Adam Mühsal
Eva Mühsal
Wolfgang Mühsal
Simon Mühsal
Anne Mühsal
Ein Herr
Ein Besucher des Herrn
Bahnwärter Rub (einarmig)
Ein reicher Greis
Architekt Dr. Hans Peter von Strandholz
Friedhofswärter Demut
Friedhofsgärtner von Konstantin
Großmutter
der tote Jesus
Die Herrin Dunja (auch Frau von Schwarzgold genannt)
Zwei Polizisten
Zwei Kinder
Bürgermeister Kloppstock
zwei Mädchen Greti und Blethi
Ein Bestatter
1. Kapitel: Später Nachmittag.
1. Abschnitt: Ein Herr aus der Stadt kommt mit seinem Besucher zum Eingang des städtischen Friedhofs
2. Abschnitt: Begegnung mit einem Bahnwärter
2. Kapitel: Beginnender Abend. Sonnenuntergang.
1. Abschnitt: Adam trifft auf Eva.
2. Abschnitt: Adam und Eva gehen durch den Friedhof, von Wolfgang beobachtet.
4. Abschnitt: Wolfgang kommt zum Rondell.
7. Abschnitt: Wie Wolfgang allein zurück bleibt.
3. Kapitel: Beim Leuchten des Monds und des Abendsterns.
3. Abschnitt: Wie Eva Adam erwartet. Die beiden Hühnchen.
4. Abschnitt: Die Geburt des Kindes.
5. Abschnitt: Adam und Eva steigen ins Ei ein
1. Abschnitt: Das Begräbnis des Hundes beginnt.
2. Abschnitt: Der Bürgermeister Kloppstock taucht plötzlich auf
3. Abschnitt: Strandholz entdeckt die benutzten Eier
4. Abschnitt: Die Fotografen kommen hinzu
6. Abschnitt: Simon kommt und geht gleich wieder
7. Abschnitt: Simon kehrt zurück
8. Abschnitt: Die beiden Polizisten kommen herbei.
9. Abschnitt: Wie Strandholz verschwindet. Simon spielt dazu auf der Flöte.
Besucher: Sie sagten, die Geschichte der Menschheit sei nichts als ein nie aufklärbares, im Dunkel sich verlierendes Märchen?
Herr: Ich zog es in Erwägung, behauptete es aber nicht. Sonst müsste ich ja Beweise liefern. Doch wie sollte ein solcher geschehen, wo sich uns eben diese Geschichte als Wissensgegenstand entzieht?
Besucher: Dann müsste die Materie ja verrückt geworden sein, wenn sie sich bis zum Menschen hin entwickelt hätte.
Herr: Mag sein, dass der Keim der Verrücktheit schon immer in ihr lag und dass der Traum vom Guten und Schönen, von der Ordnung und von den Beziehungen nur eine List war; und dass, was man den Weltgeist genannt und als Ziel der Geschichte postuliert hat, nichts als Täuschungen waren, uns hinters Licht zu führen, um uns das Leben erträglich zu machen. - Doch kommen Sie! Treten wir ein! Hier ist der Eingang mit dem kunstvoll schmiedeeisernen Gitter und dem Wappen des Todes.
Besucher: Friedhof nennen Sie einen solchen Platz?
Herr: So ist es. Doch auch diese Bezeichnung ist im Wandel begriffen, ebenso wie die Ausgestaltung dieser Plätze. Dazu indessen müsste ich weiter ausholen. Es mag genügen, wenn ich Ihnen sage, dass diese Begräbnisstätten früher um Kirchen herum angelegt waren, weshalb man sie Kirchhöfe nannte. Dann, mit der Zunahme der Bevölkerung wie auch mit der Errungenschaft der Glaubensfreiheit, legte man Friedhöfe an, jenseits der Kirche, und in neuester Zeit endlich beginnt man auch damit, außerhalb der Städte, in Wäldern mitten in der Natur, letzte Ruhestätten anzulegen. sogenannte Friedwälder. - Doch kommen Sie! Ich werde Ihnen bei Gelegenheit mehr darüber erzählen.
Besucher: Die Frage nach dem Weiterleben nach dem Tode erfreut sich aber noch immer großer Beliebtheit?
Herr: Den Tod aus der Welt zu schaffen, das ist und bleibt die Hauptaufgabe des Menschen. Früher glaubte man noch, man müsse nur erst gestorben sein und schon erwache man dann im Himmel, in Gottes Wohnung. Heute aber, wo man keine Alternative mehr kennt, gibt es Leute, und ihre Zahl ist im Wachsen, die sich in Kühlbehältern von flüssiger Luft konservieren lassen, um einmal in 1000 oder 10000 Jahren wieder ins Leben zurück zu treten und so den Tod hinauszuschieben.
Besucher: Und warum verlangt der Mensch nach der Ewigkeit? Verpasst er denn etwas, wenn er stirbt?
Herr: Die Frage drängt sich allerdings auf, wo der Mensch doch nichts genauer und besser weiß, als dass er eines der elendesten Wesen ist, das unter der Sonne dahinkriecht. Warum verlangt ihn danach, dieses wurmhaft-elende Dasein fortzuschreiben über alle Tage hinaus? Vielleicht, um nichts zu verpassen, sagen Sie. Das mag schon sein, wobei er noch nicht einmal ahnt, was dieses denn wohl sein mag. Vielleicht aber ist er, nachdem er sich als Individuum entdeckt hat, auch nur viel zu schwach und zu feige geworden, um abzutreten und Platz zu machen für etwas anderes.
(sie haben jetzt den Friedhof betreten; man sieht eine Flucht, wo die Toten in weißen Sesseln auf ihren Gräbern sitzen, neben ihren Lebenstafeln.)
Herr: Da sehen Sie doch nur, diese Leute!
Besucher: Sind das ihre Gräber?
Herr: Sie halten das Wort für unpassend, weil die Leute in der Sonne sitzen, so dass man meinen könnte, sie wären auferstanden? Das ist durchaus nicht so zu verstehen. Nur bei schönem Wetter kommen die Leute hervor. Doch das ist nicht korrekt gesprochen. Denn weder trifft das für alle zu, noch auch geschieht dieses Hervorkommen auf eigenen Antrieb oder einem höheren Willen zufolge.
Besucher: Sie geben mir Rätsel auf.
Herr: Nun ja! Diese Leute hier, das ist nur eine Handvoll neben denen, denen schon jetzt weiter nichts zukommt, als dass man sie nirgends mehr sehen und von ihnen in Äonen nichts mehr hören wird. Zu dieser auserlesenen Handvoll gehörten über die Jahrhunderte hinweg neben einigen wenigen Reichen und Künstlern die Obersten des städtischen Magistrats, einige der Gelehrten unserer Universität wie auch manch ein Würdenträger der Kirche. Und dass man sie hier alle oberhalb der Erde sieht, das liegt, wie gesagt, an dem schönen Wetter, das uns dieser Frühlingstag beschert hat
Besucher: Aber die Leute entscheiden nicht selber?
Herr: Natürlich nicht. Sie sind ja doch tot. Es gibt da eine Klimaanlage, die die Aufzüge einschaltet für den Auftransport wie dann auch wieder für den Abtransport. Auch über diese Privilegierung wird heftig gestritten und es ist anzunehmen, dass sie im Zuge einer Neuordnung abgeschafft wird.
Besucher: Es macht also den Toten Spaß, wieder hier droben am Licht zu sein, wiewohl sie von dem Licht überhaupt nichts mehr erreicht? Oder, besser gesagt, gibt es Leute, denen es Spaß macht, sich einzubilden, es wäre schön, wenn sie einmal so ihr Leben nach dem Tod verbringen?
Herr: Ich sagte ja schon, dass unter den Menschen schon immer Unterschiede, selbst die allerkleinsten, sehr genau vermessen wurden. Das hebt das Selbstgefühl, das erhöht den Selbstwert, das gibt einem den Mut, an eine Sendung in alle Ewigkeit zu glauben. Dazu kamen dann früher noch die Adelsprädikate und Titel aller Art, auf die man stolz war, selbst wenn ihnen nicht die kleinste Befähigung zugrunde lag. Wenn man nur einen Titel hatte, egal was für einen, das war Nahrung genug für den Glauben, ein Auserwählter zu sein.
