskundigen Führern, mit Gepäckträgern, Geologen, Mineralogen und Meteorologen, item mit Feldvermessern und Ballisten, item mit Sprachkundigen, mit Philologen und Kriegsberichterstattern, wir meinen hier nicht die Journalisten, die nur noch ihrer unantastbaren Freiheit, nicht aber mehr der aus Fakten bestehenden, möglichst noch wertfreien Berichterstattung verpflichtet sind, sondern Leute wie unseren kaisertreuen Fontane, item mit Harlekinen und Spaßmachern und schließlich, nicht zu vergessen, mit einem Heer höchstdekorierter Ärzte, die selber wieder von Heeren niedriger gestellter Oberärzte und Assistenzärzte gefolgt waren., von den sie umgebenden Rotkreuzhelfern gar nicht zu reden, die mit ihren Erstehilfeköfferchen das Gesamtbild abrundeten. Wenn ein bedeutender Berufsstand fehlte, so war es der Stand der Speise- und Schankwirte, da wir die Siegesmahlzeit erst nach gewonnener Schlacht zu besorgen gedachten.
Den mehr mit Göttingen vertrauten Leser, der Wert darauf legt, dass er sich alles möglichst vor seiner Haustüre abgespielt vorstellen kann, wo, nebenbei bemerkt, jetzt noch saure Schultage abzusitzen sind, erinnern wir an den großen Heinrich Heine, wie er seinerzeit in seiner Parallelwelt auf der Weender Straße aus Göttingen auszog, Richtung Harz, auf der ihm die frischeste Morgenluft entgegenwehte. Hier wie dort mochten beim Aufbruch auch Spatzen ihre Lieder gepiepst und Wolken von den Bergen herabgeschaut haben; wir wissen es aber nicht; wir haben uns nämlich nicht umgesehen und auch von unseren Ornithologen und Meteorologen keiner nach ihnen ausgeschaut; waren doch auch sie, wie die meisten Menschen, zumal in den ersten Morgenstunden, noch ganz mit sich selber beschäftigt.
Bei herrlichstem Wetter, wie man zu sagen pflegt, wenn man sich in allen Zellen wohl fühlt, zogen wir los und erreichten alsbald schon die Dreisam. Von ihr gilt, dass sie schon zur Zeit der Kelten zu sehen gewesen, die ihm denn auch den Namen gegeben und wenn wir auch nicht wissen, ob Cäsar über sie eine Brücke bauen lassen, so wissen wir doch, dass man sie rauschen hört, wenn sie Wasser führt, was bei einer Stromstärke von etwa 1000l/s im Jahresmittel, wie uns das hiesige Wasseramt mitgeteilt hat, durchaus zumeist der Fall ist. Dort angekommen marschierten wir dann flussabwärts, und zwar auf dem Uferweg, 4 bis 5 Stadien weit. Da wir uns auf das Unternehmen gut vorbereitet, und das heißt, da wir gut gefrühstückt und auch dem Frühstück genügend Zeit gelassen hatten, im Magensack geruhsame Einkehr zu halten, war es bereits 10 Uhr geworden, sodass es nicht verwundert, wenn wir nun berichten, dass sich unterdessen auf der Uferpromenade bereits allerlei Leute eingefunden hatten: wie da sind Mütter mit ihren Kindern, sowohl im Kinderwagen, wie auch bereits selber zu Fuß gehend, Pensionäre, Gammler und Naturbewunderer und nicht zu vergessen die riesengroße Schar der Hundebesitzer, in summa Leute, die täglich die mühevolle Arbeit auf sich nehmen, den Tag möglichst ohne Hindernisse hinter sich zu verbringen. Hinter einer Böschung kam ein frischgebackener Papa mit seinem Nachwuchs zum Vorschein, der dann mit seinem Milchzahntiger auf dem Arm herabeilte. Es geschah aber nicht in feindseliger Gesinnung. Sie hatten eben zusammen einen Feldhasen verfolgt und schwelgten nun (jedenfalls der Papa) im höchsten Jägerglück. Auch die Mama, die sie schon ganz ungeduldig auf einem Bänkchen erwartet hatte, setzte eben zum Heldenempfang mit einem Panegyrikos ein, vielleicht von Bakchylides oder von Pindar: nur dass das Babylein dabei jämmerlich zu schreien anfing; es war unschwer zu erkennen, dass ihm nach den Jagdstrapazen ein guter Schoppen in Mamas Michwirtschaft tausendmal lieber gewesen wäre.
Drauf kam eine Frau auf einem Rad vorbei mit einem Kind im Kindersitz. Die Frau war wohl beim Hantieren ihres Fahrgerätes etwas unsanft an das Kind gestoßen, sodass dieses jetzt jämmerlich zu schreien anfing. "Tut mir Leid. Es war nicht so gemeint!" hörten wir die Mama mit unzweifelhaft tief bekümmerter Stimme immer wieder sagen. Noch lange sahen wir sie, wie sie sich auf allerlei Weise immer wieder von neuem entschuldigte und dachten uns dabei so manches. Des Weiteren begegneten wir Kinderschülern, die sich unter der Aufsicht von Kindertanten und Kinderonkeln, letztere mit Fähnlein und Bällen, auf dem Weg befanden zum nahegelegenen Profiverein, denn ein solcher befindet sich auch am Wegrand, um sich nach dem jüngsten Debakel beim Elfmeterschießen als sichere Schützen eintragen zu lassen. Sodann begegneten wir Radkünstlern und Sportlern aller Art, hauptsächlich Langläufern und Läuferinnen, denen wir selbstverständlich aus dem Weg gingen, um sie bei der Erstellung eines neuen Weltrekords nicht zu stören. Ein schlechter Kerl, der nicht auszieht, einen Weltrekord aufzustellen. Wozu sonst wären wir auf Erden! Etwas Gedächtnisbewegendes muss ja der Mensch tun, um als Held in der Erinnerung fortzuleben.
Wie viele Leute hatten sich doch inzwischen auf dem Uferdamm eingefunden, unser Bild bunt und abwechslungsreich zu machen! Wir gehen gewiss nicht fehl, dass sich einem Weltreisenden aus einem fernen, von der Zivilisation noch nicht erreichten, Land viel Stoff geboten hätte, den Eingeborenen zuhause von fremden Völkern und Ländern einen spannenden Bericht abzustatten. Doch danach verlangte uns nicht. Ausschließlich von den auf uns wartenden Heldentaten in Beschlag genommen, genügte uns, uns unseres Könnens en passant in kleineren Vorübungen zu versichern. Den Beginn machte der Ballist Gargantua, ein Ulan aus der neunten Steinwerferdivision. Kaum dass er im Flüsschen ein paar Graureiher entdeckt hatte, nutzte er die Gelegenheit, sich heldenmäßig zur Schau zu bringen, versteht sich, nachdem er sich drei Mal umgeschaut hatte, dass nur auch kein Unbefugter an dieser Präsentation unbefugten Anteil nähme! Zuerst warf er auf verteufelt humane Weise, d.h. ohne den Stein allzu nahe dem Graureiher vor den Schnabel zu lancieren, gleichsam nur um ihn ein wenig zu reizen. Da aber die allerhumansten Aktionen bekanntlich mit Verachtung bestraft werden, was auch hier der Fall war, denn der Graureiher verzog keine Miene, fackelte unser Graureiherballist nicht längere und zielte dem Reiher mitten auf den Bart. Und siehe da: begleitet von einem hohen Pfeifgeräusch hob sich der Attackierte in die Luft, nicht anders als wären die Hobbits auf die Erde zurückgekommen, und schwirrte davon. Er hatte keine Lust, nun auch noch über den Löffel balbiert zu werden. Des Weiteren wäre erwähnenswert, dass wir im Fortgang noch auf eine Kolonne von Haubentauchern stießen, die bereits mit einer Mittagssiesta liebäugelten. Wir sagen das nicht, weil wir dächten, der zufällig auf Korrektur und Zensur lesende Lehrer hätte besonders viel Verständnis für Verhaltensforschung, sondern weil wir wissen, dass er beim Unterrichten am liebsten an das Glöcklein denkt, das das Schulstundenende einläutet, und um ihm somit das Vergnügen zu machen, sich selber als einen Siesta haltenden Haubentaucher vorzustellen.
An dieser Stelle nun wäre sehr gut, wenn die uns begleitenden Kriegsberichterstatter die Gelegenheit nutzten, zu vermelden, dass wir nun an einem Spielplatz anlangten, wo das gesamte Heer, mit Mann und Maus sich noch einmal ausruhen und Kräfte tanken durfte, ehe es dann rechts ab gehen sollte, hinauf ins Gebirge. Ein Kompaniechef ließ es sich freilich nicht nehmen, darauf hinzuweisen, sie sollten es am Spielgerät mit den Sächelchen nicht zu toll treiben, um sich noch ein paar Kräfte gegen den Feind aufzusparen. Denn selbst wenn man von einem Feind weiß, dass er sehr schwach sei, so dürfe man ihn doch niemals unterschätzen. Übrigens wusste unser Spieß, ein gelernter Spaßvogel, währenddessen einiges von dem Gymnasium zu berichten, dessen Pausenhof neben dem Spielplatz lag, wo eben eine Schulpause tobte. Gleichsam aus der Schule plaudernd berichtete er, dass in eben der Schule ein Schüler, der dabei ertappt wird, seine Vokabeln nicht gelernt zu haben, auf den Spielplatz geschickt wird, um sich dort bis zum Schulschluss zu verlustieren. Ganz offensichtlich habe man mit dieser pädagogischen Maßnahme schon sehr gute Erfahrungen gemacht: "Bestrafe, indem du Vergehen mit besonderen Vergünstigungen ahndest!"
Versteht sich, dass wir ihm das Märlein nicht glaubten, auch nicht als er es uns ein zweites Mal erzählt und es uns dann auch noch ein drittes Mal paraphrasiert zu Gemüt gebracht hatte.
Unterdessen hörten wir es klingeln, zum Pausenende diesmal und damit als Zeichen zum Einmarsch ins Schulgebäude und in die Klassenzimmer. Ich muss mich wohl nicht weitläufig darüber verbreiten, wie herrlich ein solches Klingeln klingt, wenn es einem nicht gilt. Schöner beinahe noch als die Damaszener-Klingen, wenn sie zum Kampf erklingen. Man kann es ja kaum glauben, dass man nicht zum Pausenvolk gehört. Ein Angehöriger jener Pennälerschaft, der am Zaun stehend unser Gespräch vernommen, bestätigte nun, dass er zu den Auserwählten gehöre und dass er sich voller Herzenslust auch noch die wenigen restlichen Vokabeln aus seinem Kopf verjagte, wenn er nur dafür ordentlich honorifiziert würde. Honoriert, meinte einer von uns, habe er wohl sagen wollen. Aber vielleicht würde ihm auch gratifiziert werden, wenn er sich falscher Vokabeln entledigte. Er sollte es einmal prüfen. Das aber interessierte den jungen Mann schon nicht mehr. "Was ich habe sagen wollen und was nicht, was geht es mich an!" rief er, indem er sich anderswohin trollte.
Jetzt aber, wo alle Furten durchquert und alle Glacis überwunden du selbst noch die Kinderschulen mitsamt ihren Schulkindereien hinter uns lagen, wurde es ernst. Nun nämlich galt es, den vor uns liegenden Hausberg, den Hirzberg, in thrasonischer Eile zu erstürmen. Versteht sich, dass es nicht auf Promenaden bergaufwärts ging oder im Sessellift über Wiesen, wo wohl gar noch ein Polyphem sein bukolisches Kleinvieh weidete. Wollten wir alles ganz genau schildern, so müsste der Leser eine Militärakademie besucht haben. Da wir dies aber nicht voraussetzen können, berichten wir nun nur summarisch von unserem Versuch, einen neuen Guinnessrekord zu erstellen. Wir wollen uns also nicht über die diffizilen Operationen in unserer Kommandozentrale verbreiten, wo man über Karten gebeugt saß und über eventuelle Manöver nachdachte. Wir wollen auch nicht auf die Arbeit unserer Geometer verweisen, die die Höhenlinien auf ihren Feldkarten einzeichneten und dann die Gradienten ausfindig machten, mithin die kürzeste und steilste Strecke, die das Heer nun in der kürzesten Zeit zurücklegen sollte. Da wir aber von keinem Leser, auch nicht von einem zur Zensur verpflichteten Lehrer voraussetzen können, dass er für solche militärisch brisanten Schilderungen Interesse hätte, er hätte denn Jean Paul begleitet und hätte dabei nicht nur die Stadt Hof im Voigtland kartographiert, wovon noch das dortige Katasteramt zu berichten weiß, sondern hätte dabei auch seine Liebe zur Geodäsie entdeckt, da wir vielmehr selbst auch in bildungshungriger Zeit davon auszugehen haben, dass auch ein Lehrer für gewöhnlich nur daraufhin programmiert ist, Aufsätze nach Erlebnistönen und Emotionsschattierungen hin zu überfliegen, so mag es uns auch kein zufällig mitlesender Lehrer verübeln, wenn wir nun nur ganz schlicht mitteilen, dass nach einigen Mühen und Anstrengungen der Anstieg hinter uns lag. Immerhin wird kein Mensch bestreiten, dass ohne die rasante Entwicklung der Kriegsführung und der Waffen unsere gottgesegnete moderne Zeit wohl noch lang hätte auf sich warten lassen.
Wir befanden uns nun also bereits fast oben auf dem das Tal etwa 150 m überragenden Hirzberg und nur ein kleines grünes Wäldchen trennte uns noch von der Heerstraße. Doch Halt! Dass hier nur kein Schriftgelehrter glaubt, nun wäre schon alles geschafft. Das Gegenteil ist der Fall, wie jeder Militärhistoriker weiß. Gerade nämlich auf jenem Übergang von mühevoller Anstrengung zu ausgelassener Siegesgewissheit, wenn alles schon geschafft zu sein scheint, lauert die größte Gefahr. Darauf wartet ja nur der Feind, dass Leichtsinn sich ausbreitet, um dann das Heer in den Abgrund zu jagen. Mochte uns der Wald mit seinen grünen Gräsern und Moospolstern auch noch so herrlich entgegenglänzen, durchtränkt vom Licht, das aus dem sanftesten Himmel durch das Blattwerk der Bäume herniederkam, nichts sollte uns verlocken zu einem falschen und unvorsichtigen Schritt. Schließlich hatte sich uns ja auch noch kein Feind gezeigt. Feige waren sie uns aus dem Weg gegangen oder hielten sich da droben, in der Nähe der kleinen Franzosenschanze versteckt. Als ob uns diese Natternbrut überlisten könnte! Mochten sie auch am Boden kriechen oder sich unter dem grasgrünen Buschwerk verstecken, wir wollten ihnen schon zuvorkommen. Nicht einmal die Kirchenglocken, die eben jetzt zur Mittagsstunde, beim Schall unserer Trommeln, vom Tal herauf ihr sanftes Friedensgeläut erklingen ließen, konnten uns da die Weisheit der alten Militärs aus dem Kopf läuten, dass das Gelände erst frei ist, wenn auch der letzte Feind das Weite gesucht hat.
Wir befahlen also allen Soldaten, die noch nicht bis auf die Zähne bewaffnet waren, vornehmlich die ganz jungen, noch grünen und unerfahrenen, sich genügend nachzurüsten. Und so fanden sich alsbald schon alle ein: mit Schlagstöcken und Speeren, Spießen und Lanzen, Kolben und Totschlägern. Dann aber drangen wir in den Wald, um, was immer sich uns in den Weg stellte, abzuhauen. Hei, war das eine Lust, wie wir da sensten und köpften. Und hätte sich der Feind auch hinter Dornen und Disteln versteckt oder in Brennnesseln und Brombeergesträuch verwandelt, es hätte ihm nichts genützt. Was den Platz zu räumen versäumt hatte, wurde geköpft, dass es eine wahre Lust war. Unangetastet erreichten wir sodann den Höhen- und Heeresweg, wo sich der Verfolgung der Feinde nun aber wirklich nichts mehr in den Weg stellte. Wenn wir nun auch noch weiter dem Kriegshandwerk huldigten, so geschah es nur wie zu Zeiten des Herakles, um alle Welt wissen zu lassen, dass das Ungeheuer und das Böse fortan kein Bleiberecht mehr auf dieser Welt hat.
Freilich scheinen das nicht alle Zeitgenossen begriffen zu haben. Ihnen schien, als hätten wir randalierend und wandalierend nur Brennnessel geköpft und zunichte gemacht. Was für ein Irrtum! Statt dass sie begriffen hätten, dass wir hier gerade auch zu ihrer Wohlfahrt heldenhaft tätig waren! Indessen bringen die bösen Zauberer nicht nur einen Don Quijote in Verwirrung, auch dem Spießbürger setzen sie zu, sodass ihm die Landschaften des Heldentums stets nur im trüben Dunst erscheinen. Manch einer der Zuschauer, den die Zauberer damals besonders hinters Licht geführt haben, mag da bei sich gedacht haben: "Ei sieh an, die verrohte Jugend!", als hätten nicht schon immer Knaben wie ein Jupiter oder ein Zeus Disteln geköpft, wie uns Meister Goethe in seinem Prometheus versichert.
Dass es ein Held nicht leicht hat, seine Höchstform zu erreichen, liegt nach alledem auf der Hand. Statt Förderer des Guten dankbar dem Kommenden entgegenzusehen, neigt der gemeine Mensch dazu, den Helden von morgen zu benörgeln und zu bekriteln und abzuqualifizieren. Nicht nur bei der Brennnesseldengelei wurde das deutlich, auch schon beim Kampf gegen die Graureiher. Was uns aber betrifft, so halten wir dafür, dass der Held sich von äußeren Zensuren nicht abhalten und abschrecken oder auch nur aufhalten lassen soll. Schlimm genug, dass wir vom goldenen Zeitalter noch immer meilenweit entfernt sind, dass wir es noch nicht einmal fertig gebracht haben, alles Zensurunwesen und Notengebungsverfahren abzuschaffen. Worauf es ankommt, ist, dass sich der Held selber recht zensiert und dass er so zum Förderer seiner selbst wird.
Nachdem wir nun also den Weg zum Kanonenplatz zurückgelegt hatten, stellten unsere Spurensucher fest, dass es noch ein paar vor uns flüchtende Feinde versucht hatten, stadtabwärts sich in Sicherheit zu bringen. In der Tat, es war unleugbar: die frischen Spuren ließen auf einen Rest feiger Hasenfüße schließen. In deren Richtung feuerten wir noch ein paar Kanonen ab, versteht sich von den schwerwiegenden 70pfündern. Hei, wie man da unter uns den Kopf einzog, als hätten die vier Engel vom Münsterturm zum Jüngsten Gericht geblasen. Den Retraiteschuss ersparten wir uns. Der Sieg stand ohnehin sonnenklar fest und in der Sonne des Siegs sahen wir schon die Sieges- oder Metzelsuppe dampfen. Wie es sich gehört errichteten wir nur noch rasch das Siegesmal dem siegreichen Jupiter, JOVI VICTORI, um mit den von den Feinden erbeuteten Heereszeichen, vor allem mit sämtlichen Siegstandarten - wir hatten sie mit riesengroßen siebenlappigen Rosskastanienblättern geschmückt -, zum Siegesmahl nach Hause zurück zu kehren.
Mag der Kenner der Literatur auch von Helena, der Tochter eines berühmten Arztes wissen, die es schwer hatte, den Weg ins Leben zu finden, heute, wo die medizinischen Wissenschaften derart prosperieren, dass auch schon ein gewöhnlicher Chefarzt nicht mehr zögert, mit Leib und Leben sich so zu verhalten, als hätte er die gesamte Disziplin erfunden, heute lässt sich kaum mehr ein berühmter Heiler vorstellen, dessen Tochter es selbst noch nach der Heilung des unheilbar erkrankten Königs von Frankreich übel erginge. Hier nun ist die Rede von der Tochter eines zu unserer Zeit weltberühmten Medicus, die als Referendarius zu unterrichten ich das Vergnügen hatte. Was den Medicus betrifft, so kannte jedermann in Stadt und Land seinen Namen und sprach ihn voll Hochachtung aus. Ja, er war so bekannt und angesehen, dass schon die vorschulische Erziehung der Tochter kaum in etwas anderem bestanden haben dürfte als im fortgesetzten Einatmen einer Luft, die mit nichts anderem als mit Wert und Würde und Wichtigkeit gewürzt und gesättigt gewesen. So jedenfalls will es uns scheinen, wenn uns dieses Fräulein in den Sinn kommt. Nichts nämlich war ihr wichtiger, als sich in ihrer Wichtigkeit nur ja nicht selber zu unterschätzen oder auch sich unterschätzen zu lassen. Dabei musste sie sich nie fragen, wer sie sei; genug, dass man es in der lieben weiten Welt wusste.
Damals war ich nun also ein kleiner Referendar, als eine Art Stift oder Laufbursche angestellt, und das Fräulein Tochter sollte bei mir die Rechenkunst erlernen. Indes, was für ein Unterfangen? Ich, der ruhmlose Zeitgenosse, wert bestenfalls, übersehen zu werden, und sie, die angehende Dame voller Ruhm und Zukunft! Warum also sollte sie bei mir etwas erlernen? Oder warum sollte sie überhaupt die Rechenkunst erlernen? War das nicht schlichtweg eine Zumutung, eine Art Freiheitsentzug, eine Vergewaltigung? Wer gab mir das Recht, sie etwas zu fragen oder gar, sie nach ihren Antworten zu beurteilen? Rief ich sie auf, so pflegte sie sich in der Tat auch immer stets erst umzusehen, ob sie auch gemeint war. Und zwang man sie dann, einen anzuschauen, so schien einem das Gesicht zu sagen: "Was bist du nur für ein einfältiger Geselle, dass du es in deinen jungen Jahren zu nichts Besserem gebracht hast als zu einem subalternen Pauker! Was glaubst du denn? Wenn ich will, stürzen scharenweise hohe Professoren der Medizin vor mir in den Staub, dass ich nicht nötig habe, um eines Schulmeisterleins Gunst zu betteln. Was du von mir denken magst, interessiert mich nicht; noch weniger deine Rechenkunst oder dein Notenbuch." Ja, das war so etwa die Ausgangslage, in der ich mich befand, als ich das Vergnügen hatte, mich mit der Halbgott-Tochter zusammen in ein und demselben Raum eines Klassenzimmers aufzuhalten.
Was mich betrifft, so ließ mich ihr Benehmen kalt, oder ich überließ sie meinen psychologischen Interesse, im Gegensatz zu meinem Vorgesetzten, dem sonst so wetterfesten und von seinen wissenschaftlichen Kenntnissen so überzeugten Studienprofessor, der, wie mir scheint, an dieser kleinen Schülerin auch noch den letzten Glauben an die Menschheit verlor. Ja, ich fand es noch nicht einmal uninteressant, dieses Dämchen zu studieren, wobei ich mir damals allerdings längst vorgenommen hatte, in einem anderen Fach als dem eines Studienprofessors mein Glück zu versuchen. Wenn nun also auch zu Recht bezweifelt werden darf, dass Fräulein Tochter etwas bei mir gelernt hat, so darf ich im Gegenzug doch behaupten, dass sie mir die Gelegenheit gab, eine Menge von Verhaltensweisen zu studieren, wovon mein Bericht Zeugnis ablegen mag!
Was für ein entzückendes, sich wichtig nehmendes Gänschen! Was für eine selbstherrliche Autodidaktin! Versteht sich, dass sie keinen von uns Lehrern brauchte. Alles, was sie für ihr künftiges Leben benötigte, besaß sie ja schon in reichem Maß. Und wenn sie auch im sozialen Verband der Schulklasse eine sehr schlechte Rolle spielte, weil die Mitschüler durch ihr Verhalten zum Aufbegehren gereizt wurden, so hatte sie doch auch ein wenig Recht. Oder hat es je eine Prinzessin oder ein Fürst nötig gehabt, in demokratisch geführten Schulklassen Tugenden der Masse und mithin Duckmäuserei und ähnliches für das kommende Leben zu erlernen? Oder, wenn wir zurück blicken in die Vergangenheit: hatte es ein Welteroberer wie der makedonische Alexander nötig, bei einem Aristoteles eine für alle gültige Ethik zu erlernen, um herauszufinden, wer er war? Gab es für alle Aufgaben nicht Sklaven und Knechte genug, ob es sich um Schindereien bei Bauwerken oder um Fragen der Mathematik oder der Technik handelte? Selbstbeherrschung im Dienst der Fremdbeherrschung: solches allenfalls mochte einem Philipp am Herzen liegen, als er seinen Alexander dem Aristoteles in die Schule gab. Vielleicht, dass unserer kleinen Prinzessin eine Schule willkommen gewesen wäre, wo man einen Blick und einen Sinn entwickelt hätte für Luxusgegenstände wie blankgeputztes Tafelservice und reines Gold und wo man sie auf das Leben in der großen Welt vorbereitet hätte. Der Satz des Pythagoras ließ sie ebenso kalt wie die Sätze der Trigonometrie, ganz zu schweigen von Beweisen allerhöchster logischer Kraft. Für das, wofür ich ihn brauche, sagte schon die reiche Dame bei Cervantes mit Blick auf den erzbischöflichen Stallburschen, den sie den gelehrten Lizentiaten und Doktoren vorzog, für das, wofür ich ihn brauche, kann er mehr Philosophie als Platon und Aristoteles zusammen. Nur schade, dass ich keine Schwarzkunst gelernt hatte. Sonst hätte ich gewiss nicht gezögert, dem lieben Kind die gesamte Mathematik mitsamt der Logik und den Naturwissenschaften in Quark und Sahne zu verwandeln. Dann hätten wir uns eine Lust daraus gemacht, ihr zuzuschauen, wie sie ihre Katze damit anschmierte und vor die Türe jagte.
Nun und was weiter? Was weiter geschah bzw. was aus der jungen Dame wurde, wissen wir nichts: Weder wie sie die Schule absolviert hat, noch auch, was aus ihr geworden und ob sich später ein Held zu ihrer Zähmung eingefunden. Was wir wissen, das ist nur, dass es nicht nur liebenswerte Feen und Geister gibt, die jungen Mädchen behilflich sind, sondern auch neckende und boshafte Gesellen, die sich rächen, wenn man sie hochmütig übersieht. Was die Berufswahl angeht, so lassen sich einige Berufe zumindest von vornherein ausschließen. So dürfte das liebe Kind sich kaum für den Beruf einer Angestellten bei einer Bank oder als Verkäuferin in einem Geschäft entschieden haben. Auch das Leben einer von Kindern geplagten und von Mitlehrern, Rektoren und Schulbehörden geknechteten Lehrerin ist ganz gewiss nicht nach ihrem Geschmack gewesen. Kinder beaufsichtigen? Pfui doch. Versteht sich, dass auch das subalterne Leben einer Krankenschwester in einer Klinik nicht in Frage kam. Wann je war eine Krankenschwester oder ein Pfleger über die Schwelle des väterlichen Hauses getreten. Überhaupt alle Berufe, die ob ihrer Winzigkeit gleichsam um Verzeihung flehen, kamen für sie gewiss nicht in Betracht. Nicht minder entsetzlich ist der Gedanke, das liebe Kind könnte sich entschlossen haben, sein Leben der Kunst zu weihen. Höhere Töchter lernen ja seit alters ein Instrument spielen, weshalb sollte das nicht auch bei unserem Gänschen der Fall gewesen sein? Die Wahrscheinlichkeit dürfte allerdings nicht allzu hoch gewesen sein. Eher denken wir da an die Göttin Athene, die von der Flöte angewidert, das Musizieren verwarf, weil man dabei das Gesicht verzerrt, während man sich stets Mund und Hand zum Befehlen freihalten soll. Das entsetzliche Szenario, einer Klavierlehrerin etwa möchte es gelungen sein, die Eltern vom einzigartigen Talent für den Dienst der Musen zu überzeugen, müssen wir uns also nicht näher ausmalen. Mit der entsetzlichen Vorstellung, das liebe Kind könnte in näherer oder fernerer Zukunft einmal genötigt gewesen sein, sich um die Gunst anderer zu bemühen, etwa bei einem Kapellmeister oder einem Dirigenten, brauchen wir uns nicht zu befassen. Desgleichen dürfen wir den Gedanken, das liebe Kind hätte sich um eine Stelle beim Theater oder einer ähnlichen Stelle zu bewerben gehabt, getrost bei Seite lassen. Ein Vorsingen zwecks beruflichen Fortkommens war da ganz gewiss nicht vorgesehen. Zum Glück dürfen wir uns an dieser Stelle zurückhalten und uns alles Fortspinnen eines solchen Romänchens untersagen.
Wie aber könnte dieser Roman weiter gegangen sein? Mag sein, dass wir sie, so wir nach ihr suchten, im Register der Professorinnen der Medizin wiederfänden. Die Teppiche waren dafür jedenfalls ausgelegt. Andererseits hätte dann das liebe Kind, bei allem Wohlwollen der Fakultät, doch auch eine Menge zu büffeln und zu pauken gehabt. Ob ihr das lag? Das Beste wäre wohl, das Mädchen hätte der Werbung eines würdigen Mannes nicht widerstanden und hätte den Hafen der Ehe an der Seite einer jener aussichtsreichen Jungdozenten erreicht. Im Einzelnen müssen wir hier nicht darlegen, dass bei der Wahl eines Ehegemahls nicht minder große Schwierigkeiten bestanden haben dürften wie bei der Wahl eines möglichen Berufes. Versteht sich, dass da nicht genügte, wenn der Auserwählte keiner Fliege etwas zu leide zu tun vermochte. Um einem Jungfräulein von so edler Geburt und aus so hohem Haus zu imponieren oder es gar in Verzückung zu versetzen, mussten sich schon noch andere Tugenden hinzugesellen. Da müsste einer wohl ein so hohes Heldentum mit einer so unbeugsamen Befehlskraft vereinen, dass selbst die Tugenden eines Cäsars nicht darüber reichten. Ein Heer von 1000 Assistenzärzten und 10000 Oberärzten, die Oberschwestern gar nicht mitgezählt, ist das mindeste, was sich in seiner Gewalt zu befinden hätte. Mag einem hier die Katharina aus der Widerspenstigen Zähmung einfallen, die von Petruchio mehr durch Gewalt und Kriegslist als durch sanfte Zuneigung erobert werden musste. Wenn wir uns einen Mann für unser Jungfräulein denken, so wird man ihn sich am besten wohl als einen streitbaren und schlagfertigen Genossen des Äskulap vorstellen, fähig, auch noch den berühmten Schwiegervater zu beerben.
Denken wir sie uns also an der Seite eines solchen Mannes, wo sie es nicht nötig hat, unbeglichener Schulden oder nur schwer zu bändigender Schulkinder oder eines kunstverwöhnten Publikums wegen schlaflose Nächte zu verbringen. Denken wir uns einen Mediziner, der von seiner Herrschaft bzw. Arbeit so in Besitz genommen ist, dass ihn nichts, aber auch gar nichts zu erschüttern vermag. Unter so fleißigen und ehrenwerten Männern, das wissen wir ja, könnte auch der Erdkreis auseinander brechen, und es würde sie nicht erschüttern. Wir dürfen uns diesen Mann natürlich auch ein wenig dick vorstellen, wenn wir "dick" auch nicht unbedingt auf den Bauchumfang erstreckt wissen wollen. Es gibt ja bekanntlich Mediziner, die einen dicken Bauch als etwas Unmoralisches ansehen. Dick aber im Blick auf zweifelsfreie Würdigkeit und zentnerschwere Bedeutung ist durchaus nicht übel. Denken wir ihn auch mit einer prallgefüllten Geldkatze, mit einem dicken Auto, item mit einem dicken Pelz- und Wintermantel aus feinstem russischem Fell, item mit einem dicken Mitarbeiterstab, der ihn Morgen für Morgen in allerbester Gesundheit und voll jugendlicher Frische vor den Operationssälen erwartet. In summa denken wir uns also einen Menschen, wie er als beispielhafte Ergänzung in unserer, zu Krankheiten und Feierstunden neigenden Zeit nicht schöner ausfallen kann. Das alles wünschen wir uns, auf dass wir unser Wincester Gänschen nicht zerzaust und zerrupft von den Sturm- und Wintertagen des Lebens wiederfinden, vielmehr als lebensechte Lady, wie eine Zarin in Zobel gekleidet und mit einem Entenhütlein geschmückt, wenn sie an der Seite ihres Mannes dem ersten Hotel unserer Stadt zu schwebt. Und sehen wir nicht schon den Hoteldirektor auf sie zuschreiten, mitsamt dem Stadtdichter Mörder, der darauf brennt, während noch rasch ein Dutzend von Lakaien und Trabanten den roten Teppich ausrollt, ihr die Huldigungsgedichte vorzutragen, die vielleicht schon morgen Dank der rührigen Industrie als Album erhältlich von einem Millionenpublikums mitgesungen wird? Sollte sich aber das Schicksal zu etwas noch besserem entschieden haben, so sind wir freilich auch damit einverstanden. Man lasse es uns wissen. Schließlich sind wir als kleiner Referendar nicht allzu weit in der Welt herumgekommen.
Mädchen und junge Frauen wissen nicht erst, seit William Shakespeare sie darauf aufmerksam gemacht hat, dass sie schön sind. Ohne es mühselig in der Schule zu lernen, sehen sie es den Mienen und Blicken der Umstehenden, zumal den Blicken der Jünglinge und der jungen Männer. Und doch mögen sie es auch, wenn man ihnen ausdrücklich davon erzählt und ihnen Komplimente macht; versteht sich, schickliche, geschmackvolle, mit Esprit vorgetragene Komplimente.
Wie aber sehen solche Komplimente aus? Gewiss gibt es da kein Allgemeinrezept. Hier gilt es, nach Alter und Rang und Stand der Schönen und nicht zuletzt freilich auch nach dem Grad der Bekanntheit und Vertrautheit mit ihnen sorgsam zu unterscheiden. Insgesamt dürfte ein Jüngling wohlberaten sein, wenn er dem ihm noch fremden, jungen, mit der Männerwelt noch unvertrauten Mädchen eher etwas behutsam entgegenkommt, da er sich sonst verdächtig macht, sie listig in Besitz nehmen zu wollen, was, wie man leicht versteht, einem sich eben emanzipierenden Mädchen durchaus nicht sonderlich behagt. Man muss dies aber einem vor Liebe glühenden Jüngling keineswegs sagen. Denn ist auch er seinerseits noch unvertraut mit dem weiblichen Geschlecht, so wird er ganz selbstverständlich eher etwas zu viel Schüchternheit und Zurückhaltung an den Tag legen. Nur wenn ein junger Mann bereits über einiges Vorwissen verfügt und man die Heranwachsenden bewusst zusammenführt, ergibt sich eine andere Situation. Freilich muss auch dann nicht jeder junge Mann deswegen schon ein unverbesserlicher Don Juan sein.
Anders ist es bei den bereits verheirateten Frauen und Männern. Hier darf schon etwas länger ins Gesicht und in die Augen geschaut werden. Da darf sich dann auch mal eine kleine frivole Anspielung mit in die Rede einschleichen und einmischen. "Sie sehen hübsch aus!" darf man da schon auch einmal zu einer der Schönen sagen. Meist bekommt man für ein solches Kompliment, das freilich von Seiten einer weltgewandten Dame kaum je ganz ernst genommen wird, prompt ein Danke-schön zurück. Keine Spur, dass da etwas Unschickliches oder Anzügliches zum Ausdruck gebracht sein könnte. Auch Sätze wie: "Sie sind schön gekleidet!" oder "Dieses Kleid steht Ihnen prächtig. Es ergänzt wunderbar die Farbe Ihres Haares!" passieren meist die Schranken der weiblichen Zensur, zumal wenn es sich um ältere Damen handelt. Und doch ist schon hier nicht mehr klar und eindeutig zu sagen, ob solche Sätze sich noch im Schicklichen bewegen. Im Allgemeinen gilt, dass der Ton die Musik macht oder, etwas feiner gesprochen, dass einer, der zur rechten Zeit zu würdigen versteht, auch die rechten Worte findet. Gleichwohl gibt es da noch feine Unterschiede. Wenn einer sagt: "Ihr Hütchen ist schick! Es steht Ihnen gut!" ist wirklich kaum mehr als von einem Hütchen die Rede. Bei Schuhen ist das schon ein wenig anders. Schuhe umschließen immerhin Füße oder Füßchen, wenn nicht gar zierliche Füßchen. Spricht man von Schuhen, so sind auch schon die Strümpfe mit im Blick, die die Beine bis hinauf in schwindelerregende Höhen begleiten. Vollends, wenn man ein Kleid lobt, könnte ein züchtiges Mädchen darüber empört sein, weil es dabei noch mit heraus hört, als ob der Herr Lobesam beim Kleid-Aussuchen und Ausprobieren mit dabei gewesen wäre. Solch ein Mädchen freut sich zwar, wenn man es als schön wahrnimmt und bewundert; es hat es aber lieber, wenn man nur in feinabgestuften und metaphorischen Andeutungen darüber spricht. Zu viele Worte könnten da leicht mit einem takt- und geschmacklosen Klang herüberkommen. Nur einem Hallodri und einem Don Juan wird man vergeben, wenn er sich ungezwungen in freien Worten ergeht, zumal wenn es vor Frauen geschieht, die selber von dunklen und wilden Träumereien umgetrieben werden.
Nun gibt es aber noch das Reich der Small-Talk-Gesellschaft, wo immer auch ein wenig Eitelkeit und damit korrespondierende Impromptus zu Haus sind. Eitelkeit ist ja immer auch ein Stück weit mit einem leisen Tabubruch einverstanden, zumal wenn er durch ein fein geschliffenes Lob besänftigt und behoben wird. "Erzähl mir, was dir an mir gefällt!" So bittet die weibliche, aber auch die männliche Eitelkeit, ohne große Worte zu machen. "Erzähl es mit deinen Augen oder, während du von etwas ganz anderem, Belanglosen redest, indem du deine Stimme ein klein wenig zurück nimmst oder versteckst, damit ich verstehe, dass du mich meinst!" Welcher Mann könnte der so vorgebrachten Bitte widerstehen? Und wird da nicht, was etwa an Diskretion fehlen mag, durch den in die Ohren tönenden, süßen Gesang schon wieder aufgewogen und versöhnt? Selbstverständlich gibt es auch Sirenen, die das Schmeicheln verstehen. An den Widerhaken von deren Angeln sollte man sich nicht verschlucken.
Das Prosa-Stücklein wollen wir damit beschließen, dass Komplimente und Schmeicheleien nicht nur in den Bereich der Werbung gehören. Schön ist wahrlich auch, wenn ein Mann nach vielen Jahren des Zusammenseins nicht verlernt, seiner lieben Frau Komplimente zu machen, wie es auch sehr schön ist zu sehen, wie eine Frau auf ihren Mann stolz ist, und sei es auch nur, wenn er schön Ski-fahren kann.
Sonst erreichte uns gegen Ende des Jahres ein langer Brief, nicht eben ein Privatbrief, aber auch kein ganz allgemein gehaltenes Schreiben. Es handelte sich stets um so etwas wie einen Rechenschaftsbericht, wie er in Amerika, im bienenfleißigsten aller Kontinente, gepflegt wird, gerichtet an die Gemeinde der vielen Freunde und Bekannten. Dieses Jahr aber kam kein solcher Brief zu uns ins Haus. Ich hatte aber auch mit keinem gerechnet. Und dies nicht, weil unser Freund den letzten Sommerurlaub nicht wie sonst gewöhnlich in Nordamerika verbracht hatte, und auch nicht, weil wir uns sonst etwas hätten zuschulden kommen lassen und nun aus dem Kreis der engeren Adressaten gestrichen worden wären, sondern weil wir ihm seit seiner Scheidung vor einem halben Jahr nicht mehr die Kraft und die Lust und den Übermut zu einem solchen Schreiben zutrauten. Was auch hätte er schreiben sollen? Hätte er, gleichsam zu seiner Entschuldigung, alles haargenau von seiner Warte aus wiedergeben sollen: vornehmlich dass er noch immer nicht verstehen könne, wie alles gekommen, wo sie sich doch nie gestritten hätten und eigentlich nichts Böses zwischen ihnen gewesen wäre? Hätte vor allem ihn, aber auch uns, ein solcher Bericht nicht peinsam ermüdet? Ja, sind wir nicht satt an Schreckensnachrichten und wissen wir nicht hinlänglich, wie erbärmlich und gemein uns gerade unsere Leidenschaften machen? Wenn man uns etwas zu erzählen wünscht, so erzähle man es uns nur, wenn es sich heiter erzählen lässt. Mag sich die Kunst als groß bewähren, auch wenn sie uns nicht mit Angelegenheiten zu tun hat, die mit hübschen Brüstchen und glühenden Wangen zu tun haben. Unser Freund nun, wohl wissend, dass er nicht in der Lage war, uns einen derartig-artigen Rechenschaftsbericht zu liefern, hatte sich also zum Schweigen verurteilt. Ob ihm das geholfen hat, muss bezweifelt werden. Vielleicht, wenn er so zur Sache gekommen wäre? Einen Versuch wäre es jedenfalls wert gewesen:
"Ihr lieben Leute, eine der besonderen Neuigkeiten, die ich euch dieses Jahr zu erzählen habe, betrifft meine Scheidung. Um ihr eine besonders festliche Note zu geben, noch festlicher als unsere Hochzeit vor 40 Jahren, entschlossen wir uns, sie in Hollywood zu vollziehen. In der Tat hatten wir uns vorgenommen, sie zu einem Fest zu machen, wie es prächtiger und überwältigender noch nicht vorgekommen ist auf der weiten Welt, nicht einmal in den Vereinigten Staaten von Amerika. So nämlich wollten wir dieses Fest begehen, dass man sich nur noch zu dem Zweck verheiraten würde, um sich dann in einem derart rauschenden Fest scheiden zu lassen. Keine Mühe und keine Anstrengung haben wir gescheut. Hart, wie in Amerika so Brauch, haben wir auf dieses Fest hin gearbeitet! Doch es hat sich gelohnt. Schon als wir am Morgen des Festtags über Hollywood einschwebten, wussten wir, dass das der Auftakt war zu einem der himmlischsten Spektakel, die jemals die Erde gesehen. Ein jeder von uns saß oder ritt auf einer himmlisch weißen Wolke. Meine Wolke freilich war etwas kräftiger gebaut war, ähnlich einem Reitsattel für Herren, während die Wolke meiner Frau an einen Nerzmantel erinnerte, den sie eben, der frischen Brise zum Trotz, abgelegt hatte. Kleine Varietékünstlerinnen mögen es nötig haben, mit ihren Reizen zu geizen, nicht so bei ihr. O wie sie bezauberte, wie sie lächelte, wie sie herbeilockte in ihrem weißen, raffiniert zugeschnittenen Kleidchen, welches die schönsten Beinchen sehen ließ. Als stünde sie vor der Wiese ewig blühender Seligkeiten, die sie mit den Heroen der Menschheit zu durchtanzen gedächte. War es aus Atlas, dieses Kleid, das mit seinen wundervollen Ausschnitten die süßesten Brüstchen zugleich verhüllte als auch offenbarte, wie es die siegverwöhnten Prinzessinnen Arabiens mögen, oder war es aus Satin, mit feinstem Tüll ausstaffiert, wie die märchenhaften Särge der Göttertöchter, wenn man sie zur letzten Reise fertig macht und sie ein verführerisches Schwanenwölkchen umschwebt? Aus was für einem Stoff und unter welcher Künstlerhand dieses so anziehende Nichts aber auch immer gemacht war, in jenem Augenblick hätte sie gewiss auch die hohe Kunst beherrscht, sich mit einem Hauch von Nichts wundervoll zur Darstellung zu bringen. Sie war einfach hinreißend-herrlich.
Nackt herumzuspringen ist ja keine Kunst. Das können alle und dazu hat man ja dann auch eigens Strände und Plätze eingerichtet: für Einzelartisten, für die Kolonnen der Großfamilien wie auch für die Voyeurs, die sich dort einfinden. Doch man wird schnell müde, wenn man alsbald schon nichts weiter mehr sieht als Nacktfleisch, wie Gott es erschaffen. Nicht verwandelt in eine noch nie geschaute Gestalt, nicht wunderbar erneuert nach einer Metamorphose, nur der Kleider entledigt, langweilig und zahlreich wie die Karnickel kommen einem alsbald schon die Körper daher. Allenfalls, dass man sich Sorgen macht, dass sich nur niemand erkältet! Bei meiner Ex-Frau aber war das ganz anders. In billiger Nacktheit aufzutreten oder vorbeizuspringen war nicht ihre Sache. Stets achtete sie darauf, auf unvorhersehbare Weise zu erscheinen, wobei sie zugleich in ihrem Verhalten zum Ausdruck zu bringen suchte, dass nichts strenger verboten war, als sie anzuschauen. Keinen Mann sollte es geben, den sie nicht auch noch in der kleinsten ihrer Bewegungen gewaltig verwirrt, ja vergewaltigt hätte. Für einen einzigen Blick schon hätte da ein jeder sein Leben zum Preis gegeben. Wäre sie nicht meine Exfrau gewesen, wahrlich, auch ich hätte alles getan, sie für mich zu gewinnen. Und selbstverständlich hätte ich auch den Sprung gewagt von meiner Wolke hin zu ihrem Wölkchen, und wenn es mich das Genick gekostet hätte. Tausend trojanische Kriege, so dacht ich, als ich sie sah, tausend trojanische Kriege sind nichts gegen die Begegnung mit einer solchen Frau. Besser das große Glück wagen und selig untergehen, als zu wissen, dass man niemals gelebt hat!
Versteht sich, dass alles, was Rang hat und Namen auf dieser Erde, bei diesem Fest mit dabei war. Wer immer im Leben von dem erhabenen Gefühl begleitet wird, zu den vom Schicksal Auserwählten zu gehören, war da: der Präsident der Vereinigten Staaten und die Firstlady ebenso wie die gekrönten Häupter des Adels und die Präsidenten der übrigen wohlhabenden Welt. Firstlady hatte es sich übrigens nicht nehmen lassen, ein Florida-äpfelchen mitzubringen, das sie, sonnenlichtüberglitzert, unserer Niederkunft entgegenhielt. Wie den Engel der Freiheitstatue mit seiner Fackel sah ich sie mit ihrem Äpfelchen auf uns warten. Alle aber, die da drunten standen und, die Augen beschattend, uns entgegenfieberten, lächelten uns entgegen, während wir nun den Flug erdwärts antraten. Ja auch die Natur, auch die Bucht von Los Angelos lächelte uns entgegen, und das Meerwasser mit seinen spielenden Wellen lächelte und die Delphine Arions tanzten voller Entzückung. Alles war bereit zu unserem Empfang auf der Erde. Natürlich lächelten wir den uns Zulächelnden entgegen. Das waren wir unseren Gästen schuldig, das gehörte zu unserem Part, das gehörte zum Festzeremoniell. Ich sage wohl nicht zu viel, wenn ich sage, dass wir uns, nachdem wir uns die Eheringe von den Fingern abgestreift hatten, ein Lächeln zulächelten, das, weit noch über das Lächeln einer Mona Lisa hinausgehend, zum Zauberhaftesten gehören dürfte seit Erschaffung der Welt.
Nach unserer Landung kam es dann zu den Begrüßungen, mitsamt all den in der High Society üblichen Umarmungen. "Meine Süße, meine Bezaubernde!" sagte Firstlady und drückte, nachdem sie ihr das Äpfelchen überreicht hatte, meine Exfrau an sich. Ein Journalist, der die Szene fotografierte, delirierte dabei etwas über das Äpfelchen der Unschuld. Alle die Begrüßungen zu beschreiben wäre freilich zu weitläufig, zumal wo nun das Bankett ansteht. Mag ein am Satyricon des Petronius geschulter Berichterstatter berichten, was da nun alles geboten wurde. Wir indessen, um auch hier unseren Bericht in schicklicher Kürze zu halten, wollen nur mitteilen, dass das Bankett von der ersten bis zur letzten Minute ganz wundervoll war. Nachdem dann noch geschulte Tänzerinnen zum Nachtisch ihr Bestes gezeigt hatten und wilde Tiere durch brennende Feuerreifen gesprungen waren, kam noch ein Hans Wurst. Dass es sich bei diesem Mann um einen der bedeutendsten Geister unseres Jahrhunderts handelt, muss ich nicht eigens erwähnen. Durch den Spalt einer Türe sah ich ihn auf den Saal zukommen. Dabei machte er vor einem Spiegel halt, wo er sich eine dicke, rote, stark vergrößerte Papiernase aufsetzte. Dabei zog er ein so bedenkliches Gesicht, dass ich schon Angst bekam, er wäre krank oder als hätte er es sich vorgenommen, unser Fest platzen zu lassen. Um es aber vorwegzunehmen: weder war er krank, noch auch hatte er es sich vorgenommen, unser Fest platzen zu lassen. Meine Nerven dürften es gewesen sein, die Nerven eines Überglücklichen, der es nicht fassen konnte, was da um ihn herum geschah. Kaum dass ein Mephisto ihn dem verehrten Publikum vorgestellt hatte, erging er sich auch schon über die Schönheit und die Herrlichkeit dieser Welt, wobei er uns mitriss in immer elysischere Gefilde. "Was", so ließ er sich endlich vernehmen, "was kann uns das Unglück anhaben, wenn wir nur nicht vergessen, dass wir herrlich sind, wenn wir uns recht zu geben wissen? In allen Kleidchen sind wir schön, in allen wissen wir zu gefallen, mit allen zu verführen! Etwas Unwiderstehliches geht von uns aus, sobald wir uns nur dazu entschließen, es von uns ausgehen zu lassen." So beschloss er dann seine Rede, die wohl zum Besten gehört, was jemals einem Mensch in Amerika gelungen.
"O Amerika, was auch könnte die Welt dir geben, wenn du es ihr zuvor nicht gegeben hättest!" In dieser seiner Rede plädierte er nun auch dafür, ab sofort die Ehescheidung zusammen mit der Eheschließung zu feiern. "Wir im freiesten aller Länder sollten da mit gutem Beispiel vorangehen. Denn wie anders kann man eine Ehe als Stätte der Freiheit und Tummelplatz der Seelenhygiene verstehen, wie anders diese zugleich festeste wie zerbrechlichste Sache von der Welt bemeistern, ohne auch die Irrwege liebevoll mit einzubeziehen? Ob wir in unserer Frau die fremde Frau suchen oder in fremden Frauen unserer Frau begegnen, ob wir eine Frau erobern oder uns von ihr verführen lassen: Hauptsache ist doch, dass wir nicht an uns irrewerden." Auch über das Küssen, über das rauschende, brausende, sinnbetörende und verwirrende Küssen hatte er sich dabei ergangen. Seine Rede selbst hörte sich an wie das Geräusch eines Kusses. Solange schien er reden zu wollen, wie der Kuss andauerte, und solange küssen zu müssen, wie er redete. Und hätte sich seine Rede umschauen können, sie hätte den Kuss noch beim Küssen gesehen. Und hätte der Kuss sprechen können, er hätte der Rede Beifall gegeben. Das Wort "Irrwege" schien ausgelöscht. Irrwege sind Missverständnisse. Für den modernen, aufgeklärten Menschen aber gibt es keine Irrwege mehr. Ihn kann nichts mehr verwirren.
Vielleicht hätte mein Freund versuchen sollen, so zu schreiben, um sowohl sich, als auch seine Frau, als auch seine Brieffreunde aufzuheitern. Doch wer kann das, es sei denn, er ist ein Amerikaner und gehört zu den Auserwählten von Hollywood?
Einem jüngst bei einem Massaker mit knapper Not dem Tod entronnenen, jungen Mann legte man die Frage vor, ob sein Leben dadurch eine Änderung genommen und ob er eine Lehre daraus gezogen habe. "O ja", gab er zur Antwort. "Von nun an will ich jeden der mir verbleibenden Lebenstage nur noch intensiver genießen." Nur schade, dass wir es nicht vermögen, alle Verbrecher und Bösewichte von der Erde zu verbannen; sonst könnte er seine Tage ganz ungestört genießen wie das liebe Vieh. Aber vielleicht sind wir ja wirklich nicht mehr.
Damals als ihn sein Liebchen fragte, ob er auch willens sei, mit ihr Konzerte zu besuchen, das war vor fast 40 Jahren noch ehe sie sich das Ja-wort gegeben, versprach er ihrs unbedenklich. Was auch hätte er ihr damals nicht versprochen! Alles, was ihr als gut und schön erschien, erschien ja auch ihm nicht anders. Doch hat er sein Wort gehalten? Dabei kann man noch nicht einmal sagen, dass unser Held in gänzlicher Abstinenz von dieser Muse lebt. Als Liebchen noch gehen und ihre Hände noch bewegen konnte, geschah es ja immer wieder, dass er sie bat, wenn der Tag zu Ende gegangen und die Stille der Nacht hereinbrach, sich ans Klavier zu setzen. Oder sie tat es von sich alleine an einem Sonntag oder Feiertag, wann eben sich die Gelegenheit bot. Und dies ist wohl unbestreitbar, dass es keinen Menschen gegeben hat, dem ihr Klavierspiel so über alle Maßen gefallen hat wie unserem Helden. Auf jeden noch so brillanten Pianisten hätte er da verzichtet. Seiner Liebsten Kunst war unübertreffbar, wie ja eigentlich alles, was sie tat, weil sie an und für sich schön war und weil sie ihm in die Seele spielte.