Besucher: Aber wenn die Leute nicht mehr leben, so erleben sie ja doch nichts. Ist das nicht peinsam?
Herr: Das mag einem Außenstehenden so scheinen. Viele indessen scheinen ihr Weiterleben nach dem Tod mit den Augen der Leute zu sehen, die nach ihnen am Leben sind, als hätten sie in deren Gedächtnis das Angeld des ewigen Lebens. Dabei kommt es noch nicht einmal darauf an, wie geartet dieses Gedächtnis ist.
Besucher: Ich weiß nicht recht, wie ich mich verhalten soll, wenn ich die Toten so dasitzen sehe.
Herr: Genieren Sie sich, sie anzuschauen?! Einen anschauen, ohne von ihm angeschaut werden zu können, grenzt immer an eine Peinlichkeit.
Besucher: Es scheint, als würden uns die Leute heimlich anschauen und dabei überprüfen, wie wir es mit der Pietät halten.
Herr: Das mag vor Anbruch unseres Zeitalters so gewesen sein. Seit der Moderne, seit der Selbstverherrlichung des Individuums, seit wir uns auf uns selber gestellt und uns vom großen Stamm abgenabelt haben, glaubt kein vernünftiger Mensch mehr, dass den Toten auch nur noch ein Schimmer von Bewusstsein zukommt.
Besucher: Und doch will man da sein und sei es auch nur so. Dasein, um nichts zu verpassen. Dass man sich das ewig Tote als Halb-lebendiges einredet?
Herr: Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem, was wir sagen, wenn die wissenschaftliche Vernunft das Wort führt, und dem, was wir in unserem Innern träumen.
Besucher: Halb und halb spricht man diesen Leuten also Leben zu?
Herr: Die Kinder ganz gewiss. Für sie ist noch keine Grenze gezogen zwischen Sein und Nicht-sein. Aber sie wissen ja auch noch nichts von der Welt als einer Bühne der Täuschungen und Enttäuschungen. Aber auch von den jungen Leuten gibt es nicht wenige, die sich noch immer Mühe geben, ihr Leben so zu verwenden, dass sie später einmal als solch eine Mumie ans Tageslicht treten dürfen.
Besucher: Ein Leben für ein Grab. Was für eine verrückte Idee.
Herr: Das steht am Anfang unserer Geschichte und begleitet uns wahrscheinlich bis zum Schluss. Wenn Sie nur daran denken, wie sich in früheren Tagen die Pharaonen, die Herren am Nil, in gigantischen Pyramiden haben begraben lassen. Heute ist davon nicht mehr viel übrig geblieben, wenngleich der Traum von der Fahrt in der Himmelsbarke durch die Jahrmillionen noch immer fasziniert.
Besucher: Ein Leben für ein Grab: das heißt, den Tod sich schönreden...
Herr: Gibt es denn etwas, was der Mensch in seiner Beflissenheit als kulturschaffendes Wesen vollbracht hat, was nicht den Stempel der Verrücktheit an sich trüge?
Besucher: Wenn das die Quintessenz alles Menschenlebens ist!
Herr: Doch schauen Sie selber! Betrachten Sie hier dieses riesige Grabmal! Ragt es nicht aus all den Gräbern bei weitem hervor? Dabei war sein Besitzer nur einer von den Kleinen. Als käme die Ausnahme von der Regel stets vor der Regel. - Und nun lesen Sie den Spruch, wie er in goldenen Lettern durch die Luft prangt, ob er nicht auch einem verrückten Hirn entsprungen sein muss. „Besser in die Hände des lebendigen Gottes als in die Hände von Menschen zu fallen.“ Wie finden Sie das?
Besucher: Das ist wohl das Zeugnis eines Gottgläubigen, den die Menschen enttäuscht haben.
Herr: Der Mann war Geistlicher.
Besucher: Der Mann sieht nicht glücklich aus.
Herr: Die imposantesten Gräber werden oft nur von unglücklichen Vertretern der Menschheit bewohnt. Doch wo hab ich nur meine Brille?
Ein Mathematiker (man hört nur die Stimme vom Grab daneben): Mein Leben hat sich gelohnt. Ich habe so sensationelle Entdeckungen gemacht, dass man noch in Jahrtausenden meiner gedenkt.
Ein Physiker (mit dem Denkmal des Stevin): Und ich erst! Entweder der Energiesatz gilt oder ich bau euch ein perpetuum mobile. Aber der Energiesatz gilt!
Herr: (mit Brille) Also! Da haben wir ihn ja wieder, den Monsignore. Er wollte Universitätsprofessor werden. Und dann hats halt nur zum Gymnasialprofessor gereicht. Immerhin hat man ihm hier unter den Universitätsprofessoren seine letzte Ruhestätte gegeben.
Besucher: Sie kannten den Herrn?
Herr: Ich hatte das Vergnügen, bei ihm den Religionsunterricht zu besuchen.
Besucher: War das ein Vergnügen?
Herr: Immerhin hielt sich der Mann mit seinen zwei Doktortiteln für ein bedeutendes Kirchenlicht. Wahrscheinlich wollte er größer sein, als man ihn einschätzte, so dass er sich kleiner vorkam, als er in Wahrheit war.
Besucher: Der Umgang mit der eigenen Größe verlangt stets eine gewisse Delikatesse. Selbst wenn man etwas Bedeutsames geschaffen hat, sollte man auf Selbstlob verzichten.
Herr: Vor allem in der Kirche.
Besucher: So hat ihn das Leben schon frühzeitig alt gemacht?
Herr: Manchmal denk ich, es könnte lustig sein, als lieber Gott dem Treiben der Menschen zuzuschauen. Fällt mir aber Monsignore ein, dann bedauere ich doch auch gleich wieder den lieben Gott. (sie gehen weiter) Übrigens las ich einmal einen Satz, den ich nicht vergessen werde, weil er so witzig war. Er lautete: „Wir, die wir nicht wussten, die Weisheit mit vollen Löffeln zu fressen,/ wir suchten, sie kunstvoll in kleinen Häppchen zu messen.“
Besucher: Das war wohl ein Lehrer, der sich und seinesgleichen satirisch auf die Schippe nahm.
Herr: Man kann den Satz wohl auch noch anders begreifen. Oder finden Sie nicht auch, dass einer ein ganz Großer wäre, wenn er sich getraute, sich solch einen Satz auf seinen Grabstein setzen zu lassen?
Stimme des Mathematikers: Ich erinnere an die berühmten Affenbrotbaumschen Funktionen, mit denen sich das gesamte All ausmessen lässt!
Herr (zum Besucher): Haben Sie schon mal was gehört von den Affenbrotbaumschen Funktionen? Nein? Mathematik ist ja auch nicht jedermanns Sache.
Stimme des Mathematikers: Ich erinnere an die berühmten Affenbrotbaumschen Funktionen, mit denen sich das gesamte All ausmessen lässt!
Herr: Der Herr war unermesslich ehrgeizig und scheint es noch immer zu sein. Gern hätte er es gehabt, man hätte auch für Mathematikarbeiten den Nobelpreis vergeben; er war sich da ganz sicher, dass er ihn erhalten hätte. Leider aber hatte er trotz all seiner Anstrengungen keinen Erfolg. Aber einen anderen Preis hat er sich da wohl eingeheimst. Ich hab mir noch nie die Mühe gemacht, näher hinzutreten. Doch der Stern da, an seinem Revers, soll eine Auszeichnung sein von einer der besten Universitäten der Welt für irgendein Problem aus der Algebra.
Besucher: Mathematik! Ist das nicht etwas, was man als Kind und als Jugendlicher betreibt, wenn man sonst noch nichts von sich und von der Welt versteht? Entschuldigen Sie! Da fällt mir eben eine kleine Strophe ein.
Hat´ in der Kinderzeit mir vorgenommen
an Kindersächelchen mich zu erfreuen,
nun bin ins Alter ich gekommen
und treib noch immer Kindereien.
Stimme des Mathematikers: Ich erinnere an die berühmten Affenbrotbaumschen Funktionen, mit denen sich das gesamte All ausmessen lässt!
Herr: Lass er uns nur in Ruhe mit seiner Affenbrotbäumen!
Besucher: Gibt es keinen Knopf, den Ton abzustellen?
Herr: Leider nicht. Interessant wäre immerhin, wenn er uns sagen würde, was er alles für seine Kindereien zu bezahlen bereit war. Da könnten Sie einiges Bedeutsame erfahren. Da aber schweigt der Sänger. Seine Frau starb schon sehr früh, in blühendem Alter, total vernachlässigt und desillusioniert. Entweder du hilfst mir bei meinen Arbeiten, so soll er nach den Flitterwochen zu ihr gesagt haben, oder du kannst gleich wieder gehen.
Besucher: Hoch hinaus zu wollen, ist immer Herrschaft. Und Herrschaft braucht Untertanen.
Physiker: Nur die Unschärferelation ergänzt den Energiesatz, so dass aus Nichts doch noch etwas werden kann, wenn auch nur für begrenzte Dauer.
Herr: Schweig er doch! Wir brauchen keine Leute, die glauben, dem lieben Gott Nachhilfestunden geben zu müssen.
Besucher: Früher hätte man noch gesagt, die ganze Schöpfung sei eine Erzählung Gottes, die er an sich richtet, um sich in ihr zu verherrlichen und die dem Menschen offensteht, den Namen Gottes zu heiligen. Aber damit haben wir schon lange nichts mehr zu tun. Wir sind nur noch Vermarkter des Zeitgeistes.
Physiker: Dass aus Nichts doch noch etwas werden kann, wenn auch nur für begrenzte Dauer.
Herr: Das nächste Grab gehört einem hohen Vertreter der Justiz, der dann Oberbürgermeister der Stadt wurde, leider aber keine sehr rühmliche Rolle gespielt hat. Wollen Sie seine Geschichte noch vernehmen? Wir haben noch etwas Zeit.
Besucher: Vielleicht ein andermal. Es macht mich das alles doch ziemlich müde.
Herr: Das Rondell kommt gleich, wo das Spektakel stattfinden soll. Nur noch ein paar Schritte. Dann sind wir da.
(In der Mitte des Rondells steht ein steinerner Kruzifixus, umgeben von einer breiten Grasfläche, ganz am Rand blühen Frühlingsblumen. Daneben befindet sich eine Wasserstelle mit Gießkännchen. Der Herr und der Besucher setzen sich auf eine der Bänke. Die weiteren Bänke sind leer, bis auf zwei Puppen auf einer Nachbarbank. Ganz in der Nähe ist ein alter Mann, der Bahnwärter Rub, dem der rechte Arm fehlt; er stellt eben vor den Kruzifixus ein paar Blumen, um dann Blumen auf einem Grab zu begießen, an dessen Kopfende ein kleines Holzkreuz steht. Hier sind keine Toten mehr über den Gräbern zu sehen)
Herr: Gewiss haben Sie schon vom Beschluss des europäischen Gerichtshofs gehört, die Kreuze nicht nur aus allen öffentlichen Gebäuden, sondern auch aus den öffentlichen Anlagen heraus zu schaffen. Zumal auf Friedhöfen, heißt es eigens in der Begründung, bedrückt und irritiert es, wenn man auch noch von überlebensgroßen, gekreuzigten Giganten beobachtet und verfolgt wird.
Besucher: Das ist wegen der Nichtchristen.
Herr: Nicht nur.
Besucher: Nun verwundert mich aber doch eines! Wenn dies ein erst vor wenigen Jahren angelegter Friedhof ist und man die Kreuze nicht mehr dulden will: wie kommt es, dass hier so viele alte Kreuze stehen?
Herr: Man könnte hier von einer Sammelstätte sprechen, wohin man viele Kreuze der alten städtischen Friedhöfe zusammen gebracht hat. Auch die alten Bäume, die Zypressen und Lorbeeren, hat man als ausgewachsene Exemplare eingebettet. Und selbstverständlich auch die Jahrhunderte alten Gräber.
Besucher: Da stehen dem Mann am Kreuz also einige Neuerungen bevor.
Herr: Zumal, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, von dort oben auf die Welt zu schauen, dürfte einem eine solche Veränderung nicht leicht fallen.
Besucher: Vielleicht fällt es dem Menschen auch leichter, die Menschen zu ertragen, wenn er an keinen Gott mehr glaubt. Die Menschen sehen und an Gott glauben: das hieße ja doch, sich ohne Unterlass die Seele zu zerfleischen, weil man sich zu zwingen hätte, gottgeliebte Brüder in ihnen zu sehen, während man sie als Lumpenhunde verachtet. - Immerhin aber scheint doch da und dort noch ein Rest von Menschlichkeit vorhanden zu sein.
Herr: Meinen Sie diesen Mann da?
Besucher: (nickt Zustimmung)
Herr: Er steht jetzt am Grab seiner Frau. Sie ist ihm erst vor kurzem verstorben. Täglich kommt er hierher. (zu dem Herrn Rub, der an dem Grab steht und weint) Mein Herr! Entschuldigen Sie, wenn wir Sie belästigen! Gestatten Sie die Frage! Erwarten Sie jemanden?
Rub: (verneinendes Kopfschütteln)
Herr: Aber die beiden Puppen gehören Ihnen?
Rub: (bejaht durch Kopfnicken)
Herr: Ist das das Grab Ihrer Frau?
Rub: (nickt)
Herr: Es ist sehr hart, eine Frau zu verlieren, zumal wenn man sich gut mit ihr verstanden hat...
Rub: (nickt und sagt) Unsereins saß nie in der Sonne.
Besucher: Und die Puppen gehörten ihrer Frau?
Rub: Sie gehören meiner zweiten Frau. Hier aber liegt Annie, meine erste Frau. Sie hatte eine schwere Krankheit und einen bitteren Tod durchstehen müssen, aber sie hat es jetzt gut.
Was wollen Sie damit sagen?
Gauben Sie an Gott?
Rub: Ach, mein Herr! Im Gedräng und in den Mühsalen und auf den Irrwegen der Menschheit hab ich mir allen Glauben abgewöhnt. Aber ich konnte mir das leisten, ohne deswegen Bauchweh zu bekommen. Ich sagte zu meiner Annie, zumal als mich ihre Krankheit fast um den Verstand gebracht hat. Du weißt, was uns beiden gut tut. Du weißt auch, wenn es noch einen lieben Gott gibt, wo er zu finden ist. Damals glaubte ich zwar nicht mehr daran. Aber jetzt, wo ich hierher ans Grab komme, bin ich mir sicher, dass sie den Weg gefunden hat. Und ich bin mir auch sicher, dass sie den Weg zu mir findet, wenn es einmal so weit ist, mich abzuholen.
Herr: Aber nun haben Sie noch Ihre zweite Frau, um die Sie sich bekümmern?
Rub: (nickt und schreckt zusammen, ohne dass es die beiden Herren bemerken, während in der Nähe ein Zug vorbeifährt) Mein Gott!
Besucher: Sie wohnen hier in der Nähe?
Rub: (nickt)
Herr: Als Invalide?
Rub: Ich bin Bahnwärter auf der Station 5A der Höllentalbahn. Der Zug, der eben vorbeifuhr ist der 2Uhr40-Zug nach Donaueschingen. Wenn ich nicht da bin, vertritt mich meine Frau. Und jetzt hab ich es eben mit der Angst zu tun bekommen, weil ich die Schranken nicht heruntergelassen habe. Dabei besorgt das doch Lisi, meine zweite Frau.
Herr: Aber sonst schaffen das, mit Ihrem Arm?
Rub: Ich bin nicht das Problem. Mir geht es gut, wenn es nur Lisi gut geht!
Herr: Lisi? Erzählen Sie uns doch ein wenig, wenn Sie uns nicht für unwert erachten, sich dadurch eine kleine Erleichterung zu verschaffen.