Was die Musik ansonsten betrifft, so geschah es durchschnittlich etwa einmal im Jahr, dass ihn ein Appetit nach ihr überkam, der dann aber auch schon bald wieder gestillt war. Immerhin wollen wir die Versuche unseres Helden nicht unerwähnt lassen, sich der Musik zu nähern. Denn ein gemeiner Wortbrecher war er nun ja auch nicht. Und hätte er nur gewusst wie, er hätte sich wohl auch befleißigt, für seine Liebste ein musikalischer Orpheus zu werden.
Einmal, daran erinnern wir uns noch, nicht ohne Schmunzeln, das war noch zur Zeit, als die Kinder sehr klein waren, hatte er versucht, das "Musikalische Opfer von Bach" als etwas Bedeutendes in sein dumpfes Bauernohr hineinzubekommen und hatte sich auch eine schöne Weile damit abgeplackt, ohne allerdings Geschmack an der Musik zu gewinnen. Selbst, nachdem er sich zum Narren gemacht und mystifiziert und kaum mehr sonst etwas in die Ohren hineingelassen hatte, weil die Musik etwas ganz Erhabenes und Sublimes wäre, wurde es nicht besser. Jahre später einmal waren sie dann in einem Münster gewesen bei der Aufführung einer Matthäuspassion. Doch auch von diesem Konzert ist kaum mehr als einiges Betrübliche zu vermelden. Nach drei Stunden Stille-Sitzens, während der er neben dem Kunstgenuss, sich einen Kälte atmenden, dicken Pfeiler anzusehen, um den er herum die Töne mussten, um in sein Ohr einzudringen, ging ihm auf, dass ihm in seinem Leben nie etwas widerwärtiger vorgekommen war als ein mit Leuten vollgepfropfter Konzertsaal. Und hatte er seinem Liebchen damals auch das Blaue vom Himmel versprochen, freilich ohne zu lügen - sein Herz hatte ihm ja gesagt, dass selbst das Widerwärtigste gut und schön wäre, gelänge ihm nur, die Hand der Liebsten zu gewinnen -, so fand er es nun doch besser, auf weises Maßhalten zu achten. Wozu der Pomp eines Konzertes, wozu ein aus allen Registern hervorbrechendes Orgelgebraus, wenn kurze Zeit später schon alles wieder stumm daliegt? Für Musiker, so meinte er dann, müsste Musik nicht eigens aufgeführt werden. Da genügten die sorgfältig aufs Papier gemalten Notenköpfe, die für den Eingeweihten von allein zu singen beginnen. Aufführungen seien nichts anderes als Demonstrationen eitler Macht und lächerlicher Mächteleien, sei es von Bravour-Solisten, sei es von Dirigenten. Führt man eine Komposition dennoch auf, nun gut, so mag man gewisse Rücksichtnahmen damit verbinden: z.B. um Kindern und Anfängern die Gelegenheit zu geben, sich handwerklich zu betätigen oder, meinetwegen auch, um bei besonderen Festakten, das soziale Selbst in Erinnerung zu bringen, falls es denn noch ein solches Selbst in unseren Landen gibt. Mag endlich auch das Spiel der Virtuosen seinen Platz haben mitsamt allen, die vornehmlich Hände haben zum Beifall-klatschen.
Im Übrigen aber erscheint uns heute auch Euterpe, die Muse der himmlischen Musik, fast nur noch mit gestutzten Schwingen. Schön wäre ansonsten schon, man könnte sie eines Tages, wie in den Tagen einer goldenen Zeit, gebrauchen. Da stiege man dann, wenn man mit allen Worten ans Ende gekommen, mit seinem Liebchen, ein in ihren Wagen und ließe sich entführen aus all der dürftigen Jetztzeit, hinauf in eine nie mehr zu gefährdende Verklärung. Anfangs hörten wir dann vielleicht noch ein paar Tonfolgen, die uns wie auf Wolkenfittichen emportrügen. Alsbald aber würden wir auch von der Musik nur noch etwas wie ein Luftgebraus tief unter uns vernehmen, um endlich überhaupt nichts mehr zu hören. Nur das würden wir dann vielleicht noch registrieren, dass uns nichts mehr fehlte. Und dann würde uns das allein seligmachende Wissen genügen, dass alles, alles sehr gut ist.
Nichts fliegt einem zu, am wenigsten etwas Gutes, man müsste denn einer der verhätschelten Lieblinge der Götter sein. Da gegenwärtiger Schreiber hinlängliche Beweise hat, nicht zu solchen Auserwählten zu gehören, ja, da er noch nicht einmal jemanden hat, den er ausschicken könnte, etwas Gutes zum Essen zu besorgen, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich selber von Zeit zu Zeit auf den Weg zu machen. Wenn nämlich auch der jugendliche Heißhunger und die überhängenden Festtagstafeln der lieben Vergangenheit angehören und er und sein Weibchen längst an ein paar Gabelspitzen ihr Genüge finden, so kommt er doch nicht umhin, einmal zumindest in der Woche zum Einkaufen auszurücken. Abgesehen davon, dass er seine weltbewegenden Arbeiten unterbrechen und liegen lassen muss, sind die Besorgungen, vom Zeitaufwand abgesehen, nicht allzu kräftezehrend, hat er doch genug Geld und steht ihm auch ein Auto zur Verfügung; und Läden und Märkte mit reichem Angebot gibt es bei uns in Hülle und Fülle. Mag sein, dass man er sich einmal an der Kasse etwas zu gedulden hat; das kommt schon vor; im Übrigen aber bedarf es weiter nichts, als dass man sich eben die Zeit nimmt.
Heute aber ist Sylvester. Da soll es wieder die berühmte Suppe geben, wie sie sie aßen, als sie noch in Schwaben lebten und die lieben Nachbarn sie zur Mitternachtssuppe einluden. Unterwegs lässt er sich nochmals die Zutaten durch den Kopf gehen, die er nicht vergessen darf. Doch wohin fährt er zum Einkaufen? Wohin führt ihn der Weg? Schließlich gibt es da die verschiedensten Geschäfte. Natürlich fährt er nicht zum Cafe´ Steinmetz oder zum Sacher in Wien oder zu einem Geschäft, das mit einem ähnlichen Renommee aufzuwarten vermag. Sein Weg geht nicht dorthin, wo sich die edle Damenwelt trifft, die mit Geld und Ruhm die innigste Verbindung pflegt, und der man, wo der Einkauf gleichsam zum Nebengeschäft wird, für ein Weilchen angehören darf. Er braucht keine Praline, die er sich des Abends nach dem Abendgebet wie eine vom lieben Gott geschenkte Süßigkeit in den Mund schiebt, er braucht nur die Zutaten zur Sylvestersuppe. Nun gibt es aber außer den hochwohlnoblen Geschäften der höheren Damenwelt noch einige andere Geschäfte, Geschäfte, die zwar nicht ausschließlich auf Eleganz und Prunk und Reichtum setzen, die aber immerhin doch auch so gepflegt erscheinen, dass man sich nicht dahin auf den Weg machen kann, ohne sich eigens dafür in Schale zu werfen. Selbst von einer mit einer dicken Geldkatze ausstaffierten Medizinergattin können diese Geschäfte ohne Prestigeverlust betreten werden, wenn das Hausmädchen einmal zufällig nicht bei der Hand ist. Gemäß dem hehren Prinzip, dass, was nichts kostet, auch nichts wert ist, zahlt man hier noch immer deutlich mehr als im Billigladen, bekommt dann dafür aber auch die Bestätigung, dass man als Mitglied der gutbürgerlichen Gesellschaft durchaus wer ist, wie auch, was auch sehr wichtig ist, dass keinem der Produkte ein entsprechendes Siegel fehlt, das jedem jederzeit versichert, von wo man sie her hat. Endlich aber gibt es noch die Billigmärkte oder Supermärkte, die Geschäfte für die Proletarier, für Mütter mit einem Heer quengelnder Kinder, für ansässige Hungerleider und Hungerkünstler, für Campinggäste und Vorüberreisende, Märkte, mit jenen Auswüchsen an dubiosen Gestalten wie Arbeitslosen und Stadtgammlern vor den Eingängen mitsamt ihren Hunden und Bierdosen, durch die man sich hindurchzuarbeiten hat, ehe man sie betritt. Die Werbung mit den garantierten Niedrigstpreisen macht es schon deutlich: Hast du notorisch wenig Geld bei dir, so nimmt man es dir nicht übel, wenn du es hier zu Markte trägst. Dass man mitunter nicht weniger zahlt als in anderen Geschäften, für einige Produkte sogar mehr, und dass man gut daran tut, sich die Zerfallsdaten auf den Produkten anzusehen, die einem etwas von den Machenschaften im Hintergrund erzählen, erwähnen wir nur nebenbei. Versteht sich, dass man nicht damit renommieren kann, in einem solchen Geschäft einzukaufen. Viele unserer Zeitgenössinnen würden es nie zugeben, jemals dort gewesen zu sein, und trifft man sie gleichwohl zufällig einmal dort an, so erscheinen sie einem wie Schulkinder, die man bei etwas Unerlaubtem ertappt hat.
Hätten wir zuvor schon mitgeteilt, dass auch unser Held zum Einkaufen stets in seinem alten Hausschlapp ausrückt, unrasiert und ungekämmt, unerachtet aller Bemühungen seiner lieben Schwiegermama, die ihm noch gegen Ende ihres Lebens so liebevoll den Spiegel vor der Haustüre ans Herz gelegt, völlig in der Art ihres Geschlechts, dem es schwerfällt, sich zu ungeschorenen Gesellen außer im Widerwillen herabzulassen, so könnten wir jetzt ganz selbstverständlich damit herausrücken, dass er inzwischen ganz ungeniert vor solch einem Billigmarkt das Auto geparkt hat und dass er dabei ist, diesen Markt zu erreichen. So aber halten wir es für passend, den Steckbrief unseres Helden auf dem Weg vom Parkplatz bis ins Geschäft hinein, den er, als wär er ein Bankräuber, nicht schnell genug zurücklegen kann, noch etwas zu ergänzen. Man mag es drehen und wenden, wie man will: wenn er auch nicht mit dem billigsten Auto angefahren kommt - das hat seine liebe Frau durchgesetzt, die für den Fall eines Unfalls ihren Liebsten so für sicherer erachtet -, an Standesbewusstsein fehlt es ihm allemal. Er hat schon viel Ähnlichkeit mit einem verlausten Knauser und Knieper, wie sie sonst nur noch in Schwaben und Schottland gedeihen. Tatsache ist auf jeden Fall, dass er für eine Ware nicht gern mehr bezahlt als was sie wert ist, wobei er ihren Wert, zumal im Vergleich zu den höheren geistigen Werten nie sehr hoch veranschlagt, gelegentlich aber findet er es auch spaßig, wo er sonst nirgends hinkommt, immer wieder einmal auch etwas von der unteren, natürlichen und unkomplizierten, nur wenig ritualisierten Welt mitzuerleben.
Doch folgen wir nun unserem Held! Einen großen Einkaufswagen hat er sich bereits besorgt und nun kann das eigentliche Einkaufen losgehen! Wer nun aber meint, nun beginne für unseren Helden auch schon das große Welttheater, wie es etwa unser guter Hoffmann in "Des Vetters Eckfenster" beschreibt, ist im Irrtum. Mag der Supermarkt auch eine Welt im Kleinen sein, zuerst einmal kommt unser Held nicht als Beobachter und Literat, sondern nur als einer unter vielen, denen ein Einkauf obliegt. Und da sich, gerade auch heute zum Jahresende, eine schier unübersehbare Menge in allen Gängen des Geschäftes tummelt, so heißt es für ihn zuallererst einmal, sich nur ja tüchtig schnell alles in den Wagen zu sammeln und damit auf eine der Kassen loszueilen, vor denn er bereits fürchterlich große Schlangen warten sieht. Am liebsten würde er schon jetzt seinen Wagen in eine der Schlangen stellen, um nach und nach noch rasch die Zutaten von den Regalen oder aus den Truhen Richtung Kasse seitwärts einzuflößen, doch das geht nicht. Zeitgenossen würden seinen Wagen schnell aus der Schlange bugsieren. Somit ist er denn genötigt, in Windeseile alles zusammenzuraffen, was er auf seinem Einkaufszettel steht. Solcher Art in Anspruch genommen, wollen wir uns auch weiter nicht um unseren Helden bekümmern und ihn seinen Besorgungen überlassen, selbst wenn er an zufälligen Bekannten achtlos vorbeieilte. Schweigen wir und halten wir die Luft an, damit er uns nicht, wie schon einmal, nachdem er schnell noch drei Sachen aus drei verschiedenen Gängen genommen, mit dem falschen Wagen weitereilt.
Nun aber hat unser Held seine Besorgungen getätigt und er kann aufatmen. Denn nun hat er es geschafft, in einer der Schlange vor den Kassen zu stehen zu kommen und kann nicht nur befreit aufatmen, er hat jetzt auch noch Zeit, jetzt, wo die noch zu absolvierende Wartezeit nicht mehr von ihm abhängt, sich in aller Ruhe dem Treiben um ihn herum zuzuwenden. Nun endlich hat er Muße, sich aus der Rolle eines gejagten Einkäufers zu der eines gelassenen Zuschauers umzuwandeln. Oder ist es nicht herrlich, der immer noch hereinströmenden Menge zuzuschauen - die Kassen befinden sich ja, wie üblich, im Eingangsbereich -, wie sie ins Geschäft sich stürzt und mit dem Einkaufen beginnt! Hektisch erregt sind sie ja alle, nicht anders als kämen sie eben um ein paar Augenblicke zu spät, und mit der Schnäppchenjagd wäre es vorbei: Die Einen, als müssten sie sich besinnen, was nun nacheinander zu tun sei, andere, wohl mit Rücksicht auf den ihnen bekannten Inhalt ihres Geldbeutels, indem sie sich den ausgeschilderten Preisen zuwenden und rechnen und vergleichen, wieder andere, die die Ordnung der in den Gängen ausgelegten Waren verschmähen und kühn wie Kampfschwimmer gegen den Strom schwimmen, um sich die ihnen wichtigen und, wie sie befürchten, raren Waren, zuerst einmal zu sichern. Nicht minder interessant sind freilich auch die Geschehnisse bei der Kasse, vor dem Ausgang.
Erst jüngst hatte unser Held das traurige Vergnügen, einer Mutter mit ihrer Tochter zuzuschauen, wie sie eingezwängt in eine Schlange der Kasse zustrebten: die Mutter vollschlank, knapp 40 Jahre alt, die Tochter gertendünn, etwa 14 Jahre. Sie befanden sich, wie es schien, schon seit einiger Zeit in dem heftigsten Disput, der nun an Dramatik und Lautstärke bereits soweit zugenommen hatte, dass er auch zu des Helden Ohren gedrungen. Auge in Auge standen sie sich gegenüber, die Tochter mit dem Gesicht auf die hinter ihnen Anstehenden. Es ging darum, ob nicht doch noch etwas gekauft werden solle. Schließlich stand man in der Schlange und musste warten. Zeit war genug, dass die Tochter noch das begehrte Objekt herbeigeschafft hätte. Es war nur allzu deutlich, dass der Tochter der Besitz dieses Gegenstandes sehr am Herzen lag. Die Mutter indessen hatte sich bereits entschieden. Je mehr die Tochter drängte, umso unnachgiebiger wurde die Mutter. Für sie schien es sich nur um einen Gegenstand töchterlicher Begierde zu handeln. Die Mutter sagte, sie habe das Geld nicht. Die Tochter dagegen, sie habe das Geld, sogar eigenes Geld, das reiche aus. Dabei schaute sie die Mutter mit einem so herausfordernden Blick an, dass er hätte Steine erweichen können. Endlich aber, da die Mutter auf ihrem Entscheid verharrte, schlugen die Blicke der Tochter in Entsetzen um, bis sie in Verzweiflung erstarrten. Ah, wie weh das tut, wenn sich Menschen wehtun! Was für ein Drama, wenn die Augen des Kindes die Augen der Mutter verschlossen vorfinden! Man muss ja wahrlich nicht Hinrichtungen aller Art miterlebt haben, Erschießungen, Enthauptungen, Ertränken und Erhängen, um das Leid der Menschen zu begreifen. Solche alltäglich vorkommenden Szenen reichen ja aus; und oftmals sitzt der schlimmste aller unserer Feinde zunächst unserem Herzen, es zu zermalmen.
Schade, dass wir nicht in Italien leben. In Italien hätten die Leute sich bei solch einem Anlass gewiss in die Verhandlung mit eingeschaltet und vielleicht auch beschwichtigend auf beide Parteien eingewirkt. Die Mutter hätte dann jedenfalls verstanden, dass ihre Tochter nicht mehr die Kleinste sei und dass ihr mithin auch ein wenig Selbständigkeit zugebilligt werden müsse. Und die Tochter hätte verstanden, dass uns oftmals nur der Augenblick hinreißt, etwas für unbedingt erforderlich zu halten. Jedenfalls lässt sich eine solche Szene mit einem befriedigenden, heiteren Ende gut im heiteren Italien vorstellen. Hier bei uns, im unterkühlten Norden, zählen Auseinandersetzungen dieser Art zu den Privatangelegenheiten und keiner nimmt es sich heraus, sich einzumischen, auch unser Held nicht. Man hört und sieht zwar, doch dann verdrängt und vergisst man schnell alles wieder.
Nun gibt es freilich nicht nur tieftragische Szenen, bei denen man Angst haben muss, dass einem das Herz zu schlagen aussetzt. Mit Schmunzeln denkt unser Held daran zurück, wie da einmal eine bereits etwas älter gewordene, dick geschminkte Dame dicht vor ihm in der Warteschlange vor der Kasse stand. Wie unser Held mochte sie schon gut und gern 60 Jahre auf dem Buckel gehabt haben, gab sich aber mit ihrem goldgelben Kamm im rotgefärbten Haar, als wäre sie noch ein Teenager. Die nun hatte einen Korb mit allerlei Waren angefüllt und schien noch immer nicht genug zusammengehamstert zu haben, selbst nicht, als es nun schon ans Abrechnen bei der Kasse ging. Da fand sie dann nämlich, dass sie noch von den um die Kasse aufgestapelten Waren Zigaretten brauchen könnte, wobei sie sich bei jedem der zur Auswahl gestellten Päckchen sorgfältig nach dem Preis erkundigte. Als dann endlich alles soweit geregelt zu sein schien, dass die nachfolgenden Leute glaubten, nun doch auch noch an die Reihe zu kommen, da stellte sich heraus, dass die Dame nicht über das erforderliche Geld verfügte. Die Folge davon war, dass nun einige von den so unendlich wichtigen Sächelchen wieder zurückgestellt werden mussten. Doch welche? Versteht sich, dass da nichts nur einer stillen, abermaligen Begutachtung unterzogen werden durfte. Alles: Wein, Zigaretten und Toilettenpapier bis auf das Badegel der lieblichen Brunelda, alles kam da zur Sprache und wurde der Kassiererin gezeigt, damit sie sage, was es koste, um dann in einer Art Zwiegespräch, bald mit sich, bald mit der Kassiererin, erwogen zu werden, ob es entbehrt werden könne.
Auch die dritte Szene, der wir uns nun zuwenden, erscheint wie ein Ausschnitt aus einem Volksstück. Jedenfalls ist sie wie geschaffen dazu, das Volksleben in einem Supermarkt widerzuspiegeln.
Um alles ganz aus der Nähe zu verfolgen, bitten wir nun also den Leser, uns leise und unauffällig dorthin zu folgen, wo sich die Regale befinden, auf denen die Spirituosen ausgestellt sind. Wer von uns ist nicht auch schon einmal dort gestanden, um dann, übermannt von all der Pracht ins Träumen zu geraten? Auch unser Held gesteht durchaus, dass er, wenn er dort vorbeikommt, selbst auch wenn kein Weineinkauf auf dem Speisezettel steht, gern für ein Weilchen stehen bleibt und sich umschaut. Was auch wäre das Trinken, was das Degustieren des besten Weines, ohne solch antizipierendes, andächtig staunendes und träumendes Verweilen? Wenn man bei sich zu erwägen beginnt, nein, wenn die Erwägungen losgelöst von uns sich gleichsam selbständig auszutauschen beginnen, ob man sich nicht dieses oder jenes Fläschchen einmal erlauben sollte! Wie zauberhaft, solchen, durch Fläschchen induzierten Unterhaltungen zuzuhören, in denen gleichsam der Same der Vorfreude und des guten Geschmackes zu keimen beginnt! Wenn ich nur an die süßen Samosweine denke, von denen ich viele Jahre geträumt habe, ehe ich den ersten Schluck tat! Freilich können auch liebe altbekannte Flaschen (ich meine genießbare Fläschlein) auf sich aufmerksam machen, zumal wenn sie einmal - leider selten genug! - mit einem fabelhaft verlockenden Preis ausgezeichnet sind. Begrenzte Sortimente indes, wie sie immer einmal wieder auf verschlungenen Wegen auf den Markt kommen, verlocken zu Erfahrungen in noch nie betretenen Gebieten. Man muss ja nicht gleich viele Kisten davon haben; ein Schnäppchen mit zwei, drei Fläschchen genügt fürs Erste ja schon.
Solch ein Einkauf bleibt denn auch unserem Helden in unauslöschlicher Erinnerung, wo er einmal bei eben jenen Regalen auf einen Restposten mit Tokaierweinen stieß, in Halbliterflaschen abgefüllt, den er zwar nicht in toto mit sich nahm, da er, zumal bei dem verdächtig günstigen Preis, die Katze nicht im Sack kaufen wollte, der ihm dann aber beim Trinken kaum minder herrlich schmeckte als jener Wein, den Odysseus dem schlimmen Polyphem kredenzte. "Auch uns Kyklopen trägt die nahrungsspendende Erde Wein aus großen Trauben. Aber das ist ein Tropfen!" sagt dort der einäugige Riese zu seinem Gast. Odysseus hatte sich ihn ja vom Priester des Apollon aus Ismaros schenken lassen.
Nebenbei mag hier auch noch die Bemerkung Platz finden, dass es nicht unbedingt stets der beste Wein ist, der das höchste Lob und den schönsten Weinspruch verdient. Auf die gesellige Runde kommt alles an, in der der Wein genossen wird und die der Wein adelt. Hätte unser Held bei einer entsprechenden Zusammenkunft dem Vater Homer von jenem Tokaier eingeschenkt und ihn dazu gebracht, etwas zu dessen Lob vorzutragen: ich bin mir ganz sicher, Vater Homer hätte den Tokaier nicht minder gewürdigt, wie wenn ihm unser Held Ambrosia und Nektar gereicht hätte. - Ja, gern hätte unser Held damals anstelle der 3 Fläschchen 300 gehabt, um dann auch noch für die nächsten sieben unfruchtbaren Jahre etwas Gutes im Keller zu haben! Als er aber das nächste Mal dorthin kam, war von dem Restposten auch die allerletzte Flasche bereits vergriffen. Jedes Mal aber, wenn ihn der Zufall wieder in jenes Geschäft führt, geht er, wie mit dem Ortsgedächtnis eines Raubtieres, das auch noch nach Jahren weiß, wo es einmal auf gute Beute gestoßen, zu der Stelle, nur leider ohne wieder auf jenen herrlichen Tokaier zu stoßen.
Um noch ein wenig bei jenen Regalen mit den Spirituosen zu verweilen: sieht unser Held jetzt nicht auch wieder jenes Bäuerchen in den Supermarkt eintreten, eines von denen, die einmal im Jahr in die Stadt kommen, um dann so recht nach Herzenslust einzukaufen? Für diesen Gang hat es sich eigens sein Sonntagsanzügchen angezogen und seine Baskenmütze aufgesetzt. Nun also steht es bereits unweit von den besagten Regalen und wächst bei dem Gedanken in die Höhe, sich wieder einmal so recht nach Herzen etwas zu genehmigen. O, wie verschwiegen und doch zugleich wie männlich beherzt er jetzt einer Angestellten zuwinkt und sie beiseite nimmt! Würde er sie nach dem Busenfreund und Schatz ihres Herzens fragen, er könnte es nicht sorgfältiger in die Wege leiten. Indessen bittet er sie nur, ihm die Weine ihres Geschäfts zu zeigen. Als sie ihn die paar Schritte dahin geführt hat, erkundigt sich das Bäuerlein nach den lieblichsten Weinen. Dieser hier, meint die Verkäuferin, indem sie unter einem Heer von perfekt nebeneinander stehenden Flaschen auf eine Flasche Liebfrauenmilch weist. Da sie nämlich dem Bäuerlein keine allzu dicke Geldbörse zutraut, hat sie auch seine Frage missverstanden. Unserem Bäuerlein hat aber mit seinem Wunsch nach etwas Lieblichem entschieden etwas anderes vorgeschwebt als das Billigste. Das, so meint er, während er sich die Liebfrauenmilch dicht vor die Augen hält, das kann doch kein Wein sein, wenn ein Liter davon weniger kostet als ein Liter Benzin! - Ah wie sich unser Mann vom Land erkühnt! War er etwa als ein armer Schlucker hergekommen oder nicht wie ein Gentleman, der sich etwas zu genehmigen versteht! Jetzt aber will er es wissen! Und wie ein Spieler, der all sein Geld zusammennimmt, um das Spiel seines Lebens zu spielen, so verlangt er nun, das Fräulein möge ihm den besten und teuersten Wein zeigen, den sie überhaupt in ihrem Geschäft hätten. Was für ein verwegenes, was für ein gefährliches Spiel. Das Einzige, was uns für das Bäuerlein hoffen lässt, sind seine Schlitzohren. Denn er muss ja nicht notwendig kaufen; keiner kann ihn dazu zwingen; vielleicht belässt er es bei einem träumerischen Erstaunen!
O ihr Einkäufe, die ihr uns Gelegenheiten gebt, uns artig mitten hinein ins Menschenleben zu begeben. Für dieses Mal lächelt unser Held. Oder hat er heute nicht alles glücklich besorgt, was er für seine Suppe brauchte! Während er das rettende Ufer ansteuert, d.h. in der Warteschlange unaufhaltsam nach vorn rückt, schaut er höchst zufrieden auch noch auf ein Schweinshäxlein, das er sich zu den Zutaten ergattert hat. Für Neujahr hat er es ergattert, eingedenk jener Tage, wo ihm früher seine Liebste zum Empfang ein solches zubereitet, wenn er am Wochenende zu ihr zu Besuch gekommen. Auch bei der Kasse muss er jetzt nicht mehr lange anstehen. Nur ein Student ist noch vor ihm, vermutlich ein ewiger, einsamer Student. Jedenfalls lassen Haartracht, Kleidung wie vor allem auch ein nervös vor sich hin zitterndes linkes Bein darauf schließen, dass sich bei ihm ein vorzeitiges Alters-Zipperlein eigestellt hat, vielleicht, weil er von irgendwelchen Hochschullehrern permanent gequält wird. Außer einem Kuchen und einer Flasche Saft hat er nichts auf den Ladentisch zu legen. Erst im letzten Augenblick entschließt er sich noch zu einer Schachtel Zigaretten. Endlich kommt nun also auch unser Held an die Reihe. Und dann ist er auch schon glücklich aus dem Laden, eine Tasche in der Rechten und eine in der Linken. Und während er im Eilschritt über den Parkplatz zu seinem Auto zurückkehrt, stellt er sich vor, wie er nun bald schon zu Hause ankommt. O wie erleichtert wird er sein, wenn er erst wieder die Haustüre hinter sich geschlossen hat! Da kann er dann die Stunden bis zum Abendessen noch so recht nach Herzenslust nutzen. Am Abend aber wird er mit Liebchen die leckere Suppe zubereiten. Mag dann das alte Jahr dahinziehen und das neue kommen! Wenn es nur nicht allzu viel Böses bringt!
Eigentlich war das schon immer so und wird auch so bleiben, solange es Senatoren gibt und Senate: ich meine diese Sessiones oder Sitzungen mit all dem Pomp der Inszenierung und dem übrigen Zubehör, vor allem aber mit der Bedeutsamkeit dieser Greise und Graubärte, die immer wieder in ihren langen, an Selbstgefälligkeit und Wichtigkeit kaum zu überbietenden Senatsreden zum Erblühen kommt. Jeder kleinste Senat praktiziert es uns vor, und das ist ja auch Recht so: Denn was wäre schließlich ein Mann, wenn er sich niemals seiner Bedeutung ansichtig würde, d.h. wenn er nicht hier zumindest den Eindruck erhielte, eine welthistorische Rolle zu spielen. Und hat auch ein Senat noch nie über etwas Wichtiges entschieden und geht es auch um kaum etwas anderes, als dass man in den Hundstagen den Hunden nicht die Ohren kupieren oder die Schwänze abschneiden darf, weil man ansonsten nicht mehr die tollwütigen Hunde von den unauffälligen unterscheiden kann: so gibt es zum Glück doch noch die korrekte Form, in der alles zu geschehen hat. Schließlich muss alles in eine korrekte Form gepackt werden. Was wäre auch ein Senatsbeschluss, wenn die Form fehlte! Hier aber ist der Senator in seinem wahren Element. Die Wahrung und Einhaltung der Form, die immer und ewig zu triumphieren hat, sowohl beim kultivierten Abschneiden oder Zuschneiden eines Katzen- oder Hundeschwanzes wie auch beim Vortrag einer Senatsrede oder beim Fassen eines Gesetzes, ist zweifellos das Schönste, was man nur in einem Menschenleben zu besorgen vermag. Die fein ausgearbeiteten Verfahrensweisen sind es insofern ganz besonders, denen der Senator seine ganze Aufmerksamkeit widmet und die er durch ein dezidiert schickliches, korrektes Verhalten ehrt und verehrt sehen möchte. Undenkbar, dass da einer in Turnschuhen daherkommt, wie olim der Turnschuhminister, ich meine den späteren Herrn Außenminister, den Stammvater der Grünen, als er noch ein Grünohr war. Undenkbar, dass einer zu brüllen begänne und sich auf den Boden schmisse, um sich den Bauch vor Lachen zu halten wegen einer Redepassage seines Gegners. Undenkbar dass da einer in seinen Regungen und Bewegungen das schickliche Maß außer Acht ließe und durch Flegeleien auffiele. Nichts wissen diese Eminenzen des Senats besser und genauer, als dass hier der Ort ist, wo entweder die Kultur siegreich ihr Haupt erhebt und weiterbesteht oder wo die Barbarei beginnt mitsamt den männermordenden Iden des März.
"O allmächtiger Vater!" rief da schon gleich etwas in mir, als ich die Senatoren im Trubel ihres Amtes wahrnahm: "O allmächtiger Vater! Als ob diese Herren neben dir gesessen wären bei der Erschaffung der Welt! Und du wolltest eben das schönste Weltall erschaffen, das es jemals gäbe; und da hätten sie dich dann darauf aufmerksam gemacht, dass du es unbedingt auch in würdigen Sätzen ins Leben zu rufen hättest!" Als ob sie dir zugerufen hätten: "Lieber kein Weltall, wenn es nicht in der schicklichen Form geschieht!"" Kurz danach aber, als ich dem Zweck all dieser Ereiferungen nachsann, da war mir, als wäre schon die nächste Sintflut in Sicht und nun gälte es, noch rasch sich ins Benehmen zu setzen, was alles an Bord der nun in aller Eile zu bauenden Arche mitgenommen werden könne. So ungeheuer ereiferten sie sich, so wichtig nahmen sie sich, als ob hier der Motor am Werk wäre, der das Weltall in Gang hält. Ja, so erstaunlich war für mich Anfänger damals die Differenz zwischen der Nichtigkeit der Sachgegenstände und dem Ernst der Unterhaltung, dass sich mir alle Gattungen des Schauspiels verwischten. Noch nie hatte ich derart ernst über einen Fliegenschiss reden hören und wenn es auch nur um ein paar Haushaltsmittel ging, deren Sachwert sich weit unter dem Stundenlohn des Senatsgremiums befand. Damals wusste ich noch nicht, dass es für einen Senat keine Geringfügigkeiten gibt, und mithin dass alles nichts anderes war als eine bramarbasierende Farce, die man zu zelebrieren hat mit dem wichtigsten Gesicht der Welt. Sobald ein Gegenstand als "Top" auf der Tagesordnung steht, trägt er den Stempel welthistorischer Bedeutung und wehe, wer daran zweifelt. Versteht sich, dass ein echter Senator außer dieser seiner Bedeutung im Allgemeinen auch weiß, wo ihm im Besonderen sein Platz zukommt. Vergebens, dass man ihn in einer der hinteren Reihen sucht, wo vielleicht Herren und Damen sich aufhalten, die ihre Vorlesungen noch nicht gründlich genug ausgearbeitet haben, oder die es nötig haben, sich im Versteck mit Forschungsarbeiten zu befassen. Davon kann beim Senator aus Leidenschaft, und ein solcher ist eben der wahre Senator, niemals die Rede sein. Schon immer hatte er seinen Platz ganz vorn, beim Rednerpult: dort, wo er alles sehen und freilich auch, wo er von allen gesehen werden kann. Wenn er das Wort ergreift, so genügt ihm freilich keineswegs, dass man ihn sehen kann. Alle seine Kraft wendet er darauf, dass man auch auf ihn schaut. Ja als echter Senator zwingt er förmlich einen jeden, bis auf die wenigen Hinterbänkler, die für ihn zum toten Mobiliar gehören, da sie ohnehin nie den Mund auftun, auf ihn zu schauen. Einen echten Senator, auch wenn er nicht zufällig im Senat weilt, erkennt man bereits aus der Ferne an dieser seiner Eigenschaft, die Blicke aller auf sich zu ziehen. Seht, hier komme ich! Ja, schaut nur gut her: das bin ich! So scheint er immerfort Signale auszusenden, ob er sich irgendwo in einem Theater oder in einer Straßenbahn oder in der Kirche aufhält. Ununterscheidbar und unaufhebbar, aller Welt gut sichtbar wandelt er als das inkorporierte Gesetz wie auch als die durch das Amt beglaubigte Würde durch die weite Welt. Dies eben ist es, was einen Senator schon immer ausgezeichnet hat und auch weiterhin auszeichnet: Wo immer er auftritt, überall tritt etwas Großes und Bedeutendes unübersehbar ins Bild.
Rasch schon nach Beginn meiner Zugehörigkeit zum Senat war mir nichts widerwärtiger als dieselben, ganz im Unterschied zu den echten Senatoren, deren Bärte und Gesichter pünktlich an jedem Senatstag erblühten, als gälte es, das heilige Osterfest zu begehen. Nicht selten beschlich mich da auch die bange Frage, ob nicht manch einer von diesen Hauptrednern und Senatsmatadoren ernstlich Angst hätte, es könnte etwas Schreckliches passieren, wenn er nicht zum Sprechen käme oder wenn er gezwungen würde, vorzeitig seine Senatsrede zu beenden. Wie den Israeliten der Sieg sicher war, solange des Moses Arm hocherhoben blieb: so schien diesen Rednern alles in Sicherheit, solange sie nur mit ihrer Rede im Gang waren. Und vermutlich hätten sie auch nie zu sprechen aufgehört, wären nicht allen menschlichen Tätigkeiten Grenzen gesetzt, dem Zuhören ebenso wie dem Reden-Vortragen. Damit in engstem Zusammenhang steht der ästhetische Gesichtspunkt, dass auch der Erscheinung des Edel-Großen, um als der Vergegenwärtigung von etwas ewig Gültigem zur Wirkung zu kommen, nur eine gewisse Zeit auf unserer irdisch begrenzten Bühne zukommt. Und endlich verlangte das große, durch tausend Gesetzbücher und Paragrafen gestützte Prozedere ja auch noch die Abstimmung über den eingebrachten Antrag. Was für eine Steigerung des Wohlbefindens, wenn man sich sagen konnte, den Senatsbeschluss in Gang gebracht und durchgesetzt zu haben, was für eine Steigerung der eigenen Wichtigkeit und Würde, was für eine simultane Erhebung des Amtsträgers und des von ihm vertretenen Amtes!
Es war schon des Sehens wert, wie anders es zuging, wenn da etwa ein Anfänger aus den hinteren Reihen das Wort ergriff, etwa um eine Frage vorzubringen oder gar um einen Einwand zu machen oder zu widerlegen. Wenn da einer mit klopfendem Herzen und nervös zitternden Fingern seine Rede mit einem "Darf ich dazu etwas sagen?" oder vollends, wenn er mit einem "Da muss ich aber sagen.." begann: da kam allerdings etwas in Gang. In letzterem Fall freilich hatte der junge Revoluzzer schon verspielt. Das war ja nicht die Sprache eines gebildeten Optimaten, das war das unsaubere Gewäsch eines weltbrandstiftenden Plebejers. Was, so brachten die alteingesessenen Senatoren denn auch gleich in ihren Gesichtern einhellig und unmissverständlich zum Ausdruck, was hat uns dieser Grünschnabel überhaupt zu sagen? Nichts schien ihnen widerwärtiger als ein Redner, der sich durch vulgäres und hektisches Sprechen und durch verkrampfte Mienen auswies. Bald leise, bald laut, immer aber bestimmt, gelassen-ruhig und doch mit Nachdruck hatte man seine Sachen vorzubringen, wobei man sich den Regeln der Rhetorik verbunden wusste, nicht dem Affekt. Ihres Erachtens bestand die Aufgabe eines Neulings bestenfalls darin, ihnen, den alteingesessenen Senatoren zu lauschen, wie sie sich ihre Meinung bildeten, um später dann in diesem Sinn den Senat weiter zu steuern. Wo die Meinungsbildung aber bereits stattgefunden hatte, was hatten sich diese Grünschnäbel überhaupt noch zu Wort zu melden, wo die anschließende Abstimmung nur noch eine Formsache war?
Als ich damals begann, dem Senat anzugehören, also etwa vor dreißig Jahren, waren die großen Redner für mich Leute, die mich an Jahren bei weitem überragten. Wie die Exemplare einer übrig gebliebenen Spezies prägte ich sie mir ein, als ich sie das erste Mal sah, bis ich plötzlich feststellte, dass sie gar nicht mehr arg viel älter als ich sein konnten. Wie im Flug nämlich waren die dreißig Jahre unterdessen vorüber gegangen. Ich mochte tun, was ich wollte, ich mochte die geheimsten Spiegel befragen: diese Leute, auf die ich wie auf Väter und Großväter, wenn nicht gar auf unsere Urgroßväter zu schauen pflegte, entpuppten sich plötzlich altersmäßig als meinesgleichen. Und als ich mich weiter umschaute, da entdeckte ich, dass es jene uralten Exemplare der Redekunst überhaupt nicht mehr gab. Alle waren sie von der Bühne getreten, bei deren Auftritten mit dabei gewesen zu sein ich mich rühme. Inzwischen gab es keinen Haubrich mehr, keinen Bong, keinen Hoeres, keinen Schneider, keinen Götz und keinen Sachs. Und doch war alles irgendwie noch immer wie früher. Nicht minder wackere Leute hatten sich in der Zwischenzeit eingefunden, die sich nun, wie jene Alten, in der Redekunst hervortaten. Längst hatten auch sie begriffen, dass es darauf ankommt, das aufmüpfige Heer in Schranken zu halten, auch wenn es ihnen noch nicht immer gelingt, dies würdevoll zum Ausdruck zu bringen. In der klassischen Gestalt, die man gewiss schon in den Senatsreden des Cicero findet, lautet der Einwand des seiner Sache sicheren und erprobten Senators auf jeglichen unerwünschten Protest: "Meine Herren, wenn sie etwas vorzubringen haben, bringen Sie es klar verstehbar auf den Punkt! Und seien Sie gewiss, dass wir es nicht fehlen lassen, ihnen aufs Genaueste Antwort zu geben!"
Oh die Herren Senatoren! Glaube nur niemand, das Verhalten als Senator beschränke sich auf die Sitzungen des Senats. Was z.B. so ein Mann sieht und was nicht, wenn er über den Campus wandelt oder wenn er in der Öffentlichkeit unterwegs ist, wen er mit seinem Blick beehrt und wen er übersieht, wen er auf welche Art und Weise grüßt und wie er mit ihm redet, wem er das Du anbietet und was ein solcher zu tun hat, bis ihm eine solche Auszeichnung zuteilwird: das alles weiß der Senator selbstverständlich ebenso gut, wie er die von ihm vertretenen Sachgegenstände kennt. In seiner Nähe weilen zu dürfen ist für jeden Normalsterblichen ein Ereignis ersten Ranges, fast als würde er dadurch zur Unsterblichkeit erhoben, wiewohl es selbstverständlich verschiedene Weisen der Unsterblichkeit gibt, wie keiner besser weiß als ein Senator.
An der Wahrung edlen Benehmens, an der freudigen Teilnahme an Anstand und Sitte, ja am innigen Genuss schöner Formen herrscht kein Mangel. Wenn auch grüne Jünglinge hin und wieder aufbegehren, so muss doch gesagt sein, dass sämtliches Verhalten unserer Senatoren, sei es in der Mimik des Gesichts wie auch in der sonstigen Körpersprache, beim Gehen oder Stehen, wie vornehmlich auch zu Beginn einer Rede, nicht ausdrucksvoller gestaltet sein könnte. Und wenn uns der Geist der Menschheit auffordert, uns um das Edle zu bemühen, hier bei unsren Senatoren zeigt es sich in seiner Vollendung. Wie zart, wie edel, wie ausdrucksvoll ist nicht gerade auch die Bescheidenheit, die von den ranghöchsten, ihres Ranges absolut sicheren Vertretern des Senats zur Schau gestellt wird! Wie hilfreich und gut zeigen sie sich, nicht nur als Vorbild der nachdrängenden Jugend, auch an und für sich als eindrucksvolle Gestalten des menschlichen Geistes!
Von feineren individuellen Schattierungen in den Porträts, die es darüber hinaus noch gibt, wollen wir hier absehen. Immerhin aber darf man nicht vergessen, dass wir nicht mehr in einer Zeit der Ursprünge, sondern der Umbrüche leben, was sich durch ein gewisses Schwanken der Formen erkennen lässt. Nur so viel wollen wir noch anmerken, dass neben den Typen früherer Tage sich inzwischen auch weibliche Sondergestalten geltend machen. Neben dem karrierebewussten Rechtsexperten bestaunen wir nun auch die elegant gekleidete Paragrafenreiterin, neben den sophistischen Lufttanzkünstlern die silben- und satzverschluckenden Bauchrednerinnen, neben den systematischen Wortausklaubern hören wir betörend süß flüsternde, syntaxmissachtende Sirenen, neben ernsthaften Vordenkern und diensteifrigen Nachfragern sehen wir Schnüfflerinnen und Sykophantinnen, neben liebedienernden Weihrauchbläsern sich in Szene setzende Schienbeintreterinnen. Selbst gelegentliche Ausrutscher bei der Wahrung der Etikette, die es früher noch nicht in diesem Maße gegeben, sind doch noch immer die Ausnahme. Man sagt nicht, wie es einem im Innern zu Mute ist, sondern man übersetzt auch den Unmut und selbst den Unwillen in ein von allen akzeptierten höflichen Ausdruck. Solange dies so bleibt, sind wir uns sicher, dass der Senat trotz der vielen neuen und veränderten Konstellationen zu seiner ursprünglichen Würde und Wichtigkeit zurück findet.
Die eigentliche Aufgabe eines Senators oder einer Senatorin war und wird sein: was immer auch zu tun ist, in schönster Würde zu tun. Korrektheit im Stil und in der Form wie auch eine Sorgfalt in der Durchführung einer jeden Sache, die sich bis aufs I-Tüpfelchen erstreckt: das sind die Tugenden, dank deren die Senate die Verbindung mit dem Ewig Waltenden aufrechterhalten. Nur wer an seine Bedeutung glaubt, hat Bestand. Wir indessen werden uns nun auch schon bald aus dem allgemeinen Treiben des Senats zurückziehen, den zu beehren wir von Amts wegen gezwungen waren. Dann werden wir uns in eine Ecke verziehen und uns auf das Liedlein beschränken, das uns schon die alten Schnecken in unserer Kindheit gesungen haben: "Ist nichts für mich, macht´s ohne mich, ich brauch meine Ruh!"
Wer war dieser Herr nun eigentlich? War er ein Liebling der Götter, wie uns Homer weiß zu machen sucht, oder war er ein Sophist und Ränkeschmied und brutaler Machtmensch, wie wir ihn aus der klassischen Tragödie kennen? Wer war dieser vielverschlagene Kriegsheimkehrer und Opportunist, der stets auf seinen Vorteil bedacht war, dieser Gold- und Silber-freibeuter, dieser Städtezerstörer und Machtmensch um jeden Preis, dieser Udeis, der auch noch den Polyphem das Fürchten lehrte? War er der Mann, der sich nach seinem Weib und nach seinem Kind sehnte, wie Athene es den Göttern weismacht, oder trieb es ihn nur weg von der Göttin Kalypso, weil er bei ihr auf der Insel Ogygia festsaß und nicht mehr der Natur eines Herrschers und Gewaltmenschen genügen konnte? Wonach fragt er, wenn er sich bei der verstorbenen Mutter in der Unterwelt nach seinem Weib erkundigt? Nach einer Gefährtin, die ihm fehlt, oder nach einem Besitz, der ihm die Gewissheit seiner selbst gibt? Wehe, ein Freier ließe es sich einfallen, nach dieser mit reichem Besitz ausgestatteten Frau seine Finger auszustrecken! Wenn es um Besitz ging, kannte dieser Herr keine Gnade. War er, wie er sich den Phäaken vorstellte, ein feinkultivierter Athlet, ein wenig besitzgierig freilich, aber doch mit feinen Sitten? Oder war er als ein Herrenmensch ein Ausbund abgefeimter Räubereien und sauber ausgeführter Totschlägerarbeiten? Und nannte er sich einen Städtezerstörer: war nicht auch Athene, seine Schutzgöttin, eine ebensolche, der Eule ähnliche Beutegöttin?
Im Buch der Taten und der Weltgeschichte ein Unbekannter zu sein und ein Niemand zu bleiben: das war ja nur List und wäre das letzte gewesen, was einem Helden vom Schlag eines Odysseus vorschwebte, wiewohl er gewiss auch ahnte oder wusste, dass es gut ist, nicht zu viel über sich selber zu wissen. Ferne ab von Nichts und Niemand sollte sein ruhmvoller Name bis in die höchsten Himmel hinauf ertönen und in diesem Sinn hat er auch bei uns, im christlichen Abendland viele Bewunderer und Nachahmer gefunden. Frage nicht, ob es erlaubt ist, ein Verbrechen zu begehen, sage dir lieber, dass sein muss, was nicht anders sein kann und nenne deine Taten Listen! Handle und lass andere sich das Hirn zergrübeln über Schicklichkeit, Gerechtigkeit oder Verbrechen. Was für zwei ähnliche Naturen: dieser Odysseus und der Kyklop! Was Polyphem an Riesenkräften besaß, wog Odysseus, dieser Nichtsnutz, wie ihn der Kyklop nennt, durch seine Listen auf. Polyphem lebte als Einzelgänger, für sich allein, Odysseus zwar mit seinen Gefährten, die er in einer arbeitsteiligen Welt brauchte, im Übrigen aber auch ohne jeden Freund. Nur Eumaios, ein, wenn auch aus königlicher Abstammung, wie es heißt, und mithin ein göttlicher Mann, in Wahrheit aber doch nur ein subalterner Sauhirt, hat es zu einer gewissen Art von Freundschaft gebracht, dem er sich aber lange Zeit nicht zu erkennen gibt, sondern dem er erfundene Geschichten auftischt, wie er sie eben jedermann passend bereit hatte.
Mögen bei diesem Mann die Anfänge auch bescheiden gewesen sein, sodass er sich, um nur zu überleben, zu kleinerem Mundraub hatte entschließen müssen, so blieb er dabei doch nicht stehen. Zumal, um Scherereien mit dem Nachbarn aus dem Weg zu gehen, war es besser, aufs Festland überzusetzen, etwa zum König Echetos, dem man dann Weidetiere stahl. Wenn der dann freilich auch nicht zimperlich verfuhr und bekannt dafür war, einem Dieb Nasen und Ohren abzuschneiden, so hatte man, was den Aufwand und den Einsatz der Anstrengungen und Bemühungen anging, die Beute doch immerhin redlich erworben. Und tat man das alles nicht unter allerhöchstem Schutz, da man sich als Familienschutz den Gott der Diebe zur Seite wusste! Berufen somit, nur immer auf noch größere Raubzüge auszugehen, schaffte es denn der Enkel des Autolykos, sich sein Schatzhaus mit immer wertvolleren Beutestücken zu füllen, die, wie dann alle Welt wusste, für mindestens 10 Generationen ausreichten.
Nachdem sich nun aber Menelaos auf "Weltfahrt" begeben hatte, wie es in der Telemachie heißt, nachdem er also ein wackerer Raubmörder geworden war, und nachdem auch Odysseus die ersten Lektionen des internationalen Räuberhandwerks gelernt hatte und man sich zutraute, selbst auch gegen das reiche Troja zu Felde zu ziehen, versammelte man sich in Aulis und fuhr davon. Indessen scheint sich Herr Odysseus bei all seiner zu Hause erlernten Diebeskunst auch etwas Kultur und höfische Sitten zugelegt zu haben. Als er bei der Heimfahrt nach der Eroberung von Troja auf den Priester von Ismaros trifft, hält er es für schicklich, ihn am Leben zu erhalten. Wie er sagt, beugte er sich der Gottheit des Priesters. Keiner indes wird bestreiten, dass sich das Geschäft lohnte. Im Gegenzug zu den nicht ganz billigen Geschenken des Priesters gewährt Odysseus ihm dann generös seine ewige Freundschaft. Wie er dann zehn Jahre später nach Haus kommt, macht er sich auf den Weg zu jenem bereits erwähnten göttlichen Sauhirt. Man darf sich fragen, was dem Sauhirten das Prädikat "göttlich" eingebacht hat. Vermutlich seine königliche Abstammung. Gewiss, er ist ein idealer Diener, der weitaus beste, wie es heißt, aus des Odysseus Dienerschaft, doch was erinnert dan eine königliche Abstammung? Was für ein Schleimer, was für ein Duckmäuser was für eine Sklavennatur, dieser Eumaios! Konnte denn solch ein widerliches Subjekt etwas anderes sein als ein Gegenstand der Verachtung? Statt schleunigst Ithaka zu verlassen und sich auf den Weg nach Hause zu machen, wo ein von Göttern gegründetes Königreich auf ihn wartet, duckt er sich, wiewohl die Orakel des Odysseus Tod bestätigt haben, unter die Herrschaft der Freier. Dass wir diesen Schweinezüchter später im Kampf gegen die Freier mitkämpfen sehen, ist eine der abenteuerlichsten Erfindungen, die uns Homer auftischt.
Was aber den Odysseus betrifft, os war es keine Wandersehnsucht, die in ihm wach wurde, als er am Ufer der Insel Ogygia saß und, wie uns Homer vermeldet, weinte. Es war Mangel an herrschaftlichem Dasein, Mangel an großen Taten, Mangel an Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung. Brausen wollte er wie das Meer, wogen und schäumen wie die Wellen, sich werfen über Klippen und Schründe, die sich ihm in den Weg stellten. Ja, lieber wollte er dem Groll des Poseidons begegnen als harmlos in den Armen der Göttin Kalypso zergehen. Vielleicht waren es auch Alpträume, die ihn quälten, ihn, dem nichts über Besitz ging und Besitzerwerb. Dass er im Geist die Gesellen sah, die sich in seiner Abwesenheit an seinem Eigentum vergingen. Wehe denen, die sich in seiner Abwesenheit erdreisteten, sich etwas von seinem Hab und Gut zu stibitzen, das er sich unter Lebensgefahr zusammengeraubt hatte! Und vollends, dass sie sich Bettspäße und Bettgeschichten erlaubten mit von ihm erbeuteten Dirnen. Zum Teufel auch! Solche Späße gingen dem Städtezerstörer entschieden zu weit. Da kannte er kein Pardon. Und hätte er ein Pardon gekannt, so hätte ihm doch Athene kein Pardon erlaubt. Nirgends am homerisch blauen Himmel Griechenlands schimmerte der göttlicher Hass glühender als hier. Ah, wie sie ihn scharf machte, wie sie ihn aufreizte, wie sie ihn einschwor, die Tochter des Zeus, des Schwingers der Ägis, den Freiern die Fäuste zu zeigen! Unter dem Boden sollten sie liegen, sobald er nur wieder in Ithaka war. "Da stand mir ja gar noch das Schicksal Agamemnons bevor. Aber mit deiner gütigen Hilfe, eulenäugige Göttin, werden wir ihnen schon zeigen, was Recht ist." Und dann werden wir Zeugen, wie er ihnen den Garaus macht und auch, wie sie die Dirnen am Seil aufhängen, während die alte Eurykleia dabei aufjauchzt, als wär sie beim Kindlein-Wiegen. Die Zeitgenossen des Euripides machten kein Hehl aus ihrer Verachtung. Sokrates hatte es weniger gut, als er laut darüber nachdachte. Er musste den Schierling trinken. Wir Heutigen dürfen über diese Dinge zumindest rund heraus sagen, was uns missfällt.
Fern vom Ruhm und Glanz der Zeit
such ich auszudauern
Und das Herz mit Bitterkeit
mir nicht zu vermauern.