Rub: Zwei Jahre nach Annies Tod habe ich sie kennen gelernt. Kurz darauf haben wir geheiratet. Was sollte ich auch tun? Ich konnte nicht allein bleiben im Bahnwartshaus, zumal auch mit dem großen Garten. Da war ich auf Hilfe angewiesen. Vor der Hochzeit hatten wir schon ausgemacht, dass es keinen Flitter und keinen Tand geben sollte. Nur als eine kleine Hilfsgemeinschaft wollten wir uns verstehen. Lisi sagte damals, ohne dass ich sie dazu gedrängt hätte, stets wolle sie Annies Andenken hoch halten und sie hat das Versprechen noch bis auf den heutigen Tag gehalten. Jeden Sonntag hat sie vor ihr Bild im Wohnzimmer frische Blumen gestellt. Doch auch Lisi kann nicht nur geben. Auch sie braucht Liebe und Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Wären Sie jetzt zuhause bei mir, so würde ich Sie ins Wohnzimmer führen und Ihnen eine Vitrine zeigen, voll der allerschönsten Puppen. Die sind alle von Lisi.
Herr: So sind auch diese beiden Puppen von Ihrer zweiten Frau?
Rub: (nickt)
Herr: Sie sind allerdings sehr schön geraten.
Rub: Lisi ist eine große Künstlerin. Sie versteht es, den Puppen so lebendige lebensechte Gesichtszüge zu verleihen! Alles ist so echt und lebensnah gearbeitet, dass man sich nur wundert, dass die Puppen nicht atmen und leben. Dabei vergisst sie auch kein einziges von all den vielen Details. Angefangen bei den Schühchen, aus denen die Puppen fast wie Blumen herauswachsen, bis hinauf zum überreichen, wie in Hyazinthenblüten hinabwallenden lockigen Haar. Die Kleidchen sind aus den ausgesuchtesten Stoffen; sie hat alle selber geschneidert und natürlich hat sie auch die Körbchen und die Sonnenschirmchen eigens verfertigt. Doch sehen Sie, hier liegt nun aber eben auch das Problem. Sie würde nämlich sehr gern ein Puppenatelier eröffnen. Doch woher sollen wir das Geld nehmen? Nun, Lisi wär ja auch schon zufrieden, wenn sie da und dort in einem Geschäft eine ihrer Puppen ausstellen dürfte. Doch da hat man ihr gesagt, dass das nicht gehe. Dass das nämlich keine Markenpuppen seien. Und das macht sie nun kolossal traurig. Hätt ich viel Geld, meine Herren, ich würde es Ihnen und allen meinen Bekannten zustecken, damit sie kämen und sich eine Puppe bei Lisi kauften.
Herr: Wie schade. Auch ich habe meinen Geldbeutel eben nicht bei mir. Was kostet so eine Puppe, für den Fall, dass wir uns wieder einmal treffen?
Rub: Eine jede dieser Puppen benötigt im Durchschnitt zwei Wochen anstrengendster Arbeit, also etwa 100 Stunden. Und berechnet man die Stunde für 5 Euro, wofür kein Mensch arbeitet, so kommt eine Puppe, ohne die Materialien mit in die Kalkulation einzubeziehen, auf 500 Euro. - Aber wir treffen uns gewiss nicht wieder.
Herr: Woher wollen Sie das wissen?
Rub: Sonst hätten Sie längst Mittel und Wege gefunden, sich in den Besitz einer Puppe zu bringen. Nicht, dass Sie meinen, ich nähme Ihnen das Übel; das alles macht mich eben nur sehr traurig. (er geht weg, indem er mehrere Male sagt: „Wenn sich nur Lisi nichts zu Leide getan hat!“)
Großmutter: Kommt hierher und setzt euch zu mir. Großmutter braucht jetzt eine Verschnaufpause.
1. Kind: Ich brauch auch eine Verschnaufpause.
2. Kind: Dürfen wir keine Blumen gießen?
Großmutter: Meinetwegen.
2. Kind: Kommst du nicht mit?
1. Kind: Ich will jetzt keine Blumen gießen.
2. Kind: (gießt nun zuerst einmal allein die Blumen ringsum)
Greis: (er ist unbemerkt hinzugekommen und wendet sich jetzt an den Herrn) Können Sie mir sagen, wo der Platz ist, den ich gekauft habe?
Herr: Mein Gott, wie Sie mich erschreckt haben! Woher sollen wir das wissen?
Greis: Sie sind doch von der Friedhofsverwaltung!
Herr: Ich habe mit der Friedhofsverwaltung nichts zu schaffen.
Greis: Und der Herr da?
Herr: Auch nicht.
Greis: Ja, zum Kuckuck, wo leben wir denn?
Friedhofswärter Demut: (kommt herbeigeeilt) Mein Herr! Herr von Goldschmied. Schön, dass ich Sie hier finde. Gewiss sind Sie gekommen, sich Ihr Grundstück anzuschauen.
Greis: Sind Sie von der Friedhofsverwaltung?
Friedhofswärter Demut: Demut ist mein Name.
Greis: Für eine solche Demut hab ich nichts übrig.
Friedhofswärter Demut: Kommen Sie! Ich zeige Ihnen alles. Es ist wirklich eine ganz vorzügliche Wahl, die Sie da getroffen haben. Die Lage ist zentral, die Aussicht sehr schön und selbst im heißesten Sommer weht hier ein kühles Lüftchen das Höllental herunter. Ich gratuliere Ihnen. Hier, dieses ganze Feld gehört Ihnen.
Greis: Und die Bäume dort??
Friedhofswärter Demut: Wie?
Greis: Die drei Linden?
Friedhofswärter Demut: Die gehören auch noch dazu. Bis hinüber zu der Trauerweide; dort beginnt das Mausoleum der Frau von Schwarzgold.
Greis: Das Mausoleum? Wie? Von wem?
Friedhofswärter Demut: Das Mausoleum von der Frau von Schwarzgold.
Greis: Das tempelartige Gebäude mit dem dreieckigen Giebelfeld?
Friedhofswärter Demut: Das hat sich Frau von Schwarzgold erbauen lassen.
Greis: Ohne mir etwas davon zu sagen? Das ist unerhört!
Friedhofswärter Demut: Das stand doch groß in der Zeitung. Der berühmte Architekt Strandholz hat es gebaut.
Greis: Zum Teufel damit, und wenn es sich die Götter selber erbaut hätten.
Friedhofswärter Demut: Außerdem kann niemand Frau von Schwarzgold zu etwas zwingen.
Greis: Das werden wir ja sehen.
Friedhofswärter Demut: Frau von Schwarzgold ist sehr reich. Eine der reichsten Frauen im ganzen Land.
Greis: Hat die Friedhofsverwaltung eigentlich niemanden sonst, mir zu schicken, als Sie?
Friedhofswärter Demut: Haben Sie etwas an mir auszusetzen?
Greis: Er merkt wohl nicht, was für ein ausgemachter Schafskopf er ist?
Friedhofswärter Demut: Mich können Sie beleidigen, so viel Sie wollen. Das nimmt Ihnen niemand übel. Gleichwohl aber stimmt es, dass Frau von Schwarzgold alle und alles sich kauft, was immer sie begehrt.
Greis: Hätte man mir etwas von dem Bauvorhaben gesagt, dann wüssten Sie von einem Gegenteil; dann nämlich hätte ich von meinem Einspruchsrecht Gebrauch gemacht.
Friedhofswärter Demut: Bei der Frau von Schwarzgold kommen Sie da nicht weit. Die hat nicht nur Millionen, wie es heißt, die hat auch Milliarden. Und außerdem soll sie auch noch über sehr gute Beziehungen verfügen, über einige Bekannte dazu, die mächtige Herren sind in unserem Staat.
Greis: Abscheulicher Angsthase
Friedhofswärter Demut: Es ist aber die Wahrheit!
Greis: Er soll mir nicht immer widersprechen, er Idiot! Als ob mir das imponieren könnte! Wenn einer weiß, was das für eine Frau ist, so bin es ich. Gewiss stammt sie aus einem guten Haus, das heißt aus einem Haus, das erst jüngst wieder einen der mächtigsten Männer der Republik gestellt hat. Da sie aber nicht so wollte wie man zu Hause wollte, lief sie aus dem Haus, sie war damals fast noch ein Kind, und widmete sich einem Gewerbe, das zwar ein ansehnliches Alter hat, gleichwohl aber noch immer eine zweifelhafte Reputation genießt. Hier nun kam sie mit dem 40 Jahre älteren Schwarzgold zusammen, den sie dann scharf auf sich machte und, um es kurz zu machen, den sie endlich auch heiratete und beerbte. (zu den Herren gewandt) Aber wenn sie die Macht haben sollte, jeden Potentaten der Welt um den Finger zu wickeln, mich nicht. Mich, meine Herren, wird nie die Lust überkommen, von der Herrin Dunja in Knechtschaft geführt zu werden. Und gar eine Ewigkeit neben dieser Dame oder neben dem Hund dieser Dame zu ruhen? Niemals. Aber wir werden die Sache nicht auf sich beruhen lassen.
Friedhofswärter Demut: Wenn Sie Beschwerde einlegen wollen, müssen Sie sich an den Chef der Friedhofsverwaltung wenden. (er wendet sich zum Gehen)
Greis: Sagen Sie selbst, meine Herren! Kann man sich wohl fühlen, bei einer solchen Nachbarschaft, eine liebe lange Ewigkeit? Hätte ich mich an den zuständigen Bürgermeister gewandt, dann wär mir das nicht passiert. Man wird eben bestraft, wenn man sich mit Subalternen einlässt. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen! (ab)
1. Kind: Was hat der Mann, dass er so wütend abzieht?
Herr: Er hat geredet, als ob die Toten weiterlebten wie die Lebenden.
1. Kind: Aber die Toten sind doch tot, oder nicht Großmutter?
Großmutter: Die Toten sind tot.
1. Kind: Und die Toten reden nicht mehr.
Großmutter: Kein Toter redet mehr.
1. Kind: Und als wir noch nicht waren, waren wir da auch tot?
Großmutter: Nein, tot waren wir da noch nicht.
1. Kind: Wo waren wir da, wenn wir nicht tot waren?
Herr: Das ist eine gute Frage. Da warst du bei Mutter und Vater als Ei und Sperma.
1. Kind: Gell, Großmutter, der Mann macht Witze. - Stimmt das, dass wir da nirgends waren? Nirgends gibt es doch nicht.
Großmutter: Nein, nirgends gibt es nicht.
2. Kind: Ist der Mann da droben auch schon tot?!
1. Kind: Das ist doch der Herr Jesus!
2. Kind: Das weiß ich auch.
1. Kind: Aber du weißt nicht, ob er noch lebt, sonst würdest du nicht fragen, ob er schon tot ist.
2. Kind: Lebt der noch, Großmutter?
1. Kind: Früher einmal hat der die Toten wieder lebendig gemacht.
Herr: (für sich) Heute wollen zwar die meisten noch immer in alle Ewigkeit leben, wenn sie es dann aber geschafft und den Roman ihres Lebens mitsamt dem Tod hinter sich haben, ist der Traum von der Ewigkeit vergessen. Dann will keiner mehr lebendig werden. Was man geschafft hat, hat man geschafft. Man kann ja nie wissen, ob man nach der Ewigkeit noch einmal sterben muss!
2. Kind: Schau, Großmutter, wie mich der Herr Jesus ansieht! (geht etwas zur Seite) Ja, der sieht mich an. Der folgt mir mit seinem Blick.
1. Kind: Das bildest du dir nur ein.
2. Kind: Wenn er will, steigt er auch vom Kreuz herab.
1. Kind: Das träumst du!
2. Kind: Großmutter, gell der Herr Jesus Kann vom Kreuz steigen
Großmutter: Wenn er ein Wunder tun will, kann er das.
1. Kind: Wenn er ein Wunder tun will, kann er alles.
2. Kind: Wenn ich ihn bitte, das zu tun, was er tun will, dann steigt er auch vom Kreuz.
1. Kind: Dann bitte ihn doch!
2. Kind: Herr Jesus, der du alles vermagst, ich bitte dich… Sie doch still!
1. Kind: Ich stör dich ja gar nicht.
Herr: (für sich) O es hat schon Zeiten gegeben, wo man glaubte, sich nur an einem Kreuz festhalten zu müssen, um dann mit ihm zum Himmel hinauf zu fliegen.
2. Kind: Sag ihr, Herr Jesus, dass du lebst und dass du gleich vom Kreuz steigst!
Großmutter: Streitet euch nicht, ihr Kinder!
1. Kind: Tote sind tot.
2. Kind: Der Herr Jesus lebt und wenn er aus Stein wäre!
Herr: Manchmal kommt es vor, dass Tote nur schwer in den Tod hineinfinden. Wenn sie sich dann aber beruhigt haben, schlafen sie für immer.
2. Kind: Mein Jesus hat sich nicht beruhigt. Und auch ich will mich nicht beruhigen. Ich will nicht einschlafen.
Herr: Dann musst du aber immer wach bleiben und wach bleiben!
2. Kind: Ich bleibe immer wach, gell Großmutter.
1. Kind: Keiner kann immer wach bleiben.
2. Kind: Ich kann das.
1. Kind: Mit dem Mund vielleicht!
2. Kind: Wenn der liebe Gott will, macht er, dass ich es kann. Denn er kann alles und er gibt mir, was für mich wichtig ist. Das hat mir die Großmutter selber gesagt.
Großmutter: Jawohl, mein Kind; er gibt uns, was wir brauchen.
2. Kind: Siehst du!
1. Kind: Nur was du brauchst, ist für dich wichtig.
2. Kind: Er gibt mir, was für mich wichtig ist, und was für mich wichtig ist, das brauche ich.
1. Kind: Und das Einschlafen kannst du auch nicht verhindern.
2. Kind: Ich halte meine Augen offen, dann bin ich stark. - Gell, Großmutter, ich schlafe nicht ein, wenn ich meine Augen offen halte!
Großmutter: Sei nur guten Mutes, mein Kind. Du brauchst keine Angst zu haben. Geh und gib dem Herrn Jesus etwas zu trinken. Das wird ihm gut tun.
(das zweite Kind begießt den Stamm des Kreuzes, das erste kommt dann auch hinzu.)
Besucher: Wie emsig die Kinder doch bemüht sind, in Erfahrung zu bringen, in was für eine Welt sie hineingeboren wurden. Da haben Sie aber eine munter kämpfende Schar. Sind das Ihre Enkelinnen?
Großmutter: So ist es.
Herr: Und die Eltern der Kinder? Leben die noch?
Großmutter: (nickt) Fragen Sie aber bitte nicht weiter!
Gärtner (herbeikommend zum Rondell): Genug, dass es Leute gibt, die ihre Gräber nicht pflegen! Aber so etwas ist mir bislang noch nicht vorgekommen. Jüngst traf ich auf einen Mann, und er gehörte wohl noch nicht einmal zu den Ärmsten, der fragte mich danach, ob man auch einen Grabplatz bekommen könne, ohne allen Schmuck, bedeckt nur mit einem Rasen, den die Friedhofsgärtnerei in Ordnung hält.
Wärter: Vielleicht, dass er keine Angehörigen mehr hatte?
Gärtner: Geld hat immer Angehörige.
2. Kind: Was tun die Männer, Großmutter?
1. Kind: Die unterhalten sich.
2. Kind: Die schauen aber immer zur Seite.
Herr: Meine Herren, können wir ihnen behilflich sein?
Gärtner: Nein, danke!
Herr: Suchen Sie nach etwas?
Gärtner: Geht Sie das etwas an? Überhaupt, was geht hier vor sich?
Herr: Was soll hier vor sich gehen? Sie fragen in einem Ton, als dürfte man sich nicht mehr hier hinsetzen!
Gärtner: (zu den Kindern, die beim Kreuz stehen) Was ist das? Was tun die da?
Großmutter: Die Kinder? Sie begießen das Kreuz. Das ist doch nicht verboten?
2. Kind: Auf dass der Herr Jesus zu uns herabsteigt.
Gärtner: Dass ihr mir aufhört, da herumzupritscheln! Der Friedhof ist kein Spielplatz zum Herumpritscheln!