Erzählen sollte man können, insbesondere Rechenschaft ablegen über sein Leben, ohne auch nur einen Schatten an Bösem aufkommen zu lassen, wie es meine Liebste verstanden: man könnte sich wohl die Eintrittskarte ins Paradies damit erwerben. Aber ich kann´s nicht, wie die nachfolgende Erzählung beweist. Eigentlich rede ich ja auch nicht gerne über diesen Scheißkerl. Dadurch dass wir auf Schlimmes hinweisen, laufen wir ja nur Gefahr, sofern wir nicht die rechte Tonart finden, es zu verdichten und ihm ein Gewicht zu geben, statt es aus unserem Leben zu verbannen. Dass ich mich an den Leser wende, um mir wo möglich Mitleid zu erbetteln, davon kann freilich keine Rede sein. Und wenn ich von Peinlichkeiten und Pannen in unserem Leben rede, so tu ich´s auch nicht, als ob es die Aufgabe des Schicksals gewesen wäre, uns mit damit zu verschonen. Würde ich sagen: "Wenn dies nicht der Fall gewesen wäre und jenes ein wenig anders verlaufen wäre, dann hätte mein Leben einen anderen Verlauf genommen", so wäre das nur leeres und törichtes Gerede. Wenn wir auf Unschönes zu sprechen kommen, so mag es geschehen, um zu sehen, was wir daraus gemacht haben.. Besser freilich wäre es, wenn wir es vermöchten, uns über Peinlichkeiten und Pannen so zu erheben, als hätte sie uns ein Gott geschickt zu unserer Erprobung und Bewährung. Es liegt doch nur an uns, ob wir in einer komischen oder traurigen Welt leben. Dabei meine ich gar nicht, dass es an uns läge, ob wir uns besser aufführten und die Freuden vermehrten, ich denke hier nur an die Leseweise, wie wir im Rückblick auf unser Leben verfahren könnten. Oder liegt es nicht an mir, ob ich die Vorfälle meines Lebens, all das Unerquickliche und Unerfreuliche, dass ich Unbeständigkeit und Untreue von Freunden, Gleichgültigkeit von Lehrern, Vorgesetzten oder Verwandten, Raffgier von Geldzapfern aller Art etc. etc., ich sage, liegt es nicht an mir selber, wie ich alle diese Vorfälle präpariere? Ob ich sie in ein Kasperletheater stelle, ein Marionettentheater oder in ein Wachsfigurenkabinett oder ob ich sie in einer Geisterbahn auf dem Messplatz deponiere? Muss ich denn immer ernsthaft alles aufs Spiel setzen, Ehre, Vaterland und ewiges Leben, um dann gleich mit dem ersten Bösewicht in den untersten Kreis der Hölle zu sausen und dann dort, einem Kohlhaas ähnlich, für immer zu verderben? Es ist ein unverzeihlicher Fehler, dass uns keine Schule der Welt darüber aufklärt, dass dem Menschen eine Schöpferkraft innewohnt, dergestalt dass er sich als Schöpfer eines Kosmos und einer Wirklichkeit zu erfinden vermag. Versuche er es doch! Lege er sich ein Essigheft an und schreibe, was immer ihn zu schreiben gelüstet! "Es ist ein verzeihlicher Irrtum bei einem großen Geist, der glaubt, über jedermann großspurig hinwegschauen zu müssen."
So hätte unser Held damals ein Essigheft eröffnen können; und hätte dann vielleicht hinzugefügt: "Aber man kann dem großen Geist auch den Star stechen, dass er zu poltern aufhört. Man muss nicht abwarten, ob es der Teufel tut." - Und ganz gewiss hätte er es nicht bei diesen Sätzen belassen.
O harmloses, kindlich vertrauendes Ich, bemitleidenswert ohne ein Heft in der Hand! Das du so fest und sicher zu stehen meinst, und doch kann dich das nächste Lüftchen bereits wie ein wildes Tier überfallen, und du hast nichts, dich zur Wehr zu setzen!
Damals war ich noch nicht so weit, die Welt der Menschen als ein großes komisches Theater oder als eine universale Irren- oder Krankenanstalt anzuerkennen. Damals schien für mich nur festzustehen, dass wir als die, die wir jetzt sind, undenkbar sind ohne alle jene Judasgassen und Inquisitionshöfe, die auf uns gelauert haben und die wir haben passieren müssen, was ich als einen Widerspruch empfand zum Reich eines ewig gütigen und allmächtigen Vaters. Indem ich versuchte, jenen hässlichen Klinikbesuch mit meiner Liebsten als Bestandteil meines Lebens anzuerkennen, versuchte ich nicht nur, mich besser in mir zurechtzufinden, ich versuchte zugleich auch, mit jener Behutsamkeit, die um beides weiß, um die Notwendigkeit und zugleich um die Zufälligkeit alles Gewordenen, mein Leben neu zu begreifen und mich neu zu erfinden. Wenn ich nun sage, dass ich mich heute anders verhielte, so meine ich damit nicht zuletzt auch, dass ich einem anderen, der jetzt in eine solche Lage käme, entschieden zu einem anderen Verhalten riete. Du musst es dir nicht bieten lassen, würde ich zu ihm sagen, wenn seine Halbgöttlichkeit in Weiß beim Empfang in seiner Sprechstunde, zu der du dein Weibchen in einer einstündigen Autofahrt gebracht und in welche du sie begleitest, du musst es dir nicht bieten lassen, wenn seine Halbgöttlichkeit dich abtaxierend mit der Bemerkung begrüßt, du seiest wohl ein Lehrer. Denn nur Lehrer, so die Weisheit des Herrn, konnten sich ja Zeit nehmen oder stehlen, ihre Frau in die Sprechstunde zu begleiten. Hier dezent sich zurückzuhalten und nicht donnernd zu widersprechen, ist verkehrt, einerlei ob du nun ein kleiner Lehrer bist oder sein willst oder auch nicht. Wenigstens ein humorvoll ironisches Kompliment oder ein satirisches Komplement wäre hier zu Beginn schon am Platz gewesen oder zumindest ins Essigheft zuhause. Lass dir keine verächtlich diffamierenden Reden ins Ohr gehen! Vornehmlich aber musst du darauf achten, keinen Menschen gewähren zu lassen, was Auswirkungen haben kann bis in die innersten Gemächer deines Selbst. Begegne jedermann freundlich, so würde ich ihm anraten, doch lass nicht jedermann passieren in dein Innerstes: keinen Freund und keinen Beichtvater und keinen Arzt, und wäre er auch mit allen Ehrenabzeichen des Himmels und der Erde geschmückt.
Ich teile nun also mit, dass meine Frau damals etwa 30 Jahre alt war und dass sie bereits einige Jahre um ihre unheilbare Krankheit wusste, als wir uns zur Nachuntersuchung in der Universitätsklinik in T. gemäß ärztlicher Anweisung auf den Weg machten, wo vor einem Jahr die Diagnose gestellt worden war. Freies Gehen und Stehen waren längst unmöglich geworden. Immer wieder war es zu Stürzen gekommen, dass ihr selbst die Wände nicht mehr genügend Halt boten. Nun aber war in der Zwischenzeit der alte Professor in der fernen Uniklinik in Ruhestand getreten. Sein Nachfolger war es nun also, mit dem wir es zu tun bekamen. Hatte noch sein Vorgänger geahnt, was sich in den folgenden Jahren bestätigte: wie viel Belastungen und Belästigungen und Bitternisse und Zerwürfnisse, ja wie viel Zerrüttungen und Zerstörungen eine solche Krankheit mit sich bringt, dass sich selbst die erprobtesten Angehörigen immer wieder einmal zu den Verfluchten im untersten Kreis der Hölle zählen, so schien dem neugebackenen Professor und Ordinarius der Neurologie weiter nichts wichtig, als den strammen Aufbau und Ausbau seines Mitarbeiterstabes zu besorgen, auf den er sich wie ein Befehlshaber unbedingt verlassen konnte. Krankheiten waren für ihn objektive Gegebenheiten und ließen ihn mitsamt dem Heer der Leiden und Schmerzen ziemlich kalt, zumal, wenn sie ihn nicht zu eigenen Leiden und Schmerzen führten. Für das Wohl einer Patientin, zumal, wenn sie, wie meine Frau, selber noch gar der Ärzteschaft einer Klinik angehörte, hatte er absolut nichts übrig, und mochte sie auch am Anfang eines über viele Jahre sich hinziehenden, immer schrecklicher werdenden Leidenswegs stehen. Undenkbar für ihn, dass ein Klinikarzt sich anders zu verhalten hatte als ein preußischer Soldat. Wer als Arzt krank wurde und seine Krankheit offen vor aller Welt zugab, taugte nicht zum Arzt. Das war sein Credo. Und wenn wir ihn mit unserem Fall belästigten, so war es nichts weiter als eine Unverschämtheit, ihm seine kostbare Zeit zu stehlen.
Das war nun also der erste Fehler, dass wir in Erinnerung an den Vorgänger leichtgläubig auf den Nachfolger als auf einen entsprechend vertrauenswürdigen Menschen zugingen. Nachdem er sich meine Frau angesehen hatte - an der progredienten Krankheit gab es ja keinen Zweifel mehr -, erlaubte ich mir noch die Anfrage, ob nämlich nicht ein jährlich regelmäßiger Aufenthalt in einem Sanatorium zur Gesundung meiner Frau etwas beitragen könnte. Es war eine Anfrage, die ich dem Willen meines Vaters gemäß unbedingt stellen sollte, hatte er doch von einem solchen Verfahren gehört, das, wie er glaubte, die Zukunftsperspektive entscheidend verbessern würde. Damit aber stocherte ich in einem Wespennest. Ja damit berührte ich ganz zentrale und unantastbare Regeln seiner unerbittlichen Herrschaft. O wie er sich da ereiferte, der Herr Ordinarius! Denn für nichts anders hielt er meine Anfrage als unverschämte Anmaßung eines Schulmeisterleins! Nicht nur, dass er glaubte, mir Vorträge halten zu sollen über die Faulheit und Krankfeiersucht der Lehrer, denn für einen solchen hielt er mich, er sah in meiner Anfrage, da meine Frau ja selber Klinikarzt war, zugleich auch schon den Aufruf zur Verweigerung aller Pflichten und Dienste in seiner Klinik.
Und ich schwieg. Dass die Liebste schwieg war ihr gutes Recht und das war auch gut so. Denn was dieses Großmaul da vorbrachte, das hatte nichts mit ihr zu tun. Das hörte sie sich an, ohne es anders zu hören, als einen Patienten, dem man gestatten mag, dass er sich auch einmal Luft verschafft. Anders bei mir! Ich fühlte mich überrannt, gedemütigt, entwürdigt. Nichts anderes hatte ich ja getan, als mich bei einem dafür ausgewiesenen Fachmann zu erkundigen, wie man der Liebsten helfen könne. Und da hatte sich dieses Großmaul herausgenommen, mich mitsamt der Ehre eines Standes zu beleidigen. Ah, wie mir damals doch die zuvor reine und stille Flamme der Liebe im Allerheiligsten meines Herzens unruhig zu werden und zu flackern und zu rußen begann! Wie alles Liebe und Hohe plötzlich ins Wanken kam. Ja wie die Weltordnung selbst der Verdunkelung anheimfallen wollte mitsamt dem Weltenordner und dem Vater im Himmel, dass niemand ihn mehr fände, auch nicht der auferstandene Sohn, der auf der Suche nach ihm durch die Weiten des Alls zöge, sich ihm zu Füßen zu werfen!
Was in der Ordination begonnen hatte, fand dann draußen seine Fortsetzung: auf der Heimreise, wie auch in den darauf folgenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren. Im Gegensatz zu mir und zu meinen leidenschaftlichen, gequälten Herzen blieb die Liebste unberührt ruhig und still, nicht anders als hätte der werte Herr sich einen kleinen Scherz über das Wetter erlaubt. Zu leidenschaftlichen Ausfällen an meiner Seite war sie nicht zu bewegen, nicht einmal zur Anerkennung derselben. Ihr Stolz war über alles, was da vorgefallen war, erhaben. Und so war ihr kaum mehr zu entlocken als ein stoisches Schweigen, das aber auf ihren Liebsten wirkte wie das Schweigen einer Totenkapelle.
Schade, so rufe ich hier aus und wiederhole, was ich schon eingangs gesagt habe: dass ich damals noch keine Essighefte führte, um diesen Oberaufseher und Vorsteher der Ärztegilde in die Essigbücher der Komödie zu tunken, dass ich statt dessen abwartete, wie die Tage, nach und nach, in den Morast der Tragödie einsanken und stecken blieben. Allemal besser wäre es gewesen, ihn mit satirischer Genüsslichkeit mit Essig zu behandeln, um ihn wie eine Gewürzgurke zu imprägnieren und genießbar zu machen, statt sich als kleinen Lehrer vorzustellen und Prügel zu beziehen, als wär man vorzeitig aus der Schule gesprungen. Dann hätte mich dieser Mensch anpredigen können bis zum jüngsten Tag und er hätte mir nichts weiter als eine schöne Einsicht in seinesgleichen vermittelt. Unkundig solcher Strategien und wohlerzogen, wie ich damals eben noch war, schwieg ich, um dann zuhause meinem aufgestauten Kummer zu überlassen.
O wie viel bange Stunden, wie viel Not und Elend, wie viel Saat voller Feindseligkeit ging da auf, nur weil ich nicht in der Lage war, mir den Kummer von der Seele zu wälzen. Die mir liebsten und allerengsten Angehörigen, die Eltern, da sie mir nicht zu helfen vermochten, fanden sich alsbald schon mit mir in böser Verstrickung, vor allem aber war es die Liebste selbst, mit der ich mich nun plötzlich selber im Streit fand. Sie hatte ja zwar Recht, ein tief zu verehrendes, bewundernswertes, nur allzu gutes Recht, sich nicht schmutzig zu machen, wie ich es heute begreife, ein halbes Jahrhundert danach. Da ich mich damals aber schon viel zu weit von mir selbst entfernt hatte, war mir unmöglich, auf diese still erhabene Weise die bösen Geister loszuwerden. Ähnlich wie der viel zu lange schon gequälte Kohlhaas befand ich mich bereits an einem Punkt, wo es mir nur noch um die Rettung der allerhöchsten Werte ging. Und da der hohe Herr zu allem Unheil, als wär es nicht bereits genug, auch noch in den hohen Rängen der uns am Herzen liegenden Kirche zu Hause war, so stand für mich nichts weniger mit auf dem Spiel als die Gemeinschaft aller Gutgläubigen, wenn nicht gar die Wahrheit des Glaubens und der Liebe.
Man muss kein Menschenhasser oder Menschenverächter sein, um mit dem Panzer eines Krokodils den Weg durchs Leben ungestört zu nehmen, wohl aber kann man nicht genug Menschenkenntnis besitzen. Als Menschenkenner weiß man, dass es in der Welt, dieser Irrenanstalt von Befehlshabern und Befehlsempfängern, neben den menschenverachtenden, grinsenden Cäsaren durchaus auch protzende Professoren gibt und wohl auch viel anderes selbstherrliches Gesindel. Heute weiß ich, dass ich mich nicht nur in der Erwartung jener Leutseligkeit und Menschenfreundlichkeit schwer geirrt habe, heute weiß ich auch, dass es grundsätzlich verkehrt ist, von einem anderen allzu viel zu erwarten. Ich rede hier nicht gegen das gute Einvernehmen von einem Professor und seinen Studenten, ich rede von der Maschinerie der Dienstleistungen und von der Macht der Ämter. Sieh dich nicht an wie eine Marionette, die jeder einstellen und ausrichten kann, wie ein Uhrenmännchen! Erwarte aber auch nicht allzu viel, auch wenn du meinst, dass man es dir geben könnte oder geben müsste! Such dich nur immer im Griff zu behalten! Sich immer und überall beherrschen zu können, sich vor allem vor sich selber schicklich zu benehmen, wie es die Liebste jederzeit und überall ganz selbstverständlich getan, ist allemal das Beste. Und schaffst du es auch nicht ganz so weit, kommst du nur dahin, aus Stolz über solche Individuen hinwegzusehen, so hast du doch immerhin auch etwas erreicht für dein Leben. Bist du auch noch ein Stück weit entfernt von der Höchstform und hast Grund, deinen Kräften zu misstrauen, so magst du es mit einem Essigheft versuchen.
Unser Held war damals leider noch nicht so weit, geschweige denn, dass er ihre wundervolle Art verstanden hätte oder sich von ihr hätte anstecken lassen. Und so finden sich aus jener Zeit noch ein paar wildaufschreiende, leidenschaftliche Dokumente, die von seiner Not künden. Eines davon sei hier eingerückt:
Wenn einst ein jüngst Gericht sollte ertönen,
wie wünscht ich dies, wie lacht ich der Posaunen,
dem neuen Lebensgeist recht zum Erstaunen
wüsst´ rasch ich mich der Ruhe zu entwöhnen.
Nichts ferner läg mir, als mich zu versöhnen!
Der meine liebe Frau zu Tode haute
und mit ihr mich und alles mir Vertraute,
er sollte mich nicht abermals verhöhnen.
Ihn wollt´ ich packen, zerren an den Haaren!
Aus seinem Dämmerschlaf halb erst beendet
entriss ich ihn des Grabes sanftem Himmel!
Und alle Welt sollt´ es durch mich erfahren,
wie er der Liebe Eigentum geschändet,
im Ohr der Totenglöckchen schön Gebimmel!
Vielleicht erwähne ich noch, um zu zeigen, wie klein doch diese sich bis zu den Sternen hinauf brüstende Welt ist, dass just eine meiner Frau bekannte Sozialarbeiterin, mit der sie selber in der Klinik in E. gearbeitet, einmal bei uns erzählte, wie sie bei diesem Herrn zum Mittagstisch geladen. Nachdem der Herr mit dem Essen fertig war, stand er wortlos auf, um sich an seinem Flügel in Kunstfertigkeiten zu üben. Mochten die anderen nur weiter essen. Der liebe Gott hatte für ihn die Zeit schließlich nicht zum Vertrödeln mit Sozialarbeiterinnen geschaffen. Solche Halbgötter wissen nicht nur, dass sie zu etwas Besserem berufen sind, sie lassen es die anderen auch ganz ungeniert wissen. Als besagte Dame sich Jahre später aus Geldnot an uns wandte, war das Erste, was mir voll Ingrimm dabei einfiel: "Warum wendest du dich nicht an deinen Bekannten, den reichen Professor der Medizin?" Das war nicht edel und gut, nein, das war hässlich und gemein, weshalb ich es denn auch zutiefst bedauere.
Heute hasse ich diesen Mann nicht mehr, auch wenn ich damals ernsthaft darüber nachzudenken begonnen habe, wozu ich eigentlich noch an einen lieben Gott und an ein Himmelreich glaube. Nicht einmal die Mitteilung aus dem Essigheft ist mir mehr der Erwähnung wert, dass er doch etwas Hübsches erreicht hat, weil meine Frau in den kommenden 35 Jahren, dem Rest ihres Lebens nie in einer Kur war und auch ich, ihr Held, nie von einer von Seiten der Krankenkasse mir zustehenden Erholung Gebrauch gemacht habe.
Mag der ehrenwerte Herr gesund und ohne Blessuren als Vorsteher der Ärztegilde und als Vorsitzender der deutschen Katholiken mit Pauken und Trompeten in den Himmel gelangen! Die Erwartung eines Himmels in großer Gemeinde ist seit dem für den Schreiber in weite Ferne gerückt und der Himmel nur noch etwas, was sein Weibchen und ihn etwas angeht. Wenn es ein Gesetz des Ausgleichs geben sollte, dergestalt, dass jeweils einer schlimmen Seite eine heilsame und gute entspricht, dann könnte er wohl gar noch das bitterböse Schicksal preisen, das damals über sie gekommen. Gelernt hat er dadurch nämlich, dass das Leben an und für sich, das heißt unseren Anlagen gemäß, kaum etwas anderes ist als eine gespenstische und instinktive Veranstaltung um Macht und Herrlichkeit, und dass Gemeinschaft jederzeit von Grund auf und ganz von Neuem zustande kommen und wachsen muss. Was nach all den Jahren des Leidens und Sterbens seiner Liebsten, den werten Professor der Medizin betrifft, so mag er leben oder seinen Todesschlaf schlummern, wie immer ihm beliebt. Hübsch artig mag er zusammen mit dem Restchen unserer Verachtung verfaulen. Vielleicht dass man mit diesem Hundekuchen noch ein hamletsches Spundloch verstopfen kann. Wenn er ihn nur nie mehr sieht! In Zukunft aber will er sich nicht mehr damit befassen!
Heute nun also kommt der Präsident von Amerika nach Deutschland, und zwar nach Mainz, wo er mit dem Herrn Bundeskanzler wie auch mit einigen weiteren Herren aus Politik, Kultur und Wirtschaft zusammentrifft. Man mag vom amerikanischen Präsidenten, von seiner geistigen Begabung, seinen Vorstellungen von Gut und Böse wie überhaupt von seiner Politik halten, was immer man will: eingeladen zu werden bei einem solchen Treffen gehört ohne Zweifel zum Erhabensten, was man sich als Mann der Öffentlichkeit nur erträumen mag. Käme jetzt die Bergfee Anna Fritze oder sonst eine Fee oder ein Zauberer in dessen Macht es liegt, Wünsche zu erfüllen und ich dürfte mir etwas wünschen, so wünschte ich mir nun zwar nicht, auch mit dabei zu sein, wohl aber durch die Gehirne unserer Landsleute spazieren zu gehen. Das muss doch ein Riesenspaß sein, im Umkreis derer zu verweilen, die es geschafft haben, diesem welthistorischen Ereignis aus allernächster Nähe beiwohnen zu dürfen. Aber auch deren, die noch zittern, ob sie zu den Auserwählten gehören oder nicht, würden wir da gern unsere Aufmerksamkeit schenken. "Das ist mein Joschka, der da dem Präsidenten von Amerika die Hand gibt!", hören wir seine Mama in himmlischem Entzücken ausrufen, "wer hätte das gedacht! Vor 30 Jahren hatte ich noch Angst, man würde ihn einmal einsperren, als er mit seinen Gesinnungsgenossen gegen die Polizei vorging. "Du wirst sehen, wenn du nicht aufhörst, Steine zu werfen, dann sperren sie dich noch ein! Und wenn du dann aus dem Gefängnis kommst, will niemand mehr etwas von dir wissen. Keiner kennt dich dann mehr. Keiner gibt dir mehr Arbeit, keiner stellt dich mehr ein. Und dann endest du als Gammler oder als Clochard unter den Brücken der Dreisam. Nun aber ist mein Joschka Außenminister geworden und statt die Welt in einen Scherbenhaufen zu verwandeln, trägt er die Verantwortung dafür, dass sie morgen noch existiert!" Am interessantesten ist aber wohl noch, bei denen zu sein und auf die zu lauschen, die eine Einladung verfehlt haben. Denken wir etwa an den Rektor der Mainzer Universität! Geht das, einen solchen Mann, einen Titan und Exponenten der Rechtsgelehrsamkeit und des Geistes zu übersehen? Ist er nicht einer der bedeutendsten Denker seit Sumers sieben Weisen und seit Ägyptens Merikare, würdig, einem Hammurapi an die Seite gestellt zu werden? In wie fern wird der Oberbürgermeister der Stadt Mainz, ein simpler Verwaltungsmensch, hinzugezogen, seine Eminenz aber nicht, ganz abgesehen davon, dass er dem Gast als Abgesandter der hohen Fakultäten den Ehrendoktor des Hauses mitgebracht hätte, wogegen der Oberbürgermeister außer einer freien Fahrt mit den städtischen Straßenbahnen nichts zu bieten hat? Oder hat er Lust, von einem von Joschkas Nachfolgern einen Stein an den Kopf geworfen zu bekommen? Wenn der Gast nur wüsste, wie viele schlaflose Nächte seine Eminenz verbracht hat, als er noch nicht wusste, dass er zu einem würde, der nicht in Frage käme! Schließlich verleiht man nicht unbesehen den Ehrendoktor der Universität! Der ganze Alltag seiner hohen Respektabilität war nichts anderem mehr gewidmet, als eben diesen paar Augenblicken, wo er als Rektor das Doktordiplom überreichte. O, wie er an den wenigen Worten feilte, die er ins Ohr der Unsterblichkeit sagen würde! Wie er selbst noch am Ton feilte, den er eben diesen Wort mit auf den Weg geben wollte! Selbst die Rektorengattin, die für sein Outfit zuständig sein sollte, wusste in den letzten Tagen nicht mehr, ob sie in einem Tollhaus einquartiert war oder ob das Unsterbliche, wenn es sich mit Sterblichem einlässt, solche Verrückungen erzeugt. Anfangs, als sie alle noch fest davon überzeugt waren, dass der Gatte mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde ins Rampenlicht der Weltgeschichte träte, war ja alles beinahe noch in erträglicher Ordnung bzw. Unordnung. Vielleicht, dass er in der Vorfreude in seiner Zerstreutheit den Kaffeedeckel auf den Zuckertopf zu setzen versucht hatte. Auch eine seit Jahren nicht mehr in Erscheinung getretene somnambule Aktivität war wieder bei ihm lebendig geworden, aber auch diese war ja als ein Vorzeichen der großen Freude bedeutsam. Einmal, es war des Nachts, war er aufgestanden und war eben dabei, das Fenster zu öffnen: als sie, die zum Glück wach geworden, ihn fragte, ob ihm zu warm sei und er frische Luft ins Zimmer herein lassen wolle. Er müsse zum Empfang, hatte er sie da wissen lassen, und war schon dabei, aus dem Fenster zu steigen. Immerhin war auch schon der Ort im Wohnzimmer vorherbestimmt, wo sie dann das Foto aufhängen würden, das ihn mit dem Präsidenten zeigte. Alles, aber auch wirklich alles, schien zu ihrem Glück beizutragen, bis dann der Bescheid kam, dass er nicht als ein Geladener in Frage käme.
Doch genug! Weder wollen wir uns den nun einsetzenden Leiden seiner Eminenz widmen, noch uns auf die vielen anderen mit diesem Besuch zusammenhängenden, zu Tragikomödien bestimmten Schauplätze begeben. Selbst einem im Übrigen so hochtalentierten Mann wie dem weiland amtierenden Ministerpräsidenten von Hessen, der vielleicht bald schon die Geschicke der gesamten Republik bestimmt, bleiben wir ferne. "O Gemeinheit! Du schäbige, kleinkarierte Gemeinheit! Wie anders lässt sich das erklären, als dass ich nicht das gleiche Parteibuch habe wie der Herr Bundeskanzler?" So hören wir ihn da zwar noch zetern und schreien, doch es nützt ihm nichts. Wie wir gesagt haben, kommen wir ihm nicht näher, als dass wir eben noch dies aus der Ferne vernehmen. Auch über den Kardinal von Mainz werden wir uns nicht weiter auslassen, auch wenn Mainz einmal eine kurfürstliche Stadt war und es da einen kurfürstlichen Bischof gegeben hat. Immerhin kann er sich damit trösten, dass man auch den Kalifen aus Köln nicht eingeladen hat. Nicht einmal Männer wie den großen Lafontaine aus Saarbrücken hat man eingeladen, auch nicht den rebellischen Dogmatiker aus Tübingen, noch auch den berühmten Mann aus Paderborn, Abweichler, die man doch braucht wie das Salz in der Suppe und wie den Sand im Getriebe! Sodann wären da die Vorsitzenden des deutschen Fußballs zu nennen mitsamt den Trainern und Kickern, die zwar hin und wieder beim Papst eine Audienz bekommen, heute aber auch nicht mit von der Party sind. Freilich, was ist heute auch noch ein Papst! Bring ihm eine Million und du erhältst eine Audienz. Und müssten nicht auch die Vertreter der Fernsehanstalten, diese für uns so unentbehrlichen Kulturbringer, mitsamt den Journalisten und Talkshowmastern und den Vertretern der Homosexuellen wie auch der Heterosexuellen zugegen sein, nicht zu vergessen auch die Vorsitzenden des Mainzer Karnevals und all der närrischen Verbände! Ei, was könnte das nicht für ein Jahrhundertereignis werden, wenn nur jedes Dorf seinen Schulzen und jeder Misthaufen seinen Hahn absenden dürfte!
Wie mühselig und schwierig ist doch das Leben! In seinem Interesse als Pädagoge grübelt unser Held, ob und wann im Leben eines Menschen es an der Zeit ist, ihm zu verraten, dass es an der Zeit ist, einen Freund nicht außerhalb seiner selbst zu suchen, sondern ihn aus sich selber zu verschaffen. Dabei müsste vieles von dem, was uns Bedrängnisse und Kummer schafft, überhaupt nicht sein. An vielem tragen wir selber die Schuld, sei es durch eitle und voreilige Erwartungen, sei es durch Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit. Wie man sich wechselseitig zu prüfen hat, ehe man als Mann und Frau sich fürs Leben zusammentut, ähnlich verhält es sich auch mit den Freundschaften. Nur dass bei den Freundschaften erschwerend noch hinzukommt, dass sie hinter ehelichen Verpflichtungen oder sonstigen Prioritäten meist auf einem nachgeordneten Platz rangieren.
Doch da hat sich unser Held mächtig getäuscht und hat sich von einem charmanten Benehmen wie auch von einem Titel verführen lassen, dergestalt dass er auf jede Prüfung verzichtete. Denn der Sportsfreund, mit dem er zusammen mit anderen Pensionären wöchentlich einmal Faustball spielte, war neben dem, dass er ein wundervoller Gesellschaftsmensch war mit ausgeprägten Formen der Höflichkeit, auch Professor für deutsche Literatur gewesen. Was also konnte unserem Helden Schöneres begegnen, der seit seiner Pensionierung kaum mehretwas anderes tat als zu schriftstellern, was konnte ihm Schöneres begegnen als ein Freund, mit dem er sich zu Gesprächen und Streifzügen durch die Literatur auf den Weg machen konnte? Und zwar nicht nur durch die alte Literatur, auch durch die neue, ja auch durch die allerneueste Literatur unseres Helden? Wer mochte es wissen, vielleicht war auch der Freund noch am Schreiben und sie konnten sich ihre Dichtungen vorlesen wie einst Walt und Vult? Und wenn unser Held neben seiner pflegebedürftigen Frau auch nicht gerade auf Rosen gebettet liegt, ja wenn es auch zutreffen mochte, dass ihn eben diese Krankheit täglich mit neu erfundenen feinen Nadelstichen quälte, so schien ihm die Aussicht auf eine solche Freundschaft doch nur umso bedeutsamer und wichtiger. Indessen war es lange Zeit, ja ein paar Jahre lang, noch nicht dazu gekommen, engere Beziehungen zu knüpfen, bis unser Held eines Abends den ersten entscheidenden Versuch wagte, der dann auch, um es gleich vorwegzunehmen, ebenso kläglich wie gründlich scheiterte.
Verweilen wir indessen noch einen Augenblick bei einer Szene, aus der sichtbar werden mag, wie viel oder wie wenig Grund unser Held hatte, eine Freundschaft darauf zu bauen!
Unser Held erinnert sich noch sehr gut daran, wie er einmal bemerkte ( es war auf der wöchentlich erfolgten gemeinsamen Fahrt mit einem der Privatautos zum Sport), das Wort "seltsam" sei doch eigentlich als ein qualitativ nichtssagendes Wort aus dem Wörterbuch zu streichen oder doch als Wort zweiter Klasse zu markieren. Da aber war der Sportsfreund schnell bei der Hand. Als ob er einen Schüler neben sich hätte, schüttelte er nur den Kopf und sage, da läge ich aber sehr falsch; damit war dann aber auch schon der Diskurs beendet. Eine solche Replik, und sie war nicht die einzige dieser Art, hätte mir damals schon zu denken geben sollen. Wörter, wie "kommen, gehen, klein etc." können einen weiten Umfang haben, sie können aber auch einen verschwommenen Umfang haben wie bunt, gemein, seltsam etc.; letztere können sodann auf spezielle Weise gebraucht werden, wie "bunt" in Goethes Divan auf der Grundlage seiner Farbenlehre oder "seltsam" bei den Serapionsbrüdern als Hinweis auf versteckte Vorgänge und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Welten. Endlich schätzen wir es auch, sowohl als Schreiber wie als Leser, wenn sprachliche Präzisierungen auch einmal mit eigenwilligen und ausgefallenen Wörtern einhergehen wie beim "Lamm mit quirlendem Schwänzchen", woran Jean Paul bekanntlich seine höchste Freude hatte, "da das Beiwort so unendlich malt". Mir gegenüber befand sich indessen kein Hausvater, der sich sorgsam um den Wortschatz, die Kinder der Sprache, bemühte und dem es eine Wonne gewesen wäre, Bedeutung und Gebrauch von Wörtern zu beleuchten, wenn nicht gar ein Stück Literaturgeschichte daran anzuschließen, indem er mich auf Autoren aufmerksam gemacht hätte, bei denen dieses Wort (seltsam) gehäuft vorkommt, wie etwa bei unserem trefflichen Hoffmann. Kaum irgendwo hagelt es ja von so viel Seltsamem und von Seltsamkeiten wie etwa im Meister Floh, dass hier wohl selbst für einen bescheiden von sich denkenden Professor der Germanistik ein Pförtchen offen gestanden hätte, schicklich sein Talent zur Schau zu stellen, als mit einem allen Widerspruch verwehrenden, oberlehrerhaften Bescheid das Problem aus der Welt zu schaffen.
Ein anderes Mal, ich hatte da in der hochschulinternen Zeitung einen Artikel zur Veröffentlichung gegeben, fragte er mich allen Ernstes, ob ich nicht wüsste, dass man "Name", also die Bezeichnung für Gegenstände oder Personen ohne "h" schreibe. Ja, die liebe Orthografie! Da hatten doch die bienenfleißigen Redakteurinnen, die an allem herummäkeln, die Mühe gemacht, es solange zu treiben, bis sie auch noch ein "h" in das besagte Wort hineingezaubert hatten. Das war die Materie, in der sich der auserwählte Freund auskannte, das das Terrain, wo er seine philologischen Spaziergänge unternahm, das die Wiese, auf die sie sich gemeinsam hätten setzen können. Nun aber, nachdem unser Held, ohne eine Lehre aus alle dem zu ziehen, vielmehr blind vertrauend den Versuch gewagt hatte, mit einem Schriftstück hervorzutreten und er mithin alles gewagt hatte, war die Beziehung in ein neues Stadium getreten, nämlich in das finale.
Wenn uns auch noch manch ein Stoff vorliegt, der zur Genese dieser erhofften Freundschaft gehört, so wollen wir uns ihm nicht weiter widmen! Nur eine kurze Skizze ihres Verfalls wollen wir noch anfügen, wobei wir uns zuerst der Peripetie zuwenden!
Zwar hatte unser Held sich da und dort bereits als Liebhaber der Literatur zu erkennen gegeben, doch war es meist im Zusammensein der anderen Sportskameraden erfolgt, so dass man bestenfalls zu diesem oder jenem Autor eine flüchtige Bemerkung gemacht oder sonst eine mehr oder weniger alltägliche Äußerung von sich gegeben hatte, wie sie auch einer tun mag, der sich nicht mit voller Leidenschaft engagiert. Nun aber ergab es sich einmal, dass man nach einem Sportabend noch zu viert in trauter Runde bei unserem Helden zusammengesessen bei belegten Brötchen und Wein, unser Held und seine Liebste sowie der zur Freundschaft Auserkorene mit seiner Liebtraut: als unser Held den Zeitpunkt für gekommen sah, sein Seeleninnerstes preis und etwas aus seiner Feder zum Besten zu geben. Es wäre da von einem Frühlingsliedchen zu sprechen, das er ihnen, nachdem er es vorgelesen, vermacht hatte. Doch wollen wir es im Einzelnen hier nicht einrücken oder gar in einer Selbstrezension vorstellen: genug, dass der Sportsfreund spornstreichs geantwortet hatte, das komme zu den Sportsachen, ohne dass sie sich sonst weiter befasst hätten, alle weiteren Hoffnungen drosselnd. Und dabei war es dann auch geblieben. Kein einziges Wort hat der Freund mehr darüber fallen lassen, beharrlich nur immer mit eiserner Miene geschwiegen. Vielleicht hätte es ihn erheitert, auf jeden Fall aber mich, hätte ich ihn nach dem Grund seines Schweigens befragt; er schweige ja, als hätte ich ihn um einen ansehnlichen Obolus angegangen, zwecks Errichtung eines städtischen Ehrendenkmals, meinem dichterischen Genius zu Lieb.
Mit diesem beherzten Entschluss, das Liedchen einzusperren neben den verschwitzten Sportsocken, war indessen nun auch das Totenglöcklein einer Literatur-Freundschaft eingeläutet.
Das Folgende ist nun rasch erzählt. Wenn Liebtraut, seine Frau, sich auch bemühte, den prophezeiten mamertinischen Käfig für das Kunstwerk zu dementieren, wenn sie auch ein um das andere Mal sagte, sie trage das Liedchen stets bei sich, und wenn nun auch alles scheinbar seinen Gang wie bisher wieder nahm, so rumorte es doch gewaltig in unserem Helden. Aus dem Projekt mit der Literatur, das wusste er jetzt nur zu genau, sollte nichts werden. Ja, er machte sich schwere Vorwürfe, dass er sich so unbedacht preisgegeben und verraten hatte. Mag sein, dass sie trotzdem weiterhin vergnügt zusammen hätten Sport treiben und die Freundschaft auf die Freundschaft zweier Sportskameraden reduzieren können, wäre da nicht noch etwas Unvorhergesehenes hinzugekommen. Wie wir unseren Helden kennen, war er da durchaus nicht ganz so ehrenkäsig, dass er sich von dem Schlag nicht hätte erholen können. Wie schon gesagt behielt nach außen hin auch alles erst einmal seinen gewohnten Gang.
Ich denke da an eine Telefon-Szene, die einige Zeit später erfolgte: als nämlich der Sportskamerad und seine Frau sich verabschiedeten, um in ihren Urlaub nach Griechenland aufzubrechen. Da also riefen sie an, um unserem Helden und seiner Frau für die Zeit ihrer Abwesenheit alles Gute zu wünschen. Unser Held eilte ans Telefon und nahm den Hörer ab. "Held!" rief er, seinen eigenen Namen nennend, wie meist mit einer Stimme, der man aus weitester Ferne schon anhört, dass er diesen Apparat nicht für einen Born großer Freuden hält. "Hier spricht Liebtraut!" bekam er zur Antwort, worauf Liebtraut gleich die Fragen anschloss, die sie immer parat hat, wenn sie sich am Telefon meldet: " Wie geht es euch und wie geht es den Kindern und wie geht es den Enkeln? - "Ach", versetzte unser Held, "ich dachte, ihr wärt schon in Griechenland!" Er war genervt, die immer gleichen dummen Fragen zu vernehmen. In der Tat war unser Held davon ausgegangen, dass die Freunde bereits in Griechenland weilten. Der Sportsfreund hatte ja selber beim vergangenen Sportabend gesagt, sie würden sich nach der Fahrt wieder melden. Und da eine solche Fahrt alljährlich anstand, so hatte unser Held angenommen, dass sie sich bereits in den Urlaub begeben. Nun waren sie also doch noch da und Liebtraut hatte es für gut befunden, sich noch einmal zu melden, ehe sie nun wirklich abreisten.
Nebenbei bemerken wir noch, dass Griechenland für die Freunde nicht dasselbe Land war wie für unseren Helden. Dass dort einst große Männer die abendländische Kultur bereichert hatten, war für die Urlauber ziemlich unerheblich. Hier war wenig Boden, sich wechselseitig auszutauschen und zu bereichern. Sie gingen da im Verein mit einem Dutzend anderer älterer Leutchen, die zusammen jeweils durch die Ägäis schipperten, nicht etwa auf den Spuren der Odyssee, nur in der Hoffnung auf Badevergnügen und geselligen Uso. Und wenn die Herren der Schöpfung Fußballweltmeisterschaften sich ansahen, dann mussten die Frauen hübsch artig nachfragen, ob sie auch beim Zuschauen zugelassen wären.
Auch jetzt bei der Nachfrage von Liebtraut nach der Gesundheit begann es wieder gewaltig in unserem Helden zu rumoren. Laut bellte sein Literatenherzchen in ihm auf. Doch wusste er sich zu beherrschen. Statt ihr zu sagen, sie könne ihn nach seinem Schreiben fragen, das vergnüge ihn mehr als alle anderen Fragen, erwiderte er nur mit einem unverbindlichen Entgegenkommen. Sie indessen war vollauf damit zufrieden. Nichts anderes hatte sie zu hören verlangt, denn nun stand nichts mehr im Weg, zum eigentlichen Zweck des Anrufs zu schreiten. Sie seien nämlich noch beim Packen, morgen führen sie weg. Die Flossen hätte sie schon eingepackt. Die seien nämlich für Emil, so nennen wir den Sportsfreund, da könne er, trotz seiner kaputten Hüfte, sich leicht durchs Meerwasser bewegen. Drauf folgte der bekannte Sermon über Kliniken und Ärzte, wie auch speziell über Narkoseärzte, und dass Emil nach den Ferien sich die Hüfte operieren lassen wolle. Vielleicht dass Liebtraut hier noch mit einer Mitleidsbekundung gerechnet hatte. Immerhin fügte sie an dieser Stelle bei, Emil höre bei ihrem Anruf mit, was man heute ja leicht am Telefon einrichten kann. Unser Held aber, der noch dabei war, den Gedanken zu unterdrücken, wie schön es wäre, wenn auch seine eigene Frau durch eine Operation genäse, brachte dann nur höflich und ruhig, ohne eigens einen Gruß an den Kollegen folgen zu lassen, den Wunsch zum Ausdruck, dass sich ihnen alles recht gut arrangiere. Beinahe wären sie heute noch vorbeigekommen, ließ sie ihn dann noch wissen, welche Nachricht fast wie eine Bombe einschlug. Mein Gott, dachte da unser Held, nicht genug, dass ich eine schwerkranke Frau habe, nun hätten sie mir fast noch gar die letzte freie Zeit gestohlen. Darauf gab es noch ein paar Meldungen minderer Wichtigkeit: dass Kathrinchen, eine Großnichte, ihnen die Blumen gieße und dass unser Held die Sportskollegen grüßen solle. Endlich war dann auch noch Platz für die Frage, wie viel Mann sie denn momentan noch seien. Auf diese Frage konnte es sich unser Held nicht verkneifen, den Ahnungslosen zu spielen; und statt die Abwesenheit von Emil für die nächsten Wochen zutiefst zu bedauern, meldete er nur, dass alle da seien. Dass Emil dann, im Herbst, nach der Operation, wieder in den Sport kommen wolle, verfehlte nun allerdings die erwartete Wirkung. Unser Held gab hier nur zum Besten, dass er ihnen alles Gute wünsche, worauf Liebtraut nicht ohne Nachdruck anmerkte, dass sie sich meldeten, sobald sie wieder zurück seien.
Bleibt uns zum Schluss die Frage, was unseren Helden so umtrieb! Hätte er denn an Emils Stelle immer wieder daran erinnert werden wollen, dass von Produktivität keine Spur mehr vorhanden war, und dass er nur noch wie ein Goldfisch in der Badewanne platschte, bewundert von seiner zu unendlicher Ehemannsvergötterung befähigten Frau? Was konnte Emil dafür, dass er nicht der gesuchte Freund war? War unserem Helden etwa unbekannt, dass bei solchen, von klein auf verwöhnten und verhätschelten Einzelkindern, wie Emil einer war, oft mit dem ersten Fürzchen auf der Lebensbahn die kühnste und genialste Leistung abgeliefert wird? Hätte nun dieser Mensch, der im Leben von klein auf bewundert worden, für den Rest seines Lebens nun selber den Bewunderer eines anderen abgeben sollen? Und wenn seine Frau auf einem Neujahrs- oder Osterkärtchen den West-Östlichen Divan erwähnte, so stand da nicht, dass sie zusammen darin gelesen hätten, sondern dass er, der Meister drüben in seinem Arbeitszimmer saß und etwas, ihren Verstand weit Überragendes erforschte, während sie nur poplige Kärtchen schrieb. Vielleicht glaubte sie, unserem Held auch diese Bemerkung schuldig zu sein, da er einmal beim Bier gesagt hatte, er würde nie einen Germanisten zum Professor ernennen, wenn der nicht den Divan auswendig könnte. Endlich hätte unser Held verstehen müssen, dass dieser mit der höchsten Dichtungskunst beschäftigte Mann, der außerdem noch von einem Vetter, der als praktischer Arzt tätig gewesen, einen ganzen Leiterwagen voll gereimter Dichtungswerke zur Sichtung bereit stehen hatte, wie seine Frau uns einmal hatte wissen lassen, dass dieser so beschäftigte Mann nicht auch noch Zeit hatte für weitere lyrische Ergüsse.
Kurze Zeit später fanden dann die Beziehungen ein jähes Ende. Das war damals, als mit dem Auftreten eines neuen Faustballkameraden, eines ehemaligen Sportdirektors und Skifreunds unseres Ex-freundes, unser Held, um keine Skifreuden und Skiferien zu gefährden, es für besser erachtete, nicht länger mehr zum gemeinsamen Sport zu gehen. Zu privaten Besuchen bestand dann selbstverständlich auch kein Anlass mehr.
Hoffnungen mögen scheitern, das mag zum Menschenleben dazugehören. Wir müssen es ertragen. Von vor Bitterkeit strotzenden Endabrechnungen aber sollten wir abstehen. Unserem Sportsfreund müssen wir das Recht zubilligen, wenn er Freundschaften ablehnte, die mit saurem Schweiß zu tun haben mochten. Gleichwohl finden wir es betrüblich, dass wir einen derartigen Bericht haben abstatten müssen.
War es mein Nussbaum oder nur ein Nussbaum, so dass ich besser nur von einem Nachruf auf einen Nussbaum spräche? Nicht jedem Baum ist es jedenfalls vergönnt, schön emporzuwachsen und groß zu werden und dann dazustehen zur Freude der Vorbeikommenden. Wie bei den Menschenkindern, so ist es auch bei den Bäumen. Manch einer wächst auf als edles Reis, lange erwartet und ausersehen zu etwas Großem und Schönem, um dann plötzlich vor seiner Reife zu enden. Auch der Nussbaum, aus dessen Leben ich jetzt zu erzählen mich anschicke, war eigentlich zu etwas Großem und Schönem bestimmt.
Vor gut einem Dutzend Jahren war es gewesen: da hatte mir einer meiner Freunde den Setzling gebracht mit der Frage, ob ich ihn brauchen könne. Natürlich konnte ich ihn brauchen. Einmal, weil ich schon von Kindesbeinen an für einen Nussbaum schwärmte, sodann freilich auch, weil ich wusste, dass sich mein Freund freute, wenn ich ihn brauchen könnte, auch wenn ich im Augenblick noch ratlos war, wo er in unserem Garten einen Platz fände. Freilich war auch der Gedanke wundervoll, bald schon einmal an einem heißen Sommertag unter dem Laubdach unseres schönen und gutgewachsenen Nussbaums mit der Liebsten bei einem Tässchen Kaffee zu sitzen oder im Kreis guter Freunde zu plaudern. Und wenn dann der Herbst käme und die Nüsse reiften, dann würden die Eichhörnchen und die Waldvögel kommen und sich vom Baum ihren Wintervorrat holen. Vielleicht, dass manch einer dieser Gäste bei uns ein paar Nüsse eingrübe, um dann im Winter danach zu schauen? Oder dass ein Eichhörnchen im Baum seinen Kogel baute? Jetzt musste ich für das Bäumchen nur noch ein ordentliches Plätzchen finden. Im Südteil des Gartens war zwar kein Platz. Dort sollte die Aussicht auf die Berge wie auf die Sonne frei bleiben. Im Vorgarten aber, gegen Norden, zwischen den zwei Tannengewächsen, schien mir noch Platz genug. Ohne viel nachzudenken, pflanzte ich ihn dort ein. - Die ersten Jahre ging denn auch alles leidlich gut. Ich erinnere mich, wie der junge Nussbaum wendig und behände seinen Weg hinauf zum Licht suchte. Statt senkrecht nach oben zu wachsen, wo er unfehlbar in den Zweigen der Tannen geendet hätte, wusste er sich so anzupassen, dass er allen Ästen und allem Schatten geschickt auswich. Nur ein paar der äußersten Äste der benachbarten Tannen mussten ihm weichen. Nach etwa 10 Jahren hatte er es geschafft und der lichte Raum des Himmels war endlich erobert.
Nun aber geschah es, dass uns der Freund und Spender des Baumes die Freundschaft aufkündigte. Der Grund davon aber war, dass ich ihm abgeraten hatte, sich gegen seinen Bruder, der auch ein Nachbar von uns war, in Erbstreitigkeiten einzulassen. Das war für seine Frau unerträglich. Zuvor waren schon ein paar Meinungsverschiedenheiten zu Tage getreten, vornehmlich wegen einer seiner krank gewordenen Töchter, zu deren Wiedergenesung ich, nach Ansicht seiner Frau, zu wenig unternommen hatte. Jetzt aber war sie nicht gewillt, auch noch auf die nur aus Schlamperei versäumten, ihnen zustehenden Gelder aus dem Erbe, mit denen sie die Existenz der Tochter auch nach ihrem Tod zu sichern hoffte, zu verzichten. Und so war eines Tages eine Postkarte zu uns ins Haus geflattert, auf welcher er mich, vermutlich unter dem Diktat seiner Frau, mit dem Ende unserer Freundschaft bekannt machte.
Als Folge davon legte ich Hand an den Nussbaum. Einen Zeugen einer so elend zu Grunde gegangenen Freundschaft konnte ich nicht brauchen. Und da es sich damals außerdem zeigte, dass die drei Bäume zusammen nicht gut taten und dass einer zu viel war ( eine der beiden Tannen, ein alter Mammutbaum hatte bereits auf einer Seite das Wachstum eingestellt), machte ich kurzen Prozess und fällte den Nussbaum. Als er dann aber im drauf folgenden Jahr erneut austrieb, riss ich auch die neuerlichen Schöße wieder aus. Meine Sorgen bestanden nur noch darin, ob ich gegen den Strunk, wie bei dem ungebärdigen und widerspenstigen Sturzel eines Wildwuchses, in den nächsten Jahren immer wieder mit dem Hackbeil vorrücken müsste. In der Tat sah alles danach aus. Noch im selben Jahr, ich fluchte auf die Pflanzung, hatte er abermals drei neue Schöße getrieben. Doch schon im übernächsten Jahr war nichts mehr da, wogegen ich unerbittlich hätte hauen und schlagen müssen. Kein einziger neuer Schoß war mehr zum Vorschein gekommen; und auch in den darauffolgenden Jahren blieb alles still. Der Nussbaum hatte verstanden, dass er nicht mehr zu uns gehörte. Ich aber, jetzt durchaus nicht wenig betroffen, begann zu begreifen, dass man mit dem, was man einmal hat brauchen können, eine Verbindung eingegangen war, von der man sich nicht nach Belieben lösen konnte.
Alt und einsam war er geworden. Sein Leben lag hinter ihm. Er wollte nicht mehr. Die Männer der Heimat, in der er gelebt und für die er gelebt und außerhalb deren er zu leben für unmöglich gehalten hatte, hatten versagt. Im Bruderkampf um die Vorherrschaft in Griechenland trudelte Athen dem Abgrund entgegen. Seit er sich dem Theater gewidmet und dem Leben und Treiben der Menschen nachgespäht hatte, 30 Jahre lang, hatte man nun gekämpft ohne den gewünschten Erfolg. Besessen von der eigenen Macht, besessen von der Idee, die Weltherrschaft an sich zu reißen, besessen von der Kunst, immer schlagkräftigere Kriegsschiffe und immer gefährlicheres Kriegsgerät zu bauen, hatte man keine Kosten und keinen Terror gespart. Zwar hatte er gemahnt und zum Frieden aufgerufen, doch es war umsonst. Seine Botschaft hatte man wohl gehört, doch er hatte nichts damit erreicht. Den Sohn der Gemüsehändlerin hatte man ihn hämisch genannt, weil er sich erlaubt hatte, über Gott und die Welt nachzudenken, und stammte doch aus kleinen Verhältnissen. Gönner und Fürsprecher unter den Mächtigen der Stadt hatte er nie besessen, mithin auch nie einen Einfluss darauf, was aus ihm werden würde. Was Wunder, dass man ihm bei den Dionysien, wenn der Sieger der tragischen Kunst zu ermitteln war, die Siegespalme fast immer verwehrte. Nun aber hatte er seine Habseligkeiten zusammengepackt und war aufgebrochen, Richtung Makedonien.
Er sah nichts und hörte nichts. Den Kopf gesenkt, die Augen ins Innere gerichtet schritt er dahin. Wenn er etwas hörte, so waren es Sätze, die er einmal geschrieben hatte, hinter denen ihm die Welt aufgegangen war. Dann aber sah er auch wieder Helios, den Sonnengott, wie er seines Weges zog durch den Himmelsraum der Sterne; ebenso wie damals, am Tag des Brudermords, als sie über der Kadmosstadt aufgegangen war. Umsonst hatte Jokaste den Tod auf sich genommen. Die Welt war mutterlos geworden. Friede tat zwar Not, aber die Gottheiten schienen am Menschen ihr Interesse verloren zu haben.