Herr: (leise zum Besucher) Früher einmal war der Friedhof noch so etwas wie ein Spielplatz. Der Spielplatz, wo der liebe Gott durch seinen getreuen Amtmann und Taschenspieler, den Tod, die Menschen verschwinden ließ, um sie bei sich im Himmel wieder zu erwecken. Als er sich dann aber verzog, bekam das Spiel einen anderen Charakter. Nun galt es vorerst, die neue Adresse des lieben Gottes ausfindig zu machen. Manche behaupten, sie hätten ihn gefunden, bei der Sonne als verdorrte Distel oder beim Mond, der nur mehr noch faules Holz war; andere aber behaupteten, eine neue Adresse ließe sich überhaupt nicht mehr finden. Gott sei damals plötzlich schwer erkrankt; er habe den Daseinsekel bekommen; und dann habe er beschlossen, in göttlicher Souveränität an seine eigene Unsterblichkeit Hand anzulegen.
Gärtner (nachdem er den Fuß des Kreuzes inspiziert hat): Was immer die Kinder an Sachbeschädigungen anrichten, dafür haften Sie, gnädige Frau!
Großmutter: Dafür will ich schon auch noch aufkommen!
Gärtner: Sie wissen wohl nicht, wie viel Mühe es macht, die Anlagen in Schuss zu halten.
Großmutter: Gewiss doch...
Herr: Aber das bisschen Gießen, das schadet wohl niemandem.
Gärtner: Die Pflanzen werden von uns gegossen. Und jedes Bisschen ist zu viel.
Herr: Und wenn die Kinder das Kreuz begießen?
Gärtner: Ja, zum Kuckuck. Ich habe gesagt, hier gibt es nichts zu begießen. Und schon gar kein Sandsteinkreuz!
Herr: (leise zum Besucher) Am liebsten würden sie die Kinder so reglementieren, dass sie nur noch wie versteinerte Kreuze dastünden! Das wäre die Erziehung zum idealen Staatsbürger. Doch Spaß beiseite! Immerhin betreiben sie Gewissenspflege. Schließlich muss das Kind lernen, dass es Gebote gibt und Verbote, deren Einhaltung unabdingbar ist.
Gärtner: Demut, protokollieren Sie den Fall und notieren Sie die Herren hier als Zeugen!
Wärter: Sehr wohl, Herr von Konstantin.
Gärtner: Damit alle Welt weiß, dass ich mir im Dienst nichts habe zuschulden kommen lassen!
Großmutter: Kommt!
1. Kind: Dürfen wir nicht mehr gießen, Großmutter? Der Herr Jesus hat aber großen Durst.
Großmutter: Kommt, wir gehen!
2. Kind: Gell, Großmutter, die Männer sind bös. - Dafür verraten wir ihnen aber auch nicht, wo sich der Mann, den sie suchen, versteckt hält!
Großmutter: Kommt!
(Bei einem Seiteneingang innerhalb des Friedhofs trifft Adam auf Eva, die auf ihn gewartet hat. Adam und Eva gehen durch den Friedhof. Unweit davon befindet sich der Eingang zu einer privaten Augenklinik. Der Augenarzt mit seinen Leuten steht unter dem Eingang und hält Ausschau nach Adam.)
Eva: (schaut immer zurück) Da bist du endlich!
Adam: Wie schön erwartet zu werden! Aber es scheint dir nicht recht zu sein, dass ich komme!
Eva: Doch, doch...
Adam: Sag´s nur, dass du nicht auf mich gewartet hast.
Eva: Ich habe doch auf dich gewartet.
Adam: Aber nicht in der freudvollen Hoffnung, dass ich komme!
Eva: Bist du nicht aus der Klinik gelaufen?
Adam: Eine Klinik nennst du diese Weltverdüsterungsanstalt, diese Polizeistation, dieses Gefängnis! Jawohl, wenn ich an diese Klinik denke, überkommt mich die große Weltverdüsterung.
Eva: Genügt das, um aus der Klinik zu laufen?
Adam: Da genügt noch viel weniger.
Eva: Wohl dem, der auch in der Erprobung standhält.
Adam: Sei du nur froh, wenn du nie in den Genuss einer solchen Erprobung kommst. Sie nennen es Fürsorge, aber es ist Bevormundung! Oder wo meinst du, schmeckt das Essen besser: im Kreis geselliger Freunde oder bei Kranken, die herumröcheln und nach Atem ringen? Und meinst du, das sei unterhaltsam, wenn ein jeder seine unverdauten Weltängste unentwegt und unverdrossen vor sich hinquasselt, dass man allein davon schon todkrank würde, auch wenn man bombengesund in die Klinik eingewiesen worden wäre. Wenn ich nur an die Monomanin neben mir denke! Bevor sie loslegte, gackerte sie immer wie eine Henne, die das Hühnervolk darauf aufmerksam macht, dass sie nun ein Ei legt. Bitte, bitte, kommen Sie! fing sie dann an. Ich hab Sie doch gesehen. Manchmal aber bestand sie auch darauf, dass sie Durst habe. Dann fragte sie hundert Mal: Warum bringt mir keiner was zum Trinken? Oder: Ich halt es hier nicht mehr aus. Dann wieder, wenn ihr etwas lichter zumut ward, sah sie sich um und begann zu fragen: Wo bin ich? Dann schrie ihr die junge Krankenschwester ins Ohr, dass sie im Krankenhaus sei. - Wehe es gelingt dir nicht, dich ihnen gefällig zu erweisen. Dann wirst auch du dich bald fragen, wo du bist, und wirst vergebens nach einer Antwort suchen. Bist du ihnen aber so gefällig, dass Hoffnung besteht, dass du aus diesem Loch wieder herauskommst, dann bearbeiten sie dich, was du alles zu tun hast nach deiner Entlassung. Da drängen sie sich an dich heran, ja sie stürmen auf dich und geben nicht eher Ruhe, als bis du sie als deine dir treu ergebenen und um dich besorgten Ärzte anerkannt hast und ihnen ewigen Gehorsam schwörst.
Eva: Das behauptest du doch nur!
Adam: Zu des Asklepios Zeiten gab es noch Ärzte, die Weise waren; heute aber gibt es in unseren Kliniken nur noch hochstapelndes Lumpenpack, Polizisten, Justizbüttel und an Geldgicht leidende Pfennigfuchser. Patient sein heißt für sie nichts anderes, als sich mit Haut und Haar in ihre Gewalt zu begeben wie in die Gewalt der Kirche in früheren Tagen. Aber ich mag ihr Heil nicht. Mag sich den Tod eindoktern lassen, wer will, ich nicht! Lieber fahr ich zum Teufel! Jawohl, sterben kann ich auch ohne diese eingebildeten Laffen!
Eva: Man wird dir nachsetzen und die Schande wird groß sein.
Adam: Lass sie nur kommen. Da bin ich schon mit ganz anderen fertig geworden. Und wenn sie mit allen Polizisten und Polizistinnen der Welt gegen mich zu Felde zögen! Oder hast du Angst, dass ich dich entehre, Angst, dass du nicht mehr erhobenen Hauptes an diesen Leuten da vorbeigehen kannst? Wie, oder nimmst du sie gar noch in Schutz gegen mich und verrätst mich an sie?
Eva: Hab ich dich jemals verraten? Hatte ich nicht immer nur dein Bestes im Sinn?
Adam: Besten Dank für dein bestes, meine Allerbeste! - (einen Schritt aus dem Friedhof tretend) Doch schau da, die Herren, unter dem Eingang zur Privatklinik! Wie sie die Hälse recken und ihre Augäpfel in die hinterste Munitionskammer zurückziehen, um sie dann auf mich katapultieren! Da stehen sie wie der Ochs am Berg!
Eva: Bleib hier!
Adam: Warum? Weil sie mich sonst sehen? Mögen sie mich doch sehen! Meine Herren! (er holt einen Flachmann aus dem Sack und prostet ihnen zu) Herr Prof. Dr. Ochs, Herr Prof. Dr. Esel! Sie mögen leben! Und mögen ihnen die Krankenkassen viele Säcke Silber und Gold schenken!
Eva: Mein Gott, Adam!
Adam: Kommt her zu mir, ihr selbsternannten Weltenrichter und Totengräber, kommt her, ihr Heiligen des Satans, falls euch ein Gelüste treibt, mich einzufangen! Hier bin ich! Kommt her, ihr armseligen Wichte, auf dass auch ich euch an meine Brust nehme, ehe ich euch zeige, wie ich mich zusammen mit euch lustvoll in die ewige Nacht plumsen lasse!
Eva: Komm! Verziehen wir uns! (sie zieht ihn wieder in den Friedhof, wo man sie nicht mehr sehen kann)
Adam: Was hab ich getan, dass ich mich verziehen müsste? Plagt mich ein schlechtes Gewissen? Haben sie mir nicht solange zugesetzt, bis sie mich soweit hatten? Am liebsten hätten sie mich wohl noch aufgehängt, diese Herren über Leben und Tod, weil ich nicht willens war, nach ihrer Geige gesund zu werden. Zur Strafe dafür aber müssen sie sich jetzt an den Krankenbetten herumtreiben, bis sie der Teufel holt! (trinkt) Dabei ist bei mir überhaupt nichts mehr zu holen. Doch still! Nur schön still! Mögen sie kommen und mir die Hosensäcke umwenden. O, sie sollen noch ihre blauen Wunder erleben!
Eva: Wie böse du doch sprichst!
Adam: So lautet mein „Vergelt´s Gott“ für alles, was sie mir angetan haben! Alle haben sie davon gehört, dass wir unsere Hütte verkauft haben und sind nun begierig, sich ihren Teil zu sichern. Und wenn mich nicht alles täuscht, werden auch die Herren Söhne nicht lange auf sich warten lassen.
Eva: Wie ein Vater nur so böse reden kann!
Adam: Ich habe eben dazugelernt. Oder hat einer von ihnen meinen Wünschen entsprochen? Ist einer von ihnen über sich hinausgewachsen? Sind sie nicht alle ihre eigenen Wege gegangen und dabei zu jämmerlichen Gesellen verkommen, dass man sich schämen muss, ihr Vater zu sein?
Eva: Komm jetzt!
(Eva zieht den Adam mit sich)
Adam: O ja, ich habe die Zeit gut genutzt. Jawohl, ich habe dazugelernt. Ich weiß nun endgültig, was es mit dem Menschen auf sich hat! Es ist aber nicht nur das Geld, das alles vergiftet. Es ist auch der Stolz und das Selbstbewusstsein, die nie genug Nahrung bekommen. Die Art und Weise, wie der Kampf der Ärzte gegen die Krankheiten geführt wird, ist schauderhaft. Das kannst du besonders gut sehen, wenn die Krankheit die Frechheit besitzt, sich nicht überwinden zu lassen. Rotte die Krankheit aus und lass dich als Gott verehren! Das ist die Devise der Ärzte! Doch wehe, wenn sie es nicht schaffen, der Krankheit den Garaus zu machen! Die größte Schmach für sie ist, sich sagen lassen zu müssen, dass sie versagt haben. Nichts wird besser vertuscht als dies. Gelingt ihnen das aber einmal nicht: „Freund“, so sprechen sie da zu dir, „wie konntest du es nur fertig bringen, dich in eine solche Krankheit fallen zu lassen? Meinst du, das macht uns Spaß, uns mit deiner Krankheit abzuplacken?“
Eva: Was redest du nur zusammen?
Adam: Ja zum Teufel, hab ich nicht Recht? Glücklich jenes Zeitalter, wo man noch so gut wie nichts verstanden hat von der Medizin, wo man sich noch unter einem Arzt etwas Großes vorstellen konnte. Wo ein Arzt noch so etwas war wie ein Kulturheros, der vom inneren Leben des Menschen überzeugt war und der etwas von seinen geheimen Bestrebungen, seinen Hoffnungen und Nöten verstanden hat. Ja glücklich das Zeitalter, das Leute hervorgebracht hat wie den weisen Chiron, der es verstanden hat, einen Achill zu erziehen, und der, wenn´s nötig ward, sich auch nicht scheute, mit seinem Patienten in den Tod zu gehen.
Eva: Und was hast du von all deinem Wissen?
Adam: Ja, glaubst du, ich wäre ein Feigling?
Eva: Man setzt uns nach!
Adam: Unfug.
Eva: Glaub mir! Ich hör es, wie es raschelt.
Wolfgang: (aus einem Versteck) Das gilt wohl mir. Ob sie es gemerkt haben, dass ich hier bin? Oder ob das Blut der Eltern zu rauschen beginnt, wenn ein Sohn sich nähert?
Adam: Komm! Hier geht es weiter. Und dieser Stock soll uns den Weg frei machen, sofern es sich jemand herausnimmt, sich uns in den Weg zu stellen.
Stimme des Mathematikers: Mein Leben hat sich gelohnt. Ich habe so sensationelle Entdeckungen gemacht, dass man noch in Jahrtausenden meiner gedenkt. Ich erinnere nur an die berühmten Affenbrotbaumschen Funktionen, mit denen sich das gesamte All ausmessen lässt!
Adam: (hält sich die Ohren zu) Dieses stinkende Eigenlob!
Eva: Macht dich der tote Mathematiker unglücklich?
Wolfgang: (aus einem Versteck) O ja, der erinnert ihn an seine kühnen Träume. Leider aber bin ich kein großer Mathematiker geworden, mit dem er. Sich vor den Augen der Welt hätte brüsten können.
Adam: Du bist nicht unglücklich, das mag wohl sein. Das kommt daher, dass du dir nie ein großes Ziel gesetzt hast. Nie war dir bange, dein Ziel zu verfehlen. Von daher verstehst du auch nicht, wie einem zumute ist, der auf ein Ziel hin gelebt hat.
Eva: Gott setzt uns das Ziel, das ist mir genug.
Adam: Gott? - Und wie lautet dieses Ziel, wenn ich fragen darf?
Eva: Der Mensch ist dazu auf Erden, um Gottes Willen zu erfüllen und dann in den Himmel zu kommen.
Adam: Und was ist Gottes Wille?
Eva: Den Nächsten zu lieben wie sich selbst.
Adam: Alle Menschen zu lieben, einerlei, ob sie mir Gutes tun oder Böses? Damit ich im Jenseits nur ja alle wiedersehe, die ich schon auf Erden nicht habe ausstehen können?
Eva: Mit der Liebe wäre schon etwas auszurichten...
Adam: Dann wäre die Liebe nichts als Selbstverachtung, damit ich die Unausstehlichen herrlich finde.
Eva: Aber du hast den Hass noch lieber.
Adam: Nun pass einmal gut auf, mein Kleines, denn nun will ich dir sagen, wer der Mensch ist und was sich vernünftigerweise darüber sagen lässt. Du meinst wohl, der Mensch sei ein Geschöpf des lieben Gottes, um dessen Willen zu erfüllen? Oder er sei ein Geschöpf der Natur, durch das es der Natur beliebte, sich selber zu betrachten? Das ist alles falsch. Hör zu! Ich will dir sagen, was der Mensch ist. Der Mensch ist ein hochentwickeltes natürliches Wesen, eine Art Naturmaschine.
Eva: Wie ein Hund, ich weiß; das ist eine Naturmaschine, die bellen kann.
Adam: Ganz Recht. Wobei das Bellen zu dem Vermögen gehört, seinen Nistplatz bzw. sein Umfeld zu gestalten. Ähnlich ist es auch beim Menschen. Nur dass diese Maschine noch etwas komplexer ist, d.h. mehr Funktionen hat. Das Umfeld des Menschen reicht etwas weiter als nur um seine Hütt. Es umfasst inzwischen fast die gesamte Natur.
Wolfgang: (aus einem weiteren Versteck) So begann es immer, wenn sie sich in einen Streit verwickelten und so scheint es noch immer zu sein.
Adam: Diese Naturmaschine aber ist nun ihrerseits dabei, sich der komplex entwickelbaren Materie zu bediene und aus ihr Maschinen zu machen und so einen Krieg der Maschinen in Gang zu bringen, dem endlich alles zum Opfer fällt.
Eva: Warum zum Opfer?
Adam: Immer „warum?“ fragen Herr und Frau Dumm.
Eva: Die Liebe ist das Leben.