Unterwegs hatte der Dichter noch Gelegenheit, nachzudenken, was es mit seinem Leben auf sich gehabt hatte und wozu es eigentlich gut war. Noch wusste er nicht, ob es zum Stoff würde für ein letztes und allerletztes Stück, das er noch in der Fremde schriebe, oder ob er es mit sich nähme in die Verschwiegenheit des Todes. Überhaupt, war es nicht auch einerlei, ob man seine Stücke als vorzügliche Dokumente der Dichtkunst aufbewahrte für alle Zeit oder ob man sie der Vernichtung preisgab? Er, der sich immerfort gefragt und die Zuschauer zum Nachdenken angeregt hatte, was man aus dem Leben der Menschen lernen könne, er selber musste doch gestehen, dass er es vergessen hatte. Und wenn er es einmal gewusst hatte, so war es doch etwas gewesen, was sich nicht hatte vermitteln lassen. Mochte geschehen, was auch immer geschah, er hatte nichts mehr damit zu tun. Wenn er noch eine Botschaft der Welt zurückließe, so war es die Botschaft eines Gescheiterten, das umsonst gelebte Leben eines Propheten.
"Komm Alter hervor aus deinem Gemach!" So mochte es ihm immer wieder durch den Kopf gezogen sein, als er sich aufforderte, Rechenschaft abzulegen, was es mit dem Leben und Treiben des Menschen auf sich hatte, welches Leben zu erstreben war und welches das bestmögliche Leben war. "Deute stets zum Besseren alles, was die Zukunft bringen mag!" So hatte er in seiner Helena den Zeitgenossen zugerufen. Ob er noch daran glaubte? Er wusste es selbst nicht mehr. Nur das glaubte er noch zu wissen, dass es gut war, sich nicht länger den Kopf zu zerbrechen und geschehen zu lassen, was immer geschah. Doch hielt er dabei nicht inne. Er mochte sich Einhalt gebieten, so viel er auch wollte, es dachte weiter in ihm. In allem, so war die Devise der Mächtigen in Athen gewesen, in allem mochte man den Gesetzen entsprechen, nur nicht, wenn es um Herrschaft und Macht ging. Den Eteokles hatte er es aussprechen lassen, dass Frevel und Verbrechen erlaubt wären. Aber das war nicht die Meinung des Dichters. Männer, im rücksichtslosen Rennen nach Würden; das war für den Dichter nicht der rechte Weg. Ruhmsucht und Machtgier hatten Athen an den Rand des Verderbens gebracht. Wo aber verliefen dann die Wege? Immerhin hatte auch er einmal das Leben voller Optimismus begonnen. Im Vertrauen auf eine neue anbrechende Zeit, in der es keine Unterdrückung von außen mehr gäbe, hatte er davon geträumt, durch eigenes, sorgsam geplantes Handeln eine neue, humane Welt mit zu erschaffen. Vor allem auf das eigene, verantwortungsvolle Denken hatte er gesetzt. In der Auseinandersetzung mit dem wilden und leidenschaftlichen Untergrund der Seele sollte der Mensch als Sieger hervorgehen. Schaut her, so sollten wir es nicht machen: das war es oft, was er den Zuschauern zu zeigen gedachte, wobei es ihm aber nur sehr selten gelang, den Menschen als Schöpfer seines Glücks vor Augen zu stellen. Selbst wenn er auf Theseus zurückgriff, um den Mächtigen in Athen zu zeigen, wie gute Politik aussah, war der dafür zu zahlende Preis nie zu übersehen: das Wohl der Bürger oder das eigene Wohl: das war stets die Frage. Die Aufgabe, die sich dabei stellte, war, mit den eigenen Schwächen fertig zu werden. Vornehmlich an dem auf sich gestellten Menschen war der Dichter interessiert, in dessen Hand es lag, sich für sein eigenes Handeln frei zu entscheiden. Wenn man um das Rechte wusste und man die Kraft besaß, es auch gegen noch so wilde Stürme der Leidenschaft durchzusetzen, ginge alles gut. Dann hätte selbst auch noch eine von Jason verratene Medea verzeihen oder gar vergessen können. Aber war das überhaupt möglich? Wie viel Kraft kam dem Verstand an dem Tage zu, wo kein Himmel und kein Gott mehr zu sehen waren, selbst auch wenn man sich zuvor gut zu handeln befleißigt hatte? Und dann, wie war das, wenn man zwischen die Fronten der Götter geriet wie ein Hippolytos oder wenn einen ein unheilvolles Schicksal überkam und man Kriegsbeute wurde wie die Troerinnen? Was Euripides als Götter auf die Bühne brachte, waren freilich oftmals nichts als exponierte Leidenschaften, im Brennpunkt von Interessenkonflikten, wo man klug beraten war, wenn man sich außerhalb jeder Stellungnahme hielt, oder wo man verloren war, wenn man sich für eine Seite entscheiden musste. Um aber weiter zu wirklichen Göttern zu gelangen: was war da zu tun? Gab es eine Gottheit, der der Mensch ein Anliegen war und die der Mensch als Schutzgottheit verehren konnte, in diesem Leben und vielleicht auch noch in einem kommenden Leben? Wie war zu ihr zu gelangen? Oder hatte man sich getäuscht und irrtümlich die im Menschen hausenden Leidenschaften und Triebe für Gottheiten gehalten und andere Gottheiten gab es überhaupt nicht? Nein, so weit war er nicht vorgedrungen, zu solchen Ergebnissen hatte er sich nicht verstiegen. Leidenschaften und Triebe gab es allerdings. Doch gab es nicht auch Gegenkräfte, die Maß und Mitte und mithin Gestalt und Schönheit und vor allem auch einen Sinn für Güte und Frieden verbürgten? Mochte Athene als Stadtgöttin Athens auch bei den Befreiungskriegen bei Marathon und Salamis ihre Verdienste gehabt haben, im Bruderkrieg gegen Sparta hätte sie eine andere Aufgabe wahrzunehmen gehabt. Oder war sie wirklich nur eine Kriegs- und Beutegöttin? Was hatten sie dann auf einer Welt zu suchen, die den Frieden suchte und die Brüderlichkeit brauchte? Bei der Wahl als Schutzgöttin des Odysseus hatte sie sich jedenfalls nicht für den guten Staatsmann, allenfalls für den gerissenen und klugen Beutemacher und Heerführer entschieden.
Wie aber war der Friede zu erreichen, wenn der Mensch nur nach dem Triumph der Macht suchte? Segnend über des Feindes Scheitel die Hand zu erheben, wie es von der Bühne der Bakchen herabtönt: das war nicht die Sache der Macht. Was aber den Einzelnen angeht, so war er zwar befähigt, die Weisheit zu erlangen und sie zu verkünden, wie etwa der große Teiresias, allein er war nicht in der Lage, sie durchzusetzen. Freiheit des Handelns in der Polis war immer nur dem Machthaber möglich, indem er den anderen seinen Willen aufdrückte. Wo blieb dann aber die Freiheit des einzelnen Bürgers? Mochte der Mann des Denkens auch zur wahren Erkenntnis vordringen, so war er doch, fehlte es ihm an Macht, zur Erfolglosigkeit verurteilt. Keiner hörte auf ihn; das war nicht nur das Schicksal Kassandras. Zur Einsamkeit und zum Verderben und allenfalls zum Opfertod waren sie alle verurteilt, wenn der Mächtige seine Macht missbrauchte.
Das ganze Leben über hatte Euripides sein Theater vom Menschen aus konzipiert. Als ein Optimist hatte er begonnen, doch der Aufbruch in eine neue Zeit hatte nicht stattgefunden. Und jetzt? Alles sah danach aus, dass die Zeit nicht mehr auf sich warten ließe, wo Athen und mit ihr alle Errungenschaften und Zukunftsträume der Vergangenheit angehörten. "Du darfst nach dem Guten Ausschau halten", scheint Euripides noch zu sagen. "Erhoffe dir aber nicht zu viel. Vor allem traue nicht der Weisheit deines Verstandes!" Wenn es für den Menschen von Athen im Ausgang des Peloponnesischen Kriegs noch eine akzeptable Verhaltensweise gab, so war es die des Fatalisten, mithin die Rolle des Menschen, das ihm von der Gottheit zugedachte Fatum schweigend anzunehmen. Kaum dass sich dem Dichter der Keim eines solchen Schauspiels gezeigt hatte, war auch schon der Gott da: Dionysos war es, der Gott des Tanzes und des Gesanges, der Vergänglichkeit und des Vergessens. Zwar hatten die Komödiendichter den Gott schon oft und fleißig in ihre Komödien eingebaut. Was da aber über die Bühne gegangen oder gestolpert war, das war nie ein Gott. Das war nur eine Kasperlefigur, eine lächerliche Figur, eine Karikatur, nicht aber ein Gott auf Leben und Tod. Wenn sein Dionysos, in einem nunmehr definitiv letzten Schauspiel die Bühne beträte, so würde er zwar auch immer noch eine Bühnenfigur bleiben, doch Spaß und Jux sollte er nicht um sich verbreiten. Schockierend und erschreckend sollten die Szenarien sein. Gleich zu Beginn würde der Gott zusammen mit dem Chor seiner Jünger die Bühne betreten, und dann würde er auch gleich in einer Leben und Tod umfassenden Eingangsrede verkünden, wie man leben müsse und dass er gekommen sei, sich als Gott zu bewähren. Fern aller Analyse, fern allem logischen Denken, fern allen Ansprüchen des Menschen auf Macht und Herrschaft: als Unerforschlicher würde er erscheinen. Und wehe, wer sich seinem Bakchosdienst verweigerte. Allen voran an Pentheus, aber auch an seiner gesamten Familie sollte sich das göttliche Strafgericht zeigen. Wer nicht an das rebumkränzte Grab der Mutter und an die Auferstehung glaubte, hatte sich selber aufgegeben und war verloren. Wenn er, Euripides, noch etwas zu sagen hatte, wenn es noch einen Schwanengesang für ihn gab, ein Vermächtnis für die Nachwelt, so sollte es hier zur Sprache kommen. Mochte sehen, wer Augen hatte zu sehen; und hören, wer Ohren hatte zum Hören. Und taugten die Bakchen seiner Heimatstadt nicht mehr zu einem Leben in Frieden, so mochten sie wenigstens noch zu einem friedlichen Sterben für ihn selber, den Dichter, beitragen.
Wem es um Projekte geht, für die selbst eines Titanen Macht nicht ausreicht, was hat der anderes zu erwarten als ein Scheitern, zumal wenn keiner weit und breit in Sicht ist, der ihm zu Hilfe eilt? Umgeben von einer Welt voller Erfahrungen, die zu würdigen und auszuschöpfen man einer Ewigkeit bedürfte, die aber, kaum dass wir auf sie aufmerksam geworden, auch schon wieder verschwinden und durch neue, andersartige ersetzt werden, wie anders wäre dies möglich, als durch blitzschnelles Auffassen und Registrierung sowie mittels eines famosen Gedächtnisses? Wer sich das Höchste vornimmt, hat immer mit Leiden zu rechnen. Der gewöhnliche, anpassungsbereite Mensch wird ihn einer krankhaften Ehrsucht zeihen. Mag nun auch der junge Kleist am Durchbruch seines Genies gelegen gewesen sein, es ging ihm um weit mehr als um Huldigung seiner Größe. Wie ein Prophet, der sich in früheren Zeiten dem Wort seines Gottes zur Verfügung gestellt hatte, stellte er sich der Wahrheit zur Verfügung, zu deren Auffindung und Verkündigung er sich berufen sah.
Es ist wohl nicht zufällig, dass in jenen Tagen der deutsche Idealismus mit der Konstruktion des Ich und damit auch des Nicht-ich, der Welt und mit der Bestimmung von Subjekt und Objekt begann. Denn es bestand Bedarf, nachdem die siegbewusste Aufklärung, die Französische Revolution und die Säkularisation sich vom Geist der Tradition abgewandt hatte, die Welt neu zu vermessen. Wer war der Mensch und was für eine Welt war das, in der er zu leben und sich auf sein Leben einzurichten hatte? Was hatte er mit der Geschichte zu tun? Woher kam sie und wohin führte sie ihn und was war sein Anteil an ihr? Denn dass man sie nicht länger den Fürsten überlassen durfte, war längst ausgemachte Sache. Misstrauen, ja Ablehnung und Hass waren an die Stelle des Glaubens an einen sich offenbarenden Gott, und vollends an den Glauben, dass ein Gott die Geschicke der Völker in die Hände von Fürsten gelegt haben könnte.
Kleist will nicht wahrhaben, dass die Menschheit nichts ist als ein Versuch in der Geschichte der Evolution. Er will nicht gelten lassen, dass überall nichts als die Macht und die Ungerechtigkeit der Mächtigen über die Ohnmacht der Kleinen triumphiert. Zumal den Gerichten der Menschen gilt sein Misstrauen. Außer dem einen weisen Richterspruch des Salomon, damals als er der wahren Mutter ihr Kind zurückgegeben, fällt ihm kaum etwas ein zu Gunsten des Gerichts. Wen aber wundert es, wenn sich niemand mehr um die Schrift des Himmels bemüht, wenn Selbstherrlichkeit und Eigeninteresse die Gerichte bestimmen! Wohl weiß er, dass diese Schrift nur noch sehr schwer zu lesen ist, auch für ihn selber; dass aber nichts mehr gelesen werden kann, ja dass überhaupt keine Schrift mehr existiert: das will er in Ewigkeit nicht glauben. Insgeheim rechnet er damit, dass man dem Himmel etwas wird anbieten müssen, etwas Einzigartiges, Kostbares, um ein Stück weit wieder die Schrift zu verstehen. In diesem Sinn versteht er das Schreiben als Kampf- und Erprobungs-Stätte des Geistes.
Unter der Gewalt einer solchen Berufung beginnt er zu schreiben. Bereits der Gedanke, ausschließlich als Privatier Forschungen zu unternehmen, ist für ihn undenkbar. Das Leben ist für Kleist dazu da, aufzusuchen, was es an Bedeutendem gibt, um von ihm Kunde zu geben. Wahrheit, Freiheit und Leben: das ist die große Trias, die ihn beschäftigt und in Atem hält. Von der Wahrheit spricht er mitunter wie die Philosophen, bei denen er sich kundig zu machen sucht. Freilich will er keine Gedankengänge gliedern und festhalten. Logik ist nicht seine Sache. Das Wahre ist für ihn etwas, was frei macht, wie es noch beim Evangelisten Johannes steht. Doch will auch Kleist sich nicht mit einem schlichten Glauben begnügen. Wo immer möglich, will er das durch Experimente beweisen. Lebensschicksale und Begebnisse, wo immer sie sich finden lassen, will er dazu aufsuchen und aufschreiben, um sie so der Beurteilung eines jeden vorzulegen. Unparteiisch und schnörkellos will er sie beschreiben, wenn nötig auch formlos, wenn dadurch die Wahrheit besser zu vernehmen ist. Und so denkt er nicht im Traum daran, sein Schreiben einer Schreibmanier unterzuordnen oder jemand nach dem Maul zu singen. Seiner Berufung eingedenk hält er nicht viel von Belehrungen und guten Ratschlägen. Wer er ist und ob man ihn lobt, ja ob man sich seiner einmal erinnert, was geht es ihn an! Wenn er nur erst einmal von sich selber gehört und verstanden wird!
Nach Wahrheit dürstet ihn, nach Wahrheit verlangt ihn; sie zu erlangen scheint ihm Lohn genug. Nichts ist ihm so heilig, dass er es auf der Suche nach dem ewig Gültigen nicht antasten dürfte. Und wenn ihn bei seinen ungeheuerlichen Experimenten auch der Blitz des ewig Unnahbaren erschlüge, es sollte ihm Recht sein. Unerschrocken ist er, verwegen, er kennt keine Gefahr. Selbst Gott in Versuchung zu führen, erwägt er. Lieber einen Gott in Versuchung geführt und von ihm den Segen der Vernichtung zuerteilt bekommen zu haben, so spornt er sich an, als dem ewigen Nichts anheim zu fallen. Gleichwohl, wie sehr ihn auch nach Gott verlangt, so will er doch nichts als die Wahrheit. "Gott ist mir lieb, aber die Wahrheit ist mir noch lieber!" mag er gedacht haben, Platons Ausspruch verschärfend. Er weiß, dass die Götter zum Welt- und Selbstverständnis des Menschen gehörten, und dass die menschliche Natur ohne eine Mischung mit der göttlichen Natur überhaupt nicht zu denken war. Vom Himmel waren sie herabgestiegen und hatten von dort auch ihre Tempel mitgebracht, um unter den Menschen zu wohnen und von hier aus die Geschicke des Alls zu lenken.
Hier nun also im Grenzgebiet zwischen Gott und Mensch ist der Ort, wo Kleist seine Versuche durchführt: mutig, engagiert, keinem Vorsteher einer Religion untertan, aber auch ohne Lärm und Aufsehen. Er weiß, dass er nicht dazu bestimmt ist, der Menschheit ein neues Evangelium zu verkünden. Nur den Blick will er schärfen, Erkenntnisse vermitteln, auf ein neues Leben vorbereiten. Ungeheuerliche Wege und Situationen denkt er sich aus, wo dem Himmel nichts anderes übrig bleiben soll, als sein ewiges Schweigen zu brechen. Er ahnt das Verwegene, das Wahnwitzige, das Empörende, das Gotteslästerliche, und ahnt zugleich doch auch die Notwendigkeit dieses Weges. Bei Kant hat er vom Gottesproblem gehört, von der Schwierigkeit, wenn nicht gar von der Unmöglichkeit, Gott jemals zu beweisen. Findet er sich damit ab? Kleist glaubt zu wissen, dass es Stufen der Erfahrung gibt, Stufen der Wahrnehmung und der Rekonstruktion des Wirklichen. Er kennt Grundbegriffe und Grundversuche, sodann Axiome, des Weiteren das Reich des Notwendigen und des Erlaubten, endlich aber auch die Stufen der Annäherung an das Göttliche, an die Sprache Gottes. Er weiß vom Nadelöhr, das nur durch die Gnade des Himmels durchquert werden kann. Er weiß aber auch von Himmelstürmern, die sich nicht damit zufrieden gegeben haben, die Augen zu verschließen und auf das gute Ende zu warten. Er weiß vom Messias, der dem Himmel Gewalt angetan hat und sich hat abschlachten lassen. Der Heilige ist es, der nach Vollkommenheit Strebende, der ihn beschäftigt: der einsame, gewalttätige Heilige, der große Verbrecher, der weiß, dass er sich schuldig macht, wenn er in der dünnen Luft Gottes nicht standhält.
In dieser Zeit, in der auch das naturwissenschaftlich-technische Denken bereits alle Ritzen dicht macht gegen das Verlangen nach einem wunderbaren Geschehen, wo die Vorstellung eines übernatürlichen Eingreifens in unsere Welt der Vergangenheit anzugehören beginnt, ist die Luft allerdings dünn geworden für die Auffindung einer Wahrheit, die in die Gegenwart eines Gottes mündet und in eine auf uns zukommende Zukunft in ihm. Alles, so sagt die Aufklärung und so sagt der Verstand, geht seinen natürlichen Gang. Dem stimmt auch Kleist zu. Er bestreitet nur, dass der Verstand alles zu erfassen vermag und dass es nichts gibt, was ihm verschlossen bleibe. Mit dem Erfassen der Natur ist für Kleist nicht auch schon alles Übernatürliche als Hinterlassenschaft einer vorsintflutlichen Welt und als bloßer Spuk entlarvt. Studiere den Menschen, gewiss, das ist unbedingt erforderlich, und das tut er auch etwa im Käthchen oder in der Penthesilea oder auch im Kohlhaas, eines "der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit", wie Kleist gleich im ersten Satz der gleichnamigen Erzählung vermerkt. Hast du aber den Menschen studiert, so gut es nur immer dir möglich, dann zeige ihn uns im Drama der Welt, in Paradox, einerlei, ob es sich um eine Tragödie oder um eine Komödie handelt. Zeige ihn, wo die Welt aus den Fugen geraten und aus den Angeln gehoben einen Gott offenbart, der, wie seine Gegner ihm ironisch hätten vorhalten können, seine Aufgaben nicht gemacht hat. In geheimem Einverständnis mit seinem Gott stehend erscheint Kleist und zugleich auch als sein Versucher. Oder war das Schicksal eines Kohlhaas, der nach dem Guten und Rechten gestrebt hatte und der dann gleichwohl unter die Maschinerie der Gewalt geriet, nicht ein Fall für ein Eingreifen Gottes oder doch wenigstens für die von ihm bestellten Statthalter auf Erden? Wenn der Mensch geschaffen war nach dem Ebenbild Gottes, was Kleist wohl nie bezweifelte, und wenn er mithin nicht in ein Leben geworfen sein konnte, dass es ihn durch Sinnlosigkeit erdrückte, dann musste sich Gott gerade bei Taten der Ungerechtigkeit zeigen. Ja den Gott des Hiob, den Gott der Verachteten und Geschmähten, den Gott der Kleinen und unschuldig zu Tod Gekommenen, den Gott der Gekreuzigten und Gehängten, der Geköpften und der Erschossenen, sucht Kleist auf, bald um ihn anzuklagen wie ein Staatsanwalt, bald wie ein Richter, um ihm ein klärendes Wort zu entlocken. Die Weltgeschichte ist für Kleist nicht das Weltgericht wie bei Schiller, sondern das Gottesgericht: Gott ist der, der sich der Menschheit preisgibt, um zu sehen, was sie aus ihm macht.
Des Dichters Beruf aber ist es, die Geschichte so darzustellen, dass sie als offen für eine Offenbarung Gottes erkennbar bleibt, wenn nicht gar, dass er sie als dringlich erscheinen lässt, ohne sich aber in Fantasien zu verlieren. Wie ein Jakob muss der Dichter gegen Gott antreten und mit ihm ringen, wie ein zur Wahrheit verpflichteter Historienschreiber, ja wie ein Hagiograf ihm anhangen, um sich von ihm erleuchten und inspirieren zu lassen. Freilich durfte und musste der Mensch gegen religiöse Bevormundung rebellieren, freilich hatte er ein Recht auf ein eigenes Leben, und freilich gab es für Entbehrungen im Diesseits nicht notwendig auch schon einen Bonus für das Jenseits. Ahnungen mögen damals in Kleist aufgestiegen sein, dass das Buch der Kultur bald schon zu Ende geschrieben wäre, wenn nur erst der Mensch sich hätte einreden lassen, dass alles mit dem Tod vorbei sei, und dass uns dann als Zukunftsprojekt nur noch übrig bliebe, die Bestie Mensch zu studieren, wie man ihr zuvorkommen mag, um noch für ein Weilchen das Leben auf Erden zu sichern.
Kleist lässt sich nicht abbringen vom Versprechen eines ewigen Lebens, in dessen Dienst er auch Preußen gegen die Revolutionsheere Frankreichs einzubinden sucht. Immerfort rauscht und tost es in ihm wie in einem tiefen Abgrund, in den sich unentwegt dunkle Gewässer stürzen. "Wo bist du Gott?" und "Es gibt keinen Gott!" hört er dazwischen schreien. Hilferufe der Gottessucher sind es, die ihm in seinen Alpträumen aus der untersten und tiefsten Gottesferne entgegenhallen. Dann quellen Skizzen in ihm auf und geschichtliche Tableaus zu unerhörten Schauspielen; und Erzählungen fließen ihm aus der Feder.
Nun aber treibt es ihn in der Schweiz herum, bis er ein Logis gefunden, wo er schreiben kann. Den Schauplatz seiner Handlungen wählt er sehr genau aus, ebenso die Personen, die er für seine Experimente benötigt. Alles das ist von höchster Bedeutung. Hat er die Randbedingungen sorgfältig genug bedacht und ist er dann am Schreiben, so geht alles Schlag auf Schlag. Jetzt ist nicht mehr die Zeit, sich zu überlegen, wie man einen Text zu verfassen hat. Die Hand soll und muss jetzt aufschreiben, was sich dem Schauenden zeigt. Wie ein Prophet, zum Diktat bereit, sitzt er da. Jetzt nur nicht sich umschauen, nur dem bösen Feind nicht die Zeit lassen, alles zu verwirren. Ehe auch nur der Hauch einer Irritation über ihn kommt, muss alles gesagt und dargestellt sein, bis ins kleinste Detail. Wenn er nicht schreibt, sieht man ihn draußen herumgehen. Er unternimmt indessen keine Spaziergänge, die geeignet wären, ihm zur Erholung und Entspannung zu dienen. Wenn er Berge besteigt oder Bootsfahrten unternimmt, so gehören auch sie zu seinen Versuchen. Wie am Schreibtisch so grübelt er auch da draußen. Ihn interessiert nicht so sehr, was man sich unter der sogenannten physikalisch objektivierbaren Wirklichkeit vorzustellen hat, er sucht nach der großen unberührbaren Natur, wie sie sich der Schöpfer im Abgrund der Zeiten gedacht haben mag. Wenn er geht, horcht er auf seine Tritte. Er will sich versichern. "Das ist sie doch, die festgefügte Erde", so sagt er sich, "die Erde, auf die ich trete und auf der ich für eine Weile zuhause bin." Sorgfältig betrachtet er den See mit seinen Wassern und den das Ufer anlaufenden und anbrandenden Wellen. Dann schaut er zu den Bergen empor, die kräftig und stämmig aus dem See heraus aufragen. Das Spiegelbild der Natur ist verwirrend schön. Man muss aufpassen, das Gleichnis zu erfassen und nicht der Verzauberung zu erliegen. Das Nahegelegene ist nicht gleichbedeutend mit dem Wirklichen, der Sehraum nicht identisch mit dem göttlichen Raum. Hier stimmt er den Philosophen bei. Was auch immer Worte und Formeln erfassen, das Wirkliche als Göttlich-Wirksames ist stets noch ein Anderes.
Wie Kleist wieder zuhause ist, starrt er auf ein Bildnis an der Wand. Es zeigt ihm eine Ansicht von Toledo. Wie der Maler schaut er von oben in den Mauerkranz der Stadt hinein, die offen, ja beinahe entblößt gegen den Himmel zu stehen scheint. Zwei oder drei Menschen sind es, die er in den Gassen wahrnimmt. Abwartend scheinen sie dazustehen, müde von zu vielem Fragen. Wiewohl sie mit ihren Gesichtern in den weitgeöffneten Himmel hinauf schauen, so ist ihm doch, als ob sie nach einem weiteren Bild hinter der Leinwand suchten. Wie aber, so wird jetzt eine Frage plötzlich in ihm laut, wie wenn alle Menschen auf einem einzigen großen Platz sich versammelten und Gott anriefen, er möge den Himmel öffnen und zu ihnen herabsteigen? Müsste er dann nicht kommen? Wenn es ihn gibt und wenn er die Schreie seiner Menschen hört, wäre das nicht eine Weise, ihm einen Weg in die Zeit zu bahnen?
Mitunter, wenn er sich abgemüht hat, verlockt es ihn, sich in die Schar der festlich gekleideten Männer und der schön geschmückten Frauen zum sonntäglichen Gottesdienst einzureihen. Er weiß, dass er ein Opfer bringt, wenn er sich von den Menschen fern hält, die Sonntag für Sonntag in die Kirche strömen, dass er aber als Wahrheitssucher dieses Opfer zu erbringen hat. Gemeinsam zu singen und den Glauben zu bekennen oder, wenn auch nicht ihn selber zu bekennen, ihn doch laut ausgesprochen zu hören, wer mag wissen, was das in ihm bewirte! Auf keinen Fall will er eine Erleichterung bei seiner Arbeit, wenn er sie nicht von einer Selbsttäuschung zu trennen vermag. Wie sehr er sich aber auch bemüht, die Frucht seiner Bemühungen bleibt aus. Da und dort mag sich der Himmel zwar einen Spalt breit aufgetan haben, des Gottes aber wird er nicht ansichtig. Statt Segen auf sich herabzurufen, erfährt er nur schmerzhafte Irritationen, zumal als Preußen mit dem verhassten Kaiser der Franzosen zu paktieren beginnt. Schließlich bleibt ihm nur noch, den Kerker seines Daseins gewaltsam aufzubrechen, ob es ihm gelingt, von dort den Gott zum Vorschein zu bringen. Mögen ihm dabei die von ihm so oft beschworene Hoffnung auf den jüngsten Tag geholfen haben!
Ihn bedrückte gewiss nie die Vorstellung, als Mensch eingesperrt zu sein in die Welt der Dinge und Phänomene und abermals eingesperrt zu sein als Schriftsteller und Seelsorge durch die Sprache, aus der man ebenso wenig aussteigen konnte wie aus der Welt. Groß und weit genug war ihm die Welt eingerichtet, um sich auch noch einen weisen, gütig lächelnden Gott hinzu zu denken, mochte man auch nicht alles begreifen. Ja, lieber besann er sich auf die Kleinheit des Menschen, einschließlich seiner eigenen Kleinheit, um nur ja alles Große recht groß zu erfassen.
Wenn man von einem Wort im Semitischen alle Präfixe und Suffixe lostrennt, gelangt man stets zu drei Radikalen oder Konsonanten, zum Kernholz oder Wortstamm, der zugleich eine Handlung ausdrückt. Nahm er aber seinen Namen als solch ein semitisches Wort, so fand er, dass da von einem Nichts oder einem Windhauch die Rede war. Er, Hebel, war also einer, der Acht haben sollte, dass er sich nicht mit leeren Gedanken beschäftigte. Das ließ er gelten, zumal wenn er die Aufgaben bedachte, die sich daraus ergaben. Mögen dem einen zwei, einem anderen drei und wieder einem fünf Talentlein vermacht worden sein, so sagte er sich, ist es nicht einerlei, wenn nur alle zusammen ihre Aufgaben besorgen? Der eine als Landmann, der andere als Handwerker, ein dritter als Lehrer oder Landvogt. Und sollte es einmal einen geben, der wie der kleine Johann Peter in allen Straßen und Gassen zu Hause ist, so könnte der sich ja, dank seiner Welt- und Straßen-Kenntnisse, als Kalendermacher und Hausfreund verdienstlich machen. Als solch einen Botschafter sah sich Johann Peter Hebel, der in Hausen im Wiesental ebenso zu Hause war wie in der reichen Bürgerstadt Basel, wo er zur Schule gegangen. Hier, wo tagaus tagein alle möglichen Menschen zusammenkamen, war wohl der Ort, wo er neben der ihm vertrauten ländlichen Welt auch die sogenannte große kennen gelernt hatte.
Was die Kalendergeschichten unseres Kalendermachers angeht, so sollte man möglichst auf alle Paraphrasen verzichten. Diese Geschichten werden am besten nacherzählt, wenn man sie bis in die kleinsten Einzelheiten Wort für Wort wiedergibt. Und wenn uns Hebel auch heute noch immer einen herrlichen Überblick über die Welt bietet, so tat er dies nicht, indem er als unerbittlicher Beobachter festhielt, was er sah, oder indem er sich beschwerte über die Ungerechtigkeiten auf Erden. Wenn er auch nicht alles billigte, so hatte er es sich doch angewöhnt, zumal als Rheinischer Hausfreund, sich nie seinen Humor stehlen zu lassen. Was auch immer in der Welt geschah, so schaute er lieber einmal über etwas Missliebiges hinweg oder er half einem armen Sünder auf, als dass er ihn kurzweg verdammt hätte. Was er so den Armen und Kleinen zukommen ließ, das galt auch für die Großen und Fürsten, dass er sie lieber im Licht von Gottes Majestät schilderte, wie sie hätten sein sollen, als wie sie waren. So hätte er, selbst auch, wenn man ihn einmal mit einer saftigen Rechnung über den Tisch gezogen hätte, eher geschmunzelt als dass er sich lauthals darüber empört hätte. Nur dies hätte er sich dabei ausbedungen, dass man es den ganz Kleinen nicht übel nehmen oder sie gar aufhängen sollte, wenn sie sich denn auch hin und wieder einmal etwas vom gedeckten Tisch wegstibitzten.
Von Hebels frühen, sein Gemüt und seinen Charakter bildenden Wegen durchs Wiesental ist uns so mach eine Anekdote überkommen: wie etwa die vom Käpplein, das der kleine Bub schnell herabnehmen sollte, wenn ein hoher Herr, ein Geistlicher oder ein Beamter, des Weges entgegenkam. "Bub ziehs Käppli ra, der Herr Landvogt chummt!" So hat den kleinen Johann Peter seine Mutter ermahnt. Spuren solcher Begegnungen finden wir dann später auch im Hausfreund, etwa im Jahrgang 1814, wo Hebel aus König Heinrich des Vierten Zeiten berichtet. Daselbst sehen wir ein Bäuerlein ahnungslos neben seinem König einhergehen, begierig darauf, zu erfahren, wer als letzter den Hut auf dem Kopf hat und mithin der König ist. Das Sprichwort zum Schluss gibt zu denken: "Seid ihr der König oder der Bauer?" Immerhin waren 1814 eben 20 Jahre vergangen, dass man den gekrönten Königen die Köpfe von den Schultern getrennt hatte und auch Napoleons Kaiserkrone begann da schon zu wackeln. Wenn man in Hebels Korrespondenz nachschaut, finden sich einige Stellen, wo von Hüten und Federn auf den Hüten die Rede ist. In seinem Hausfreund aber achtet er darauf, keine bösen Erinnerungen aufkommen zu lassen oder gar den Leser zum Revolutionär zu erziehen. Die Landeskinder sollen nicht merken, dass auch Hebel, ihr Hausfreund, unter der Zeitgeschichte litt. Wie man einst zu ihm gesagt hat, so würde er selber auch jetzt noch immer zu seinen Schul- und Pfarrkindern sagen:
Setz dir nur dein Hütlein auf,
brauchst dich nicht zu schämen,
es vor Gottes Majestät
ehrsam abzunehmen.
Bilder von Hebel, wie man vor ihm den Hut nimmt, kenn ich nicht; wenn aber solches geschah, und das war gewiss der Fall, denn immerhin stand er mit an der Spitze der badischen Landesgeistlichen, so lächelte er wohl menschenfreundlich, indem er wohl weniger an seinen hohen Rang dachte, als an die Löcher in seinen Socken, die er versteckt unter den Schuhen mit sich trug.
Revolutionäre Auslegungen, waren ebenso wenig Hebels Sache, wie die Idee eines Gottesgnadentums auf Biegen und Brechen. Weder als einen Freiheit liebender Revolutionär mochte er sich verstehen, noch als einen Royalisten, durch dick und dünn. Beides lag fern von seinem Denken Fürsten waren für Hebel Statthalter Gottes und hatten sich als solche zu bewähren. Selbst auch ein Napoleon gehörte zu diesen. Ohne sich über dessen Herrlichkeit den Kopf zu zerbrochen, nahm eben auch er als Tatsache, was allgemein als Tatsache anerkannt wurde. Immerhin wurde Napoleon ja auch von den Fürsten anerkannt oder zwang sie, ihn anzuerkennen. Warum also sollte Hebel etwas anderes tun, als was alle Welt tat, auch Goethe in Weimar und auch der Großherzog von Baden, in dessen Dienst er stand!
Wer nun noch weiter Lust hat, unserem Autor nachzuspüren, dem teilen wir noch mit, dass dem Theologen und Literaten Hebel neben der Majestät Gottes kaum etwas mehr faszinierte, als die Monumentalität der lateinischen Sprache, die er sich auch für die deutsche Sprache zum Vorbild nahm, wie auch der von den Griechen so hoch geschätzte Anagnorismos, also die Wiedererkennungsszene, die aufzuspüren und auszuschildern er nicht müde wurde: Franziska, der Schneider von Pensa und Unverhofftes Wiedersehen weisen ihn als einen Meister der kurzen Prosaerzählung aus, wie er in unserer deutschen Literatur einmalig dasteht. "Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweiten Male auch nicht behalten", heißt es da zum Schluss der letztgenannten Erzählung, dem man aus den Alemannischen Gedichten jene Zeile vom Liedlein vom Kirschbaum hinzugesellen kann, wo es heißt: "Was vom Boden obsi chunnt, mueß au zuem Bode nidsi goh." Das sind Zeugnisse eines großen bäuerlich kreatürlichen Weltverständnisses, die in Einklang stehen mit der Botschaft der Bibel.
Vielen dieser Schilderungen liegen wohl auch Ereignisse aus dem eigenen Leben zu Grunde, die auf den Bub in früher Jugend eingewirkt haben. Wer als Freund des Autors zu Fuß durchs Wiesental kommt oder auch nur mit dem Auto hindurchfährt, kann sich kaum dem Eindruck entziehen, den die Burgruine des Röttler Schlosses auf ihn macht: Hier hat der Dreizehnjährige seine Mutter, die "Muetter", verloren. Hier lernte er den bitteren Schmerz der Vergänglichkeit kennen. Hier aber begann auch der Traum, der ihn ein Leben lang begleitet hat: die Mutter wiederzufinden. Zeit Lebens hegte er die kindliche Hoffnung, sie einmal wieder in die Arme zu schließen und sich von ihr in die Arme schließen zu lassen, wobei er auf die Güte und die wunderbare und unerforschliche Absicht Gottes vertraute. Je mehr Wissen wir sammeln, umso mehr erkennen wir, dass wir nicht wissen; und je mehr wir uns als Nichtwissende erkennen, umso mehr werden wir erkennbar als die, die sich nach einem höheren Leben sehnen. So war das jedenfalls noch damals. Jetzt aber, wo uns sein Lebenswerk vorliegt, zwei Büchlein, ausgearbeitet und geschliffen wie zwei leuchtende Edelsteine, nämlich in den Alemannischen Gedichten und in den Erzählungen des Rheinländischen Hausfreundes, muss wohl keiner mehr mit Suffixen und Präfixen an seinem Namen herum hantieren. Hebel heißt dann vielmehr, dass auch wir uns daran machen sollten, uns aus dem Nichts der Vergänglichkeit zu befreien.
Angst begleitet ihn auf all seinen Wegen, dass man erwägt, ihn als einen Geistesgestörten festzunehmen und einsperren zu lassen. Ganz besonders kommt das zum Vorschein bei seiner Angst vor den Ärzten. Immer wieder löst sich ein Arzt aus dem Dunkel des biografischen Hintergrunds, sei es, um ihm im Komplott mit seiner Frau eine Vaterschaft streitig zu machen, sei es um ich als einen dunklen Magier und Hexer zu denunzieren, sei es, um ihn des Größenwahns zu verklagen und als gemeingefährlich einzusperren. Was immer sich Arzt nannte, war für Strindberg eine Inkorporation des Schreckens.
Was mich, den hier waltenden Biografen angeht, so fällt mir nicht schwer, aus eigener Erfahrung die Pathogenese solcher Ängste nachzuvollziehen. So wusste mein Schwager, der Medizinprofessor, als ich meine Frau, seine Schwester, im Finalstadium, wie es damals so schön hieß, wieder nach Haus geliefert bekommen und sich ein frisch ernannter Hausarzt bei uns als Chef aller Dinge introduzierte, zu unserer Tochter zu sagen, nachdem sie ihm meine Bedenken über das Auftreten des Hausarztes geäußert: "O, da würde ich aber aufpassen! Praktische Ärzte haben durchaus einige Macht." Zum Teufel mit allen Ärzten, die Macht haben oder Macht beanspruchen oder auch nur davon reden. Dann lieber gar keinen Arzt. Es dauerte denn auch keine zwei Wochen, da hatte ich diesen Hausarzt aus dem Haus gejagt. Und wenn er noch weiterhin von seiner Macht träumt, weil ein Nachfolger die Unterlagen bei ihm anfordern müsste, so täuscht er sich gewaltig: diese Unterlagen wird so schnell keiner von ihm anfordern, da wir lieber krepieren, als uns an den nächsten dieser Herren zu wenden. Inzwischen aber ist auch schon über ein Jahr her, dass wir unser Auskommen finden ohne einen neuen Arzt mit seinen 77 Seilschaften, und so soll es, wenn Gott will, bis an unser seliges Ende bleiben.
Bei Strindberg meldet sich die Angst, wie uns scheint, vornehmlich im Gefolge des ungeheuerlichen Anspruchs, der Welt kundtun zu müssen, ein Auserwählter zu sein. Wie aber soll einem das gelingen, wenn man sich nur von Zwergpinschern umgeben sieht? Größenwahn und Angst aber gehören zusammen, wobei der gesellschaftliche Rang als dritte Größe vermittelnd hinzukommt. Wer lang einen Kanzler- oder Präsidenten- oder auch nur einen Ministerposten innegehabt hat, neigt leicht zur Überschätzung seiner Fähigkeiten. Selbst ein Bauunternehmer, ein Platzhirsch in seinem Dorf, ist sich seiner kolossalen Macht und Wichtigkeit bewusst. Die Übrigen aber, und das sind die Meisten, können froh sein, wenn man sie vegetieren lässt, ohne sie zu stören. Mag Strindberg zu seiner Zeit auch etwas über Gebühr vom Anspruch der eigenen Größe in Beschlag genommen gewesen sein, so zeigt er sich uns doch als ein Mann, der wie in alten Zeiten Großes, ja Größtes von sich abverlangt. In diesem Zusammenhang, zumal im Zusammenhang einer ausbleibenden Anerkennung seiner Verdienste, haben wir dann wohl auch seinen zur Verdüsterung neigenden Charakter zu beurteilen, vornehmlich seine Angst vor der Unfreiheit. Freiheit, das ist es denn auch, was sich ihm bei seinen Arbeiten als wichtigster Wunsch herausgestellt hat: Freiheit nach außen, von aller Verfolgung, und nach innen, vor aller Angst. Schreiben sollte ihm dies ermöglichen
Die Frage, wer wohl der freieste Dichter gewesen sein mag, der über unsere Erde dahinging, wäre des Nachdenkens wert. Wir meinen hier nicht, wer über Freiheit geschrieben hat wie etwa unser Schiller oder Jean Paul. Wir meinen auch nicht Goethe, der als Minister und Freund seines Fürsten Macht hatte, sich in dem von ihm abgesteckten Gebiet zu ergehen. Hier wäre nach einem Dichter zu suchen, der im Kampf zwischen dem inneren Anspruch seiner Kunst und den ihm von außen gegeben Möglichkeiten, die größte Leichtigkeit und Kühnheit und Verwegenheit besaß zu sprechen und zu schreiben, ob nun sein Wort gefiel oder nicht. Immerhin müssten wir, wenn wir dieser Frage weiter nachgingen, stets auch unser Augenmerk darauf richten, wie gefährlich jeweils ein freies Wort war und was man allenfalls dafür zu zahlen hatte. Heute, in unseren Breiten ein freier Dichter zu sein, ist nichts Besonderes - ich sage das durchaus nicht ohne ein Gefühl von Lob und Dank -, wiewohl auch in unseren Breiten die Freiheit beschränkt ist und es immer leichter ist und einem besser bekommt, wenn man das sagt, was die meisten gern hören oder was von einer Schicht von Intellektuellen getragen wird. Im Übrigen hat Freiheit in praxi noch nie viel gegolten. Schon im Frankreich der Aufklärung und später dann der französischen Revolution, wo man das Recht auf Freiheit proklamierte, war es mit der Freiheit schnell zu Ende. Die Guillotine zensierte mit scharfem Schnitt, was als Freiheit noch durchging und was nicht. Als Außenseiter einer Gesellschaft wie ein Strindberg aber, der dem allgemeinen Konsens trotzt, gehörst du immer zum gejagten Wild. In summa ergibt sich, dass es nie ratsam ist, den Meinungen und Ansichten der Machthaber entgegen zu treten.
Aber damit ist der Themenkreis noch keineswegs erschöpft. Ein Mann wie Strindberg, der wie ein Ausgestoßener und Einsamer durch viele Länder hindurch kommt, von niemandem dort erwartet, ein Ahasver, der stets auf der Flucht ist und sich stets auf der Suche nach einer neuen besseren Heimat befindet, denkt nach. Er will sich klar werden über sich. Nach Damaskus geht seine Reise. Seine Misserfolge, zumal mit den Frauen und mit seinen Eheversuchen und Familiengründungen, erschrecken ihn und liefern ihm einen unheimlichen Begriff von sich selbst. Warum versagt er immer wieder? Er weiß es nicht. Um Stoff zu haben zum Schreiben? Nein, das ist es nicht. Stoff gibt es auch anderenorts genug. Es ist zum Verrückt-werden. Als Ehescheidungsrichter in eigener Sache, die er unparteiisch wahrzunehmen sucht, sieht er nichts als Rechthabereien und Lächerlichkeiten auf beiden Seiten. Von Kämpfen gilt es zu berichten, von erbitterten Kämpfen, Kämpfen auf Leben und Tod. Auch bei den Philosophen fragt er um Rat, bei Platon und bei Aristoteles. Doch die Suche ist nicht viel versprechend. Strindberg traut den ihm angebotenen Begriffen von Maß und Mitte nicht. Die vorgeführten Beispiele, wie etwa die Tapferkeit, zwischen Feigheit und Tollkühnheit, sind ihm viel zu theoretisch und praxisfern, zu schülerhaft läppisch. Alles scheint ihm nur geschaffen für eine Staatslehre, eine Politeia, die Menge von denkfaulen und denkunfähigen Bürgern bei der Stange zu halten. So entschließt sich Strindberg eines Tages, nach Damaskus zu reisen. Als Gefangenen gleichsam nimmt er sich mit auf den Weg. Schonungslose Aufklärung verlangt er von sich. Er ist bereit, Buße zu tun, wenn es Not tut. All der Schriften, deren er habhaft werden kann, prüft er und studiert er, ob er etwas davon gebrauchen kann: neben der Philosophie der Griechen, die Propheten und Schriften des Alten Testaments, Hiob, sodann das Christentum, und selbst die Lehre der Mönche des Mittelalters bleiben nicht ungeprüft. Dann geht es weiter mit dem Studium der Neuzeit, mit Mystikern und Magiern, mit Swedenborg und Genossen. Auch Kierkegaard entgeht ihm nicht. Wie er ist auch Kierkegaard ein Sonderling, ein Einzelgänger, ein Narr auf eigene Faust, der es aber, wie Strindberg findet, immerhin gut hat, weil er schon gestorben ist und man ihm deshalb nichts mehr anhaben kann. Und er kommt auf die Idee, dass seine Ängste etwas zu tun haben mit der Flucht vor der Unbedeutendheit. Wie wenn der Mensch von Natur aus zur Unbedeutendheit bestimmt ist, er sich aber zugleich getrieben sieht, etwas aus seinem Leben zu machen? Sind alle die Vorschriften und Gesetze und Sitten und Gebräuche nicht nur ein Blendwerk, die Tatsache der Unbedeutendheit zu überspielen? Als könnten sie dem Einzelnen Hilfestellung geben, etwas aus seinem Leben zu machen? Der Einzelne ist für den Staat da, gewiss; aber ebenso ist der Staat für den Einzelnen da. So war das in früheren Zeiten. Der Staat hatte den für den Einzelnen nötigen Freiraum zu stiften und der Einzelne im Gegenzug ihm bei der Erhaltung des Staatswesens zu dienen. Heute aber, wo mit der Religion und der Kultur und dem Anspruch des Einzelnen auf Autonomie auch das Staatswesen seinem Ende entgegen sieht: was für eine Bedeutung bleibt da noch für den Einzelnen? Der beispielhafte Mensch und sein sicheres Erwägen und Ausloten des rechten Handelns, wovon Aristoteles in seinen vier Ethiken spricht, gehört in die Geschichte der Philosophie. Rechtes und rechtschaffenes Handeln als Theorie und göttliche Kunde gibt es nicht mehr; nur noch das mit den jeweiligen Gesetzen in Übereinstimmung befindliche Handeln, im Dschungel der Massen. Und so passt denn auch der Begriff der Freiheit nur noch als allgemeine Erlaubnis zum Dasein, das vom Gesetzgeber jeweils Erlaubte zu tun, nicht aber mehr als Berufung zu einem höheren Dasein. Mögen wir auch herausfinden, auf welche Weise wir uns in unserem Leben herumzuschlagen haben, so haben wir deshalb noch lange nicht unser Dasein verstanden. Was aber bleibt uns neben Unbedeutendheit und Wertlosigkeit? Natürlich weiß Strindberg, dass er den Sachverhalt auch etwas schöner und erträglicher benennen könnte. Versuch es doch nur, der Welt etwas anzubieten! Und wenn dir sonst keine Bestimmung zukommt, so versuch dich wenigstens als Scharlatan und Hochstapler, um nicht als Bedeutungsloser und Wertloser offenbar zu werden. Mag dir die Welt Beifall klatschen. Vielleicht, dass es dir dann gelingt, dich über dich selber hinweg zu täuschen, dergestalt dass du übersiehst, dass du dich noch immer in der Mitte zwischen der Unbedeutendheit und Wertlosigkeit befindest.
Man mag ihn ein wenig bedauern aber zugleich auch ein wenig gern haben, diesen Nachkömmling eines Kleist und eines Lenz, eines Hoffmanns und eines Büchners, der sich selber als etwas Krankes und Krankhaftes umkreist und begreift und ansichtig zu werden sucht, auch wenn er es nicht fertig gebracht hat, sich ins Leben hinein zu finden. Versteht sich beinahe von selbst, dass er keinen Freund hat, dem er etwas vorlesen oder mit dem er sich besprechen könnte, und dass er alleine lebt. Sich irgendwo einzuwurzeln und bodenständig zu werden ist nicht seine Sache.
Wer ist dieser lausige Schweizerbub, der sich da bald dichterisch betätigt, bald aus den Wäldern hervorgesprungen kommt und dessen beste Zeit als Schriftsteller längst hinter ihm liegt, während ihm noch immer etwas Kindlich-Jugendliches anhaftet? Im äußeren Erscheinungsbild stell ich mir ihn vor mit einem Kindergesicht, mit vollen Backen und träumerischen, vertrauensseligen Augen, die aber auch rasch für scharfe Blicke offenstehen, wenn es sich um die Analytik des Lebens handelt, und dazwischen mit einem schmalen Lippenpaar, das sich zwingt, einen kleinen Mund zu verschließen, von dem man nicht weiß, ob er in lachhafte Scherze ausbricht oder in Schmerzen. Meist bleibt er im Kindlich-Infantilen stecken, wünscht sich in den Besitz oder im Dienst einer Frau, wiewohl er ganz genau weiß, dass er es hier nicht lang aushielte. Ein nacheifernswertes Bild zu erstellen von Mann und Frau, die sich aufeinander zu bewegen und zueinander finden, wie es seinem Landsmann Keller in Romeo und Julia auf dem Landes gelungen, ist ihm versagt.
Eben noch glaubte er, den Riesen Tomzak hinter sich her schreiten zu hören, als hätte er ihn aus seinem Schlaf geschreckt. Doch drehte er sich nicht um. Das wäre ja noch schöner, sich um einen so billigen Preis gefangen zu geben! Nun aber springt er über Bergmatten und über milchweiße Bäche; dabei ist er bald ein kleiner, spielender Junge, bald ein im Spiel übermütig gewordenes Kind, bald ein alter Mann, der einem seinen Kindskopf zeigt, wenn man ihm zu nahe kommt. Es scheint, als hätte dieser Wälderbub nichts anderes zu tun, als geißnärrisch durch die Welt zu rennen. Zwar gibt es viele, die ihm sein Nichtstun vorwerfen, zumal da er doch so schöne Talente hat, wie er sagen hört, er aber in letzter Zeit denkbar wenig Gebrauch davon macht, doch hat er sich noch nie einem in den Weg gestellt und sich ihm aufgedrängt, weil ihn langeweilte und er nichts mit sich anzufangen wüsste. Wäre es nach ihm gegangen, so könnte man in seinem Pass unter der Rubrik "Beruf" Fußgänger oder Wanderer lesen. Da das aber nicht zu den Berufen zählt, weil man dafür nicht bezahlt wird, so hat er sich mit der Bezeichnung Schriftsteller abgefunden, wofür er zwar auch nichts bekommt, was aber schöner klingt und was in der Liste der Berufe vorkommt.
Wenn er sich jetzt auf den Weg macht zu seiner Löffeli-Bekanntschaft, so gehört das zu seinen privaten Angelegenheiten und geht niemanden etwas an. Immerhin hat er den Tag glücklich begonnen. Bei Sonnenaufgang hat er sich die Wanderstiefel angezogen, sein teuerstes und kostbarstes Gut, und ist außer Haus gegangen. Mit tüchtigen, beherzten Schritten ist er den Berg hinauf gestiegen, um von dort droben den Morgen zu begrüßen und in den Tag zu wandern. Jetzt aber geht er die Matten hinab, leicht und luftig, beschwingt wie ein Adler und gelassen über allem auf ihn zu Kommendem wie ein Flieger aus Papier.
Niemals, so hat er noch droben im Wald zu sich gesagt, als er glaubte, sich eine kleine Belehrung zukommen lassen zu sollen, niemals sollten wir allzu rechthaberisch, aber auch nie allzu vertraulich mit uns umgehen. Vor aller Vollkommenheit sollten wir uns in Acht nehmen, insbesondere, dass wir uns nicht einbilden, sie zu besitzen. Äußerungen sind gut und erlaubt, wenn wir sie nur nicht gleich für allzu bedeutend erachten, so hatte er sich dann des Weiteren belehrt, während ihm sein im Wind rot gewordenes Kindernäschen aufmerksam zuhörte. Dann hatte er noch einmal herabgeschaut, hinunter auf den moosüberzogenen Sitz, wo er gesessen und den lieben Vöglein zugeschaut, und hatte sich auf den Weg gemacht, die Wiesen hinab ins Tal. Jetzt aber nimmt er sich die Gelegenheit, sich noch die lieben Kühe anzusehen, wie sie jetzt, im Sommer, trotz des paradiesisch-saftig-frischen Grases, das ihnen von überall her förmlich ins Maul hinein spaziert, vom Fliegengeschmeiß so geplagt werden, dass auch die von der Natur gutgemeinten Schwänze zur Abwehr nicht mehr ausreichen. "Ist es um uns nicht ähnlich bestellt!" ruft er da aus. "Sind wir nicht auch eine Mischung aus urtümlicher Kraft und verfeinerter Ohnmacht, aus Edel-sei-der-Mensch-natur und bösem Geschmeiß, aus Klausner und Rebell, aus Bewunderer und Banause, aus freiheitsliebendem Tell und Dunkeltrübes sich aussinnendem Gessler?"
Unterdessen hat unser Schweizerbub das Tälchen erreicht, wo seiner Meinung nach das Häuschen steht, in dem seine Löffeli-Bekanntschaft logiert, eine, wie er gern bekennt, noch immer angenehm in Erscheinung tretende Witwe. Ihm ist, als hätte sie ihn wieder zu sich zum Mittagessen gerufen. Vielleicht täuscht er sich auch. Ganz genau weiß er es nicht mehr. Jedenfalls glaubt er, die Haustüre im Sonnenlicht zu sehen, als wäre sie vergoldet und Phäakenhunde aus purem Gold bewachten sie. Vergangenen Sommer, als man ihm die Pflege dieser Bekanntschaft als sinnlose Zeitverschwendung zu vergällen getrachtet, hatte er trotzig behauptet, der Sinn seines Lebens bestehe eben darin, ein bereits zum Abwaschen bestimmtes Kaffeelöffeli eben dieser Witwe abzuschlecken; und wenn er als Schriftsteller noch etwas Talent besitze, dass alles darauf ankomme, diesem Schauspiel ein würdiges Gedächtnis zu verleihen.
Doch wo ist nun eigentlich das Häuschen der Witwe? Er hat es doch aus der Ferne gesehen und nun, wo er in die Nähe kommt, soll es nicht mehr da sein? Unterdessen aber muss er trotz gewaltiger, über den Mittagstisch kreisender Gedächtnisarbeit erkennen, dass er sich getäuscht hat. In der Zwischenzeit nämlich hat man das Häuschen abgerissen. Und was er für eine goldene Türe gehalten hat, das erweist sich jetzt als Eingang zu einer Fahrerkabine, der noch immer in der Sonne glänzt und zu einer Planierraupe gehört. Selbst die Katze der Kaffee-Löffeli-Witwe, von der er geglaubt hat, sie habe ihn wiedererkannt und umstreiche und umschmeichle sein Bein zum Willkomm, hat sich verzogen und ist nicht mehr vorhanden. Dunkel erinnert er sich wieder an jene Katze in Berlin, die man als Schlangenfutter mitgenommen hatte, weil sie sich weigerte, weiterhin Mäuse zu fangen. Dass die Löffeli-Witwe nicht mehr da ist, könnte er jetzt fast verschmerzen, wenn er nur etwas zu essen bekäme. Sokrates fällt ihm ein, der sich vor Gericht um einen Freitisch bemühte. "Was brauchst du andere, die dir zuhören? beginnt er sich zu fragen. Lerne, dir selber zuzuhören und alles ist gut. Oder bist du nicht reichhaltig genug, dich mit dir zu unterhalten? In einer gut funktionierenden Welt sollte man den Zeitgenossen nur eben so viel mitteilen, wie gerade notwendig ist", sagt er noch zu sich und schließt die Augen. Ja, das müssten sie sich als ehrenwerte und kultivierte Bürger angelegen sein lassen. Ein gutbürgerliches Mittagsmahl aber, und wäre es auch ein ländlich-bescheidendes, wollte er jetzt ohne lange Anrede und ohne ausgefeiltes Tischgebet bezwingen.
Doch er muss weiter. Auf der Straße sieht er ein paar Meitschi, an denen er vorbei muss und die sich nach ihm umschauen. Ihre Aufmerksamkeit, vor allem aber ihr Gelächter verwirrt ihn. Warum stehen sie da und lachen? Etwa weil ihn hungert? Oder was ist es denn sonst, was sie gern sähen und womit er ihnen imponieren könnte: mit einem Hannibal oder einem Cäsar oder einem Schweizer Goethe? Doch die Mädchen lachen, weil sie bei diesem Löl keinen Ehering sehen und sie sich fragen, ob er auch wirklich ein Mann ist. Etwas in unserem Schweizerbübli begehrt aufzubrausen. Ein paar nebensächliche Hingeworfenheiten genügen da nicht. Er erinnert sich an ein Gespräch, wo ein Mann seine Frau eine Kuhstallsau genannt hat. Doch nein, unser Bübli, wenn er auch Anlagen hat zu einem Saubübli, hat es nicht nötig, aus der Haut zu fahren, auch wenn man keine Rücksicht auf ihn nimmt und auf seinen hungrigen Magen. Die Welt ist eine Märchenwelt, denkt er, während er unter Missachtung der Mädchen beherzt weiterschreitet. Für einen Augenblick träumt er davon, einen Märchenroman zu schreiben. Mit einem prachtvollen Mittagessen, zu dem man ihn eingeladen, würde alles beginnen. Oder er würde mit dem Ausarbeiten dieser Kapitel beginnen. Beim Weiterspinnen des Romans aber sieht er sich in eine mit Dreck befrachtete Lawine verwandelt. Aus dem allerhöchsten Gebirge als schneeweiße Kugel entsprungen ist plötzlich etwas Schmutziges aus ihm geworden. Er weiß es. Aber auch die Welt weiß es alsbald schon, denn in tausend und abertausend Klumpen und Klümpchen sieht er sich zersplittern, bis endlich, nahe der Talsohle, auch noch die letzten Dreckbollen in tausend Teile zerfallen. "Das ist es, woraus wir bestehen", sagt er zu sich, sich beschwichtigend. Und doch! Was soll´s? Alles ist ja lieb und nett und hüpft und schlüpft schon wieder um ihn herum, während ihm beim Weitergehen Apfelbäume freundlich entgegenkommen. Zumal, nachdem er sich von der mütterlichen Natur einen Apfel von einem Baum am Wegrand hat reichen lassen, regen sich schon wieder Schalk und Übermut in ihm.
"Mag kommen, was will, das Schlimmste ist bereits überstanden", sagt er zu sich, während er auch noch einen zweiten und einen dritten rotwangigen Apfel vom Baum pflückt, die beide bequem in seinem Hosensack Platz finden. Ja, schon lächelt er wieder. Und wie er so weiter wandelt durch die Landschaft, kommt ihm auch schon das ferngelegene Münster seiner Heimatstadt entgegen. Das Münsterli nannte er das Münster einmal, als er es als kleines Bübli von hier oben aus sah. Nur dass er das lautstarke Getöse der Automobile nicht mag, das ihm nun entgegendröhnt. Großspuriges Auf-sich-aufmerksam-Machen ist ihm zuwider. Aber auch die banale Alltäglichkeit mit dem Wechsel von Pflicht und Nichts-Tun kann er nicht leiden. Er sucht nach einem Land, in dem sich nach Herzenslust leben ließe. Bedeutend wie zugleich anspruchslos müsste es sein, groß und kräftig ihn umgeben, sowohl bei Tage wie auch in der Nacht. Nicht dass er darüber lamentierte, dass es ein solches Land nicht gibt. Auch Gottfried Keller hat danach gesucht, ohne zu lamentieren. Vielleicht, dass man darin wohnte, wenn man eine Tanne wäre im Wald oder eine Fichte im Gebirge. Lamentieren jedoch lehnt er ab wie eine Bittschrift, im Himmel gehört zu werden, während er keinen Himmel mehr gibt. Und doch korrigiert er sich gleich wieder! Besser ist immer noch, sich ein Toboso auszumalen, als sich aufzugeben. Auch an Lenz und Büchner und Kleist scheint er schon eigene Erfahrungen erprobt zu haben, Leute, die zu lernen hatten, dass ihnen das Tor des Erfolgs für ewig verschlossen bliebe. Was ist besser, so fragt er sich jetzt, dass alles so ist und bleibt, wie es ist, oder wenn sich die Menschheit in ihre wahre Gestalt verwandelte, und sei es in die Gestalt unappetitlicher Käfer? Als ob er den Ureltern begegnen müsste, die ihm mit ihren Bündeln und Überbleibseln aus der Stadt entgegenkommen, ist ihm zumut. Und ob er auch längst an keinen Himmel mehr glaubt, so malt sich ihm jetzt doch aus, wie er zur Pforte des Paradieses kommt und sich dort abzuliefern hat. Natürlich muss er dazu eine Art Empfehlungsschreiben für sich verfassen, versteht sich, etwas der Wahrheit Gemäßes. Einen Heiligen wird er gewiss nicht abliefern, aber einen Schwerverbrecher wohl auch nicht. Überhaupt sieht er zwischen diesen beiden extremen Typen durchaus einiges Gemeinsames. "Tu nie etwas außerordentlich Gutes", sagt er zu sich, "selbst wenn dir plötzlich die Begabung dazu käme. Es wäre die schlimmste Versuchung. Denn hast du dreimal etwas außerordentlich Gutes getan und tust es dann nicht mehr, dann kneipt dich dein Gewissen und du fühlst dich schlecht und gemein. Ja, unterlässt der außerordentliche Mensch auch nur in einem winzigen Pünktchen die außerordentliche Lebensordnung, an die er sich gewöhnt hat, so macht er sich nicht minder schuldig als der schlimmste Verbrecher." Er weiß, dass alles Handeln aus einer Freiheit und Sicherheit und Selbstverständlichkeit heraus zu geschehen hat:
Einstweilen ist es spät geworden und der Hunger kneift ihn wieder. Vielleicht, dass er noch irgendwo zu einer Mahlzeit kommt; etwas Geld für ein ländliches Mahl hat er noch bei sich. Aber auch mit einer Herberge für Landstreicher oder Asylanten nähme er jetzt vorlieb. Im Unterschied zu früheren Tagen aber ist er des Wanderns etwas müde geworden. "Warum", so fragt er sich, "muss ich noch weiter? Warum Morgen alles wiederholen, was doch schon heute zu nicht viel geführt hat? Was nötigt einen überflüssig gewordenen Einsamen, immer wieder von vorn anzufangen? Es ist Zeit, mit dem Aufhören anzufangen", sagt er sich. "Wenn man sich so hinlegen und einschlafen könnte wie der Wind", denkt er, "der nicht mehr ist, sobald er sich schlafen legt." Irgendetwas, das merkt er wohl, hat längst angefangen in diesem Sinn in ihm zu arbeiten. Lange wird es nicht mehr dauern, vielleicht noch bis zum Ende des Jahres, denkt er für sich, bis er zu einem geworden ist, der im Dämmerlicht des Jänner wie ein Riese übers Gebirge dahinzieht. Es sollten aber noch einige Dezennien bis dahin vergehen.
Es war wohl kaum mehr als eine kindliche Neugierde, als sich der kleine Franz auf den Weg machte. Eigentlich wollte er nur wissen, ob es wirklich so vielen Wagemuts bedürfte, um den Weg bis ins nächste Dorf heil zurückzulegen, wie der Großvater gesagt hatte. Aus Angst, dass ihn die Eltern nicht gehen ließen, hatte er sich ohne ihr Wissen auf den Weg gemacht. Kaum aber, dass er die Türe geöffnet und sein Rad zur Türe hinaus geschoben hatte, wollte es das Geschick, dass unter dem Geläut der Sonntagsglocken, die eben zu läuten begannen, der Polizeimeister, der für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Revier zuständig war, auf ihn aufmerksam wurde. An eine Häuserwand an der Straßenecke gelehnt, das Ende seiner Dienstzeit erwartend, stand er da, als Franz aus dem Hausflur trat. Und da der der sonntägliche Verkehr ganz von alleine dahinrollte, so war er auf den etwas verlegen um sich blickenden Jungen aufmerksam geworden.
Eben war der Junge dabei, an ihm vorbeizugehen, als ihn der Ordnungshüter fragte, wohin er wolle. Dabei zog er ihn so dicht zu sich heran, dass der Junge hoch zu ihm aufsehen musste. Umständlich und in mehreren Anläufen, die Pistole des Beamten, die an einem breiten Ledergürtel festgemacht war, als Zeichen seiner Amtsgewalt vor Augen, suchte Franz ihm zu erklären, dass er schon lange vorgehabt habe, seinen Großvater zu besuchen. Der Beamte aber ließ die Antwort nicht gelten. "Kennen wir!" sagte er, "nichts als Lügen!" und fragte dann mit einem eindringlichen Seitenblick, als wolle er Franz warnen, ihm noch einmal eine Lüge zu unterbreiten, nach seinem Namen und nach seiner Adresse. Dabei zog er aus der Innenseite seiner Uniformjacke ein Notizbuch hervor, in welches er, wie Franz annahm, den ihm genannten Namen und die Adresse eintrug. Als der Polizeimeister dann aber noch immer mit dem Aufschreiben beschäftigt war, hatte sich Franz ihm schrittweise entfernt und war ihm dann auf seinem Rad enteilt.
Da radelte Franz nun also dahin, zuerst, indem er noch mehrere Blicke auf den Beamten richtete, der noch immer am Aufschreiben war, dann, indem er es dem Fahrrad überließ, den rechten Weg ausfindig zu machen. Franz staunte, wie lange er gebraucht hatte, als er endlich den Friedhof erreicht hatte. Ein paar Leute versuchten, ihn zum Anhalten zu bewegen. Franz aber wollte sich nicht aufhalten lassen. Und so war er nur immer weiter gefahren, bis zu Beginn der Dämmerung der Stadtwald in Sicht kam. Die Abendwolken, die noch über dem Wald in rotem Glanz zu sehen waren, würden sich nun schon bald mit der Dunkelheit vermischen. Dabei war er doch am Morgen aufgebrochen und war bis jetzt noch kein einziges Mal vom Rad abgestiegen. Nun aber, als er den Eingang des Waldes auf sich zukommen sah, packte ihn die Angst. Lauernd still, wie ein Raubtier, lag er vor ihm, während ihn sein Rad immer näher trug. Besonders zu schaffen machte ihm, was er tun sollte, wenn ihn nun im Wald die Nacht überfiele und er den Ausgang noch nicht erreicht hätte. Gern wäre er vom Rad abgestiegen, sich nach einem Wegkundigen umzuschauen. Wie viel Mühe er sich aber auch gab, Wald und Rad ließen es nicht mehr zu. Wie von einem unbezwingbaren Strudel ergriffen, riss es ihn dahin. Von ein paar Bauern, die noch auf den angrenzenden Feldern mit dem Verbrennen von verdorrtem Kartoffelkraut beschäftigt waren, versuchte er, eine Auskunft zu erhalten. Doch von den Rufen, die zu ihnen drangen, waren kaum beeindruckt. Einige wenige hoben die Köpfe, wie bei einer Herde grasender Rinder, wenn zufällig jemand an ihnen vorbeikommt, um sich dann aber wieder ihren Geschäften hinzugeben. Franz sah die Gesichter noch für ein paar Augenblicke im Schein der rauchenden Feuer, dann aber waren sie auch schon verschwunden.
Ah, wie es Franz jetzt auf den dunklen Wald zu trieb! Etwas wie ein immer lauter werdendes Rauschen und Brausen schien in Gang zu kommen, während die Bäume vor ihm auf die Seite traten. Nun also öffnete sich der Wald. Es war mehr, dass er es ahnte, als dass er es sah. Und dann hatte ihn der Wald auch schon aufgenommen und sich wieder hinter ihm geschlossen. Was hätte Franz nicht alles dafür gegeben, wäre ihm jetzt aus dem Dickicht der längst im Dunkel versunkenen Büsche und Bäume ein zartes sanftes Licht wie eine himmlische Leuchte aufgegangen! Kaum aber hatte sich vor ihm die Frage erhoben, wo ein Nachtlager wäre, auf das er seinen Kopf legen könnte, da erschien ihm auch schon ein Licht. Es war aber kein zartes und sanftes, einladend und tröstlich, es war das flackernde Licht, wie aus einem Augenpaar auf ihn gerichtet.
Nur dass es nichts Gutes war, was da auf ihn zukam, war ihm sogleich klar. Im Übrigen dauerte es eine Weile, bis er wusste, woran er war. Kaum dass er den Lichtschein wahrgenommen, versuchte Franz noch, seine Kräfte zu bündeln und zusammen zu nehmen. Wenn er nur alle Sinne beieinander hielte, konnte er sich auch hier zurechtfinden. Ästen, die sich in den Weg stellten, konnte man ausweichen. Und würde er einem Tier zu nahe kommen, so konnte man sich noch immer wehren. Doch es war kein Tier. Wie ihm nun klar wurde, handelte es sich um ein mit Stämmen hochbeladenes Fuhrwerk, das aus dem Innern des Waldes auf ihn zukam. Das verschaffte etwas Entspannung; Franz kannte ja jetzt das Hindernis und wusste, womit er es zu tun hatte; doch nun galt es auszumachen, wie er an dem Fuhrwerk vorbeikäme. Gesetzt, dass das Fahrzeug keinen Platz ließ und den gesamten Weg einnahm, dann galt es, das Rad rechtzeitig zum Halten zu bringen und ihm zu Fuß aus dem Weg zu gehen. Bot es aber neben sich Platz, so genügte es, sich auf die Vorbeifahrt zu beschränken. Das Beste war es aber, so überlegte er, während die Lichtaugen immer näher rückten, sich auf den schlimmsten Fall zu versehen. In der Tat war an ein Absteigen nicht mehr zu denken. Wie schon vor der Einfahrt in den Wald, trieb ihn das Rad jetzt aber nicht mehr nur vor sich hin, es begann jetzt auch, vielleicht als Reaktion auf seine wütenden Anstrengungen, es zum Halten zu bringen, in die Höhe zu wachsen. Wie einem Ungeübten auf schwindelnder Höhe war Franz zu Mute. Ganz oben musste er sich in der Höhe halten, ohne sich zur Seite zu bewegen, um nur ja nicht den Schwerpunkt unter sich zu verlieren und haltlos in die Tiefe zu stürzen. Wenn er es nur schaffte, sich so lange noch oben zu halten, bis er das Fuhrwerk erreicht hätte, so hoffte er jetzt. Vielleicht dass er dann das Hindernis schadlos überstand, indem er sich dann in dem geeigneten Augenblick von oben auf die Stämme niederließ. Nun aber zeigte es sich, dass es immer schwieriger wurde, die Balance zu halten. Das Fuhrwerk war noch längst nicht erreicht, da begann das Rad zu schwanken. Wenn es auch nicht viel war, so war es doch genug, dass er sich gezwungen sah, mit einer kleinen behutsamen Korrektur einzugreifen. Zog er es nun aber auch nur ein ganz klein wenig nach einer Seite, so löste er durch die Gegensteuerung, wie gering er sie auch vornahm, eine Gegenbewegung aus, die er alsbald schon wieder durch eine neuerliche Gegenbewegung auszugleichen hatte. Kurz, es entstand eine immer stärkere Schwankung, der er gewiss nicht noch länger hätte widerstehen können, als das Fuhrwerk bereits auf Greifweite nahe gekommen war. Ob zu seinem Glück oder zu seinem Unglück: Franz hatte keine Zeit mehr, danach zu fragen. Der alles entscheidende Augenblick war jetzt gekommen. Franz vermochte sich nicht länger mehr zu halten, vielleicht auch ließ er sich fallen. Was aber war dann geschehen?
Wenn Franz auch nicht, hinabstürzend vom Riesenrad als ein schwerfälliger, schwerbeweglicher Käfer erwachte, so bedurfte es doch einer längeren Weile, bis er sich zu Recht gefunden hatte. Er versuchte, sich zu vergegenwärtigen, was sich mit ihm begeben hatte und was geschehen war, konnte aber nicht für wahr halten, dass ihm das alles nur geträumt haben sollte. Schon wollte er sich aus dem Bett heben, um nachzusehen, wer noch zuhause wäre, als er sich dann doch dafür entschied, noch ein paar Minuten im Bett liegen zu bleiben. Schließlich, dessen war er sich gewiss, war er nicht mehr der kleine Franz. Wer mochte es wissen, ob die Eltern nicht vor Entsetzen über seinen Anblick das Haus verlassen hatten und endlich auch die Schwester, um nie mehr wieder zu kommen! Auch von einem Sonntag konnte nicht die Rede sein. Solche Dinge ereigneten sich nicht an einem Sonntag, wie ihm auch das Kalenderblatt unmissverständlich bedeutete. Was ihn anging, so wartete auf ihn die Arbeit im Büro. Da er nun aber schon zu spät ins Büro kommen würde, so kam es jetzt auch nicht mehr auf die paar Minuten an. Besser, wenn er erst aufstünde, nachdem er sich über alles klar geworden wäre und sich erst dann ins Büro begab.
Franz begann nun also, Stück für Stück die Geschehnisse ans Licht zu holen. Wie in ein fernes Land eindringend, das dichter Nebel verdeckt gehalten, jetzt aber unter der Sonne seine Geheimnisse preisgab, versuchte er sich zu erinnern. Durch das Wort des Großvaters war Franz berührt und ergriffen und, wer mochte es wissen, mehr aus dem Haus getragen, als dass er sich dazu entschieden, war alles in Gang gekommen. Dann, vor dem Haus, war er auf den Polizisten gestoßen, der Mann, der aufgestellt war zur Einhaltung von Geboten und Verboten, fast als ob der schon auf ihn gewartet hätte, ihn abzufangen. Franz war an ihm vorbeigekommen. Das traf wohl zu. Aber er war nicht auf ihn zugegangen, um ihn um Rat zu fragen. Etwas anderes musste es gewesen sein, was den Polizisten auf Franz aufmerksam gemacht hatte. In seiner Unvorsichtigkeit und wohl auch in einem Anflug von Angst und Wissbegierde hatte er sich von ihm in Beschlag nehmen lassen. Vermutlich war es verboten, dass Kinder nach etwas forschten. Sodann hatte Franz dem Polizisten auf dessen Frage hin seinen Namen und seine Adresse genannt. Das hätte er wohl nicht tun sollen. Wer mochte es wissen, ob er nicht von da an überwacht wurde. Endlich war er dem Dienstmann davongelaufen. Oder hatte dieser es zum Schluss gar daraufhin angelegt, dass Franz Reiß-aus nähme? Und hatte ihn so zu einem ordnungswidrigen Verhalten angestiftet, aufgrund dessen man ihn von nun an verfolgte? Wenn er jetzt darüber nachdachte, hielt er es durchaus für möglich, dass alles ganz anders gekommen wäre ohne diesen Dienstmann. Später dann war Franz am Friedhof vorbeigekommen. Franz erinnerte sich noch an die 3 Uhr-Glocken, die er bei seiner Ankunft vernommen. Ein paar Leute hatten versucht, ihn zum Absteigen zu bewegen. Doch warum hätte er vom Fahrrad absteigen sollen? Hatte man ihn als einen Ausreißer durchschaut? Oder hatte er die Gelegenheit genutzt und hatte die Friedhofsmauer erklommen, um von da droben Ausschau zu halten und man wollte ihn von weiteren ungebührlichen Handlung abhalten? Beinahe glaubte er sich jetzt dort droben auf der Mauer zu sehen, was jenseits der Mauer zu sehen wäre, während die Leute ihm zuriefen, er solle schleunigst herabkommen. Und dann, was war denn dann geschehen? Hatte man ihn erkannt? Und hatte ihm nicht noch jemand nachgerufen, dass es besser sei, zuhause als Käfer sein Dasein zu fristen als in die Welt hinaus zu rennen und den Kopf zu verlieren? Dann war er weitergefahren. Aber sein Rad war ihm nicht mehr willig geblieben. Gewiss war es zuvor schon seine eigenen Wege gegangen, doch hätte er es im Zweifelsfall ja wohl noch einzulenken vermocht. Franz hatte die Probe versäumt, weil er glaubte sicher zu sein, dass es zu seinem Glück beitrüge, indem es ihn seinem Glück entgegen trug. Erst als der Wald in Sicht gekommen war und er bemerkte, dass er nicht mehr absteigen könnte, hatte ihn der Gedanke zu ängstigen begonnen. Schließlich sah er den Zeitpunkt voraus, wo er würde absteigen müssen, ehe er sich zum Schlafen niederlegte. Soviel indessen merkte er jetzt, dass er spätestens, als er die ersten vergeblichen Anstrengungen unternommen hatte, vom Rad hätte abspringen müssen. Stattdessen aber hatte er sich weiter tragen lassen und war auf diese Weise so schnell geworden, dass jetzt nicht mehr an einen Abstieg ohne ernstliche Verletzungen zu denken war. Franz erinnerte sich ganz genau, wie er alles ausprobiert hatte. Vornehmlich auf den Rücktritt war er mehrere Male gestanden, sowohl mit dem rechten Fuß auf dem rechten Pedal als auch mit dem linken Fuß auf dem linken Pedal, den erwünschten Effekt zu erzielen, hatte dadurch aber die Fahrt nur noch mehr beschleunigt. Vor der Einfahrt in den Wald, war er noch an den Bauern auf den Feldern vorbeigekommen. Was waren das für Leute gewesen? Waren unter diesen nicht ein Mann und eine Frau gewesen, die ihm mit besorgten Blicken nachgeschaut hatten? Und hatte er diese Blicke nicht erkannt als die Blicke von Vater und Mutter? Ja, Vater und Mutter fielen ihm jetzt wieder ein, wenn er diese Blicke bedachte.
Endlich hatte es ihn dann aber in den Wald hinein gezogen. Dass das nächste Dorf gleich nach der Durchfahrt durch den Wald sich zeigen und dass der Großvater dort wohnen müsse, hatte er sich noch eingeredet. Dann aber, bei dem rasanten Tempo, das er inzwischen erreicht hatte, hatte ihn die Sorge ergriffen, dass er auf einen Holzweg geraten sein könne. Und dann, während das Fuhrwerk in der Ferne auftauchte und auf ihn zukam, war ihm das Rad, beim abermaligen Versuch einer Bremsung in die Höhe gewachsen. Noch nie in seinem Leben war er schwindelfrei gewesen. Jetzt aber, während das Rad bald nach rechts, bald nach links schwankte und die Ausschläge größer und größer wurden, hatte er alle Sinne und Kräfte darauf auszurichten, dass er nicht herab stürzte. Unaufhaltsam, seine beiden hellaufgeblendeten Scheinwerfern auf ihn gerichtet, war das Fuhrwerk auf ihn zugekommen, dass die Angst in ihm wuchs, bis er sich danach sehnte, sich hoch vom Rad auf das Verdeck niederfallen zu lassen. An diese letzten Dinge erinnerte er sich allerdings nicht mehr sehr genau. Er erinnerte sich nur noch, wie er sich vorgenommen hatte, sich noch ein Stück weit höher zu schrauben, um dann von oben, etwa auf gleicher Höhe mit den geladenen Stämmen, zur Landung anzusetzen. Doch dann musste es zu einem Zusammenprall oder zu einem Sturz gekommen sein.
Unterdessen war es 12 Uhr Mittag geworden. Die Glocken tönten vom benachbarten Münster, als Franz auf die Straße hinaus trat und sich umsah. Sein Blick fiel auf die Bahnhofsuhr. Wie stolz plötzlich der Turm mit der Uhr vor ihm aufragte! Im obersten Drittel des quaderförmigen Bauwerks hatte die Uhr ihren Platz, weit über die Dächer der angrenzenden Häuser hinausragend. Als hätten Turm und Uhr nur auf Franz gewartet, so standen sie da, in Erwartung, dass sich Franz vom exakten Gang überzeuge. Wie lächerlich, dachte Franz, während er zusah, wie Reisende über die Treppenstufen hasteten! In allen Kleidungen konnte man sie sehen, Männer in bunten Röcken und Frauen in weißen Geweben und von Schleiern umhüllt. Fehlt nur, dass auch noch ein Indianer in unsere Stadt kommt, versuchte Franz sich aufzuheitern. Er musste fast über seinen Einfall lachen. Kaum aber, dass die ankommenden Reisenden auf den Stufen vor der Bahnhofshalle erschienen, winkten sie auch schon dem nächsten Taxi, das sie aufnahm und weiterbrachte.
Als Franz sich abermals umsah, eigentlich nur in der törichten Absicht, zu sehen, ob der Schutzmann aus den Kindertagen noch immer seinen Dienst tat, sah er ihn tatsächlich wieder. Und der Schutzmann sah ihn. Franz hätte gerne gelacht, hätte er nur den Schneid dazu gehabt. Was sollte diese lächerliche, längst verjährte Kinderangelegenheit? Hatte er nicht längst den Weg in die Gesellschaft gefunden und waren es vielleicht nicht nur noch ein paar Tage, wo er aus dem Büro austreten und sich als freischaffender Schriftsteller betätigen würde! Und da beeilte sich just dieser Polizeimann, ihm in die Quere zu kommen?
Der Polizeimann indessen schien das ganz anders zu sehen. Kaum dass Franz an ihm vorbeigekommen war, winkte er zwei Männern. Sie standen an der Ecke, aßen ein Brötchen und waren dabei, sich zu unterhalten. "Dieser Mann", sagte er, sich den beiden Männern zu wendend, nachdem sie sich in aller Gemächlichkeit zu ihm bewegt hatten, ohne sich beim Essen oder in der Unterhaltung einen Zwang aufzuerlegen "dieser Mann steht ab sofort unter Ihrer Kontrolle." Eben in diesem Augenblick geschah es, dass ein Drehorgelspieler die Straße herauf kam, sich zu einem Gassenhauer begleitend. Franz sah noch, wie der Schutzmann mit den beiden Helfern über die Straße eilte, den unbotmäßigen Sänger zur Ordnung zu rufen, dann nutzte er die Gelegenheit und eilte weiter, bis er im Büro eintraf.
Dort aber schien niemand den pflichtvergessenen Spätling vermisst zu haben. Jedenfalls kam es Franz so vor, als er sich seinem Arbeitsplatz näherte. Wenn er seine Kollegen sich ansah, die auf ihren Stühlen saßen und den Vorschriften gemäß ihren Dienst versahen, kam es ihm vor, wie wenn er in einen Gesang miteinzustimmen hätte. Ja, ein unbegreifliches Verlangen wuchs in ihm, miteinzustimmen in das Lied der Arbeit, das immer wieder von neuem zu verkünden und zu bestätigen hatte, dass die Welt in sich stimmig war. Lerne die Ereignisse und Handlungen zu lesen, versuchte Franz sich zu belehren. Je besser du das richtige Lesen erlernt hast, umso besser wird es dir gelingen, alles richtig zu erfassen und niederzuschreiben. Und mögen sich dir auch Blöcke in den Weg stellen, an ihnen lässt sich vorbeikommen. Du musst dich nur nicht scheuen, die Stimmigkeit in der Unstimmigkeit aufzuspüren: die Berechenbarkeit in der Unzuverlässigkeit, die Wohlordnung im Chaos, die Gerechtigkeit im Missbrauch des Übertritts und die Wahrheit im Dunstkreis der Lüge.
Ganz zu beruhigen vermochte er sich damit allerdings nicht. Je ruhiger es um ihn wurde, umso stärker wuchs die Unruhe in ihm. Das wurde auch nicht besser, als er zu den beiden Fensterchen aufschaute. Das waren die beiden Fensterchen, dicht neben der großen Türe, durch die die beiden Direktoren, der Chefdirektor und sein Vice die Arbeiter im Saal zu beobachten pflegten. Auch jetzt, als Franz sich nicht länger mit sporadischen Blicken begnügte, sondern geradezu dreist drauf los schaute, änderte sich weiter nichts, als dass sich das schlechte Gefühl in ihm nur noch verstärkte. Denn selbstverständlich, das wusste ja jeder hier, selbstverständlich schaust du nicht auf die Fensterchen, die Fensterchen schauen auf dich; das ist ihre Aufgabe und daran hast du dich zu halten.
Nun also galt es, zu arbeiten und auf das Dienstende zu warten, oder die Zeit bis zum Dienstende sich durch die Arbeit zu verkürzen, bis es Zeit war, die Arbeit zu beenden. Dann würde er sich gemeinsam mit allen erheben und sich nach Haus begeben. Ja, dann würde sich wohl auch zeigen, ob man ihn, Franz, wegen seines Spätkommens noch herausfischte und zur Rede stellte. Was aber würde er dann sagen, wenn man ihn zur Direktion brächte und dort ausfragte, weshalb er zu spät gekommen? Dass er durch den Wald gefahren war und sich dort verirrt hatte? Sah er nicht bereits den Vice, wie er daneben stehend sich schon den Bauch hielt vor Lachen, weil sich erdreistete, durch ein Märchen für Kinder bei Laune zu halten? Und sah er den Vice dann nicht auch, wie er sich dem Direktor gegenüber ereifert, diesem ohnehin längst überfälligen Schmarotzer die Türe zu weisen!
In der Tat hatte Franz in dieser Gesellschaft für Lebensversicherungen einen Platz als Winkeladvokat bekommen, doch hatte man ihm noch nie auch nur einen kleinen Prozess zur selbständigen Bearbeitung übertragen. Nur um kleineren Formalitäten nachzukommen und Bescheide auszufüllen hatte man ihn beauftragt: weil er kränkelte, wie es hieß, in Wahrheit aber, wie Franz zu wissen glaubte, weil er es in der Gunst der beiden Direktoren, vor allem aber in der Gunst des Direktor Stellvertreters nicht weit gebracht hatte. Dass er mit dem Direktor Stellvertreter nicht auf gutem Fuß stand, wusste keiner besser als Franz selber. Für Letzteren war Franz nur einer, dem man das Gnadenbrot reichte, ob er etwa gewillt war, es sich nachträglich noch zu verdienen, dem man es aber nicht lange mehr weiterreichen würde. Von daher lag nahe, dass die scheinbare Gleichgültigkeit bei seinem Eintreten nichts weiter war, als eine raffinierte Maßnahme, Franz in Sicherheit zu wiegen, um ihn dann nur desto besser zu packen. Dass sich alles hier abgespielt hatte, als wäre weiter nichts geschehen und sein Eintreten wäre unbemerkt geblieben, war mithin kaum undenkbar. Viel wahrscheinlicher war, dass man sich die Zeit nahm und sich den Fall für eine spätere Stunde aufhob. In einer solche, wenn niemand mehr mit einer Anschuldigung rechnete, auch Franz nicht, würde man ihn aus der Bank ziehen und zur Rede stellen. Und der Arbeitssaal würde sich augenblicks in einen Gerichtssaal verwandeln. Und dann würde man den Ordnungshüter, den Polizisten herbeiholen und der würde dann erklären, was für ein Mensch Franz war und wie es mit ihm soweit hatte kommen können.
Als Franz sich jetzt umschaute, war er allein. Unbemerkt unter solchen Gedanken war die Zeit verstrichen und auch die Leute um Franz herum waren, ohne dass er es bemerkt hatte, gegangen. Bis auf den letzten Mann waren sie gegangen. Ebenso wie ihn keiner bemerkt zu haben schien, als er gekommen, so hatte sich auch keiner um ihn gekümmert, als sie gegangen. Ein Gedanke indessen war es nun noch, der sich in ihm zu regen begann und ihn Beschlag nahm: Wie, wenn man ihn eingesperrt hatte und er wusste es nur noch nicht? Gewiss, er konnte sich erheben und sich auf den Weg zur Probe machen. Dann würde er es gleich wissen. Doch warum geht er nicht? Warum bleibt er sitzen und hält sich die Stirn? Scheint es ihm ratsam, sich mit den Eventualitäten im Voraus auseinanderzusetzen, um sich an Stelle einer noch möglichen Hoffnung eine unwiderrufliche Verzweiflung einzuhandeln? Immerhin musste aber doch auch der schlimmste Fall noch lange nicht eingetreten sein, wenn die Türen verschlossen waren. Wie leicht konnte sie die Beschließerin aus Versehen verschlossen haben. So bleibt Franz denn vorerst noch auf seinem Platz sitzen. Auf die paar Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an. Er könnte das Licht einschalten, damit es immerhin noch so aussähe, als wäre er bei der Arbeit. Wie lieb und angenehm ihm eben zuvor noch die Vorstellung war, auch noch die Nacht über im Dienst zu sein: jetzt verzichtet er darauf. Mochte man ihm auch den Vorwurf machen, die Dienstzeit - und die Zeit im Büro war immer Dienstzeit! - mit Außerdienstlichem zu missbrauchen: Der Wahrheit zu dienen schien ihm jetzt besser als dem Büro. Die Wahrheit war aber doch, dass Franz überhaupt kein Zuhause hatte. Vater und Mutter waren doch schon lange tot und auch die Schwester war Gott weiß wohin geraten. Und hatte Franz sich zuvor noch so viele Gedanken gemacht über die Auswirkungen seines Ausbleibens und Zu-spät-Kommens, so drängte es ihn jetzt nicht mehr, zu wissen, was weiter alles geschehen war, mochten selbst die beiden Unbekannten, die der Polizeimeister zu sich gerufen hatten, vor der Türe stehen, um ihn abzuwarten und ihn gefangen zu nehmen!
Franz lächelte, als wolle er die Dunkelheit durch einen Lichtschein erhellen. Doch der Lichtschein verwehte gleich wieder. Nur noch eine Lichtung war übrig geblieben, irgendwo mitten im Wald. Neben ihm sah er das Fahrrad am Boden liegen, längst nicht mehr so groß und so hoch wie damals beim Unfall, und daneben Rauchfeuer, wo Vater und Mutter standen, die auf ihn schauten. Von einem Fuhrwerk aber war nichts mehr zu sehen. Dann aber versuchte Franz, sich alles weitere Denken energisch zu verbieten. "Vermutlich", sagte er sich noch, während er sich vom Stuhl erhob, "vermutlich wird sich nie zeigen, was wirklich gewesen ist. Ehe wir wissen, wer wir sind, sind wir schon wieder verschwunden." Dann machte er sich auf den Weg nach draußen.
Als Pfüdimann sich restlos davon überzeugt hatte, dass seine Frau noch nicht da war, kam er immer langsameren Schrittes über den Marktplatz. Die Stunde des Markts war eben vorüber. Die Händler hatten ihre Sachen zusammengepackt und waren davongefahren. Nur ein paar Bänke und Stellagen, vornehmlich aus leeren Kisten waren noch stehen geblieben, und daneben noch ein paar Tauben sowie einige ärmliche Gesellen mit ihren Hunden, die über dem von Abfällen beschmutzten Boden kauerten und Brotkrumen pickten: gestaltlose Massen, das Elend Gottes auf Erden. Als hätte man auch diese Sippschaft in der Eile zurückgelassen, waren sie noch da, die Hände wie zu ewigem Empfang ausgestreckt, wann immer noch ein Passant vorüberkam. Auf die Frage, weshalb er in die Stadt gekommen, hätte Pfüdimann weiter wohl nichts zu sagen gewusst, als dass es seiner kranken Frau wegen geschehen, als Hilfe für alle Fälle, dass er sie zwar in die Stadt gebracht, sie dann aber allein gelassen, um sie hier wieder zu erwarten; Einkaufen war eben nicht seine Sache.
"Wie sie doch auf uns zukommen und in unser Leben treten, einer nach dem andern", dachte er da bei sich beim Anblick der vielen wildfremden Menschen, die noch immer an ihm vorüberströmten. Wir kennen sie nicht. Aber sie kommen auf uns zu und ziehen an uns vorüber, ein Heer wie vom Wind zusammengewirbelter Leute, mit denen wir mehr oder weniger zu tun haben, während sie an uns vorbeiziehen: Mitschüler und Lehrer, Ärzte und Seelsorger, Gemeindemitglieder und Gemeindeschwestern, Kaufleute und Einkäufer, Handwerker und städtische Bedienstete, Nachbarn, die seit Anbeginn der Welt da zu wohnen scheinen, wie auch solche, die heute einziehen und morgen und wieder ausziehen, schließlich lassen sich selbst auch die Eltern und die Geschwister, die Schwiegereltern und die Schwiegergeschwister dazu zählen, wenn diese sich freilich auch etwas länger in unserer Gegenwart aufhalten. Wie in einem Chaos siehst du dich eingebunden, wie in einem Gewusel statistisch fluktuierender Teilchen, wenn du nur deinen eigenen kleinen Besorgungen obliegst und dich nicht weiter umsiehst. Indessen ist das nicht notwendig so. Es bleibt dir unbenommen, alle die vielen Leute als Personal einer Geschichte zu begreifen, als handelnde Personen in deiner Lebensgeschichte oder als Personal einer Gespenstergeschichte: Kinder von aufstrebenden Zwergen und Nachkommen von zu Grunde gegangenen Riesen, Abkömmlinge von Chemikern, die sich im Goldmachen oder Prinzessinnen, die sich im Erfinden von Schönheitscremen versucht haben, Astrologen, Hochstapler und Taugenichtse, Taschendiebe, Haus-Einbrecher und Bankräuber, Leute, die dir aus dem Weg gehen, weil sie deine Sprache nicht verstehen, und Leute, die sich dir aufdrängen im Dienst eines höheren Wesens, Damen und Herren, die von Geld und Selbstbewusstsein nur so trotzen wie auch Ritter von der traurigsten Gestalt; endlich ist da auch noch das Heer der vielen, die nirgends fehlen und die auf einen Rattenfänger warten. Ja, um Fuß zu fassen auf dieser Bühne, tut Not, etwas Ordnung in das Getriebe zu bringen und dies wiederum kann man zwar versuchen, indem man sich den Wissenschaftlern überlässt, den Soziologen und Politologen und Wirtschaftsexperten, wie auch den Biochemikern und Pathologen, nur dass das nicht genügt, sein Stündchen gelassen zu verbringen. Um auf der Erdenbühne Fuß zu fassen, bedarf es einer Geschichte. Ja einer Geschichte bedarf es da, gesponnen aus festem Zwirn, in dem man selber eine feste Rolle wahrnimmt und die einen so begleitet, bis einem das Licht wieder ausgeknipst wird und alles vorbei ist.
Inzwischen befand sich Pfüdimann ziemlich genau vor der Eingangshalle zum Münster, wo der Brunnen steht mit dem geharnischten Ritter, und wo noch kurz zuvor die Blumenhändler ihre Blumen feilgeboten, jetzt aber die städtischen Putzkolonnen in ihren gelbroten Arbeitsanzügen den Aufräumarbeiten nachkamen: als er plötzlich aus seinen Träumereien erwachte und sich Sorgen zu machen begann, da er seine Frau noch immer nicht sehen konnte. Schon seit drei Jahren war das jetzt ja so, dass er seine Frau begleitete, wenn sie für die Familie Erledigungen tätigte. Wo war sie nur geblieben? Dabei konnte seine Frau schon seit einiger Zeit nicht mehr allein gehen. Sie brauchte seine Hilfe. Nie hatte er das so deutlich gespürt wie eben jetzt, wo er nach ihr suchte und wo ihm klar wurde, dass er sie wieder einmal vernachlässigt hatte. - Endlich, drüben beim alten Kaufhaus war es, in Richtung zum Goldenen Engel, wo er sie entdeckte. Ein paar Leute waren um sie bemüht. Ob sie beim Gehen gestürzt oder ob ihr sonst etwas widerfahren war? Im Nu war Pfüdimann zur Stelle. Und doch, ob auch Sich-zur-Stelle-wünschen und Zur-Stelle-Sein ein und dasselbe waren, so fand er seine Frau nicht vor. Von den Leuten aber, die sich um sie bemüht hatten, wurde ihm bedeutet, er solle Platz nehmen und auf sie warten; sie habe nur noch ein paar letzte, dringliche Besorgungen hinter sich zu bringen. Dabei deuteten sie auf ein in die Hauswand eigelassenes Tor, durch das sie gegangen. Vor dem Tor aber befand sich eine Bank, wo zur Marktzeit Wurstesser mit ihrem Bier gesessen hatten. Einiges Geschirr stand noch herum. Kaum dass Pfüdimann Platz genommen hatte, kamen auch schon eine ältere Frau und ein Mädchen herbei, letztere von der Frau gestützt, die gleichfalls Platz nahmen: die Frau mit dem Rücken zur Hauswand, das Mädchen ihr gegenüber. Die Frau indessen begann sogleich, auf das Mädchen einzureden, sprach von Verpflichtungen den Eltern gegenüber, wobei sie das vierte Gebot zitierte, und reglementierte und kommandierte das Mädchen so sehr, dass Pfüdimann es kaum mitanzuhören vermochte. Zwar hatte er sich schon oft vorgenommen, seiner Geschichtsphilosophie zulieb den Ernst des Lebens möglichst spielerisch zu nehmen: doch hier war es zu viel. "Ich weiß ja", sagte das Mädchen, nachdem es so zusammengestaucht worden, "ich weiß ja, dass mit mir nichts anzufangen ist. Ich bin elend und gemein und gibt man mir einen Auftrag, so führe ich ihn nur schlecht aus. Ich tauge zu nichts, und wenn ich zu etwas tauge, so nur dazu, anderer Leute Brot wegzuessen." Um sich seine Betroffenheit nicht anmerken zu lassen, hielt Pfüdimann die Hände vor das Gesicht. Doch hielt er die Tränen dadurch nicht auf. Peinlich bemüht, sie nicht sichtbar werden zu lassen, stürzten sie nur umso heftiger aus ihm. Endlich, um seine Gemütsbewegung zu vertuschen, streichelte er das Kind. Mit der Hand fuhr er ihm über das Haar. - Wenn nur erst seine Frau wieder bei ihm wäre! dachte Pfüdimann; dann wollte er sie bitten, etwas Geld zurückzulassen, dass in nächster Zukunft hier nicht wieder solche Gespräche geführt werden müssten. Für gewöhnlich hatte er nämlich noch nicht einmal einen Pfennig bei sich.
Im Leben stehend glauben wir an Gott, ist er doch das Leben. Sind wir aber am Ende des Lebens angelangt, allein und auf uns gestellt, so nimmt sich das alles ein wenig anders aus. Da wissen wir selbst mit dem restlichen Leben nur noch herzlich wenig anzufangen, geschweige denn, dass wir es in einer bedeutsamen Arbeit einzufangen verstünden. Welchen Grundsätzen das Leben im Einzelnen folgt, das würden wir bestenfalls erfahren, wenn es vollendet und gestaltet hinter uns läge; nur dass es uns dann nicht mehr gibt.
Mit der Aussicht auf ein noch zu erstellendes oder fertig zu stellendes Werk steht es bei unserem Helden nicht zum Besten. Nicht dass nicht noch das eine und andere Projekt da wäre, das ihn mit Begeisterung und Tatkraft zu erfüllen vermöchte! Es ist auch nicht so, dass er sich dem Elend und der Sinnlosigkeit des Lebens überlassen und zum Schweigen verurteilt hätte. Der Wille indessen lässt nach wie auch das Wissen, das allgegenwärtig ist und sich in ihm längst schon verselbständigt hat, dass er nämlich allein ist und niemanden mehr da ist, dem mitzuteilen sich lohnt. Was also will er denn, wenn er sich morgens an den Tisch setzt oder, besser gesagt, wenn er sich zum Schreiben zwingt? Geist und Seele sind ihm müde geworden. Sie wollen nicht mehr. Und wenn man sie auch mit den schönsten Zeugnissen der menschlichen Kultur verlockte, die ihm einst so bedeutsam gewesen, jetzt bedeuten sie ihm kaum mehr, als dass sie ihn daran erinnern, dass ihm das Allerbedeutsamste fehlt. Noch ehe die Sonne auf ihrer Bahn den Meridian erreicht hat und sich dem Abend zukehrt, ist er meist schon so müde, dass er sich der eigenen Beaufsichtigung entzieht und zu einem Schläfchen niederlegt. Und geschah es früher auch häufig, dass man ihn auch noch am späten Abend unter einer Lampe sitzen und arbeiten sah, so späht man jetzt vergebens danach aus. Um 21 Uhr spätestens, oftmals aber schon um 18 Uhr steht er da und, indem er sich am Ohr packt, hören wir ihn sich fragen: "Was fangen wir nun mit dir an? Ins Bett dich zu stecken ist wohl noch etwas zu früh, auch wenn es jetzt, in der Winterzeit, bereits dunkel geworden ist. Du würdest uns ja nicht einschlafen, sondern dich nur von einer Seite auf die andere wälzen. Womit indessen wecken wir noch dein Interesse? Zum Lesen dich zu verdonnern ist wohl nicht weise und verrät keinen guten Ausweg, zumal, wo du das Buch, selbst wenn es zu deiner früheren Lieblingslektüre zählte, nach 10 Minuten schon wieder zugeklappt hättest. Vielleicht dass wir dir eine Platte auflegen und dir vorlesen lassen von dem, was du vor Zeiten deinem Weibchen vorgelesen hast?"
Doch auch das geht nicht gut. Nur allzu leicht geschieht es, dass es ihn daran erinnert, dass niemand mehr im Zimmer ist und zusammen mit ihm hört. Vielleicht wenn unser Held den Roman der noch auf ihn wartenden Lebenstage aufgeschrieben vor sich hätte und zuhören könnte, was ihm die Zukunft noch bringt und was dann noch alles geschieht?
Was für ein Roman aber könnte das sein? Eine Art Lebens- und Bewährungsreise nach Art des Heliodorschen Romans von Theagenes und Charikleia oder eine Reise mit Mühen und Prüfungen, wie sie Cervantes in seinem Persilesroman versucht hat? Doch nein, das ist es nicht, was ihn zufrieden stellen könnte. Längst ja liegt die Welt der Leiden und der Läuterung hinter ihm. Mit dem Weggang seiner Geliebten ist ja auch der Roman ihrer gemeinsamen Pilgerschaft zu Ende gegangen. Eher ließe sich an einen Traum denken, der unseren Helden ereilte und der ihn in Stand setzte, das aufzuschreiben, was ihn erfüllte. Und freilich würde es etwas sein, was ihm den Eindruck vermittelte, immer näher zu seiner Liebsten zu gelangen. Oder ist unsere Seele nicht vornehmlich im Traum zu stillen und sind nicht Berufungen und Vorfreude Gegenstände Erfüllung verheißender Träume? Im Gegensatz zu allen herkömmlichen Romanen müsste dieser Roman die Stufen der Vorbereitung und Läuterung, die Stufen des wachsenden und zusammenschrumpfenden Schlosses überwinden oder überspringen, um sich, je näher er der Vollendung käme, in immer herrlicheren und grandioseren Dilatationen zu entfalten. In Siebenmeilenstiefeln, gleich nach dem Prolog, sähen wir dann unseren Helden sich auf den Weg machen. Die Tore der Stadt würden sich auftun und die Liebste würde ihm aus der Ferne erscheinen. Was immer zuvor als bittere Trennung und schreckliche Grenze erschienen, würde sich nach und nach ins Gegenteil verwandeln. Ja, was ihn zuvor noch als schmerzliche und nie fassbare Flucht der Zeit, als ewiges Nimmermehr, gequält, würde nach und nach weggewischt und wäre vergessen. Mütterchen würde er wieder in Händen halten, nicht mehr krank, sondern munter wie damals, als sie noch in der Lage waren, aufeinander zuzueilen, um dann, nicht minder munter, Hand in Hand durchs Tor des Todes zu verschwinden.
Wie bei einem das Leben enthüllenden, uns tief erfüllenden Traum müsste der Roman in unser Innerstes eindringen. Achtlos Achtgebend, zuversichtlich wie an der Hand der Mutter, der Begleiterin auf dem Weg zur Liebsten, müsste sich vor unseren Augen die Zukunft entfalten. Hätten wir auch viel zu glauben, so würden wir im Traum doch zugleich auch sehen, und da wir an der Hand der Mutter, der Begleiterin auf dem Weg zur Liebsten gingen, so ginge alles, was immer wir sehen, noch lebendiger in uns ein als das sicherste Wissen. Zwar wäre ich noch ich, doch löste ich mich zugleich auch schon auf in eben diesem größeren Ganzen. Und mehr und mehr würde ich erkennen, dass es schon einmal so war, in jener Zeit, als die Liebste auf mich zukam. Und dann würde alles Weitere geschehen, fast spontan, sodass ich mich singen hörte:
Wär ich nicht Du und Du nicht ich,
ganz sicherlich gäb es uns nicht.
Doch weil in dir ich bin geliebt,
es auch in mir dich, Liebste, gibt.
Doch was zögern wir noch? Liegen die auf uns wartenden Lebenstage nicht schon wie die Seiten eines Romans aufgeschrieben vor uns und können wir nicht von Tag zu Tag hören und sehen, was uns die Zukunft bringt und was noch alles geschieht? Soviel wissen wir ja auch schon, dass uns ein jeder Tag ein Stückchen näher bringt, kennen wir auch den Roman im Einzelnen noch nicht. Dann aber wäre auch das Ende der Pilgerschaft gekommen.
Wenn die Mutter uns Kinder fragte, ob wir nach draußen gehen wollten, einerlei, ob es am Morgen war oder am Abend und ob es stürmte oder die Sonne schien, und wenn sie uns dann bei der Hand fasste und die Türe flog auf und wir, mit leuchtenden Gesichtern, nach draußen sprangen, war bereits ein Schönstes im Gange. Jetzt im Nachhinein will mir scheinen, als ob uns mit der Mutter das Leben gerufen hätte, bei ihm zu Gast zu sein. Die Mutter, im blühenden Alter eines zur Reife gelangten Mädchens, war ja fast selber noch ein Kind, zumal wenn sie mit uns spielte. Alles was in ihre Nähe kam, wurde kindhaft: der Garten, und die Bäume im Garten, der wolkendurchzogene Himmel darüber, die Blumen und das Gras. Ja, wenn sie mit uns durchs Gras sprang, schalkhaft und übermütig, schien fast auch das Gras schalkhaft und übermütig zu werden. Einmal meinte ich gar, es wechselte seine Farbe und leuchte in Violett, doch das war nur für einen Augenblick, im Widerschein der untergehenden Sonne.
Wie viele Spiele spielten wir damals nicht miteinander! Eines dieser Spiele war ein Versteckspiel. "Äugli, Bützeli, Gärtli" nannten wir es, weil mit diesen Worten das Sprüchlein begann, das der Sucher laut aufzusagen hatte, ehe er mit dem Suchen beginnen durfte. Ah, wie wir da sprangen, wenn der Sucher mit fest verschlossenen Augen, das Gesicht an den Stamm des Mirabellenbaums gelehnt, sein Sprüchlein abhaspelte! Wie um unser Leben eilten wir davon, uns zu verstecken. Kein Baum, kein Strauch, der uns dabei nicht zugeschaut und schalkhaft seine Äste über uns geschüttelt hätte. Selbst der alte Komposthaufen hinter der Gartenhütte schien sich über uns zu amüsieren. Da saßen wir dann in unseren Verstecken, kauerten uns zusammen und warteten. Und kam dann der Sucher in unsere Nähe, so pressten wir die Augen zu, weil wir Angst hatten, uns zu verraten, wenn wir ihn anschauten. Unsere Herzen aber hörten wir dann verräterisch pochen, als müssten sie zerspringen. Am liebsten war uns allemal bei diesen Spielen, wenn die Mutter auf unserer Seite war. In welche Richtung sie auch ging, in diese Richtung gingen auch wir. Und wo sie sich versteckte, dort versteckten dann auch wir uns. Duckte sie sich aber nur ins Gras, so taten wir ebenso. Das war freilich oftmals komisch. Zumal wenn der Sucher näher kam, sah er von der Mutter oft nichts als einen großen Rücken und von den sie umgebenden Kindern kleinere und immer noch kleinere Rücken. Ihr rot-weiß-gemustertes Kleid war wie ein Schneckenhaus, das aus der Wiese heraus ragte. Geduckt, ohne sich zu regen, nur mit dem Rücken über dem hohen Gras. Doch war sie es auch wirklich? Hatte man ihr Gesicht noch nicht gesehen, so schlug man zwar schon an, doch war damit eigentlich noch nichts bewiesen. Erst wenn man sie anschaute und man von ihr angeschaut wurde, war sie endgültig von uns gefangen.
Eines Tages, nach langer Zeit, vielleicht waren auch Jahrzehnte vorüber gegangen, da geschah es, dass wir wieder Versteck spielten, Mutter und ich. Von den übrigen Kindern aber war keines mehr zu sehen. Mutter hatte sich versteckt und ich hatte zu suchen. Da lag sie wieder da, inmitten der Wiese, den Rücken aus dem Gras gehoben. "Mutter", sagte ich leise, als ich sie endlich aufgefunden hatte, "Mutter, was machst du da?" Dann stand ich neben ihr. Noch immer kam sie mir so jung vor wie damals. Wann auch hätte die Mutter Zeit gehabt, zu altern? Wie damals suchte ich auch jetzt nach ihrem Gesicht, um sie dann gefangen zu nehmen. Je mehr ich mich aber bemühte, von ihr gesehen zu werden, umso mehr schien sie es mir zu entziehen. Als hätte sich ihr Gesicht verdüstert, waren es immer nur kleinere Ausschnitte, deren ich habhaft wurde. Vornehmlich kleiner Gramfalten wurde ich gewahr, die wie Tränenkanälchen von den Mundwinkeln zum Kinn hinabliefen. Als ich von ihr abließ und mich aufrichtete, sah ich plötzlich, wie ihr eine Schnecke über das Gesicht kroch. Es war eine Nacktschnecke mit einem Riesenkopf und zwei monströsen Fühlern. Alles an der Schnecke war weiß. Selbst der Schleim, den sie abgesondert hatte, war weiß, wie Deckweiß, wenn es aus dem Farbkasten kommt. Ich hatte die Schnecke kaum gesichtet, da sah ich auch schon über Mutters Gesicht quer über die kegelförmig verschlossenen Augen eine unauslöschliche Spur. Entsetzt lief ich davon.
Von nun an wusste ich, dass wir uns nicht mehr im Garten der Kindheit aufhielten und dass es für uns das heitere Eden nicht mehr gab. Nur noch die kummerbelastete gespenstisch bedrückende Erde war übrig geblieben; und aller Sinn und Zweck des zuvor so zweckfrei beglückenden Daseins war von nun an, die Erde aufzupflügen, um das Leben zu fristen und das Gesicht des darunter verborgenen Tartarus zum Vorschein zu bringen.
Dass man nicht auf die Welt kommt, um das Leben zu verschlafen, davon waren der Großvater und die Großmutter zutiefst überzeugt. Und wenn Großmutter auch viele Jahre bis ans Ende ihres Lebens keinen Schritt mehr hatte gehen, ja sich nicht einmal mehr auf den Füßen halten können, so hatten sie zusammen in den Geschichten der alten Helden einen Ersatz gefunden, in denen sie lasen, um aus allem das Beste zu machen. Ja, wie die Kinder hielten sie daran fest, dass alles einen guten Abschluss fände. Nun aber, nach Großmutters Tod, Großvater nannte sie stets sein Mütterchen, war aus dem Anwesen, in welchem sie gelebt hatten, ganz plötzlich ein weitläufiges, ebenso unfertiges wie unergründliches Riesengebäude geworden. Dabei war nicht zu verkennen, dass es sich einmal um ein gigantisches Projekt gehandelt haben musste, begonnen und durchgeführt mit allem nur erdenklichen, den Zeiten trotzenden Material, als ein Monument für Zeit und Ewigkeit. Nun aber waren nicht einmal mehr ein paar Wohnzimmer zu sehen. Unbewohnt, ja unbewohnbar und leer, standen die Stockwerke mit ihren verzweigten Gängen, und wo früher einmal Aufzüge behilflich gewesen sein mochten, gähnten jetzt nur noch hohle Schächte. Sämtliche Etagen glichen jetzt nur mehr noch den Decks von Riesenkriegsschiffen, die man einmal zu bauen begonnen hatte, um allerlei Frachtgut über die hohe See zu transportieren, die jetzt aber, auf Grund gelaufen, nur mehr noch dastanden, um von Sturm und Wogen durchpeitscht und überspült zu werden. Da stand nun also der Großvater, mutterseelenallein und schaute sich um. Plötzlich, ganz in der Nähe, sah er auf einem Armaturenbrett ein grünes Licht aufleuchten. Ihm war, als müssten nun gleich Maschinen ihre Arbeit aufnehmen. Und Leute würden herbeikommen, um ihn aus dem Gebäude zu vertreiben. Einen von diesen hörte er auch schon zu den Umstehenden sagen, beinahe als wollte er sie dadurch beschwichtigen: "Jawohl, sie gründeten Städte mit festen Mauern und hohen Häusern. Alle diese Gründungen aber erwiesen sich von kurzer Dauer. Wiewohl sie für die Ewigkeit gegründet wurden, sanken sie schon beim ersten Angriff der Feinde dahin. Und statt Städte zum Leben zu errichten, schaufelten sie sich nur Stätte für den ewigen Schlaf." Wie sehr sich der Großvater aber auch bemühte, den Sprecher mitsamt den ihn Umstehenden ausfindig zu machen, so sah er doch keinen.
Es war an einem späten Abend im August. Die schmale Mondsichel war schon lange nicht mehr zu sehen und in der dunklen Nacht waren die Pappeln am nahen Ufer nur noch wie eine einzige zusammenhängende dunkle Masse zu erkennen. Auf der Terrasse waren wir gesessen, eine Gruppe ähnlich gesinnter, streitlustiger Gesellen, und hatten uns unterhalten: zuerst zwanglos, wie es der Augenblick uns eingab, dann, indem wir uns den Helden der Vorzeit zuwandten, deren Sternbilder nach und nach zum Vorschein kamen.
"Was für ein Leben", hatte da einer von uns ausgerufen, "was für ein Leben gedachten diese Helden denn zu erleben? Wozu zogen sie aus? Und wozu machten sie sich auf den Weg? War es ein alltägliches, gewöhnliches Leben oder nicht ein staunenerregendes, ungewöhnliches, durch große Taten ausgezeichnetes, des Erzählens wertes Leben? "
Daraufhin hatten wir uns dem Menschen der Neuzeit zugekehrt. Über das Recht auf Individualität hatten wir gesprochen, über die Suche nach Identität, über das persönliche Selbst und was für große Taten man heute noch mit seinem Leben erreichen könne.
Endlich hatte einer die Frage erhoben, ob sich der moderne Mensch nicht maßlos überschätzt habe und ob nicht tief in uns noch immer der Geist des Gebens und des Nehmens herrsche, dergestalt, dass jedem Fortschritt ein nicht minder großer Rückschritt folge? Ja, dass wir alle noch immer den Tod zu bezahlen hätten als eine Schuld, nämlich als Gegengabe und Preis für das Leben? Wer lebt, und wäre er ein Gott, so müsste er das Leben mit dem Preis des Todes bezahlen. So hatte er gesagt. Das aber hatte dann eine heftige Debatte ausgelöst. Einer von uns hatte spöttisch bemerkt, da könne man ja dann sein eigenes Sterben zum Loblied veranstalten auf den Bruder Tod.
Unter solchen Auseinandersetzungen war die Mitternacht herangekommen. Ein paar von uns machten nun den Vorschlag, zur Versöhnung und Beruhigung der Gemüter noch eine kleine Bootsfahrt in die Nacht hinaus zu unternehmen. Noch nie sei die Stimmung günstiger gewesen als eben jetzt. Denn wenn sich inzwischen auch Wolken vor die Sterne geschoben hatten, so gluckste es doch einladend aus allen Ecken und Löchern, als wäre jetzt nichts erquicklicher als eine Fahrt hinaus in die milde Nacht. Und so begaben wir uns denn zum Gartenhaus hinunter, in dem sich unsere alte Arche befand. Nachdem wir das Boot herausgeholt hatten, trugen wir es zum Kai und ließen es ins Wasser. Dann traten wir selber hinein, setzten die Segel und fuhren davon.
Wir hatten noch nicht lange vom Ufer abgestoßen, da befanden wir uns bereits weit draußen im Meer. Alles schien wundervoll belebt unter der hellgrau schimmernden Wolkendecke. Das leise gurgelnde Kielwasser wie auch die Wasserspritzer, die gegen die Bootswand anprallten, verstärkten noch die Stille, in die wir uns hatten eintauchen lassen. Plötzlich aber kam Land in Sicht, ein Stück einer Insel rückte näher und dann hatten wir auch schon das Ufer erreicht.
Auf der Landebrücke begegneten wir einem jungen Mann. Zumal da noch keiner von uns hier gewesen, so staunten wir nur doppelt, als er uns erklärte, dass wir auf der Insel Aia gelandet, wo eben eine große Ausgrabungskampagne stattfinde, dass das Meer hier sehr unbeständig sei und die Strömung unberechenbar, und dass es, wenn nur ein wenig Wind und Wetter hinzukämen, ganz und gar unmöglich sei, mit einem so armseligen Boot wie dem unseren hier zu landen. Wie zum Beweis forderte er uns auf, ihm zu folgen. Einen steilen sandigen Pfad ging es bergauf. Bergseits waren Pfosten in den Boden gerammt, mit Seilen verbunden, an denen man sich festhalten konnte. Wir hatten die Anhöhe noch nicht erklommen, da sahen wir ein großes Zelt. Dort aber trafen wir auf einen Mann, den man uns als den Leiter der Kampagne vorstellte. Er war eben dabei, eine Schar junger Leute zu entlassen. Er umarmte einen jeden von ihnen, drückte ihn fest an seine Brust, um ihn dann, wie uns schien, ins Dunkel hinaus zu stoßen. Als er alle auf diese Weise verabschiedet hatte, hieß er uns willkommen und führte uns ins Zelt. Dort befand sich die Frau des Leiters. Sie war mit einem Haufen Scherben voller Keilschriftzeichen beschäftigt. Der Leiter, offenbar der Meinung, wir seien als Mitarbeiter gekommen, bat sie, uns mit den Aufgaben der Kampagne bekannt zu machen. Die Frau tat, wie geheißen. Nachdem sie uns einen Mocca gereicht hatte, zeigte sie uns einige Bilder, die von den Fahrten der großen Helden des Altertums erzählten. Sie begannen mit dem Abschied des Odysseus von Penelope, wobei sie uns darauf aufmerksam machte, dass Odysseus seine Frau am Handknöchel gefasst habe, was, wie sie sagte, eine Geste sei, womit sich altorientalische Gottheiten als Beschützer ihrer Schützlinge auswiesen. Dann hob sie eine Zeltplane und zeigte nach draußen. Im Feuerschein, neben einem großen Ruder, sahen wir Leute, die dabei waren, ein Grab oder einen Graben auszuschaufeln. Den Berichten nach sei Elpenor im Weinrausch vom Dach hinabgestürzt und habe sich dabei das Genick gebrochen; das könne zwar der Fall sein; es bestehe aber der dringende Verdacht, dass Odysseus das Blut des Elpenor als Preis für den Eintritt in die Unterwelt gespendet habe. Unruhig und eher zufällig, als dass sie selber bei der Sache gewesen wäre, hatte sie das alles vorgetragen. Nun aber bat sie ihren Mann, er hatte derweilen in einer Ecke des Zelts vor sich hin gedöst, sich aufzuraffen und uns noch rasch zur letzten Inspektion mit nach draußen zu nehmen. Es sei an der Zeit.
Es stellte sich nun heraus, dass sich noch weitere Leute da draußen aufhielten. Alle waren sie auf irgendeine Art dabei, sich auf eine gewisse sportliche Weise zu ertüchtigen. Ihre Übungen erweckten indessen den Eindruck, als ob hier Leute am Werk wären, die sich zu Gespenstern ausbildeten. Als ob sie nicht wüssten, dass man das Gleichgewicht verliert, wenn man sich zu sehr nach hinten beugt, versuchten sie immer wieder, die Luft wie einen Sessel zu verwenden, ohne auch nur ein einziges Mal der Erdschwere zu widerstehen. Nach ihrem Fall aber saßen sie meist noch eine Weile still auf dem Boden oder sie schauten auf zum Leiter mit verzweiflungsvollen Gesichtern. Der aber ermahnte sie, nicht abzulassen in ihrem Bemühen. Es seien Adepten, die sich vorbereiteten auf die große Fahrt, sagte er dann zu uns. Unterdessen waren wir zu einer anderen Gruppe gelangt, die ähnliche Übungen machte wie die vorigen, jetzt aber an einer schief stehenden Leiter. Von verschieden hohen Sprossen aus beugten sie sich nach hinten, fast als wollten sie sich von der Leiter abstoßen, um rücklings durch die Luft zu schwimmen. Wie sie es aber auch anfingen, stets endeten auch hier alle Versuche im Sand. Wir waren schon dabei, zum Zelt zurückzukehren, als wir noch auf einen trafen, der abseits von den anderen, allein für sich übte. Wiewohl uns der Leiter rasch daran vorbei hatte führen wollen, hatte ihn einer von uns entdeckt und war auf ihn zu getreten. Wir waren nicht wenig erstaunt, als wir beim Näherkommen bemerkten, dass der besagte Turner noch ein Kind war. Hauchdünn und in die Länge gewachsen schien es seine Statur durch die Turnübungen erzwungen oder sich ihnen angepasst zu haben. Es sah gespenstisch aus, wie er nur noch mit den Schuhsohlen eine Leitersprosse berührend sich mit leichten Armschlägen wie ein Schwimmer in der Luft hielt. Seine Kunst war wirklich atemberaubend.
"Vater!" sagte der Junge, als wir ganz nahe herangekommen waren, "warum hast du mich nicht ausgeschickt? Bin ich nicht schon soweit?" Der Leiter aber gab ihm keine Antwort; vielmehr zog er den Mantel vors Gesicht, wandte sich ab und hieß uns, ihm zu folgen. Wir hatten schon fast das Zelt wieder erreicht, da gelangten wir noch an eine Stelle, von wo aus wir das Meer auf der anderen Seite der Insel sehen konnten. Unten fuhr eben ein Segelschiff aus einem Hafen. Im schmalen Licht eines der benachbarten Leuchttürme glaubten wir, die Bugwellen zu sehen, die es hinter sich herzog. Es waren aber die scharfen Wellen, die der bereits landeinwärts stürmende Wind emporhob. Auf dem Schiff seien die Leute, die er verabschiedet habe, sagte der Leiter, während er ihnen zuwinkte. Es war aber kein beherztes frohes Winken. Auch war es viel zu dunkel und das Schiff zu weit entfernt, als dass ihn jemand von dort hätte sehen können. Jeden Monat, so fügte er dann noch hinzu, werde er nun ein Boot mit Leuten entlassen, auch wenn sie bei weitem nicht genug geschult und ihrer Aufgabe nicht gewachsen seien.
Endlich, ganz in der Nähe, sahen wir wieder die Frau, wie sie uns entgegeneilte. "Lebt er noch?" fragte sie. Der Leiter nickte, was sie sogleich in eine Tafel eintrug, die sie bei sich hatte. Es war aber zu dunkel, als dass wir hätten lesen können, was sie im Einzelnen aufgeschrieben hatte. Nur Tränen sahen wir noch, die ihr wie Perlen über die Wangen rollten.
Blicken wir hinaus auf das Meer der Menschheitsgeschichte, so will uns scheinen, dass die Menschen über weite Zeiträume hinweg an übermächtige Wesen geglaubt haben. Die Götter in der Antike standen den Menschen zweifellos näher als uns heute, was sich schon daraus ergibt, dass kein bedeutsamer Schritt des Menschen ohne ihre Leitung gedacht zu werden vermochte, zumal da man sie sich gern auch als unter den Menschen befindliche, in Menschengestalt wandelnde Wesen dachte. Was sie gegenüber den Menschen auszeichnete, war neben der ewigen Jugend und Unsterblichkeit vor allem ihre furchteinflößende Macht. Seine Macht ist am größten, heißt es bei Homer von Zeus. Und ähnlich sprach man sich bei den andern Völkern über deren Hochgötter aus, dass man sie sogar bei der Erschaffung des Kosmos am Werk sah.
Im Aufbruch der Mathematik und der Naturwissenschaften wie auch im Hochgefühl der ersten wissenschaftlichen Ergebnisse fand es der Grieche apart, den Gott als Wissenschaftler, insbesondere als Geometer und als Astronom zu begreifen. Und so verkündete er stolz, der wahre Gott treibe Geometrie, sodass man umgekehrt, wenn man diese Wissenschaften trieb, dem Tun der Götter auf die Spur kam. In diesem Zusammenhang breitete sich auch die Vorstellung eines die Welt planenden und entwerfenden Gottes aus. Hatte zuvor der Schöpfergott wie ein Herrscher seine Befehle zur Erschaffung der Welt erteilt, so war es nun ein vor aller Schöpfung tätiger Heiliger Geist (Nus-Theos), der dem Demiurgen den Weg wies. Diese Ansicht von Gott als einem Naturwissenschaftler und Geometer ist noch heute in vielen Köpfen zu Haus, zumal, wenn es darum geht, die Existenz Gottes nachzuweisen. Denn wenn auch kein Mensch mehr glaubt, ihm irgendwo im All, geschweige denn in Menschengestalt zu begegnen, so verstummt doch das Gerede nicht, ihn in einer höher dimensionierten Welt für möglich zu halten, sodass wir ihn zwar nicht sinnlich wahrnehmen oder sehen können, wohl aber er uns. Hier aber stoßen wir auf eine der grundlegenden Fragen der Theologie, ob die Naturwissenschaften grundsätzlich und überhaupt etwas zur Gottessuche beitragen können oder ob wir die Wahrheit Gottes nicht als eine uns prinzipiell verschlossene, transzendente zu verstehen haben. Auch das Erforschen durch Raum und Zeit lieferte uns dann bestenfalls Spuren zum Beginn, dem wir uns auch auf dem Weg in die Zukunft nähern könnten.
Ist nun die Frage nach einem Schöpfergott und nach einem Geschichtsgott für den Gott des Alten Testaments unauflösbar verknüpft, gehören also Natur, Geschichte, Mensch und Gott zusammen, so zählt für uns, sofern überhaupt Gott noch für uns zählt und wir ihn nicht ins Reich der Fabel verbannt haben, nur noch die Frage nach einem Zusammenhang zwischen Gott und Mensch für eine nachkosmische Zeit.
Als Sokrates behauptete, der Mensch müsse sich um Wahrheit und Gerechtigkeit und überhaupt um die beste ihm mögliche Selbstgestaltung bemühen, war die Stunde der moralischen Gottheiten angebrochen. Da war kein Raum mehr für eine Athene als Raub- und Beutegöttin oder für einen Hermes, den Gott der glatten Lüge und des feinen Betrugs. Allenfalls dass man für das Staatszeremoniell noch einen Schrecken einflößenden Wetter- und Kriegsgott brauchen konnte. Heute scheint es uns würdig und recht, dass wir einen Gott an der Spitze des Kosmos eher als abstraktes Prinzip zu verehren gelernt haben, denn als einen Scharfrichter der Menschheit. Längst ja bauen wir selber so schreckliche Waffen, dass uns das Führen von göttlichen Waffen eher peinlich berührt. Was auch sollte das bedeuten, wenn ein Gott uns mit Blitz und Donner, ja auch wenn er uns Einschlägen von Meteoriten, mithin mit Atombomben der tausendfachen Sprengkraft drohte, wo wir schon an einer einzigen herzlich genug haben? Auch die Gottheiten, die schützend über jeder Empfängnis und jeder Geburt wachten, haben ausgedient. Die moderne Hebamme, umgeben von technisch ausgefeilten Messgeräten und Monitoren, weiß Bescheid. Oder kann es ein Gott noch wagen, auch nur einen kleinen Wasserstau vorzunehmen wie beim Auszug der Israeliten aus Ägypten, wo wir das Wasser fast nach Lust und Laune stauen, die Aufklärung uns aber im Übrigen jedes Wunder als Verstoß gegen die gültigen Gesetze der Natur verächtlich gemacht hat? Ist es nicht peinsam geworden, auch nur noch das Wort "Wunder" in den Mund zu nehmen, geschweige denn, sich daran zu machen, etwas als Wunder zu erweisen? Und sollte es ein allmächtiges Wesen geben: folgt daraus etwas anderes als eine totale göttliche Bedürfnislosigkeit, ein Desinteresse an Mensch, Geschichte, Natur und All, wie sie schon einmal in der Schule des Epikur geäußert worden? Ja des Teufels möchte man werden, sofern es einem der noch übrig gebliebenen Theologen gelingen sollte, uns zu beweisen, wozu die göttliche Allmacht gut sein soll, es müsste denn noch eine ganz andere, aller Physik entrückte Welt geben. Aber selbst der Gedanke an Gottheiten, die sich leibhaftig und personal ansprechbar in unserem Raum-Zeit-Kontinuum aufhalten, scheint uns eine Unmöglichkeit geworden, nachdem wir das All bis an seine letzten Grenzen erkundet haben. Gesetzt, es gäbe unabhängig und außerhalb des Menschen einen Herrn aller Dinge, der allweise ist und allwissend und allmächtig, und der länger währt als Sonne und Mond: was sollte der mit dem Menschen anfangen?
Setzen wir den Fall, wir wären bestimmt als Vordenker des lieben Gottes! Was würden wir tun? Doch nein! Vorab wollen wir feststellen, dass wir niemals der liebe Gott sein wollten. Ein kleines Kind, zumal ein Mädchen, mag sich geschmeichelt fühlen, wenn man es lieb nennt. Schon ein Junge aber hätte da seine Bedenken. Man will doch nicht lieb sein. Lieb-sein, das bedeutet, auf nichts anderes zu warten, als nach der Pfeife anderer zu tanzen. Das fehlte noch, dass einem jedermann sagen dürfte, was man als Gott zu tun hätte! Vollends schwachsinnig wäre es, ich baute der Menschheit ein Paradies und ließe sie da hinein. Das fehlte noch, dass sie, kaum dass sie da drinnen wären, zu nörgeln und zu murren begännen, wie es doch der Fall zu sein pflegt, wenn sich die Menschen erst einmal irgendwo eingewöhnt und eingenistet haben. Oder sollte ich den Menschen zulassen als eine Art Spielzeug, damit ich etwas hätte, worüber ich mich amüsieren könnte, ohne genötigt zu sein, einzugreifen, ähnlich wie wir uns amüsieren, wenn wir uns abends vom gemütlichen Fernsehsessel aus das Leben der Tiere in der Wildnis betrachten? Kaum scheint mir ein solcher Gedanke verlockend. Wär ich ein Gott, sagen wir, mit nicht unbeschränkter Allmacht, ein Gott mithin, der z.B. den Menschen als evolutive Sackgasse der Natur zu respektieren hätte, so würde ich zuallererst sorgsam darauf achten, dass mir nur keiner von ihnen zu nahe käme. Gleich in der ersten Sekunde meiner Planung würde ich mir ein solches All ausdenken, dass keiner mich fände. Die Geometrie des Alls wollte ich so zum Labyrinth ausbauen, dass sich auch der allerklügste Geist noch darin verirrte! Und wenn der Mensch das ganze All durchforstete, so sollte er stets zur hintersten Ecke zurückkehren, ehe er eine Spur von mir entdeckte. Selbstverständlich würde ich auch auf jede Form von Anbetung aufs innigste verzichten. Wenn sich Jungmänner und Jungfrauen in Kirchen versammelten, um sich auf feine Weise dabei kennen zu lernen, hätte ich nichts dagegen. Doch brauchte ich keine lautstarken Vorbeter, keine mit Vollmacht ausgestatteten Bischöfe, keine ihres hohen Ranges bewussten Kirchenlehrer noch auch entsprechende Scheinwelten von Bischöfinnen, Päpstinnen und Kirchenlehrerinnen.
Doch was schwätzen wir da! Vermutlich gelangt von den ewigen Wahrheiten nie etwas in unser Ohr, weder auf dem Weg geschichtlicher Offenbarungen noch auf dem Weg wissenschaftlicher Arbeit. Mögen die Mathematiker auch noch so herrliche Theorien erfinden und Physiker dazu passende grandiose Dinge nachweisen, was in das Organon unserer Sinne gelangt, erweist sich als kaum mehr denn als Lärm und Theater.
Wie ruhig es ist, wie gespenstisch ruhig, nun nachdem die ganze Nacht über wilde Stürme über das Land gegangen! Als läge Sodom und Gomorrha endgültig verschüttet und die Welt wäre untergegangen! Niemand zeigt sich auf der Straße. Selbst der Nachbar, der ansonsten unentwegt draußen im Hof oder im Garten etwas zu besorgen hat, hat sich in sein Haus zurückgezogen und mucksmäuschenleise die Läden heruntergelassen. Als ob nun noch etwas ganz Schreckliches, noch nie Dagewesenes über die Welt hereinbrechen sollte, duckt man sich und macht sich klein in den Häusern. Und ein Schweigen herrscht unter dem Himmel, der von Wetterwolken überdeckt, nur darauf wartet, bis die erste Wolke tiefgeschwärzt niedersinkt, um aus ihrem Schoß Schloßen von Hagelkörnern zu ergießen, ehe dann Kaskade folgen mit Urgewalt offenbarenden Blitzen.
Heil dem Gott der Massen! Denn dass alle die gespenstische Ruhe und die Betrübtheit und Verstörtheit nur darin ihre Ursache hätten, dass der Fußballverein der Stadt am Abend zuvor noch ein wichtiges Spiel verloren hat und nun, wenn nicht noch ein Wunder geschieht, absteigt, ist ja nur der äußere Vorwand für die Offenbarung einer großen Wahrheit! Wie es scheint, sind wir, nachdem wir uns mit einem lächerlichen Spielchen beschäftigt hatten, mit etwas zusammengestoßen, woran wir jetzt leiden. Das Fußballspielchen war gleichsam der Anlass und das Vorspiel zu einem Geschehen, dass uns nun an der Kehle sitzt und sie zuschnürt. Statt sich im Gebraus der Stürme genüsslich die Zeit zu vertreiben, die wichtigen Punkte und den neuen Tabellenstand vor Augen zu führen, wie der Fall gewesen wäre, hätte man das letzte Spiel gewonnen, herrschte jetzt nichts als bittere Enttäuschung. Zumal bei der Niederlage gegen einen Verein, wo man die Punkte schon im Voraus sich zugerechnet hatte und wo ein Sieg außerhalb jeder Frage zu sein schien, machte sich nun grenzenlose Enttäuschung geltend. Auf den Vereinsplatz war man gegangen, munter und erwartungsfroh, und keiner hätte auch nur im Traum daran gedacht, dass man als Verlierer vom Platz ginge. Dann aber war aus dem leidenschaftlichen und mitreißenden Zuschauen ein Mitzittern und endlich das Erlebnis einer Katastrophe hervorgegangen. Aus der drückenden Überlegenheit hatte man kein Kapital gesammelt, kein Tor gemacht, keinen Sieg errungen. Als dann alles soweit klar war, dass alles verloren war, war man nach Haus zurückgekehrt und hatte versucht, ein jeder, wie er es vermochte, über das zutiefst Niederschmetternde hinwegzukommen. In verzweiflungsvollem Zynismus mag da wohl so mancher vor sich hin gesprochen haben: "Wenn man es eben nicht versteht, das Glück zu ergreifen, wo es sich einem bietet, wenn man die einem gebotenen Möglichkeiten verspielt: dann hat man es eben auch nicht besser verdient." Eine solche Ansprache beruhigt aber ja nicht. Das gießt nur zusätzliches Öl ins Höllenfeuer der Qualen. Andere mögen versucht haben, sich abzulenken und an etwas anderes zu denken. Das war zwar höchst wünschenswert, doch wie sollte man das fertig bringen, wo man zuvor noch nie an etwas anderes gedacht hatte? Wieder andere könnten probiert haben, mit dem Verhängnis fertig zu werden, indem sie sich zum Mitleiden bereit erklärten. "Wir", so mögen sie gesagt haben, nicht ohne einen gewissen Adel im bleiben Gesicht, "wir gehören nicht zu den Leuten, die stolz sind, wenn der Verein gewinnt, und die sich dann mit ihm identifizieren, die ihm aber den Rücken zukehren, wenn er verliert. Wenn er gewinnt, dann freuen wir uns mit ihm. Und wenn er verliert, dann leiden wir mit ihm."
Der hier waltende Schreiber und sich um Heldentum bemühende Berichterstatter aber fragte sich, warum es uns nicht gelingt, uns all diesen Popanz vom Hals zu schaffen. Was erniedrigen wir uns und kriechen im Staub? Brauchen wir in einer aufgeklärten Welt denn noch etwas, dem wir unser Herzblut zum Opfer darbringen? Leider gehört auch unser Held zu diesen komischen Gesellen, denen das Schicksal des Vereins nicht ganz einerlei ist, sodass er auch er sich etwas einfallen lassen musste, um dem zermürbenden Druck zu widerstehen. In eines seiner Hefte hat er eingetragen, was ihm da festzuhalten für gut schien.
"Mag es denn auch diesen Gott der Massen geben", so hat er eingetragen, "so hat er neben all dem Verheerenden auch sein Gutes. Begreife es und mache es dir zu Nutzen! Gewiss wird er versuchen, sich an dir zu rächen, wenn du ihm nicht huldigst wie alle die anderen Götter auch; und er wird es auch an nichts fehlen lassen, bis er dich in seiner Gewalt hat. Gleichwohl, behalte das Heft in der Hand! Bekämpfe ihn, bis du ihn derart im Griff hast! Mag es ihm auch eines Tages gelingen, dich hinterrücks zu Fall zu bringen, versuch es gleichwohl, dich von ihm zu befreien! Bis dahin aber benutze ihn als einen, der sich dir in den Weg stellst; ja, versuche es, ihn zu überwältigen, um über ihn hinaus zu wachsen. Bilde dir deine Welt, in der er keinen Platz mehr hat, dass du es nicht einmal mehr nötig hast, ihn zu verachten, sondern indem du vergisst, dass es ihn einmal gegeben! Mach ihn für dich gegenstandslos, dass er für dich zu existieren aufhört. Mach dir aber des Weiteren auch klar, dass dieser Gott der Massen keineswegs nur in den Fußballstadien zu Haus ist! Auch in den Hörsälen der Wissenschaft ist er zu Haus! Auch in den Tempeln der Kunst! Ja, endlich auch in den Gotteshäusern, sofern du dich gehen lässt und du es verabsäumst, dich auf dich selber zu besinnen."
Wenn es unserem Helden jetzt auch nicht viel nützt zu sagen, dass ihn der Verein herzlich wenig angeht, nicht mehr als die lieben Toten, die auf dem Gottesacker schlummern, oder, dass andere Vereine mit einer Unmasse an Geld sich jeden Spieler auf Gottes Erdenrund kaufen, so dass sie nie in die Gefahr geraten, abzusteigen: so hat er jetzt immerhin beschlossen, und zwar unwiderruflich, sich alle weiteren diesbezüglichen Nachrichten in der nächsten Zeit vom Hals zu halten: Und wenn er in der nächsten Zeit auch nichts weiter tut, als dass er im Wald spazieren geht, und wäre es auch, dass ihn die Einsamkeit des Waldes verschlingt!
Über die Jahrtausende hinweg haben wir geglaubt, das Glück des Menschen in dieser Welt bestehe aus nichts anderem, als dass wir ein Werk schaffen, das dauerhafter ist als Erz, um dadurch als ein großer Mensch offenbar zu werden und einen Ruhm zu genießen, der in Äonen nicht untergeht. Wenigstens seinen Namen ins Geschichtsbuch einzuzeichnen und so im Gedächtnis der Menschheit weiterzuleben, war schon vor Aristoteles des Lebens Sinn gewesen und ist auch nach ihm der Hauptantrieb geblieben, wobei man sich relativ wenig Gedanken gemacht hat, was es mit der höchstmöglichen menschlichen Befähigung auf sich hat. Mitunter hielt man es auch für besser, als ein großer Verbrecher in die Geschichte einzugehen, statt als ein Namenloser zu enden. Selbst ein Hamlet, wenn er sich auch vornimmt, sich nicht zu wichtig zu nehmen, faselt noch von Kirchen, die man stiften müsse, um nicht schon ein halbes Jahr nach dem Tod gänzlich vergessen zu sein. Umso rührender trifft uns das Wort eines Eskimomädchens: "Vergiss meinen Namen!" bittet sie den jungen Mann, der als ein Gefangener einer sibirischen Strafkolonie entflohen war und der nun nach einer einjährigen Aufenthaltszeit, da man ihm auf den Fersen ist, von ihr Abschied nimmt, um den Weg durch die Eiswüsten in den Westen weiter zu schreiten. Nachdem sie selber durch ihn alles Glück und alle Liebe der Welt erfahren, gedenkt sie auf diese Weise, ihm die Qualen des Liebesleids zu ersparen.
Was haben wir Nachfahren des Aristoteles und der Griechen aus uns gemacht? Indem wir auf den Intellekt, auf den Fortschritt, auf die Sicherheit und die Entwicklung gesetzt haben, haben wir Verstehen gleichgesetzt mit prinzipieller Beschreibbarkeit und, in neuerer Zeit in ganz besonderem Sinn, mit einer Entdeckung raum-zeitlicher Zusammenhänge und Gesetze und mit deren Umsetzung zum Gebrauch in technischen Maschinen. Was sich nicht in Nutzen und Geld als umsetzbar erwies, einschließlich des Menschen selbst, schwand aus dem Umkreis des Interesses. Nur als Objekt ist der Mensch noch bedeutsam. Interessiert man sich für das Geheimnis der Mutterschaft und der Vaterschaft, so hat man Schmeils Tierbuch oder ein Handbuch zur Embryologie oder einen Leitfaden der Genetik zur Hand zu nehmen. Und was die Liebe angeht, so studiert man vor allem die Vorgänge im Gehirn. Indem wir vornehmlich auf den Intellekt, auf den Fortschritt, auf Sicherheit und Entwicklung gesetzt haben, haben wir die Natur ihrer Geheimnisse entleert, wobei es nicht ausbleiben konnte, dass wir dabei auch uns selber entzaubert und enträtselt und öde und langweilig gemacht haben. Selbst den Auftrag des delphischen Gottes, uns selber zu erkennen, haben wir aberwitzig als eine Aufgabe der objektiven Wissenschaften missverstanden. Nur noch das Zählbare, Messbare und objektiv Definierbare haben wir im Blick. Ein Handschlag gilt uns nur mehr noch als eine äußere Form, als ein Überprüfen der Verlässlichkeit und der Liquidität. Aus den Augen haben wir uns verloren: Mann und Frau, Vater und Sohn, Mutter und Kind, Lehrer und Schüler, Seelsorger und Gläubiger. Nur noch als Maschinenwesen vegetieren wir dahin, zwar verantwortlich für uns selber, uns selber aber gleichwohl unbekannt. Ob wir einen Leib haben oder ob wir als ein Leib geschaffen sind, ist müßig geworden nachzufragen. Hauptsache, man kennt die Bedienungs- und die Betriebs-anleitungen. Und damit nur ja niemand in die Not kommt, sich selber zu begegnen, werden noch rasch die letzten Erstklässler, die noch immer nicht Bescheid wissen, von unseren bienenfleißigen Erstklassenlehrerinnen aufgeklärt über den sachgerechten Gebrauch sämtlicher ihrer Organe. Deine Aufgabe aber ist es, mit diesen Organen das Beste zu machen. Jeder, so scheint es, bekommt dann eben so viel, wie er sich verdient. Leicht ergibt sich freilich aus solcherlei Praktiken, dass in einer auf Fortschritt setzenden Welt, keiner ein Lebensrecht erhält, der sich nicht bereit erklärt, um dieses Fortschritts willen zu schuften und sich abzurackern.
Mensch sein heißt dann: zum Wohl der Allgemeinheit als Spezialist tätig zu sein im Sinne der höchstmöglichen Befähigung und Begabung. Gemütliche Sitze zum Gespräch und ähnliches brauchen wir nicht mehr. Für alles gibt es Lokale und Dienstleister und Anbieter, damit wir uns, wenn wir die Bedürfnisse befriedigt haben, nur rasch weiter ungestört und uneingeschränkt den beruflichen Geschäften widmen können. "Arbeite hart", so heißt es, "dann erlangst du einen großen Namen und einen großen Ruhm und selbstverständlich auch so viel Geld, dass du dir leisten kannst, was immer du begehrst."
Wie anders wäre ein Leben, wenn es nicht in solchen babylonischen Zwängen von Statten ginge! Wie anders das Leben in den Familien, wie anders der Weg jedes Einzelnen zum Glück, gäbe es nur nicht diese Jagd nach dem Geld! Stellte sich ein Ungleichgewicht ein, so stellte man sich geduldig und gefasst darauf ein und suchte nach einem Ausgleich. Was der inneren Ordnung entspricht würde nicht durch eitle Hoffnungen in Frage gestellt, was der Ruhe bedarf, nicht durch Hektik und Betriebsamkeit gestört werden. Was immer an Schwerem auf den einzelnen Menschen zukommt, würde von allen gemeinsam getragen werden. Wir sind nicht auf Erden, so würde man sagen, uns einen großen Namen zu machen. Wir sind auf Erden, um das Leben gemeinsam zu erleben. Kommt ein Neugeborenes zur Welt, würde man zu ihm sagen: "Sei uns herzlich willkommen, das Leben mit uns zu teilen." Oder man würde sagen: "Dank dir, dass du gekommen bist, das Leben mit uns zu teilen!" Endlich ehrte man das Leben, indem man sich auserwählt sähe, es als etwas Wunderbares weiterzugeben. Fern läge einem, sich als Apparat zu verstehen, den man nur zu optimieren hätte im Sinne höchstmöglicher Befähigung. Wenn es ein Erdenglück gibt, so wäre es vielleicht dies: bei allem, was auch immer einem widerfährt, zusammen zu halten: zusammen in der Freude und zusammen im Leid, und den Weg zu den Müttern nicht zu verpassen.
W., einen vielseitig begabten, im Umgang mit jedermann vorzüglich gebildeten und aufgeschlossenen Menschen hat seit geraumer Zeit eine böse Krankheit befallen, die ihm mehr und mehr zu schaffen macht. Die Sache steht nicht gut. Metastasen sind schon kein Geheimnis mehr. Jetzt flieht er durch die Welt, wie ein Verdammter, wie ein Ahasver. Nur nicht nach Hause kommen, nur nicht zuhause Platz nehmen. O, er fürchtet sich vor dem Zuhause wie vor dem Stuhl, auf dem Theseus in der Unterwelt gesessen. Zuhause hat er Ohnmachtsanfälle, zuhause wird er müde und leidet zugleich unter Schlaflosigkeit, zuhause steht sein Bett wie eine Kreuzigungsstätte, zuhause lauert der Tod. Er aber will noch nicht sterben. Natürlich führen ihn seine täglichen Wege auch zu den Ärzten. Wofür sind sie auch da, wenn nicht zum Helfen und Heilen? Leider aber kann ihm keiner mehr helfen. Stattdessen bekommt er zu hören: "Sie haben eine schwere Krankheit, mein Herr! Die meisten mit Ihrer Krankheit haben es nicht einmal geschafft, auch nur halb so lang der Krankheit zu trotzen!" Dann schaut er auf, sieht den immer schwerer werdenden Medizinerkopf, wie er sich bedenklich vor ihm hin und her bewegt. "Ist da nichts mehr zu machen?" fragt er. Der Mediziner schüttelt den Kopf. "Wirklich nichts, gar nichts, nichts mehr?" Der Mediziner schüttelt noch immer den Kopf. "Und wenn ein Wunder geschieht?" Der Mediziner schweigt. "Ist es unmöglich, dass ein Wunder geschieht?" "Wenn ein Wunder geschieht", sagt der Doktor und erhebt sich, ohne den Satz zu Ende zu bringen. Etwas Unmögliches zu vollbringen ist unmöglich, denkt der Doktor bei sich. Allenfalls im Glauben kann man sich einreden, das Unmögliche zu erringen. Doch das gehört nicht in sein Fach. Das gehört ins Fach eines Zauberers aus der Gotteszunft. "Mein Herr", so könnte er jetzt wohl sagen, "ein jeder hat in unserer Gesellschaft seinen Platz und seine Aufgabe. Was unsereins, die Ärzteschaft angeht, so sind wir nur für die heilbaren Krankheiten da." Doch fürchtet er, sich durch eine solche Erklärung in einen längeren Diskurs zu verwickeln. Er könnte sich freilich in noch kürzeren und knapperen Worten ergehen und hat vor solch einer Erklärung auch nicht die geringste Hemmung. Jetzt aber, wo die Praxis voll ist von Menschen, ist die Lage heikel. Ein Skandal ist das Letzte, was er sich jetzt wünscht. Der nächste Patient wartet ja schon. Es kommt jetzt alles drauf an, den Menschen mit seinen Metastasen lautlos aus der Praxis heraus zu bekommen, mit welchen Mitteln auch immer. Und weil Worte geduldig sind und ein Mediziner nicht verpflichtet ist, immer nur Botschaften aus dem Lehrbuch zu verkünden, so greift der Doktor nun doch noch einmal auf den begonnenen Satz zurück. "Wenn ein Wunder geschieht", sagt er zu seinem Patienten, der sich sogleich wie ein einziges riesiges Ohr an ihn herandrängt, "wenn ein Wunder geschieht, dann werden Sie wieder gesund. - Dum spiro, spero!" fügt er noch hinzu, gleichsam den unumstößlichen Schlusspunkt setzend und lächelt. Dann schreibt er noch rasch ein Rezept und händigt es dem Schwerkranken aus.
Nach dem Doktorbesuch erwartet den Kranken sein Weibchen. Sie fragt ihn, aber er bleibt einsilbig, er antwortet nicht viel. Sie weiß, dass es jetzt schwer ist, ihm einen Trost zu spenden. Vom Herrn Jesus darf sie schon gar nichts sagen. Wiewohl sie sich seit vielen Jahren immer gern vorgestellt haben, das einzige, ihnen verstorbene Töchterchen Silvia warte auf sie an der Pforte zum Himmel und alle Pilgerschaft ende dort oben, und wiewohl er noch bei seinem letzten Besuch den Sirius zeigte, als er eben hinter einem Wolkenloch hellglänzend sichtbar wurde, und sagte, das sei der Silvia-stern, will er jetzt nichts von den Wegen zum Himmel wissen. "Geh doch du da hinauf, wenn du es so eilig hast!" versetzte er ihr einmal in seinem Unwillen. Jetzt aber ist er gereizt. Zusammen mit der gnadenlos schrecklichen Krankheit hat sich viel Feindseliges in ihm angesammelt.
"Kann mir Gott helfen?" Das ist das Erste, was er den Pfarrer fragt, als ihm sein Weibchen ihren Herrn Pfarrer ins Haus schleppt. Der Pfarrer zögert keinen Augenblick und nickt. "Und hilft er mir auch?" "Er hilft nicht allen", kommt vom Pfarrer zurückhaltend die Antwort, da er gemerkt hat, dass Gottes Hilfe nur als Hilfe aus der Krankheit und mithin als Heilung gemeint ist. "Prinzipiell aber kann er mir helfen?" Wieder nickt der Pfarrer. "Und wann hilft er mir? Und wann hilft er mir nicht!" Er möchte die Bedingungen wissen. "Das ist schwer zu sagen", versetzt der Pfarrer. "Hilft er nur den Auserwählten?" versucht W. dem Pfarrer auf die Sprünge zu helfen. "Auch dem Hiob hat er nicht geholfen, wiewohl er zu den Auserwählten gehörte; und auch dem Herrn Jesus nicht ..." versetzt der Pfarrer, dem daran gelegen ist, im Kranken nicht den Eindruck zu erwecken, er gehöre zu den Verworfenen. Doch das interessiert unseren Kranken nicht. Selbstverständlich würde er sich auch mit einer Heilung durch den Satan einverstanden erklären, wenn es etwa einen solchen unter den Ärzten gäbe; und er würde sich auch mit dem Los eines Verworfenen abfinden, wenn er im Gegenzug dazu nur jetzt wieder gesund würde. So deutlich will er sich aber nicht aussprechen; doch kann er sich nicht verkneifen, noch eine letzte Frage zu stellen. "Wenn der Herr Jesus ernsthaft Hilfe angefordert hätte, damals in jenem Garten am Ölberg, so hätte er sie doch bekommen!?" Der Pfarrer schweigt. Er bewegt sich nicht. Er sitzt in der Klemme. "Natürlich hätte er Hilfe bekommen", fährt W. fort, als säße der Pfarrer bei ihm in der Nachhilfestunde. "So steht es nämlich in der Bibel: Bitte ich meinen Vater, so schickt er mir eine Legion Engel. - Wenn ich nun aber keinen Wert darauf lege, ein Auserwählter zu sein, und wenn ich kein größerer Sünder bin als alle anderen auch: habe ich dann nicht ein ebenso großes Lebensrecht wie die anderen?"
Sie redeten noch ein wenig hin und her, worauf sich auch die Frau ins Gespräch einschaltete. "Es kann auch Gnade sein, was uns trifft", sagt die Frau, "die Gnade der Bewährung." "Vielleicht trifft dich die Gnade, wenn mich der Tod trifft", erwidert er böse. Der Pfarrer tut so, als hätte er nichts gehört. - W. aber lässt das nicht gelten. "Jawohl, Herr Pfarrer", versetzt er. "Warum kommt keiner und verpasst mir endlich den Gnadenstoß!" Der Pfarrer ist kaum zur Türe heraus, das Gespräch will er festhalten, um es dann bei der baldigen Beerdigung des Todkranken als hochergreifendes Dokument eines christlichen Daseins erschallen zu lassen, da lässt der Kranke seinem Unmut freien Lauf: "Im Fett des Lebens zu schwimmen und erbauliche Lieder zu singen", so schreit er, "das fällt nicht schwer. Auch mein Vater, als er auf den Tod daniederlag, konnte nichts weniger ausstehen als erbauliche Sprüche. Wenn ein Pfarrer nichts weiter fertig bringt, als Sprüche zu klopfen, so soll er seinen Hut nehmen und um seine Pensionierung ersuchen."
Nach anstrengender, schlafloser Nacht ist W. wieder unterwegs. Zum nächsten Mediziner. Dort dann wiederholt sich, was ihm schon tags zuvor widerfahren. Abends dann kommt er todmüde nach Hause. Kaum hat er die Haustüre hinter sich zugemacht, da beginnt er, sich lautstark über die Frommen und über ihren Glauben auszulassen. "Zum Teufel auch!" schreit er endlich, wie er seine Frau erreicht hat. "Da kommst du dann an mein Grab und du tust so, als wär ich im Himmel und wartete dort auf dich. Dabei hat man mich in der Erde eingekerkert und hat mich mit einer Zentnerlast von Gestein und Erde zugedeckt, damit man meine Schreie nicht mehr hört. Nein, es gibt keinen Himmel! Nur die Erde gibt es, eine Erde, unter der wir ersticken." Bei Tisch sitzt er dann schweigsam; es will ihm nämlich nichts mehr schmecken.
Und abermals finden wir ihn auf der Straße. Wieder ist er unterwegs zu einem Arzt. Auch wenn sie einem nicht helfen, was soll man sonst machen? Und etwas muss man doch tun. Er beginnt zu zählen. Eins, zwei, drei.. er zählt einmal bis 5, dann bis 11. Er sucht sich das Maß der Zeit zu vergegenwärtigen, das ihn noch trennt, einmal vom Lebensalter seines Vaters, dann von dem seiner Mutter. Plötzlich ist ihm, als öffnete sich vor ihm die Erde, wohin er auch hinschaut, überall sieht er Abgründe, die sich vor ihm auftun und Menschen, die in die Abgründe hinab stürzen. Er reibt sich die Augen. Er schüttelt den Kopf. Ihm fällt ein, dass er als Kind im Kasperletheater solche Sachen gesehen hat: Gespenster, die aus Schlünden und Abgründen und Tiefen aufgetaucht waren, den Dr. Faust zu holen. Während er weitergeht ist ihm, als schaute ihm jemand nach oder als müsste von irgendwoher jemand auf ihn zukommen. In der Tat begegnet er jetzt einem Bekannten. Doch der ist in Eile. Wenn der Herr Jesus auf ihn zukäme? denkt er plötzlich, während Kanalarbeiter aus einem Hydrant hervorkommen. Wenn es ihn gibt, ist dann nicht auch möglich, dass er aus einem Hydranten hervorkommt? Doch wir wissen ja nicht, was es alles gibt. Die ganze Welt und alles, was man mit Wirklichkeit bezeichnet, ist ja nur ein Spuk, ein Spuk voller Schemen und Gespenstern und unser Wissen ist kaum mehr als Täuschung und Missverständnis. Endlich sitzt er wieder in einem Wartezimmer. Um ihn sitzen weitere Wartende, die in Illustrierten blättern. Mitunter erscheint der Doktor. Unser Mann schaut auf. Aber er ist noch nicht an der Reihe. Manchmal hört er auch die Sprechstundenhilfe nebenan reden und lachen. Dann glaubt er, sich in einer anderen Welt zu befinden. Ein wenig hat er die Augen geschlossen. Da sieht er sein Weibchen, wie sie zuhause durch die Zimmer schleicht. Er sieht, wie sie plötzlich stehen bleibt und lacht. Noch nie hat er sie so lachen gehört: ein gespenstisches Lachen, das sich wie ein Verlegenheitslachen anhört. Er fragt sich, ob er sich nicht über alle die Jahre hinweg getäuscht hat. Es würde ihn nicht verwundern, wenn sie sich mit Gespenstern unterhielte. Endlich hört er seinen Namen. Er erhebt sich, folgt dem Arzt in Behandlungs- und dann in den Ordinationsraum. Wieder hört er die Fragen wie gestern, wieder vernimmt er dieselben Antworten, wieder sieht er dasselbe ratlose Zucken mit den Schultern. Während der Arzt schon unverhohlen auf die Uhr schaut, erzählt ihm W. noch, dass er in einem Hinterhof einen Jungen gesehen, den man verprügelt habe; und dass ihm dabei eingefallen sei, der Junge sei krank gewesen und man habe ihm die Krankheit aus dem Leib geprügelt, und dass er sich auch wünsche, die Krankheit aus dem Leib geprügelt zu bekommen. Der Arzt bleibt stumm. Er hört schon nichts mehr, ist bereits beim nächsten Patient. Das Wartezimmer ist voll und er hat seiner Frau versprochen, heute pünktlich zum Essen zu erscheinen.
In der kommenden Nacht, wie W. wieder heftige Schmerzen plagen und er keinen Schlaf finden kann, fragt er sich, wie er das wohl schaffen mag, sich selber zu überstehen. Dann phantasiert er ein wenig. Leben - erleben, so sagt er. Und er fährt fort: Trinken - Ertrinken. Er hadert mit der Sprache. Er kann nicht fassen, dass das zweite Beispiel einen so anderen Sinn ergibt. Ein wenig versucht er sich jetzt damit zu trösten, dass er sich vorgenommen hat, zusammen mit seiner Frau einen alten Kollegen zu besuchen. Das soll mehr werden als nur eine Ablenkung. Der alte Kollege war ihm schon immer ein vorbildlicher Weiser. Ob er ihm einen Rat weiß? Wenn nur er und sein Weibchen nicht auch dort wieder ihre uralten Positionen ausklauben. Sie: dass sie doch alle zum Himmel wollen und dass das irdische Dasein zu nichts anderem gut sei. Und er: dass sie ihm ja vorauseilen und zur größeren Ehre Gottes von einem Münsterturm herabspringen könne, in den Schoß Abrahams, wenn sie ihm denn mit ihrem erhabenen Vorbild vorausgehen wolle.
Bevor sie eine Woche in die Osterferien fährt, ruft sie noch einmal bei uns an und erkundigt sich nach unserem Befinden. Auch ich erkundige mich selbstverständlich, wie es ihr geht und ihrem schwerkranken Mann. Das eigentliche Anliegen ihres Anrufs aber ist gewissermaßen ein pastorales. Immer wieder nämlich schickt sie uns Kassetten zu mit Predigten ihres Predigers; so war es auch in diesem Jahr, als uns 20 nagelneue Kassetten erreichten. Nun wollte sie sich nur erkundigen, ob diese auch fein säuberlich angekommen wären und ob wir nun auch genug in Vorrat hätten. Die liebe fromme Seele! Wie glücklich war sie doch, als ich sie beruhigte und ihr sagte, alles sei in schönster Ordnung, der Vorrat reiche noch eine gute Weile. Ja, wie glücklich ist doch der Mensch, wenn man ihm sagt, dass alles aufs Beste bestellt ist, auf dass er sich sagen kann, dass er alles Menschenmögliche getan hat. Und wenn es auch nicht ganz ernst von mir gemeint war und ein Lächeln meinen Mund umspielte, so verschwand es doch fast vollständig, nachdem ich dann noch von Edda vernommen, dass für sie nun alles sehr gut war.
Als Kind freut man sich noch ganz uneingeschränkt auf Weihnachten, dieses Glückseligkeit versprechende Fest. Damals freilich war alles auch noch sehr wunderbar. Alles war so hübsch vorbereitet und von langer Hand eingefädelt, dass eine sehnsuchtsvolle Erwartung gar nicht ausbleiben konnte. Und kam dann endlich das Christkind, dann kam es ja auch mit Christbaum und Kerzenglanz und unter dem Christbaum mit den schon so lange erwarteten Geschenken, als ob sich das Himmelstor aufgetan und eine Schar von Engeln das Christkind herab auf die Erde begleitet hätte. So hätte es bleiben sollen, denkt man da etwas wehmütig, wenn man in die Landschaften des Lebens hinausschaut.
Ja, so sollte man ins Leben hinaus ziehen, so zu einer lieben Frau, so zu einem lieben Mann, so zu Kindern, zu Freunden, zu guten Menschen, so zu einer guten Menschheit finden. Jetzt aber, wenn das Weihnachtsfest naht, hat man nichts anderes mehr zu tun, als jedem, der da kommt, vom lieben Weinvorrat ein paar Flaschen abzutreten, als wär man nicht mehr Manns genug, ihn selber zu trinken. Und hat man auch weiter keine Wünsche mehr oder soll keine mehr haben, so meldet sich dann doch sicher noch ein Bekannter, an den man längst zu denken vergessen und mit welchen man sonst auch herzlich wenig Austausch gehabt hat, der einem etwas von seinen Schulden oder von sonst einem Ungemach vorjammert. Also stellt man einen Scheck aus, auf den man eine Zahl schreibt, die auch noch alle Geschenke, die man sich selber jemals geleistet, übersteigt. Wenn man dann aber alles das erledigt hat, vergisst man alle diese Sachen, man will ja kein Knauser sein, und sperrt sich mit seiner kranken Frau ins Haus ein. Daselbst dann hält man sie fest und drückt sie an sich, dass sich auch kein einziges Tränlein untersteht, sich über den Wangen zu verirren.
Wer sich noch für weitere Mitteilungen aus der Weihnachtszeit interessiert, dem teilen wir mit, dass wir nach einer schrecklichen, mit anhaltenden Schmerzen geplagten, Heiligen Nacht durchaus wieder einmal für einige Stunden gut geschlafen haben. Was für eine Wonne, wenn man merkt, dass man die Schmerzen, über denen man fast die ganze Nacht über wach gelegen, nicht wissend, ob man sie je wieder los wird, plötzlich am Weihnachtsmorgen getilgt sieht! Was für eine Wonne, ein wenig aufzuatmen und dabei zu denken, dass das Christkind sich erbarmt und das Heer der Schmerzen für diesen Tagesbeginn von uns abgehalten hat. Und will der etwas verwunderte, uns gleichwohl gewogene Menschenfreund noch wissen, wozu wir eigentlich die kleine Weihnachtskomödie geschrieben haben, so antworten wir darauf, als wären wir in einer der Tragödie bedenklich nahen Komödie gesessen und nun wäre sie aus und wir hätten nur noch tüchtig zu lachen. Nunc plaudite, so heißt es ja schon am Ende der römischen Komödie. Untertänig bitten wir um ein kleines Gelächter. Vielleicht, dass man uns dann noch ein Plätzchen zuweist im Stall von Bethlehem, zwischen dem Ochs und den Eseln. Sofern die Schmerzen meiner Liebsten nicht wiederkehren, will ich mich gerne damit abfinden und zufrieden geben.
Liebste, meines Lebens Liebstes
und des ewigen Lebens Stern
Immer häufiger kommt mir vor, als hätten sich die letzten Tage längst im Hintergrund versammelt und sie übten sich nur noch darin, hintereinander hervorzukommen, um mich in Verwahr zu nehmen. Und dann zögen sie weiter und alles wäre wieder, wie es einmal war. Hätte ich noch meine Liebste bei mir, selbst auch im Krankenbett, wenn nur mit frischen Sinnen und ohne die vermaledeiten Schmerzen, dann freilich wäre alles ganz anders. Dann würde auch ich wie die Leute mitten im Leben wohl noch gerne bezweifeln, dass uns der Mammutbaum im Vorgarten überleben könnte. In der Tat, was könnten wir da nicht noch alles unternehmen! Dabei müssten wir uns noch nicht einmal sonderlich Mühe geben. Wir hätten nur ebenso weiter zu machen, wie wir seinerzeit getan haben. Und wenn mich die Liebste dann aufforderte, uns etwas Gutes zuzubereiten, so würde ich es gerne tun, ebenso wie ich gern die Gelegenheit ergriffe, ihr eine Freude zu machen, und wenn ich auch nur meinen Dickkopf an ihr liebes Haupt drückte und ihr ins Öhrchen flüsterte:
Mögen die Schönsten den Huris gleichen,
den Rang meiner Liebsten kann keine erreichen!
Um Geld und Gut wollten wir uns im Übrigen, wie schon früher, nur so weit wie irgend nötig kümmern. Fern läge mir, etwas anderes haben zu wollen, als was wir eben hatten, und ich hätte ja von allem genug. Oder dass ich von einem Palast träumte, draußen irgendwo, hinter den sieben Bergen, den wir haben müssten, oder auch nur, dass wir dort gewesen sein müssten, um prunkvoll davon zu erzählen. Hätte ich sie nur bei mir, ich hätte wahrlich genug. Und schöne Städte mit ihren Bauwerken, bizarre Landschaften mit ihren exotischen Pflanzen und unerforschten Tieren und Museen und Bibliotheken zauberten wir uns herbei, sobald wir danach Verlangen trügen. Dank der allmächtigen Technik war es ja möglich, alles zu uns ins Zimmer zu schaffen. "Hier, hier ist sie, die große weite Welt, hier bei uns, wenn du nur bei mir bist, Liebste" wollte ich immer wieder zu ihr sagen. Ja, hätte ich noch meine Liebste bei mir, wie verschönerte ihr Lächeln selbst noch den hässlichsten Wintertag. "Auch du", so würde ich da schmeichlerisch zu ihm sagen, "auch du gefällst mir ja und wirst schön, magst du dich auch unter deine Wolken- und Winterkappe voll jämmerlichen Hochmuts-Nebeln verkriechen, wenn nur etwas von der Sonne meiner Liebsten auf dich abfällt. Und wenn du auch hin und wieder einen grämlichen Blick auf die Erde herab wirfst, als hättest du Sorge dafür zu tragen, dass es überall trübsinnig und kalt bleibt und sich ja kein übrig gebliebener Strohhalm muckst: "Gib dir nur keine Mühe, uns zu verwirren, uns stört deine Gegenwart nicht!" So würde ich zu ihm sagen. Leider aber hab ich meine Liebste nicht mehr bei mir, woran sich nur so viel ändert, dass es mir von Tag zu Tag immer unbegreiflicher wird.
Himmel und Erde! Hatte unser Held jemals prunken und protzen wollen mit großartig geschriebenen Büchern? War ihm jemals daran gelegen, in das Pantheon einer Landeshauptstadt zu gelangen, in eines dieser eng ummauerten Gefängnisse der Unsterblichen? War ihm nicht stets darum zu tun, im kleinsten, ja allerkleinsten Kreis zu wirken, zur Freude seiner Liebsten? War nicht dies das Ziel all seines Tuns, seiner Liebsten behilflich zu sein, zumal in den bösen Stunden ihrer Krankheit? Doch was hat er erreicht? Wo war die Gabe, die er ihr als Zeugnis seines Könnens, wo das neue, Leben spendende Lied des Orpheus, das er ihr zur Feier ihres Geburtstages ans Herz gelegt hätte? War er nicht stets jämmerlich gescheitert, sooft er sich vorgenommen, auch nur ein Stückchen zu ihrer Genesung oder auch nur zu ihrer Erheiterung beizutragen? Zum Teufel mit aller Schreiberei, zum Teufel mit allem Schielen nach Ehrungen und Preisen! Zum Teufel mit allen Pyramiden des Ruhms! Nichts war ihm gelungen, noch nicht einmal ein Projekt stand in Aussicht, auf das er sich hätte stürzen können. Wie einen Dauerdruck spürte er es auf sich lasten, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich zu demütigen wie ein bereits Toter unter dem auf ihm lastenden Grabstein.
In der Tat hat es unser Held niemals geschafft, etwas zu entdecken, jenseits des Meeres, welches die Insel des Lebens umgibt, was die Hoffnung mit Heiterkeit umkleidet, noch auch kennt er das Kraut des Lebens, das uns ewig hoffen lässt. Wohl findet er das Märchen reizend, das uns eine Prinzessin zeigt, die einen glitschigen Frosch gegen die Wand wirft, worauf ihr ein edler Königssohn entgegentritt und er hätte sich gewiss längst dazu verstanden, den Rollstuhl mit seiner schwerkranken Frau gegen die Wand zu schleudern, hätte er sie so nur aller hässlichen Krankheit enthoben und hielte sie wieder gesund im Arm! Indessen scheint weder eine solche Tat nicht zu den Absichten des lieben Gottes zu passen, nur zu denen eines schwermütig gewordenen Narren.
Was hat er wahrgenommen und was hat er erkannt, das aufhorchen ließe? Weiß er nicht fast ebenso gut wie der liebe Gott, dass es in der Geschichte der Menschheit noch nie einen Tag gegeben, wo nicht wenigstens einer der Söhne Adams das verfluchte Recht gehabt hätte auf Umsturz und Umwälzung aller bestehenden Zeitläufte? Weiß er nicht längst fast ebenso gut, dass die Lektüre vom Leben der Menschheit ermüdet, weil sie, falls sie denn jemals berufen war, einem großen Ziel entgegenzugehen, dieses verspielt hat, und dass einer, der sich vorgenommen hat, das tägliche Aufstehen frühmorgens als eine Übung für die Auferstehung anzusehen, jämmerlich scheitert? Dänemark ist ein Gefängnis, hatte der junge Hamlet ausgerufen, als er sich umgeben sah von Verbrechern, weil er ahnte, dass man der menschlichen Natur nie und nimmer Herr werden konnte, ohne sich selbst mit zu zerstören. Etwas später verkündete er folgerichtig, dass auch die ganze Welt nichts anderes sei als ein großes Gefängnis, wo es dem Menschen bestimmt sei, zwischen Himmel und Erde herumzukriechen. Wenn nun unser Held auch nichts mit einem noch unaufgeklärten Mord zu tun hat: das Ende aller Krankheiten beschließt hier wie dort ein Sarg. Und der Raum zwischen Erde und Himmel scheint kaum mehr als ein Sarg zu sein und jedes Haus und jedes Zimmer und jedes Bett ein Sarg, wo wir hastig einatmen und ausatmen, bis wir keine Luft mehr bekommen.
Vielleicht schwirren dem lieben Gott ähnlich trübe Gedanken durchs Hirn, sodass er längst schon keine Bibliothek mehr braucht. Im Unterschied zu früheren Tagen, wo man noch heilige Schriften zu kennen glaubte, ist ihm wohl die Lust am Lesen vergangen. Und liegt nicht nahe, dass ihn Gram beschleicht, wenn er bedenkt, dass er es einst gewesen, der die Sprache und die Schrift erfunden? Wenn er auch noch nicht selber vor lauter Traurigkeit zu Grunde gegangen sein mag, so hat er sich doch inzwischen so weit versteckt, dass ihn keiner mehr findet. Jedenfalls kann ihm als einem, der einmal alle Dinge zum Guten zu lenken bemüht war, weder der Mensch im Kleinen noch auch die Geschichte des Menschen im Großen zufrieden stimmen. Oder wurde er nicht erst jüngst wieder Zeuge, wie trüb und düster es auf Erden bestellt ist?
Das war am letzten Sonntag gewesen, gegen 9 Uhr morgens, als sie bei einer Schwägerin anriefen. Zumal nach deren Geburtstag würde sie wohl gerne etwas von der großen Tafel erzählen, an der sich alle ihre Angehörigen und Lieben eingefunden. So dachten unser Held und seine Liebste. Als nun aber der Telefonkontakt hergestellt war und man sich beim Namen genannt hatte, blieb es erst einmal auf der anderen Seite still. Die Schwägerin schien überrascht. Sie hatte wohl jemand anderen erwartet. Vermutlich einen Oberpriester der Medizin. Ihre Stimme klang dunkel, kurz und knapp, abtaxierend und skeptisch. Genaueres war fürs erste nicht auszumachen. Für ein paar Augenblicke verstummte dann sogar die Stimme. Unsere beiden Lieben befürchteten schon, sie werde das Telefon wieder auflegen. Während dieser Augenblicke dürfte sie wohl auf ihren Mann geschaut haben, wie weiter zu verfahren sei; und der wird ihr dann einen stummen Wink erteilt haben, den Anruf nicht abrupt zu beenden, doch freilich sich auf das Allernötigste zu beschränken. So ließ sie uns denn dann wissen, dass sie jüngst einen rabenschwarzen Tag gehabt hätten, dass sie für jetzt aber nicht mehr dazu sagen könne, als dass sich alles in den nächsten vier Wochen entscheiden werde und entscheiden müsse. Selbstverständlich fragten unsere Anrufer nicht weiter nach, auch wenn die Nachricht bei dem fragmentarischen Einblick nicht beruhigend stimmte, vielmehr schlossen sie mit dem Wunsch, dass alles gut gehen möge. Und doch: ist es nicht schrecklich, wenn einem die Kraft schwindet, aktiv im Leben zu stehen, wenn die Energien erschöpft sind und die Lebensgeister davonfliegen? Ist es nicht schrecklich, wenn Menschen feststellen, dass es für sie keine Heimat und keine Wirklichkeit mehr gibt? Ist es nicht schrecklich, wenn wir erkennen müssen, wie wir mehr und mehr zum Bestandteil einer namen- und sprachlosen Welt werden?
Ja, es ist unvorstellbar, wie viel Angst in einen Menschen hinein passt. Nicht dass sie einem schon immer an der Kehle säße, doch ist es ihr ein Leichtes, dahin zu gelangen. Eine kleine Unachtsamkeit genügt schon. Nun könnte man meinen, dass ein stolzes Erdenkind, wie es meine liebe Schwägerin einst in ihren Jugendtagen war, von Angst weniger befallen würde als andere Erdenkinder. Doch das Gegenteil ist der Fall, dass mir scheint, als hätte sie sich das Pelzmäntelchen aus stolzem, sibirischem Eisbärfell nur umgelegt, um gegen die Kälte der Angst gewappnet zu sein. Vor allem und vor jedermann hatte sie Angst: vor dem verstorbenen Familienvater, unter dem sie mächtig gelitten hatte, ebenso wie unter den ihr an Alter nachstehenden Söhnen, die sich ganz in den Spuren des allmächtigen Vaters bewegten. Wehe, du beschuldigtest einen der Tyrannei oder sprachst einmal gar etwas provozierend von einem Mörder, da zuckte sie zusammen, um dich gleich zur Therapie zum nächstbesten Psychiater zu schicken. Ja vor allem und jedem scheint sie Angst gehabt zu haben, dem es nur gelungen war, sein bisschen Amtsgewalt wie ein Venerabile drohend in die Höhe zu recken. Der vielleicht einzige, vor dem sie keine Angst hatte, war der Papst in Rom, den der Herr Küng damals Dreckklumpen an die Stola geworden und dem das Heer unserer Journalisten Beifall gegeben.
Immerhin hatte unser Held damals noch sein Mütterchen bei sich. Wenn es auch bereits so schwer krank war, dass es über weite Strecken des Tages und der Nacht hinzudämmern begonnen, so hatte er es doch noch bei sich und das heißt, er ließ es sich nicht nehmen, jeden Tag von Neuem zu hoffen. Damals nun also geschah es, dass unser Held sich damit befasste, sich ans Schreiben eines Buches zu machen. Und wenn es auch nicht groß und bedeutend werden musste im Sinne der Welt, so sollte es wenigstens so weit gedeihen, dass er in der Lage wäre, sein Mütterchen damit zu erfreuen. Denn wenn sie sich auch niemals ihres Leidens wegen beklagt hatte und dies auch nicht tat bis zu ihrem elenden Ende, so schien ihm doch der Mühe wert, ihr die Stunden durch etwas Beruhigendes und Schönes zu erhellen. Ja, aufheitern wollte er sie damit, und wenn er auch noch um den Stoff nicht wusste, so war er doch so ehrgeizig und dachte sich das Buch so geschrieben, dass auch noch der liebe Gott sein Wohlgefallen daran haben sollte.
Auf der Suche nach einem solchen Projekt setzte er wahrlich alles daran, was immer in seiner Macht stand, auch wenn sich vorerst nichts zum Aufschreiben finden lassen sollte. Daran änderte auch nicht viel, dass er sich mitunter fragte, ob es denn nicht vermessen wäre und ob er nicht von einer fixen Idee geplagt sein müsse, da er so beharrlich bei seinem Vorsatz blieb. Und wenn er dann weiter bedachte, auf welche Weise er zu schreiben hätte, heiter und witzig überlegen, aufheiternd und humorvoll, Distanz schaffend aus der Enge der Krankenstube, ihn dann aber Zweifel bestürmten und er sich ausgestoßen fühlte, weil, wie er sich sagte, nur Kranke für Kranke glaubwürdig schreiben können, so fügte er schließlich doch immer noch hartnäckig ein "Trotzdem!" hinzu. Hatte er sich dann aber einmal ins Schreiben hinein verirrt, mitunter noch in der Nacht, nachdem er eine halbe darüber schlaflos gelegen, so war schon am nächsten Tag die Enttäuschung riesengroß, wenn er sich das Geschriebene vornahm. "Da spinnst und strickst du mit zweifellhaften Worten zweifelhafte Sätze zusammen" sprach er dann zu sich, "und dein Weibchen soll darüber lachen, als hörte sie die Freudenschellen der Gesundung, während es der Todesengel ist, der auf sie zu rauscht", schob dann das Schreibpapier zur Seite und brütete noch eine Weile dumpf vor sich hin, um dann am nächsten oder übernächsten Tag wieder von vorn zu beginnen.
Endlich dann eines Nachts, es war Dezember, am Vorabend hatte er sich noch enttäuscht attestiert, dass er jetzt nichts mehr zu schreiben habe, zeigte sich ihm etwas in einem Traum. Zuerst war es ein rohrförmiges Tunnel gewesen, das er glaubte durchsteigen und emporsteigen zu müssen; dann beim Näherkommen aber hatte sich das Tunnelrohr in ein immer schmaleres und engeres Roh verwandelt, dass es, als ich endlich vor ihm stand, kaum größer war als der Tubus eines Fernrohrs; und so schob ich das Auge ganz dicht heran und entdeckte Flecken, die ich zuerst für Sonnenflecken hielt, die sich dann aber als Nachtfalter, Phalänen oder Motten entpuppten, die allesamt flugunfähig sich taumelnd abwärts bewegten. Wie lange er ihnen zusah, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie sanken und sanken und dass mir nicht wohl dabei war: bis plötzlich Lichtpünktchen wie Glühwürmchen hinzukamen, als wären sie ausgesandt, ihnen zu helfen. Wann immer aber einer der Falter von einem der Lichtpünktchen erfasst oder auch nur gestreift wurde, leuchtete er für einen Augenblick auf und zuckte dann mit den Flügeln oder tat auch ein paar kurze Flugschläge nach oben, um dann abermals, begleitet von tiefen schwarzen Schatten, herniederzusinken. Nur einige wenige, die das Glück hatten, durch mehrere Begegnungen mit dem Licht rechtzeitig erfasst zu werden, schafften es, höher und höher hinauf zu steigen, wo sie dann von einem Gesicht oder einer weitsichtigen Gestalt aufgefangen wurden. Mit der Ankunft dieser wenigen Lebe- oder Sterbewesen am anderen Ende der Röhre hatte unser Held nämlich eine Gestalt entdeckt, die er zuerst nur für ein gespiegeltes Sonnenlicht gehalten. Nun aber, nachdem er sie als ein ihm ähnliches Wesen erfasst und er von ihm den Wink erhalten, sich an dem in Gang befindlichen Geschehen zu beteiligen, hatte unser Held begonnen, zuerst sanft in den Tunnel hinein zu blasen, dann aber immer beherzter und kräftiger, wodurch er nicht nur die Geschwindigkeit und damit den Zusammenstoß der verschiedenen Teilchen erhöhte, sondern auch eine Strömung auslöste, sodass nun mehr und mehr Falter hinauf flatterten und oben ankamen. Und während unser Held hinauf blies, die obige Gestalt aber einsammelte, hatte er eine Bewegung entfacht, die ihm wie eine Fontäne schien, die voll Licht in die Höhe strebte. Ja, immer leichter und lichter wurde die Welt um unseren Helden herum, als bedürfe es nur noch einer letzten festen Entschlossenheit und Anstrengung, und alles wäre noch vor Anbruch des neuen Tages eingesammelt.
Alles das hatte nun unser Held bereits aufs Genaueste aufgeschrieben, nirgends etwas ausgespart oder ausgelassen, sodass jetzt eigentlich nur noch der Abschluss seines Berichtes ausstand: als er sich plötzlich nach dem Material umsah, auf das er geschrieben. Zwar sah er, wie er noch immer, wie er mit seinem Finger schrieb, doch nirgends war ein Blatt, nirgends eine Spur des Geschriebenen zu sehen. Und auch von der nächtlichen Arbeit, der er, wie er meinte, so fleißig nachgekommen, sah er nichts, keinen einzigen Satz, kein Wort. Luft musste es gewesen sein, in die er mit seinen Finger Schriftzeichen eingedrückt hatte, Luftstreiche, die er ausgeführt hatte, wie ihm jetzt dämmerte, was er nur in der Dunkelheit nicht bemerkt hatte.
In jüngeren Tagen hätte unserem Helden dieser Traum wohl arg zu schaffen gemacht. Jetzt aber, nach dem Erwachen, als er sich von der Erfolglosigkeit seines Schaffens überzeugt hatte, dauerte es nicht lange: da überfiel ihn ein beinahe befreiendes Lächeln. Wie einem Kind, das sich redlich bemüht hatte, war ihm zu Mute, als spräche zu ihm eine Stimme: "Wohl hast du in dir immer wieder den Hang verspürt, etwas Brauchbares und Gutes zu verfertigen, doch wie auch hättest du damit zufrieden sein können? Für den Augenblick zwar schien dir gut, was du geschrieben hattest, hättest du es dann aber nach dem Erwachen ein weiteres Mal gelesen, du hättest seinen Unwert erkannt. Nie ja hätte es deiner Liebsten das Erhoffte erbracht. Nur der Hang, nur das Bestreben, etwas zu schaffen, hat dich zeitlebens begleitet, so dass du dir unnütz vorkommen musst, wenn du dir deine Erfolge betrachtest. Bedenke es aber doch lieber so! Selbst wenn du alle Sprachen beherrschtest, ja wenn du sie bis in die tiefsten und verstecktesten Abgründe zum Vorschein zu bringen vermöchtest, ein wahrhaft unendliches Geschäft, für welches selbst eine Legion Engel nicht genügte, so hättest du ja auch damit nicht deiner Liebsten gedient. Denn die Sprache wurde uns nicht vom Himmel verliehen, dass wir uns aus eigener Kraft erheben, sondern dass wir im Umgang mit ihr bemerken, wie sehr sie uns fehlt. Mag also auch kein bedeutendes Werk, ja mag überhaupt kein Werk deinen Händen entstammen, so war doch wenigstens der Vorsatz nicht zu verwerfen, deiner Liebsten eine Freude zu bereiten. Sie wird ihrem ewig strebsüchtigen und ewig ungenügsamen Himmelsstürmer seine Projekte verzeihen. Der liebe Gott aber wird es so einrichten, dass sich in seinem Papierkorb noch ein Plätzchen findet, wo ihm dein Werklein wenigstens noch für deine guten Absichten steht."
Ich hatte mich gerade wieder einmal ausgetobt wegen dieser verfluchten Krankheit, die mich zu Tode hetzt, hatte den lieben Gott angeklagt und ihm mit Gift und Galle zugesetzt: da trat er zu mir ins Zimmer, traurig nachdenklich, gesenkten Hauptes, ein wohlgeschliffenes Beil in der Hand. Nachdem er mir sein Beil ausgehändigt hatte, neigte er sein Haupt und sprach: "Nun also, schlag los! Nun kannst du mir die Strafe geben, die mir gebührt, kannst mich loswerden für immer!" Was sollte ich tun? Sollte ich das Beil erheben und zuschlagen, weil Gott so elend versagt hatte: weil er uns Krankheit und Tod auf den Hals geschickt hatte, ohne uns wissen zu lassen, wozu das alles gut ist? Oder sollte ich zuschlagen, weil man uns falsch unterrichtet hatte und der Gott, der uns alle beherrscht, offenbar nicht jener allmächtige Herr war, für den wir ihn immer gehalten? Oder sollte ich ihn umarmen und an mich drücken und ihm sagen, dass ich endlich dabei sei, zu begreifen, dass die letzte, nie mehr zu überbietende Macht die Ohnmacht ist, das gänzliche Aufgeben aller Wunscherfüllung, und dass von daher hier nichts mehr zu richten sei und nichts mehr zu verzeihen? Wenn ich daran zurückdenke, sehe ich nur immer noch sein trauriges Gesicht und wie er mir das Beil überreicht, und das rote Lederkissen zu seinen Füßen.
Da saß er nun also, unser Held, beim Abendmahl dicht vor dem Fenster, mit dem Blick nach draußen. Allein saß er da, fast vier Jahre waren es nun schon, dass er allein dasaß. Vor ihm stand eine Käseschmelzmaschine, mit Kartoffeln und etwas Raclette, den er noch von seinem Geburtstag übrig hatte, und draußen vor ihm lagen die Wiesen, die im Spätlicht mit einem letzten Schimmer von Grün auf sich aufmerksam machten. Fast ein wenig zu hell schien es ihm draußen zu sein im Vergleich zu den vorangegangenen Tagen. Die Uhr ging immerhin schon gegen 18 Uhr und immer noch war es nicht dunkel draußen. Inzwischen war allerdings auch schon Mitte Februar geworden; die Tage dauerten nun schon eineinhalb Stunden länger als noch zur Wintersonnwende, und der Ort, wo die Sonne hinter den Bergen verschwand, lag jetzt bereits gute 14° westwärts. Heute, so wollte ihm scheinen, hatte der Tag, wiewohl es kein sonniger gewesen, mit einer gewissen stillen und milden Vorfrühlinghaftigkeit gewirkt, weshalb er sich auch nicht die Aussicht nach draußen durch ein vorschnelles Verschließen der Rollläden wegnehmen wollte. So saß er also beim Abendmahl, gleichsam als speiste er draußen.
Dass er gesehen werden konnte, störte ihn wenig. Wege gab es hier keine. Und wenn der eine oder andere Hundebesitzer über die Wiesenflächen bei ihm vorbeikommen sollte, so mochte er es tun. Gedanken würde ihm schon keiner von der Stirne ablesen. Im Übrigen hatte ja auch er in früheren Tagen hin und wieder genauer auf die benachbarte Talseite geschaut, mit dem Fernrohr nämlich, um nämlich den Kindern zu zeigen, was für ein Zaubergerät so ein Fernrohr ist. Da hatte er sie in eines der etwa drei Kilometer entfernten Häuser hineinschauen lassen, auf ein Bild an der Wand in einem Zimmer hatte er ihre Blicke gelenkt, das den Leib eines Pferdemonsters zeigte, vielleicht vom Kampf der Lapithen gegen die Kentauren. Dass man schier Unsichtbares sichtbar machen konnte, und das ohne Strom und ohne Energie, das schien ihm für die Kleinen noch spannender zu sein als ein Blick auf die Jupitermonde oder auf eine der fernen Galaxien, wo es keinen Vergleichsmaßstab gab. Doch das war einmal. Und was er sich damals dabei für die Kinder ersehnt: dass sie ins Nahe und Nächste wie ins Weitentfernte gelangen sollten, das hatte ja auch er nur im Ansatz erreicht. Ob wir uns nämlich auch schon fast jeden Ort im fernsten Universum nahe zu bringen vermögen, so reichen die kunstvoll erdachten Augen-Geräte doch immer noch nicht weiter, als dass wir auf wildwüste lebensfeindliche Landschaften blicken, oder auf Monsterkörper, die als einsame Himmelstrabanten von der Erde abgehalten werden müssen. Zu dem aber, was er früher einmal glaubte, verstehen zu müssen, war unser Held nicht gelangt. Die sokratische Grenze des Wissens hatte er nicht erreicht. Ja, sie schien ihm auch nicht mehr der Weg, um zum Unsagbaren vorzudringen. Der Weg der Wissenschaft und der Weg zur Erkundung der Möglichkeiten zu einem ewigen Leben, schienen sich wie zwei windschiefe Geraden zu meiden. Aber auch auf dem anderen und letzten Weg war er nicht vorwärts gekommen. Das Meiste, was seine jetzige Gegenwart ausmachte, waren böse und unbrauchbare Erinnerungsstücke aus jener Zeit, als er sich mit seinem kranken Weibchen von einem Arzt zum nächsten hatte schleppen müssen, als er auf das Diktat von Krankenhäusern und Krankenkassen, von Vormundschaftsgerichten und weiß Gott welchen Ruhestörern, auch noch bürokratischen Erfindungen hatte genügen und demütigende Gänge verrichten müssen. Das toste und tobte noch immer in ihm. Statt in beglückenden Träumen der Liebsten als Botschafterin des ewigen Lebens zu begegnen, hatte er nur sich selber immer wieder als unfertig, unfähig und unbeherrscht zur Kenntnis zu nehmen. Hätte man in seinem Leben nichts als Glück erlebt, so kam ihm nun in seinen Gedanken, so würde man wohl von nichts als von Glück träumen. Doch zögerte er, daraus den Schluss zu ziehen, dass nur den Glücklichen das Glück einer ewigen Heimat winken könnte.
Unwillkürlich hatte er beim Abendmahl inne gehalten und aufgeschaut; fast als schaute er aus, woher ihm Hilfe käme. Da aber war ihm eine buntstrahlende Lichterkette vom benachbarten Eichelberg herüber erschienen. Sie war um die dort gelegene Wirtschaft geschlungen, zu der auch ein Tanzsaal gehörte. Zumal über dem schneebedeckten Dach, unter dem er lag, nahm sie sich prächtig aus. Unser Held, indem er sich den Eindrücken überließ, schaute und staunte. Etwas wie das Gefunkel von Füßen kam ihm in den Sinn. Und er dachte an eine kleine Feier, eine Verlobung, die dort in Gang sein mochte. Vielleicht aber war es auch eine Hochzeitsgesellschaft, die den Saal für den Abend gemietet hatte, mit vielen jungen Leuten, Freunden und befreundeten Paaren. Einst, auf einer solchen Hochzeitsgesellschaft, hatte ja auch er sich seiner Liebsten zu erkennen gegeben. Wie herrlich sie damals zusammen getanzt hatten. Dass er zuerst an einem anderen Tisch seinen Platz gehabt, störte überhaupt nicht. Als ob ein wahrer und ernsthafter Liebhaber nicht seinen Stuhl neben die von ihm auserkorene Liebste zu tragen im Stande wäre! Solcherart bald sich den Erinnerungen zuwendend, bald in der Gegenwart zu Haus, überkam es ihn, als ob man auch ihn mit seiner Liebsten eingeladen hätte. Ja, schön hatte sie sich gemacht, wie er sie jetzt sah in ihrem weißen, mit feinen Borten versehenen Prinzesskleid und der blau schimmernden Mondsteinkette darüber. Dass Räuber beim letzten Hauseinbruch die Kette mitsamt dem Goldschmuck, einschließlich des Eheringes mit sich genommen hatten, fiel ihm zwar flüchtig ein, störte ihn jetzt aber nur noch wenig. Im Gegenteil! War er jetzt nicht frei? Frei, dahin zu ziehen, wohin er wollte? An kein Haus und an keine Heimat mehr gebunden? Hauptsache, er sah die Liebste und sie waren glücklich. Und er sah sich wieder, wie er auf sie zuschritt, wie er sie um einen Tanz bat und wie er ihr dann alsbald schon als ihr stolzer Tänzer nicht mehr von der Seite wich, ja, wie er sich vorgenommen hatte, damals, nie mehr von ihrer Seite zu weichen. Endlich, als er draußen nichts mehr sah außer dem dunkelnden Himmel und der tiefschwarzen Erde, ließ er die Rollos hernieder.
"Ach die Sänften, welche meine Schöne wegtrugen!
Lastschiffen glichen sie in den Krümmungen des Tales von Duda!" (2. Kaside)
Den ganzen Tag über waren wir dahin gezogen, oftmals indem wir die eingetretenen Pfade hatten verlassen und uns neue Wege hatten aufsuchen müssen am Rande der Wanderdünen, wo wir unter den Glutstrahlen der Sonne und den Sandstürmen, einer hinter dem andern, den ermüdenden Windungen folgten, ohne eine Rast oder auch nur eine Verschnaufpause einzulegen. Nur zu Mittag hatten wir einmal für kurze Zeit die Route verlassen und uns einen Hügel hinauf mit unseren Tieren bewegt, wo unsere Führer um Wasserlöcher wussten, den ärgsten Durst der Tiere zu löschen. Endlich, es ging bereits gegen Abend, nachdem wir die unermesslichen Weiten der Wüste durchschifft hatten, hatten wir glücklich den Lagerplatz erreicht mit seinem Quellwasser und frischen Grün. Aber auch jetzt war die Zeit noch nicht gekommen, die Hände in den Schoß zu legen. Die Sonne war eben am Untergehen, da waren schon fast alle Tiere versorgt und zur Ruhe gebracht. Einige unserer Leute hatten sich unterdessen zu den Zeltplätzen begeben, um sich dem Aufbau der Zelte und der Vorbereitung des Abendmahls zu widmen. Die Lagerfeuer waren längst entzündet, die Töpfe und Geschirre hervorgeholt, als alle zusammen kamen, um sich um die Lagerfeuer zum Mahl zu scharen. Nach dem Mahl aber sollten die Gesänge beginnen. Die Instrumente waren längst herbeigebracht und gestimmt, das Schiedsgericht sowie die Zuhörer an ihren Plätzen und auch der Vollmond war unterdessen aufgegangen und stand leuchtend hell über dem Plan, als die ersten hervortraten, um mit ihren Gesängen zu beginnen.
Als Ehrengast der Karawane war ich zum Schiedsgericht hinzugewählt worden, sodass ich aus nächster Nähe alles hören und sehen konnte. Einer der Ersten, der mit glühenden Augen und einer noch glühenderen Stimme zu singen begonnen hatte, war ein junger Mann, beinahe noch ein Jüngling, wie ich mich noch sehr gut erinnere. Sein Nasib hatte er folgendermaßen begonnen:
Der Mantel meines Herzens ist zerrissen,
getrennt von meiner Liebsten steh ich da,
und muss, kann ich´s auch nicht, muss sie jetzt missen,
nur noch der Liebsten Ferne ist mir nah.
Nach weiteren Sängern, die das Heimweh nach ihrer Liebsten, teils aus eigenem Antrieb, teils von uns aufgefordert, vorgetragen hatten, hatte dann noch ein letzter junger Mann ein Lied vorgetragen. Er gehörte nicht zu der Karawane. Wir hatten ihn erst vor kurzem in der Wüste entdeckt, wie er zusammen mit einer Kamel-Stute, bei einem Ginsterbusch hingekauert dagelegen. Vor zwei Jahren hatte er seine Liebste verloren, worauf er begonnen, die Wüste zu durchwandern, um Ausschau nach ihr zu halten. Zusammen mit dieser Kamel-Stute an der Hand, auf der früher einmal seine Liebste gesessen und die sie einst mit einem Medaillon aus Gold ausgezeichnet hatte, war er nun schon seit zwei Jahren unterwegs, als wir auf ihn stießen. Seine Vorräte waren aufgebraucht und weit und breit war nichts in Sicht, was ihm sonst hätte weiterhelfen können, sodass er, ziemlich von Kräften gekommen, sich niedergelegt hatte, den Tod zu erwarten. Schon viele Karawanen waren an ihm vorbeigezogen, ohne dass es ihnen gelungen wäre, ihn zum Mitkommen zu bewegen. Nur unter dem Beding, dass wir mit ihm nach seiner Liebsten Ausschau hielten, hatten wir es geschafft, dass er sich uns anschloss. Nachdem er die Gegend, der Gewohnheit gemäß, auf der Suche nach seiner Liebsten nach allen Seiten hin abgeschritten und endlich auch bei uns Platz genommen hatte, hatten wir ihn aufgefordert, uns gleichfalls ein Lied zu singen.
"Als wir mit den Zelten zwischen Aldechul und Haumel weilten", so sagte er, während er sich daran machte, sein Instrument, eine kaum mehr als zwei Handteller große, reich verzierte Gitarre zu stimmen, "da geschah es, dass ich auf eine Maid aufmerksam wurde, wie ich zuvor noch nie eine gesehen hatte. In wiegendem Schritt kam sie einhergegangen und nahm alle meine Blicke gefangen. Damals begann die Liebe so von mir Besitz zu ergreifen, dass ich mir mein Leben nicht anders mehr vorzustellen vermochte als in ihrem Dienst. Wie groß auch die Mühen gewesen wären, nie hätte ich sie für etwas anderes erachtet als für ein fröhliches und erquickliches Beginnen, bis dass dann das Unaussprechliche über mich hereinbrach. Nun aber bleibt mir nichts anderes mehr übrig, als nach ihr zu suchen, mag auch von allem Beständigen nichts anderes mehr bestehen als das Unterpfand unserer Liebe." Und wenn er zuvor auch noch Spuren der Müdigkeit und der Abgeschiedenheit geäußert hatte, so belebte nun ein inneres Leuchten seine Augen, die für einen Augenblick wundervoll erglänzten; und so hub er dann an zu singen:
Liebesdiensten, Liebespflichten,
ob beim Gehen, ob beim Ruhn,
nur für Leila zu verrichten
galt mein Wünschen, galt mein Tun!
Jetzt indessen selbst verbittern
Lagerstätten mir den Sinn,
nur nach ihr in bangem Zittern
such ich fort, weiß nicht wohin.
Reste nur rauchender Trümmer,
wo die Schönen einst gelacht,
trüben mir der Augen Schimmer,
die mich angelockt zur Nacht.
Wo von Pflöcken einst umgeben
Zelte standen stolz zuhauf,
gähnen jetzt nur noch daneben
Gräben von des Wassers Lauf.
Ängstlich äugende Gazellen
auf dem sandumwehten Platz,
tret´ ich näher, plötzlich gellen;
fort sind sie mit einem Satz.
Ach, wie wein ich um die Wette
mit dem Regen! Frisches Grün
leicht entlockt er jeder Stätte.
Ich allein muss weiter ziehn.
Nirgends mehr kann ich verweilen,
nirgends winkt zur Ruh ein Platz!
Mir auch selbst muss ich enteilen
ohne meines Lebens Schatz!
Stute, du, durch dunkle Stunden
mit der Liebsten Gold geschmückt!
Hätten Leila wir gefunden,
allen Leids wären entbunden,
ach wir wären hochbeglückt!
Als er aber mit dem Gesang zu Ende gekommen war und ich mich umschaute, befand ich mich allein. Weder von dem Sänger mit seiner Stute, noch von dem Preisgericht, noch auch von den Zuhörern war irgendwer mehr zu sehen. Sie werden sich in die Zelte zurückgezogen haben, dachte ich, zumal da es unterdessen zu regnen begonnen hatte; der Tag war anstrengend und schwer und müde waren wir ja alle. Als ich aber nach dem Zeltplatz hinüberschaute, war auch von den Zelten nichts mehr zu sehen. Nur ein paar Lagerfeuer waren übrig geblieben, die am Verlöschen waren und am Verrauchen.
Eine Sammlung von Mutters Briefen ist uns nicht erhalten. Was erhalten ist, sind ein paar wenige Briefe und Postkarten, die sie uns zugeschickt hat und die noch zerstreut da und dort zu finden sind. Gewiss Mutters Poststücke waren durchaus keine Schreiben, wie wir Männer sie zu schreiben pflegen, die, an wen auch immer gerichtet, geistreich und immer auch ein wenig an die Nachwelt adressiert sein wollen. Uns Männer drückt und drängt es zumeist, etwas aus ihrem Leben zu machen, und ergehen sie sich in einem Brief, so haben sie immer auch ein wenig Rechenschaft abzulegen, dass sie sich in diesem Sinn abgemüht und etwas erreicht haben. Frauen, wie unsere Mutter, denken da etwas bescheidener. Von Natur aus gesellig veranlagt, sind sie schon zufrieden, wenn es nur gesellig bei ihnen zugeht und wenn jeder sich wohlfühlt. In diesem Sinn waren auch Mutters Briefe stets als Einladung zu einem zwanglosen und beinahe gewöhnlichen Austausch gedacht. Berichten wollte sie und erzählen, was die Tage eben gebracht hatten und was zu erwarten stand, um gelegentlich dann auch die Ansichten und Meinungen des Briefpartners einzuholen oder sich seiner Zustimmung zu versichern. Und gewiss waren ihr allemal die Briefe die liebsten, in denen sie voll Dank berichten konnte, dass alle wohlauf waren und keinem etwas fehlte.
Mutter war eine ebenso fleißige wie einfühlsame und genau berichtende Schreiberin. Was immer ihr an freier Zeit zur Verfügung stand, verbrachte sie mit solchem Schreiben. Nicht dass sie deshalb die ihr obliegenden Arbeiten im Haus flüchtig erledigt hätte. Kam sie heute nicht zum Schreiben, so tat sie es eben morgen.
Die allerersten Briefe schickte sie nach Russland, ins Feld, mit Nachricht vor allem über ihre beiden Kinder. Nach dem Krieg dann, als der Vater mit dem Neuaufbau seiner beruflichen Existenz vollauf zu tun hatte, schrieb sie Briefe an eine Tante nach Amerika, in welchen sie, verbunden mit dem Dank für die lebensrettenden Esspakete, über ihr Leben im Nachkriegsdeutschland berichtete. Später dann kamen weitere Briefpartner hinzu, Briefe zusammen mit Päckchen gingen vornehmlich auch in die sowjetisch besetzte Zone, bis ihre Briefe endlich Freunde und Verwandte in aller Welt erreichten. Neben genaueren Antworten zu den ihr zugegangenen Anfragen und Mitteilungen pflegte sie von den häuslichen Ereignissen zu berichten, über glücklich begangene Geburtstage und Festtage, aber auch über Unglücksfälle und betrübliche Stunden, wobei sie sich nie über jemanden anklagend oder gar gehässig geäußert hätte. Nie musste sie sich den Teufel vom Leib schreiben und nie lag ihr am Herzen, jemanden zu kränken oder niederzumachen; und wenn sie ihren Briefen auch viel Persönliches anvertraute, so geschah es doch stets im Vertrauen auf ein wechselseitiges Verständnis, ebenso wie sie alle Ereignisse, was auch immer geschah, im Licht eines Gottesvertrauens zu begreifen oder doch wenigstens hinzunehmen versuchte. Nie wäre ihr eingefallen, etwas Außerfamiliäres oder gar außergewöhnlich Geistreiches als Glanz- und Paradestück ihres Geistes zur Sprache zu bringen. Auch wenn sie einiges las, so findet sich doch keine einzige Zeile, die uns von ihrer Lektüre, von Anstrengungen im Lesen, von der Aneignung oder der Diskussion fremder Gedanken berichten oder wo wir mit dabei sein könnten, wie sich bei ihr Gedanken entwickelten. Und trat einmal der Fall ein, dass sie auf einen Rat oder auf eine Belehrung wartete, so geschah das vermutlich nur mündlich, niemals in einem Brief. Auch hätte sie nie erwartet, dass ihr jemand für gute Ratschläge gedankt oder gar, dass er ihr wegen eines schön formulierten Satzes Komplimente gemacht hätte. Dass man sich aber Zeit nähme für ihre Briefe, so wie auch sie sich Zeit nahm für die an sie gerichteten Briefe, galt ihr für ausgemacht. Es war eine sehr herbe Enttäuschung, als sie eines Tages bemerkte, dass man einen ihrer Briefe nur so flüchtig überlesen hatte, dass man, als sie mündlich darauf zu sprechen kam, nichts mehr davon wusste. Damals, der Vater war schon gestorben und sie lebte allein, damals dürfte sich die Mutter über den Sinn und den Zweck eines brieflichen Austauschs genauere Gedanken gemacht haben. "Sie müssen sich eben die Tennisspiele im Fernseher anschauen und da haben dann keine Zeit mehr zum Briefe-Lesen", hatte sie nur einmal beiläufig, beinahe entschuldigend gesagt.
Weiter hat sie nichts dazu gesagt und auch ich bin nicht weiter in sie gedrungen. Wenn ich also auch nicht genau weiß, was es gewesen sein mag und was Mutter da bewegte, so stelle ich mir doch gerne vor, dass es etwas Bedeutendes war. Ich bilde mir ein und fantasiere es dann wieder aus mir heraus, und ein paar Hinweise aus Mutters gesamtem Leben geben mir dabei das Geleit, dass es nichts Geringeres war als die göttliche Schöpfungsordnung, die sie damals im Blick hatte, dergestalt, dass der göttliche Schöpfer die Gottesliebe vornehmlich den Frauen vermacht hat, den Männern aber die Frauenliebe, wohl wissend, dass sie über diese doch nie hinauskommen, sodass es die Aufgabe der Kultur wäre, in dieser Stufung und Verzahnung das Schönste zu erreichen. Betrüblich war eben nur, wenn Frauenliebe und Gottesliebe von der Liebe zum Tennis in den Schatten gestellt wurden. Was für ein wundervoller Briefwechsel, ja was für eine Erneuerung der Erde, der wechselseitigen Inspiration und Entfaltung hätte da einsetzen können! Doch das sollte wohl nicht sein. Immer muss eine Afterliebe die große Liebe ersetzen! Fest steht indessen, dass Mutter nicht aufgegeben hat. "Wo wir uns schon selber nur so ungenau verstehen", so mag sie endlich, zur Güte und zum Verzeihen bereit, zu sich gesprochen haben, "was erwarten wir denn da von den anderen?" Statt sich aber mit der Bedeutungslosigkeit des Menschen abzufinden, fand sie einen Ausweg, indem sie sich noch in ihrem hohen Alter auf die Schülerbank setzte und Hebräisch lernte. Aus ihrem Lieblingspsalm 136, dem großen Hallel, konnte sie den Kehrvers "Denn in Ewigkeit währt sein Erbarmen!" im Original. Man findet ihn auf der Platte über ihrem Grab.
Ja, sie sind für die Ewigkeit gemacht, diese Augenblicke, wenn wir als Kind unsere Eltern wahrnehmen, während sie uns zulächeln, und wir ihnen ihr Lächeln zum ersten Mal durch unser Lächeln versüßen. Mag es dem Intellekt des Kindes auch noch verborgen sein, was hier geschieht, nämlich eine wechselseitige Übergabe der Schlüssel zu den Toren unseres Herzens, so ist doch nichts weniger im Gang als die Besiegelung eines Verhältnisses, dem ein gegenseitiges Vertrauen zu Grunde liegt und das eine gegenseitige Treue begründet. Was für ein großer Gewinn, was freilich auch für eine Gefahr eines Verlustes, was für eine große Verantwortung! Dieses Urmodell eines Bundesschlusses, so will mir scheinen, prägt unser ganzes Leben dergestalt, dass alles spätere Ins-Auge-schauen an jene ersten Augenblicke anknüpft und aus ihnen heraus lebt: Der Mutterblick wie auch der Vaterblick sind es, die, beide von ähnlicher Urkraft, vom Kind beantwortet werden, mag es sich um einen Sohn oder um eine Tochter handeln. Lächelndes Einander-begrüßen mag denn dann heißen: wir kennen uns, wir haben uns gern, wir gehören zusammen und mag die Lust erwecken auf neuerliches Beisammensein!
Aufmerksam auf die Möglichkeit einer solchen Auslegung des wechselseitigen Wahrnehmens wurde ich durch ein Foto, das Vater Paul zusammen mit seinem etwa ein Jahr alten Töchterchen zeigt. Wie er es begrüßt und wie er von ihr begrüßt wird, zeigte mir plötzlich etwas Einmaliges, wiewohl ich kaum in der Lage bin, es genauer zu beschreiben. (Kann es ein Maler anders malen als ein unwissender Fotoapparat, wenn er sich nicht entschließt, abstrakt zu malen und damit zum fotografischen Bild einen Kommentar zu malen?) Gerade im Kontrast zur Begrüßung mit mir glaubte ich zumindest das Singuläre zu erfassen. Denn wenn freilich auch wir, der Großvater und seine Enkelin, uns herzlich zulächeln, so ist es doch kein so geheimnisvoll wissendes und verständnisinniges Lächeln wie mit ihrem Papa, sodass ich behaupten möchte, dass alle freundlich lächelnde Begrüßung nur als eine Folge oder Teilhabe jener ersten Begrüßungen verstanden werden kann. Dass diese Blicke für die Ewigkeit gemacht sind, will freilich nicht heißen, dass sie sich nicht wandeln und ausformen. Wenn Gefühl und Denken unser Schauen begleiten, dann liegt nahe, dass mit der Ausgestaltung derselben auch die Blicke von Auge zu Auge sich ausgestalten, ja dass sie sich weiterentwickeln und reicher werden müssen. Auch ist es gewiss nicht so, dass dieses aufeinander zu und ineinander Schauen beliebig abrufbar wäre. Es ist etwas, was seine Zeit hat und seine Zeiten kennt. Es liegt nahe, dass der drei Monate alte Bruder diese expliziten Augenblicke noch häufiger braucht als die eineinhalb Jahre alte Schwester, die ja bereits in einer viel abwechslungsreicheren bzw. reichhaltigeren Welt lebt. Und warum sollte nicht jenes zermürbende Schreien des zwei bis drei Monate alt gewordenen Jungen im Vorfeld des wechselseitigen Rekogniszierens erfolgt sein?
Auch bei Mama Annette und ihrem Töchterchen glaubte ich, in den letzten Ferien in diesem Sinn Spuren einer engeren Zusammengehörigkeit zu entdecken, zumal als das 7jährige Kind nach dem Besten in jenen Ferien befragt, aussagte, dass es jene Höhlen und geheimen Verstecke gewesen, die es der Mama im Tannenwald gezeigt hat! Noch sehe ich ja, der ich leise mit dabei gewesen, das der Mutter zugewandte, aufmerksam gespannte Gesicht, und die Hand, die auf den Ort hinweist, diesen Ort der Idylle mitten in der Bedrängnis des Waldes, und höre durchs Gezweig der Vöglein Lied:
O komm, o komm! Wir wollen uns verstecken,
ein Nestlein ist´s, in dem die Vöglein hecken!
Vielfältig und immer reichhaltiger werden die Formen des Beisammenseins, vielfältig und immer reichhaltiger auch der gemeinsam erlebte Augenblick. Was den kleinen Erdenbürger betrifft, so muss er unterdessen nicht mehr allzu sehr schreien. Er kennt die Stunden an der Brust seiner Mutter, zu denen er mitunter auch noch ein zusätzliches Schlummerstündchen beim Vater hinzugesellt, auf dessen von feinster Haarwolle umhülltem Bauch oder auch quer über dessen Schulter. Freilich heißt das nicht, dass er nicht auch Stunden kennt, wo er sich mit der ihn umgebenden Objektwelt beschäftigt, wozu eben gerade auch die ihn noch fremden, unentwegt fleißigen Arbeiter gehören, nämlich seine Hände und Finger. Über den Kontakt mit den ihm vertrauten Angehörigen geht ihm aber nichts.
Dass wir vieles von dem auch im Tierreich im Spiel der Neuronen wiederfinden, hindert uns nicht, hier einen besonderen Weg zum Mensch-Sein zu entdecken, auch nicht, wenn neben uns noch andere Primaten das Lächeln im wechselseitigen Blick zu einer vertieften Bindung gebrauchen sollten. Fast möchte ich sagen: die Entwicklung und Vertiefung des so gegründeten Augenblicks, dem wir nicht zuletzt auch durch die Sprache Dauer verleihen, vor allem aber durch den immer wiederkehrenden Gebrauch, ist es, was unsere wahre und einzige, ja einzigartige Biografie ausmacht. Und wenn auch die Mutter einmal den Blick nicht mehr zu erwidern vermag, da allem Leben nun einmal eine Grenze gesetzt ist, so ist dann doch die Braut, die Liebste zur Stelle, die, längst auf diese Aufgabe eingeschworen, als Mütterchen eine Fortführung und Weiterentwicklung ermöglicht.
Freilich ist es nicht so, dass das alles wie ein Naturgesetz und ohne unser Zutun so über uns käme. Gibt es wohl auch manch einen auslösenden Mechanismus, so bedarf es immer auch einer gewissen Bemühung und Anstrengung. Eitel Glück ist auf dem Gebiet der Augenblicke ebenso wenig zu finden wie im Leben ein andauerndes, zufrieden stellendes Glück. Insofern hat der Dichter Recht, wenn er es verschmäht, es sich bequem zu machen in einem Zustand ewig gleicher Behaglichkeit oder des Verliegens. Was für ein Glück ist es aber, wenn Auge ins Auge blitzt! Was für ein Glück, wenn dem Jüngling vergönnt ist, seine Liebste zu finden und sich zu bewähren, was für ein Glück, wenn Entsprechendes dem jungen Mädchen widerfährt, um sich dann ihren unbeschreiblichen Blicken für immer zu widmen.
Wo aber Gewinn ist, da ist auch die Gefahr des Verlustes. Was für ein Drama, das Drama einer Blickverweigerung! Wenn die Augen eines Kindes, das groß geworden und etwa noch im Elternhaus lebt, die Augen der Mutter oder des Vaters verschlossen finden oder auch umgekehrt! Oder wenn Liebende dem süßen Willkomm aus dem Weg gehen! Ist dann nicht, als hätten sie einander zu Tode verurteilt oder wären schon gestorben?
Was aber, wenn kein Augenblick mehr möglich ist, wenn der Geliebte nur noch auf den Tod krank daliegt, mit aufgequollenen und blind gewordenen Augen, die nur noch auf der Suche zu sein scheinen nach der Ruhe und Geborgenheit der Nacht, dass man nur noch aus der Ferne dabei steht, weil man sich scheut, ihn auf seinem einsamen Gang zu erschrecken? Was wenn einem dann der Geliebte, wenn einem die Braut dahinsinkt und der Tag der Liebe für immer erlischt? Was, wenn sich der Tod zwischen die Liebenden gedrängt hat und sie daran hindert, sich auch künftig noch mit dem Brot der wechselseitigen Blicke zu ernähren? Und mögen sie sich auch tausendmal zugeschworen haben, immer vereint zu bleiben, wie soll es geschehen, dass der Überlebende in der ihn umgebenden Fremde nicht zu einem Fremden wird? Mag er sich nur nicht selber so entfremden, dass ihn Zweifel beschleichen, ob ihn seine Liebste wiedererkennt. Mag ihm sein Herz nur nie so schwer werden, als hätten sie sich nie gekannt. Versuch er lieber, sich schmeichlerisch einzureden, als müssten sie alles verlieren und vergessen, selbst auch jene so kostbaren Augenblicke, um sie nach Beendigung aller Äonen neu zu empfangen.
Wie doch alles verloren geht, selbst die erprobtesten und selbstverständlichsten Handgriffe und Gewohnheiten, wenn man ihnen nicht mehr nachkommt! Seit ich mein Schätzchen nicht mehr bei mir habe, kommt mir die Gegenwart, immer unheimlicher vor, als wären Mächte im Spiel, denen nichts anderes obläge, als unentwegt darauf hin zu arbeiten, alles zu verändern und zu entfremden und auseinanderzubringen, bis sich nichts mehr kennt und sich nichts mehr findet!
Da wachst du des Nachts auf und du merkst, wie unbehaglich und kalt dir ist. Auch mit einer Zusatzdecke wird dir nicht wärmer. Denn die Kälte kommt nicht nur von außen. Selbst die Heizung, die sich sonst doch immer wieder einmal räuspert und mit Getöse anspringt, lässt nichts mehr von sich hören. Ah wie schön das wäre, wenn du sie arbeiten hörtest. Fast ist dir, als würdest du vor Glück in den Heizkeller eilen und sie umarmen, wie man einen lieben Menschen umarmt, wenn er nach Tagen langer und schwerer Krankheit wiedergenest. Doch da ist nichts zu hören, wie angespannt du auch lauschest. Endlich - du bist in den Heizkeller hinabgeeilt und hast die Türe aufgerissen - blinkt dir auch schon das rote Lämpchen entgegen. Als hätte es auf dich schon gewartet, dir anzuzeigen, dass hier nichts mehr läuft. Oder will es dir weißmachen, dass Sommer draußen herrscht? Ist es blind geworden hier drunten im dunklen Keller oder krank? Wär wenigstens die Wintersonnwende in Sicht, dann könntest du dir den Gang in den Heizkeller ersparen und hoffen auf länger werdende Tage. Doch die Tage, wie du sie durchschaut hast, werden nicht mehr länger, nur immer noch kürzer. Bald schon werden auch noch die letzten Sonnenaufgänge ausbleiben. Dann wird dich nichts mehr daran erinnern, dass Eos einst den Himmel weiß gefärbt und dass dir der Anbruch eines Tages bevorgestanden. Was aber sollst du tun? Dir noch rasch einen Holzofen besorgen Holz aus dem Wald zusammenklauben und Büchsen und Dosen zum Essen und zum Trinken? Zum Glück, so kommt dir, zum Glück muss dein Mütterchen das alles nicht mehr mitmachen. Dabei wolltest du doch, sie wäre noch da und wäre neben dir. Decken wolltest du ihr herbeischaffen von überall aus dem Haus und sie schmücken mit all der dir noch verbleibenden Fröhlichkeit. Ja, sie zu umklammern und zu beschützen, das hattest du dir einmal zur Aufgabe deines Lebens gesetzt. Aber das geht nicht mehr, das wird nie mehr geschehen, nachdem du sie verloren. O Elend, wenn es mit einem einmal so weit gekommen ist, dass man alleine sein und sich hinausjagen lassen muss, bis ans Ende der Welt.
Was für Männer das waren, mit was für Eigenschaften, die eines Tages vor meinem Fenster standen und zu mir ins Zimmer hereinschauten, wusste ich anfangs noch nicht. Ich hatte sie nicht näher untersucht, diese jeweils aus drei gewälzten Schnee-Kugeln zusammengesetzten Wesen, und hatte mich auch nicht bei deren Erbauern erkundigt. Dass es aber drei waren, einer jeweils etwas größer als sein Hintermann, das weiß ich gewiss. Und auch daran erinnere ich mich noch, dass sie etwa so groß waren wie ihre Erbauer, einem Mädchen von 6 und zwei Jungen von 9 und 12 Jahren, dass sie den Umständen entsprechend geschmückt waren, dass die Arme aus Ästen bestanden und dass für die Augen und für die Zähne verschiedene Steine und für die Haare Zweige zur Verwendung gebracht worden waren. Vor allem aber hat sich mir dann eingeprägt, wie die drei Wesen fast zwei Wochen lang zu mir ins Zimmer herein geschaut haben, und zwar auf so ruhige und unerschütterliche Weise, als wollten sie sagen: "Auf was sonst kommt es an, als dass wir ruhig und unerschütterlich bleiben, statt dass wir aus Übereifer oder Überangst oder auch nur aus Ungeduld die Welt durchrennen?" Was für eine Haltung, was für ein Anstand, was für eine Verschwiegenheit, die doch keiner hinter diesen urweltlichen Gesellen vermutet hätte. Fast als ob sie schon bei der ersten Arbeit zu ihrer Entstehung, ja wohl gar schon bei deren Planung mit dabei gewesen wären und sich mit allem dem auf sie zukommenden Leben einverstanden erklärt hätten. Noch weiß ich um den Platz auf der Wiese, wo sie gestanden haben, fast als sähe ich sie noch dort, wiewohl jetzt, in den ersten Vorfrühlingstagen, längst auch das allerletzte Flöckchen ihrer winterlich-weißen Substanz aufgezehrt ist. Einerlei, ob man ihnen Aufmerksamkeit geschenkt und Interesse entgegengebracht hat, ob man versucht hat, sich in sie hineinzuversetzen, weil man etwas Bedeutendes hinter ihnen vermutete, oder ob man sie links hat liegen lassen: alles das schien sie nicht im mindesten zu berühren. "Was geht es uns an, was ihr von uns denkt" schienen sie zu sagen, "genug, wenn nur wir einverstanden sind mit dem, was mit uns geschieht!" Ja, selbst als der Föhn durchs Tal zog und den Schnee wegtaute, und ihnen die Zähne herausfielen und die Augen erblindeten, und als dann auch die Arme nicht mehr Stand hielten und abfielen, ließen sie es sich gefallen: bis endlich, eines Tages, die Körper aus Schnee dahingeschwunden waren und nur noch die etwas haltbareren Requisiten am Boden lagen: die dunklen Äste und die verschieden geformten Steine. Es war an einem Tag, an dem ich am Morgen noch, der Gewohnheit gemäß, den Wetterbericht in mein Tagebuch eingetragen hatte: "Windstille", so hatte ich eingetragen, "Windstille und Wolken über dem Tal, wie ein Flachdach, jeden Einbruch des Lichts verhindernd." Gegen Mittag war es dann so weit. Ohne dass die Windstille aufgehört hatte war das Flachdach abgetragen und der heiterste Tag im Frühling war da. In der Nachmittagssonne spazierte ich nach draußen und räumte weg, was von den Schneemännern noch übrig geblieben.
Unentwegt und immer wieder gelingen einem gutgepflegten Kind die herrlichsten Werke. Im kleinen Kreis seines Formenvorrates vermag es, Zeichnungen und Bilder, aber auch kleinere Sprachwerke anzufertigen, die in ihrer Frische und Originalität ihresgleichen suchen. Zeichnungen von Kindern, so hatte ich mir einmal vorgenommen, als die Kinder noch klein waren und uns Tag für Tag mit wundervollen Werken überraschten, Zeichnungen von unseren Kindern sollten das Haus beleben und gleichsam ihre Mitte bilden. Heute aber, nachdem die Kinder längst aus dem Haus sind und jene Bilder als unübertreffliche Meisterwerke leicht als anspruchsvolle Vorbilder missverstanden werden könnten, sehne ich mich nur noch danach, dass mir mein Schätzchen das Haus erfüllt. Selbst die Fotos, mit denen ich meinen Schreibplatz umkränzt habe, sind ja kaum mehr als eine Ablenkung vor der unstillbaren Sehnsucht des Herzens. Wieder dorthin zu gelangen, wo ich war, als ich sie noch bei mir hatte und ich mich noch nicht mit dem Gedanken befassen musste, sie verloren zu haben, danach sehne ich mich. "Den Kaiser muss ich nicht beneiden;/ Hab alles, was ich wünsch und brauch;/ Mir ist mein Liebchen stets zur Seiten/ Und ich ja meinem Liebchen auch." So hatte ich noch an ihrem Geburtstag, zwei Jahre vor ihrem Weggang, aufs Schlussblatt des West-Östlichen Divans geschrieben. Jeder Atemzug war mir kostbar, jeder Augenblick teuer. Niemals hatte ich über den Tag hinaus gedacht. Im Heute war ich zuhause und im Heute hoffte ich, zuhause zu bleiben. Jetzt aber wünsche ich mir nur noch, ihr mit jedem Atemzug näher zu kommen, um dann in einem einzigartigen Augenblick vor ihr zu stehen und in ihren Umarmungen zu erwachen.
Eigentlich bin ich zu nichts mehr gut. Ich habe nichts mehr hier auf Erden zu schaffen. Niemand wartet mehr auf mich und ich, als wär ich nicht mehr, warte auch auf niemanden mehr. Dass ich "ich" bin, muss niemand glauben, der mich noch sieht, wo ich selbst kaum mehr daran glaube. Bei einem früher bei mir in Gunst stehenden Dichter hatte ich einmal gelesen, dass das Leben einem Tag gleicht, an dem du nichts anderes tust, als aus dem Haus hinaus zu ziehen am frühen Morgen, um dich dann, die Straße dahinschlendernd, von einem Wirtshaus in das nächste zu begeben und einfach so dahin zu schlendern bis tief in den Abend, wo dir dann so wohlig zu Mut ist, dass du dich in den Rinnstein wirfst und dich darin ausstreckst, um zu träumen. Oder sagen wir, dass das Leben bestenfalls einem sonnigen Frühlingsnachmittag gleicht, den eine Regennacht überschwemmt und vernichtet. Mag ich auch ein Leben lang darüber nachgedacht haben, ja mag ich mir auch eingebildet haben, als mich das Leben noch auf seinen Wogen dahin trug, als wüsste ich, was es mit dem Menschen auf sich hat: Heute ist mir die Frage fast gleichgültig geworden. Allenfalls dass mich das Nichtmehrsein noch ein wenig beschäftigt. Doch auch dieses Interesse ist nicht mehr allzu groß. Wenn man nicht mehr ist, kann es auch kein Elend mehr geben. Nur an einen kleinen dunklen Platz, an eine Art Versteck denke ich immer einmal wieder, wohin man die Liebste gebracht hat und wohin man auch mich bringen wird, wenn es so weit ist, und wo wir dann zusammen verweilen werden, bis wir wieder zu Staub geworden, ehe dann die Späteren uns aus dem Quartier nehmen, um es zur neuerlichen Verwendung wieder frei zu machen. Was aber auch immer geschieht, wir werden es hinnehmen, als hätten wir in unserem Leben nichts anderes gelernt.
Lange Zeit über habe ich geglaubt, zu wissen, was ich damit meinte, wenn ich sagte, dass wir viele schöne Literatur gemeinsam besäßen. Schließlich machte es uns Freude, mit den Dokumenten und Zeugnissen der Sprache Umgang zu pflegen. Etwas Gutes zu schreiben, etwas Gutes vorzulesen und immer auch wieder ein gutes Gespräch zu führen: das gehörte zum Inbegriff eines gelungenen Lebens. Mochten andere auch ausziehen, sich die Herrlichkeiten anderer Länder anzusehen und sich vor Ort mit fremden Schätzen bereichern, mir war genug, zumal als mein Weibchen nicht mehr aus dem Haus gehen vermochte, wenn ich sie nur bei mir hatte, um mich mit ihr in der Welt des geschriebenen Wortes zu ergehen. Ja, ich schmeichelte mir sogar, dass wir, wenn wir erst einmal alt und weniger beweglich geworden wären, wir mehr von diesen gemeinsamen Ausflügen würden zehren können, als wenn wir sonst wunder was erlebt hätten. Leider aber kam dann die Zeit, wo ein Austausch immer schwieriger wurde und unter der Gewalt der Krankheit alle unsere Unterhaltung zu verstummen drohte.
"Macht es euch nur schön in eurer trauten Zweisamkeit!" sagte eine Bekannte bei ihrem letzten Anruf, wie sie es schon immer zu tun pflegte, nachdem sie einiges über ihren eigenen Alltag erzählt hatte. "Ja", versetzte ich, "das wäre allerdings sehr schön, wenn wir nur wenigstens noch am Tag ein Sätzchen tauschen könnten." Darauf schwieg sie, vielleicht weil ich mich nicht liebenswürdiger für ihren wunderbar frommen Wunsch bedankt hatte, und ich wünschte ihr einen schönen Abend.
Aber das ist ja längst noch nicht alles. Denn wie werden wir die noch auf uns zukommenden Jahre bestehen, wo es schon jetzt mit der Sprache so hapert, dass die Liebste Mühe hat, auch nur zwei oder drei Wörtchen am Tag über die Lippen zu bringen? Selbst auf meinem Weg nach Haus, wenn ich die Türe aufschließe und ich, wie gewohnt, fröhlich ins Haus hinein pfeife, dass ich wieder zurück bin, ist sie ja nicht mehr in der Lage ist, mir etwas zu erwidern. Was können wir überhaupt noch gemeinsam tun? Muss uns nicht alle Kunst des in Texten darzustellenden Lebens, ja muss uns nicht alle Kunst zu leben mehr und mehr zum Rätsel werden! Und wenn verschiedene Farben verschiedene Formen des Besitztums anzeigten, steht nicht zu befürchten, dass die Literatur, die uns am Morgen vielleicht noch morgenrötlich aufgeleuchtet und als das Teuerste und Schönste erschienen, schon am Abend fahl und aschgrau Abschied von uns genommen? Ja, ich ahne, wie ich im Begriff bin, mit meinem Weibchen zusammen auch meine Literatur und meinen Gott, ja auch noch mich selber zu verlieren. Alles Schöne und Gute und Liebe scheint nur noch ein Gast zu sein, der es zwar lange Zeit bei uns ausgehalten, der sich aber längst erhoben hat, das Haus zu verlassen. Und ich sehe ihn davoneilen, den Kopf schüttelnd, wie man ihn über einen schüttelt, der nicht begreifen kann, dass einen das Leben zum Schluss verlässt, als hätte es uns nie gekannt oder als hätte es uns schon lange verlassen.
Vor vielen Jahren war es gewesen, als ich über einer schön edierten, in helles Leder gebundenen Ausgabe von Adalbert Stifter saß, um auf das eine und andere Blatt zu stoßen, das ich noch nicht kannte und das der Autor selber einer Veröffentlichung vorenthalten hatte. Da war es nun auch gewesen, dass ich auf ein separates Blatt stieß mit dem Titel "Der späte Pfennig", wo sich der Autor mit Blick auf seine kranke Frau damit beschäftigt, sich einen kleinen Vorrat und Zehrpfennig anzulegen für kommende böse Tage, wenn er einmal aus eigener Kraft nicht mehr weiter zu helfen vermöchte.
Meine Hochachtung für den Text stammt wohl aus der Zeit, als ich selber in eben der Epoche des Lebens angelangt war, wo ich mich zwar noch im Vollbesitz meiner Gesundheit zu wissen glaubte, wo ich aber gleichwohl bereits darauf aufmerksam gemacht wurde, dass nicht alles unentwegt so weitergehen würde wie bisher, zumal bei der längst aktenkundigen und fortgeschrittenen Krankheit meiner Liebsten. Jetzt aber, als ich auf dieses separate Blatt stieß, lagen die Zeiten, als wir mit den Kindern aus den Bunten Steinen gelesen hatten, schon viele Jahre zurück. Aus den Kindern waren Jugendliche und Erwachsene geworden und die Zeit der Pension, wenn auch noch nicht sehnlichst herbeigewünscht, rückte schon nahe. Und da mir mein Weibchen elend und schwach zu Hause darnieder lag, so konnte mir nicht entgehen, dass ich, indem wir einer Zukunft voller Unsicherheit entgegengingen, schon bald einen solchen Pfennig dringend brauchte. Denn ob die Liebste sich auch niemals Sorgen um sich und ihr Wohlergehen, wohl aber um mich machte, als müsse man nicht ihr, sondern mir unentwegt zur Zufriedenheit und Munterkeit aufhelfen, und ob sie auch, fern jeder Klage, lieber des Nachts unter Schmerzen schlaflos dalag, als dass sie mir auch nur einen Augenblick des gesunden Schlafs geraubt hätte, so beschlichen mich doch immer mehr Sorgen, wie wir die auf uns zukommende Zeit zu überstehen vermöchten. Am Sonntagnachmittag saß ich dann am Fenster, mein Mütterchen im Arm, wohl wissend, wie wenig ich fähig war, ihr einen dauerhaften Halt zu gewähren. Und doch, wiewohl du den unaufhaltsamen Augenblick schon ahnst, wo dir nichts anderes mehr übrig bleibt, als zu kapitulieren, da der Feind bereits alle Zimmer in deinem Haus besetzt hält und deiner Liebsten zum Rückzug kaum mehr übrig bleibt als ein Kissen in einem geliehenen Pflegebett, und dich die Angst immer heftiger umklammert, streckst du doch noch immer deine Hände aus nach irgendwelchen Bergen, ob dir von dort eine Hilfe kommt. Und du tröstest dich, wenn auch schon die ersten Herbststürme an den Bäumen zausen und die ersten Blätter fallen, dass doch lange nicht Winter ist. Was also sich um das Morgen bekümmern? Jeder Tag hat seine Sorgen, so sagst du, wie viele schon vor dir. Wenn du nur das Heute überstehst. In Gedanken aber hilfst du dir auf, indem du dir die Einheiten der Zeit immer kleiner und kleiner machst, als vermöchtest du es dadurch, die dir zugemessene Zeit ins Unendliche zu erweitern und zu vergrößern.
Jetzt aber bin ich allein. Und während die Kinder bei ihrem Weihnachtsbesuch das A-Moll-Konzert von Bach für Geige und Klavier vortragen, habe ich Zeit und Gelegenheit, als Zuhörer, der bequem Platz genommen hat auf dem Sofa, zugleich auch an mein Mütterchen zu denken. Wie bitter, ohne Zehrpfennig dagestanden zu haben, als auch die künstliche Ernährung nichts mehr taugte, wie bitter, mein Mütterchen ohne Nahrung und Trost gelassen zu haben, als ein Darmverschluss die Tage der Passion ankündigte, wie bitter, sie endlich zum Sterben in die Klinik haben abliefern müssen, weil mir ein Opiat fehlte! Und wenn mich schon bald die Kinder zu Grabe tragen, dann mögen sie zuerst mein Schätzchen darum bitten, mich ihr zur Seite legen zu dürfen, zumal wo ich ihr nichts als einen Arm voll Schwachheit geboten habe.
Was für eine Erwartung, was für ein sehnsuchtsvoll gespanntes Hoffen, bis der Augenblick da ist, wo das Kind das erste Mal mit dem Zauberwort "Mama" seine Mutter anspricht! Zumal jetzt, wo der Großvater, beinahe wie der greise Simeon eine Prophetie abgegeben, in spätestens zwei Wochen werde der Augenblick da sein, ist die Anspannung kaum mehr zu überbieten. Und wie wir selber oft in den uns betreffenden Weissagungen mitzuwirken haben, damit sie in Erfüllung gehen, so ist es auch hier. Kein Tag ist jetzt mehr denkbar, wo nicht der Papa das Erstgeborene auf den Arm nimmt und, es liebevoll anblickend, ihm das süße Wörtchen entgegenlallt. Freilich wird es nicht so sein, dass das Kind, das sich bis jetzt noch erst sehr wenig der zu sprechenden Sprache bedient hat, nun bald, als hätte es nur auf diesen Augenblick gewartet, sich der Mutter zukehrt, um ihr fest ins Angesicht schauend "Mama" zu sagen. Was aber steht zu erwarten?
Wiewohl jedes gesunde Kind über einen längeren Zeitraum hinweg zu sprechen lernt, wenn wir nicht gar sagen wollen, dass wir unser ganzes Leben über dabei sind, unsere Muttersprache zu erlernen, sind doch die Aufzeichnungen, die uns von jenem großen Ereignis berichten, ziemlich spärlich und ungenau, was vornehmlich daran liegt, dass es ein solches punktuelles Ereignis überhaupt nicht. Das Mama-Sagen eines Kindes ist stets eingebettet in einen Entwicklungsprozess, der sich über eine längere Zeit hinwegzieht. Und wenn wir dann vielleicht auch zum ersten Mal das Wort "Mama" hören und schwören mögen, dass das Kind nun seine Mama gemeint hat, so trifft bestenfalls nur so viel zu, dass das Kind einen Handlungszusammenhang zum Ausdruck bringt, in dem die Mama eine für es bedeutsame Rolle spielt. Um zum Wort Mama als Bezeichnung der Person der Mama zu gelangen, bedarf es ganz abgesehen von der Arbeit genauer phonetischer Artikulation und Reproduktion viel geistige Sonderleistung von Seiten des Kindes, vor allem vieler kontextueller Differentiation und Abstraktion und daran anschließender Verdichtung aller der zuvor verschiedenen Handlungsträger, an dessen Ende dann der Name, ja der Eigenname der Person steht, als der er dann gebraucht wird. Aber selbst dann, also etwa in der Mitte des zweiten Lebensjahres, wenn die spontane Verwendung von Mama zum verfügbaren Besitz eines Kindes gehört, ist die Arbeit der Abstraktion und der Verdichtung noch längst nicht zu Ende. Noch aus dem vierten Lebensjahr wissen wir um Irritationen, derart, dass das Kind seine Mutter nicht mehr als dieselbe wiedererkennt und an ihrer Identität zweifelt, etwa wenn sie in einem anderen Kleid daherkommt. Wir sind also auf jeden Fall gut beraten, nicht schon zu Beginn der sprachlichen Verlautbarungen eines Kindes auf ein Initialereignis zu warten, bei welchem mit "Mama" die Person der Mama angeredet wird, als wüsste das Kind von nun an um den Namen seiner Mutter.
Kontextuelle Situationen, bei denen das das wundervolle Wörtchen "Mama" von Seiten des Kindes erwartet werden darf, gibt es freilich viele. Lange, ehe das aktive Sprachvermögen einsetzt, hat sich das Kind ja ein passives Sprachverständnis erworben, dass wir sicher sein können, dass es um nichts besser Bescheid weiß als um kontextuelle Situationen. Eine solche Situation war es denn auch, die mich eines Morgens zu der kühnen Prophetie geführt hat! Die Eltern waren mit dem etwa 7 Monate alten Kind bei mir, dem Großvater, zu Besuch. Man hatte nun vereinbart, dass des Großvaters Nachtlager neben dem Kind sein sollte, die Eltern aber, abgelegen davon, in einem höheren Stockwerk, damit sie sich dort einmal nach Herzenslust ausschlafen könnten. Mit Anbruch des Tages war dann also das Kind wach geworden. "Ich holte das Kind aus dem Bettchen und nahm es auf die Arme", so berichtete später der Großvater, "worauf wir die Rollläden öffneten und das Licht ins Zimmer ließen und einigen weiteren kleinen Besorgungen nachkamen, während derer wir uns vorzüglich unterhielten. Nachdem wir auf diese Weise bereits eine Weile Kurzweil getrieben und das erste Pulver verschossen hatten, hielt ich die Zeit für eine Milchpause für gekommen. Ich begab mich also hinaus aus dem Zimmer, in Richtung auf die Treppe zu, ob sich nichts von oben hören ließe, noch im Ungewissen, ob ich in diesem Fall nicht etwas von uns hören lassen sollte. Es kam aber gar nicht so weit. Denn kaum dass wir den Fuß der Treppe erreicht hatten, kam auch schon die Mutter eilends und barfuß die Steinstufen herab. Und ob auch allenthalben noch im Flur ein dämmriges Halbdunkel herrschte, so hatte das Kind doch bereits seine Mutter entdeckt! O, wie es da vor Freuden hüpfte! Ohne etwas zu sagen, hüpfte es in meinen Armen oder aus meinen Armen heraus zu seiner Mutter, die dann gleich dem wunderbaren Geschäft der Stillung nachkam." Wer dieses plötzliche und freudige Aufhüpfen des Kindes mit "Mama, gut dass du da bist und dass ich dich wiedersehe!" umschreibt, geht gewiss nicht fehl. Wir sollten aber wohl hinzufügen, dass das Kind mit dem Aufhüpfen vor allem auch der nun folgenden Stillung einen Ausdruck der Erinnerung verliehen hatte. Das Aufhüpfen wäre also wohl genauer so zu umschreiben: "Mama, gut dass du kommst und dass das Milchtrinken nun beginnen kann!"
Im Sinn der postulierten Sprachgewinnung an Hand von Handlungseinheiten ist es nun sinnvoll, Acht zu geben, wann es beim Kind zu den ersten Reduplikationen von Silben kommt, zu da-da oder zu ma-ma oder zu mam-mam, aus denen dann auch die ersten Wörter wie eben das Wort "Mama" entstehen. Gewiss würden uns hier die Probier- und Experimentierphasen des Kindes wertvolle Einblicke geben, wie sie sich gerade im Umfeld der Mahlzeiten einstellen. In dieser Zeit, ab etwa 7 Monaten sind es dann vor allem die Mahlzeiten, in denen neben der Fütterung durch die Brust auch der Einsatz mit kleinen Löffelchen besonders in Betracht kommt.
Wenn auch zu Beginn der Mahlzeiten die Laute der Kinder mehr die Ungeduld verraten, wenn die Happen und Häppchen nicht schnell genug nachgeliefert werden, so als könnte das Kind zu kurz kommen oder gar verhungern, so sind die lautlichen Bekundungen gegen Schluss des Mahles, bei erreichter Sättigung, ganz anders zu bewerten. Hier nun, gerade gegen Schluss der Mahlzeit, haben wir mit besonderen Lernphasen zu rechnen. Wir sehen ja, wie das Kind jetzt ganz besondere Anstalten macht, das Löffele selber in die Hand zu nehmen und sich selber zu füttern, oder wie es repetiert, was es alles schon mit diesem Gerät anzufangen weiß: es zum Mund zu führen zu begleiten, aber auch mit ihm durch den Brei zu fahren oder auf den Tellerrand zu klopfen und es als Instrument zu verwenden, alles zumeist in Begleitung einer Musik voller Babbellaute, aus denen man hin und wieder auch ein ma-ma heraushören kann. Das von uns erwartete Wörtchen "Mama" ist also längst vernehmbar, auch wenn es uns eher von Prosaisch-Alltäglichem zu erzählen scheint als von der Einzigartigkeit seiner lieben Mutter. Um es zusammenzufassen: Das Kind ist als Mensch ein zur Kommunikation und mithin im Besonderen ein zur Sprache bestimmtes Wesen und wird als solches auch von seinen Eltern ersehnt. Des Großvaters Liebsten, als sie ihr Erstgeborenes noch unter dem Herzen trug, sie war damals im vierten Monat der Schwangerschaft, träumte einmal von ihrem Kind. In einem himmelblauen Kleidchen saß es in einem Gitterbettchen. Und neben ihr saßen noch der Großvater, also der Vater des Kindes, und des Großvaters Mutter. Da aber begann das Kind zur allergrößten Verwunderung seiner Mutter zu sprechen. Es war aber nicht Mama, was es als Erstes sagte, sondern der Vorname der Großmutter und Helena. Thema und Sinn des Traumes waren es denn wohl, dass das Kind der Träumerin klar machte, dass es in die Familie ihres Mannes hineingeboren würde, wobei das zusätzliche "Helena" verraten mag, dass sie sich damals viel über die alten Griechen unterhalten hatten, worüber das im Traum Neugeborene als etwas ihm durchaus Bekanntes Bescheid gab. Als dann das Kind vier Monate später das Licht der Welt erblickt hatte und als dann noch weitere 16 Monate ins Land gegangen waren, da geschah es eines Tages, dass sich das Kind vor die Mutter stellte, die Arme in die Höhe streckte und "Mama, Tussele!" (ich will dir ein Küsschen geben!) sagte. Dies war, wenn ich mich recht erinnere, das erste Ereignis, wo das Wort "Mama" vom Kind in der Bedeutung einer personalen Ansprache verwendet worden.
Vom oben erwähnten Enkelkind sind unterdessen, etwa ein Jahr nach dem bereits Erzählten, auch einige, seine Mama beglückende Ereignisse bekannt geworden. Zuerst aber scheint vom Kind zuerst sein eigener Name deutlich artikuliert worden zu sein. Sowohl vor dem Spiegel wusste es auf die Frage, wer da zu sehen sei, den eignen Namen (Elisabeth) zu nennen; sodann begann es auch auf die Frage, wenn alle beisammen waren und man es fragte, wer alles da sein, und man mit der Reihe begann: "Mama und Papa und Aiai (der jüngere Bruder) und wer noch?", seinen eigenen Namen hinzuzufügen. Nun aber erzählte man mir jüngst, dass das Kind, als es sich mit einer Nachbarin auf dem Weg nach Hause befunden und es eben die Hängebrücke über die Pegnitz in der Nähe des Hallertörleins und der Hallerwiesen (der Leser kennt die Gegend aus E.T.A. Hoffmanns Erzählungen) überquert und das untere Ende der Weißgerbergasse beinahe schon erreicht hatte, an dessen oberem Ende das Kind wohnt, das Ärmchen mit Hand und Zeigefinger wie ein ausziehbares Fernrohr nach dort oben hinauf gestreckt und dabei gerufen habe: "Mama! Mama!", fast als könnte es die Mama sehen und es wolle ihr bedeuten, dass sie nun bald schon zu Hause angelangt seien.
Dein Bildnis mir im Auge, dein Wohnort mir im Herzen,
im Mund das Dein-Gedenken - und wo verbirgst du dich? (Halladsch)
"Wie ein Rosenkranz um deine Seele schlingt sich mein Gebet hinauf zu dir, Liebste, Du!" So hatte unser Held zwei Tage zuvor noch zu singen begonnen. Doch habe ich mein Weibchen nie an die Stelle Gottes gesetzt. Ich habe nur Ernst damit gemacht, dass ich in meinem Weibchen Gott begegnet bin, und dass ich mein Weibchen dringend brauche, um ins himmlische Jerusalem einzuziehen. "Willst du deine Liebste besingen, musst mit dem Gotteslob du beginnen." So schrieb ich einmal. Und dazu wieder ein anderes Mal "Willst du die Liebe Gottes besingen, nur mit der Liebsten wird's dir gelingen." Schließlich hatten wir auch in diesem Sinn den Bund der Herzen und der Hände begonnen.
Nun also war ich dabei, mit dem Fahrrad das Wiesental hinab zu fahren. Der Straßenbelag war zwar durchweg gut, nur dass über die Autobahnplatten, je weiter ich hinab kam, immer mehr Gras gewachsen war, so dass ich Mühe hatte, den rechten Weg neben den angrenzenden Wiesen im Auge zu behalten. Es war schon in der Nähe des Talausgangs, von wo ich dann, wie ich wohl wusste, wieder ins Gebirge hinauf zu fahren hatte, als ich den Weg vollends aus den Augen verlor und ich mich mitten in den Wiesen befand. Indessen kam fern, hinter mir, ein junger Mann in Sicht, den ich um Rat zu fragen gedachte. Der junge Mann war auch gleich bereit, mir weiter zu helfen. Kaum war er vom Rad gestiegen, da hielt er auch schon ein Magnificat in der Hand, ein Gebets- und Gesangbuch, wie ich es von der Mutter meiner Mutter zum Weißen Sonntag geschenkt bekommen hatte, und blätterte darin. "Maria mit dem Kinde lieb, uns allen deinen Segen gib!" hatte sie als Widmung auf das Vorsatzblatt geschrieben. Ziemlich gegen Ende des Buchs nun blieb der junge Mann stehen. "Hier ist Hausen!" sagte er, indem er mir das Blatt zeigte. Es war aber kein Bild der Ortschaft noch auch eine Karte derselben zu sehen, nur eine ganz gewöhnliche Seite des Kirchenbuchs. Auf der nächsten Seite dann zeigte er mir sodann die Abzweigung, um nach Höchenschwand zu gelangen. Hätte er mir aber auch von Heerischried am Wald gesprochen oder mir Rippolingen gezeigt, einen Weiler oberhalb von Säckingen, ich hätte ihre Bedeutung sogleich verstanden. Dort war es ja gewesen, wo wir unsere Verlobung gefeiert und wo meine Liebste das Magnificat gesungen hatte. Und auch die Fotos, die allesamt bei mir auf dem Schreibtisch stehen, eines davon noch mit dem eigenhändig geschriebenen Namen der Liebsten, so wie der liebevollen Widmung "pour mon prince", stammen aus jener Zeit, als die Liebste in Säckingen zur Famulatur weilte und als wir des Sonntags, wenn ich zu Besuch kam, die Gegend durchstreiften.
Der Weg von Hausen die Höhen hinauf sollte sich dann allerdings schwieriger gestalten, als ich dachte. Eine Baustelle reihte sich an die andere und verschiedene Straßen führten bald dahin, bald dorthin, dass man nicht klug daraus werden konnte. In einer Gaststätte ziemlich am tiefsten Punkt des Tals traf ich auf eine Bedienung. Sie war eben dabei, die noch tief im Dunkel liegende Wirtschaft aufzuräumen und zu reinigen. Auf meine Frage, welchen Weg ich weiter zu nehmen hätte, führte sie mich zu einem offenen Fenster. Vor dem Fenster aber befanden sich turmhohe Stein- und Sandhaufen, die jede Aussicht versperrten, sodass mir ihre Erklärungen nicht viel nützten. Und wenn die Dame dann auf den einen oder anderen Passanten wies, um mir an dessen Gang meinen Weggang zu bedeuten, so war er längst wieder im Gewühl verschwunden, ehe ich Zeit gehabt hätte, ihn als Führer zu gebrauchen. Noch war sie dabei, Personen zu aufzusuchen, die mich ins Bild setzen könnten, da war ich auch schon dabei, mein Rad zwischen den Sandhaufen hindurch und über sie hinweg zu tragen. Indessen war mein unvorschriftsmäßiges Verhalten nicht unbemerkt geblieben. Lautes Geschnaufe war hinter mir zu hören und Geschimpfe von Aufsicht Führenden war im Gang, worum ich mich aber nicht bekümmerte. Wenn ich aber auch nicht zurückschaute und mich nur darum bemühte, mich aus der Senke heraus zu arbeiten, so war die Aussicht nicht gut. Ja, es war sehr schwierig, von hier aus weiter zu kommen, und ich ahnte, dass ich noch manch ein Hindernis zu beseitigen hätte und noch manch eine Hilfe brauchte, bis ich das Ziel erreichte.
Nicht ausschließlich zum Liebhaben hat ein Sohn seinen Vater. Zumal je mehr er sich aufmacht in des Lebens Weiten, lernt er auch, ihn zu achten und zu ehren, zu fürchten und zu bewundern, aber auch ihn zu kritisieren und zu meiden, um dann endlich nach dessen Tod ihn aus ganzem Herzen zu betrauern. Der Vater setzt Maßstäbe und entwickelt Zukunftsprojekte für seinen Sohn, die, weil er sich in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt oder gar bevormundet sieht, durchaus nicht immer die volle Zustimmung des Sohnes erlangen. Unbeschwert liebhaben kann ein Sohn nur seine Mutter, bei der er in die Schule der Liebe gegangen. Die Zeit, in der ich bei meiner Mutter dergestalt in die Schule ging, war in den Jahren der frühen Pubertät, zwischen 13 und 16 Jahren. Das war damals, als ich Woche für Woche jeden Dienstagnachmittag mit dem Fahrrad aus dem unweit gelegenen Internat auf abenteuerliche Weise nach Hause geradelt bin. Es war übrigens auch die Zeit, als ich die Möglichkeiten des Schreibens in mir entdeckte, womit ich keineswegs sagen will, dass sich damals schon mehr ereignet hätte, als dass mir die Sätze des pochenden Herzens nicht unbemerkt geblieben. Ich bestand damals wahrlich weiter aus nichts als aus einem Wollen, und wer weiß, was aus mir geworden wäre, wäre mir nicht alsbald schon auf meinem Lebensweg meine Liebste erschienen, bei der ich eine feinere Lebensart, Geduld, Ausdauer und bessere Selbstkontrolle lernte. Im Licht der Buchstaben, der Worte und der Sätze aber kam mir denn damals auch alles ganz neu vor, als wäre ich eben erst zur Welt gekommen. Jene Zeit und jene Orte waren es denn auch, die sich der Traumgott etwa 15 Jahre später als Schauplatz erkoren, den Anfang der Geschichte mit meiner Liebsten in Szene zu setzen, als ich mich des Nachts mit Freunden aus dem Schlafsaal machte, wie der Leser an anderer Stelle nachlesen mag. Und er hatte ja Recht. Denn wenn ich damals auch noch nicht meine Liebste kannte, so begann ich doch mit der Inbrunst des Herzens die Liebe zu entdecken. Und hätte ich sie nicht zuvor in meiner Mutter entdeckt, wäre ich ja auch in der Lage gewesen, sie in meiner Allerliebsten, meinem Mütterlein wieder zu entdecken. Hängt der Vater an seinem Sohn als an einem Vorzeige- und Prestigeobjekt, so hängt die Mutter am Sohn wie an einem Schmuckstück ihres Herzens, dass, nähme man es ihr, man ihr auch das Herz aus dem Leibe risse.
Jene Stunden aber, als die Liebe in mir erwachte und ich jede Woche einmal für 2 bis 3 Stunden mit dem Rad nach Hause fuhr, zählen wohl mit zu den glücklichsten meines Lebens. Versteht sich, dass die Mutter, die von der bevorstehenden Ankunft wusste, immer auch etwas Liebes und Leckeres für das Mäulchen ihres Sohnes zubereitet hatte. Wenn ich auch weiter nicht zu sagen wüsste, was wir uns damals erzählt und wie wir die Zeit vertrieben haben, so weiß ich noch, dass ich, wenn ich nachts wach dalag und keinen Schlaf finden konnte, erwog, was wäre, wenn Mutter stürbe. Doch nein, soweit kam ich gar nicht. Nur in die Richtung drängten sich meine Gedanken. Das war ja unausdenkbar und konnte deshalb auch gar nicht sein. Wie auch konnte die Mutter sterben, wenn ich nie aufhörte, sie zu lieben?
Wie sehe ich doch noch die Mutter in den letzten Jahren vor ihrem Tod hier bei uns im Zimmer. Nach des Vaters Tod besuchte sie uns jeden Samstagnachmittag, wo wir uns dann zu Dritt, nach einem gemütlichen Kaffee mit Literatur vergnügten. Die Mutter saß vor mir auf dem einen Sofa, stets sehr aufmerksam bei der Sache. Mütterchen, sie war damals schon so krank, dass sie nicht mehr sitzen konnte, lag auf dem anderen Sofa hinter mir. Ich aber saß auf dem Boden, angelehnt an das Sofa, so dass ich ebenso gut Mütterchen und Mutter sehen wie auch von Mutter gesehen werden konnte. Vieles haben wir damals zusammen gelesen: Romane des Dickens und den Don Quijote, und aus den Romanen des Dostojewski, und mitunter war auch ein Stück von Shakespeare mit dabei. Und doch, wie vergnüglich und idyllisch auch alles ausgesehen haben mag: Unmut packt mich, wenn ich bedenke, wie allein Mutter doch dasaß. Warum bin ich nie auf die Mutter zugeeilt und habe sie einmal in die Arme genommen? Ich hätte es ja mit der Liebsten absprechen können und sie wäre die Letzte gewesen, die etwas dagegen gehabt hätte. Warum bin ich nie auf die Mutter zugeeilt und habe sie an mich gedrückt? Warum ist es nie dazu gekommen?
Bei meiner Geburt war die Mutter ein wenig enttäuscht, wie sie mir immer wieder einmal erzählte. Nach dem ersten Kind, einem Sohn, hatte sie sich dringend ein Töchterchen gewünscht. Jutta sollte es heißen, wie dann meine Liebste geheißen! Mutter war damals noch sehr jung, 23 Jahre alt. Die Anfechtung über den unerwünschten Sprössling, wie die Mutter stets hinzufügte, dauerte indessen nicht lange. "Hast du ihn lieb?" so fragte sie sich, um aber dann beinahe im selben Augenblick sich auch schon die Antwort gegeben: "Aber ja doch; er ist ja auch lieb!" Und hielt mich hilfloses Würmchen in ihren Händen. Ich musste also nicht lange um die Liebe meiner Mutter betteln. Mit diesen zwei Worten "Au-lieb" (auch lieb) war dann auch unser beider Vertragswerk für immer besiegelt.
Wenn die Mutter aber noch einmal bei uns auf dem Sofa säße und wir hätten zu Dritt Kaffee getrunken und dann zusammen gelesen, und wenn sie sich dann erhöbe, um Abschied zu nehmen, so würde ich sie noch einmal fest in die Arme nehmen und an mich drücken. Und dann würde ich zu ihr sagen: "Au-lieb!" Wahrscheinlich müsste ich das Gesicht dann etwas zur Seite wenden.
Wenn ich sage, dass die Margerite für mich die Schönste unter den Blumen ist, so will dies nur in einem ganz speziellen Sinn verstanden werden. In Walthers Leich bin ich auf sie aufmerksam geworden; und seit der Zeit gilt sie mir als Sinnbild strahlender Vollkommenheit. Genau genommen habe ich in meinem ganzen Leben nie so ganz genau achtgegeben auf die Dinge; es ist eher so, dass sie mir wie bei den Kindern zuerst ganz nebenbei zum Vorschein kamen und dass sich dann der äußere Sinn dem inneren hinzu gesellte. Selbst auf meine Liebste bin ich kaum anders aufmerksam geworden, als dass ich als erstes auf ihren wundervollen Geist aufmerksam wurde und ihr nicht minder bedeutsames Einfühlungsvermögen, ehe ich ihre Ähnlichkeit mit der Margerite bemerkte. Ähnlich der Margerite nämlich, die den Blütenkopf den ganzen Tag über bis zum Sonnenuntergang der Sonne zuwendet, um dann mit dem Weiß ihrer Blütenblättchen noch lang die Dämmerung zu durchschimmern, war auch die Liebste nie ohne Orientierung. Vielleicht liegt hier auch der eigentliche Grund, dass ich meine liebe Frau über all die Jahre unseres Beisammenseins hinweg, auch unter der schweren Krankheit, nie anders denn als eine jugendliche Frau gesehen und im Gedächtnis getragen habe. Selbst noch, als sie auf dem Sterbelager lag und man sie mit Enkeln noch rasch fotografierte, erschrak ich später beim Betrachten des Bildes, dass ich den Apparat in meinem Unmut einen widerwärtigen und abscheulichen Lügner schalt, weil er sich unterstanden hatte, mir meine liebe Frau so unwahr und so verzerrt zu porträtieren. Was ich nun dergestalt auch an der Margerite bewundert habe, das war die symbolische Bedeutung, die sie im Marienlob für Walther hatte. Dass ich diesem Lob auch das Lob meiner lieben Frau gern zugesellte, versteht sich wohl ohne weiteres, zumal wenn ich verrate, dass ich mich von ihr sehr geliebt wusste. Mag der Leser sich an dieser Stelle auch an den WestÖstlichen Divan erinnern, wo mit jedem der hundert Namen Allahs stets einer für die Liebste des Dichters nachklingt. In diesem Sinn ist die Margerite für mich sehr schön, auch wenn ich weiß, dass man sie nicht in eine Vase stellen sollte, da sie schon nach kurzer Zeit jämmerlich zu stinken beginnt.
Im Übrigen freilich fanden wir beide, meine Liebste und ich, auch die Rose sehr schön. Denke ich mir meine Frau vornehmlich als weibliches Wesen, so darf eine langstielige, eben zum Erblühen kommende rote Rose in ihrer Hand nicht fehlen. Nun denn, auch die Rose hat ja ihren Platz im Marienlob, als Rose von Jericho und als Rose ohne Dornen, so dass ich gerne die Rose zur Margerite hinzugeselle. Zumal seit meine liebe Frau nicht mehr bei mir ist, bilden das Marienlob und das Lob meiner lieben Frau eine nicht mehr zu trennende Einheit. Und so möchte ich dieses kleine Prosastück mit zwei einfach gebauten Strophen beenden, die mir heute, an diesem heiteren Septembernachmittag noch zugekommen sind. Leicht und rasch habe ich sie niedergeschrieben, einschließlich der Ellipse am Schluss, ohne alle erlesenen Worte; ein Kind schon kann sie begreifen.
Ihr sagt, ich soll noch etwas niederschreiben,
so lang der Himmel noch so hell und klar.
Nun denn, so sag ich, dass nichts so kann bleiben,
dass auch vergehen muss schon bald dies Jahr.
Des Gartens Rosenblüte ist vergangen,
des Lebens Glück zugleich, das Rose war,
ein sanftes Rosenblühen auf den Wangen,
die mir das Liebste, Allerliebste war.
Ihren Liebsten nannte mich,
stolz darf ich´s verkünden,
meine Liebste, dass mich nichts
je ihr kann entbinden.
"Ich bin einer, der nur noch zur Ausplünderung bereit steht", hatte unser längst über 70 Jahre alt gewordener Held geschrieben. Sein Bruder aber, bestrebt, ihn aufzumuntern, wollte den Satz so nicht gelten lassen, auch wenn er in einem Augenblick der Niedergeschlagenheit geschrieben worden sein mochte. Stattdessen hatte er ihm geantwortet, wir lebten ja doch alle in einem Zaubergarten oder in einem Lebens-Traum-Tal, das wir zu durchschreiten hätten, um dann, später einmal und ganz zum Schluss inne zu halten und zurückzublicken, voller Staunen, dass dies unser Leben gewesen. Sein Schreiben hatte er sodann mit einem Zitat von Tolstoi beendet, alles werde schon noch gut, wenn man nur zu warten verstünde. Mochte der Brief auch lieb und gut gemeint gewesen sein, mit dem größten Einfühlungsvermögen war er, wie unser Held fand, durchaus nicht geschrieben. Schließlich hatte er nun schon fast drei Jahre seine liebe Frau nicht mehr. Und Warten würde sie ihm auch nicht wieder zurück bringen.
Ein paar Tage darauf war unser Held für ein paar Tage auf Reisen gegangen, das Baby des Sohnes zu hüten. Es war bereits Nacht geworden, als er zurückkam. Den letzten Teil des Wegs hatte er noch zu Fuß zurücklegen müssen, da die Straßenbahn durch einen Unfall nicht weiterfahren konnte und kein Ersatz zur Stelle war, als er endlich verschwitzt und durchnässt zu Haus anlangte. Als er nun aber das Haus aufschloss und Licht machte: da sah er, noch ehe er eintrat, dass es von Diebeshand verwüstet und ausgeplündert worden. Das Schlimmste aber war nicht das chaotische Durcheinander, wie sich alsbald herausstellte, das die Räuber zurückgelassen hatten und das nun zu entwirren war, denn keinen Kasten und keine Kiste gab es mehr, deren Inhalt sie nicht auf den Boden ausgeschüttet; es war auch nicht die Zerstörung der Schiebetüren im oberen Stockwerk, wo die Diebe eingebrochen, noch auch die Entwendung allen Geldes, das sich im Haus befunden. Selbst die Entwendung des gesamten Schmucks seiner lieben Frau aus dem Schränkchen der Kostbarkeiten wäre noch hingegangen, mitsamt der Hochzeitskette, eine Kette aus blau schimmernden Mondstein-Perlen, die sie vor 45 Jahren am Tag der Hochzeit getragen, sowie dem goldenen Ehering mit der Gravur seines Namens: Das Schlimmste war, dass die Diebsfinger, als bestünde die Welt nur aus Geld und es gäbe für sie nirgends eine Grenze, auch noch ein undurchsichtiges Couvert erbrochen hatten. In diesem Couvert aber war eine wie Frühlingsröschen blühende lichtumflutete Haarlocke seiner Liebsten eingebettet gewesen. Nach dem Tod hatte er das Couvert unter den Briefen gefunden, die sie einst wechselweis ausgetauscht, als er um ihre Hand geworben. Als einen allerletzten Gruß und Liebesbeweis hatte sie sein Schätzchen gewiss schon lange vor ihrem Dahingang für ihn dort hinzugefügt. Zerrissen und zerwühlt hielt er sie jetzt in Händen.
Des Nachts dann aber träumte unserem Helden. Seine Liebste und er saßen zusammen auf dem Sofa neben dem Schränkchen mit den ausgeraubten Kostbarkeiten, und er hörte sie wieder singen, sich und die Liebste, wie sie damals zusammen gesungen hatten, seit ihrer Hochzeit bis in die Tage, als ihr die Krankheit die Stimme geraubt hatte. Und wenn auch ein kleiner Abstand zwischen ihnen war, so waren es doch ihre Arme, die ihn jetzt überbrückten. Und ihre Hände sah er beisammen, seine Rechte und ihre Rechte, wie damals, als sie Hand in Hand ins Tal des Lebens hinabgeschritten waren, nachdem sie sich den Kuss für immer gegeben. Als er die Liebste wieder erkannte, waren sie längst schon beim Singen: "Ave Maria zart/ Du edler Rosengart,/ lilienweiß ganz ohne Schaden!". Und wie es zu Lebzeiten geschehen, so war es auch jetzt wieder: dass sich unser Held nämlich nicht ganz sicher war, wie die Strophen zu Ende gingen. Zu diesem Zweck pflegte er stets zur Liebsten herüberzuschauen und ihr die Worte vom Mund abzulesen. Was für eine Wonne, als er sie eben in diesem Augenblick wiedererkannte! Jene Zeile aber, die er ihr vom Mund ablas, war die Einladung zum unvergänglichen Fest der Liebe. Gemäß der Sinnstiftung am Ende der ersten Strophe "Ave, die du bist voller Gnaden" beendeten sie nun das Lied mit den Worten: "uns hebt die Gnade leise". Noch beim letzten Wort "leise" schaute unser Held auf ihren Mund, wobei sie ihm ein wohlbekanntes Lächeln zuwarf, so, als ob sie spräche: "Zweifle du nur auch nicht, Liebster! Du bist es doch, den ich mir erwählt habe zum ewigen Leben!".
Vielleicht, so dachte unser Held, als er sich mit dem Traum befasste, vielleicht hatte mein Bruder doch nicht ganz so Unrecht mit seinem Hinweis auf das Warten, wie ich anfangs noch gedacht hatte: weil wir uns nämlich doch auch noch auf ein paar Erprobungen gefasst zu machen haben, ehe wir zu dem Gesang finden, der uns aufhebt und mit sich fortträgt.