Adam: Für einen Augenblick vielleicht. Sie gehört zu den Eigentümlichkeiten der von mir genannten Naturmaschine, die sich selber zu verstehen sucht, um sich dann, wenn sie es nicht schafft, sich mit etwas Schönklingendem zufrieden zu geben. Sie hat etwas mit der Reproduktion dieser Maschine zu tun, was wir auch mit Sexual-Trieb umschreiben. Mit der Hoffnung auf Liebe aber beginnt das Martyrium der Menschheit. Oder haben wir nicht auch einmal voller Inbrunst zu lieben versucht, wenn es erlaubt ist, kurzweg von uns als von einem Wir zu erzählen? Man glaubt wunder was. Doch dann schaut man sich zu und sieht, was daraus wird. Der Trieb suggeriert uns, als würden wir uns zu wahrhafter Größe erheben und erleben seine, alles Ich auslöschende, zerstörerische Macht. Ja, diese Macht scheint so groß zu sein, dass sie den Einzelnen derart umgestaltet und blind macht, dass sie ihm alle Angst vor dem Nichtmehrsein nimmt und sie schwinden lässt und umwandelt in eine heiße Begierde, sich zu verschwenden und aufzugeben und zu verlieren und sich in einem großen bedeutenden Wir wieder zu gewinnen.
Eva: Warum haben wir uns nicht gewonnen?
Adam: Wir haben den Augenblick verpasst, uns zu verabschieden und nun sind wir auf den Hund gekommen.
Eva: Damals, als du um meine Hand warbst, sahst du das noch anders.
Adam: In der Jugend glaubt man noch, das Leben zu verstehen, gleichsam als läge eine liebe lange Ewigkeit vor einem, zumindest aber Tausende von Jahren. Und dann kommen die Kinder, eines nach dem andern, die man, eines nach dem andern, dem lieben Gott schenkt, bis er satt ist und genug hat von diesen Geschenken und sich bei einem bedankt.
Eva: Du bohrst in den Wunden unseres Lebens.
Adam: Mit Kindern wird man hinausgestoßen in die Strudel der Welt.
Eva: Als dich das Leben noch nicht verbittert hatte, sprachst du noch anders.
Adam: Tatsache ist, dass der liebe Gott dankend abwinkte, als du nicht aufhörtest, ihm deine Kinder feil zu bieten.
Wolfgang: Das geht wohl auch an meine Adresse.
Eva: Indem du dich und mich quälst, wirst du nicht Herr über deine Qualen.
Adam: Warum soll ich Herr werden über meine Qualen? Qualen sind dazu da, genossen zu werden (er trinkt). Aber versuch nur keinen Kopfstand des Geistes! Heute müssen wir jene alte Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies anders lesen. Als wir erkannten, dass Gott nicht ist, da, plötzlich, standen wir außerhalb des Paradieses. Woraus folgt, dass das Leben nichts ist als eine Kette von Illusionen und Täuschungen.
Eva: Ich brauche Gott, deshalb muss ich nicht philosophieren. Du aber musst philosophierst, weil du auf Gott verzichten zu können glaubst.
Adam: Bravo, bravissimo. Was für ein toller Beweis! Ich brauche Gott, deshalb gibt es Gott! Ich brauche Geld, deshalb gibt es Geld. Nur leider nicht für mich. Aber das ist nicht der einzige Unterschied. Pfui über den, der überhaupt etwas braucht. Pfui über den Sklaven der Bedürfnisse. Es lebe die Freiheit, es lebe der Mann.
Eva: Seit du das Trinken begonnen hast, glaubst du, niemanden mehr zu brauchen. Seit du dich abgenabelt hast von der Welt, seit du einen Zaun um dich herum gezogen hast, glaubst du frei geworden zu sein. Frei von Gott und der Welt, frei von guten Freunden und frei wohl auch von deiner Familie und von mir. Dabei hast du dich nur eingesperrt. Wie widerwärtig das doch ist. Ich dachte immer: auch wenn wir aus dem Paradies verstoßen und in fremdes Land hinausgetrieben wurden, so sind wir doch nicht ganz unglücklich, weil wir uns noch an die Hand nehmen und gemeinsam unser Elend teilen können.
Adam: Ich will kein Elend teilen. Ich will überhaupt kein Elend. Und ich weiß, dass es kein Elend zu geben braucht, es sei denn, dass man sich das Elend zur Seite nimmt. (er eilt davon und lässt sie alleine zurück)
Wolfgang: Gut, dass ich ihn nicht in der Klinik aufgesucht habe!
(jetzt entdeckt er den Bruder Simon, der, fern von den Eltern, des Wegs daherkommt; er ist in Begleitung einer Ziege) Aber da kommt ja mein Bruder Simon, falls es korrekt ist, einen Menschen, von dem man kaum mehr weiß als seinen Namen, als Bruder zu bezeichnen! Wie brav, wie sittsam er daherkommt! Und das ist also die Ziege, von der man behauptet, dass er sie sich noch aus dem bereits verkauften Haus herausgeholt hat!
(Simon kommt mit einer Ziege und einer Flöte zum Rondell, während Wolfgang im Hintergrund stehen bleibt.)
Simon:
Und du glaubst da zu sein. Doch wo ist da,
wo eben du zufällig Halt gemacht?
Gewiss die Sonne scheint dir jetzt noch sommernah
und Lüftchen schütteln dir der Locken Pracht.
Doch wart ein Weilchen. Kehrst du dann zurück
und suchst der Jugend herrliches Gefild,
bringt zwar die Sonne wieder Sommers Glück,
du aber stehst nur noch als Fremder da im Bild.
Wir haben vergessen, dass wir nicht wissen, wo wir sind, weil wir das Wissen zur Chefsache des Verstandes gemacht haben. Und alles Nichtwissen begreifen wir nur noch als ein individuelles oder temporäres Defizit. Aber neben dem Wissen des Verstandes gibt es noch ein anderes Wissen, ein Wissen, das der Verstand für Verrücktheit erklärt, weil es sich nicht anders nachweisen lässt, als dass wir unter seinem Fehlen leiden.
Wolfgang (aus der Ferne): Ja, das ist mein um 10 Jahre jüngerer Bruder. Jeder Satz von ihm gibt mir das zu verstehen. Meine momentanen Stimmungen sind allerdings nicht so, dass es mich drängte, auf ihn zuzugehen. Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn ich ihn sehe. Irgendwie fühle ich mich verspottet und karikiert und nachgeäfft, dass ich nicht glauben will, dass sich meine Mutter unterstanden haben soll, mir so jemand zum Bruder zu basteln. Fernab davon, uns einen gemeinsamen geistigen Besitz zu verschaffen, haben wir nur Materialien zusammengetragen für eine komische Oper. Man nenne es Schuldgefühle, ich habe nichts dagegen. Auch dass er die Mutter immer wieder um etwas Geld anbettelt, verarg ich ihm nicht. Schließlich muss auch er von etwas leben, auch wenn er momentan noch ohne Mietzins unter einem Brückenbogen der Dreisam auskommt. Und die Vöglein des Waldes, für die er musiziert, seit die Eltern das Haus verkauft haben, entlohnen einen Künstler auch nicht sonderlich üppig. Was indessen mich betrifft, dass ich ihm eine Stelle hätte besorgen sollen, wie es die Mutter von mir wünschte, und sei es auch nur als Winzling und Aktenträger auf einem der Ämter, wie hätt ich das leisten können? Die Zeiten sind vorbei, wo man einem Bruder oder Vetter ein Ämtchen verschafft, man müsste denn irgendwo ganz oben in der Administration sich aufhalten. Aber selbst dies gesetzt, dass man ihm eine kleine Stelle anböte: ist´s denn so klar, dass sie Mutters Simon annähme?
(Simon hat inzwischen seine Ziege mit frischem Wasser versorgt; dann beginnt er, auf seiner Flöte das Andante aus Bachs Flötensonate BWV 1030 (1. Satz) zu spielen.)
Herr: Mein Herr! Seien Sie still! Sonst gibt es Scherereien.... Meinetwegen können Sie spielen, so viel Sie wollen. Mich geht das nichts an. Und auch der Herr hier hat gewiss nichts dagegen. Aber es gibt noch andere Leute, die etwas dagegen haben. Es gibt Leute, die gegen alles etwas haben, vor allem, wenn sie wissen, dass es sich um die Verletzung eines Verbots handelt. Man nennt es hier Störung der Friedhofsruhe. Die Toten brauchen nämlich ihre Ruhe. Und wenn Ihre Musik diese ihre Musik die Toten auch entzückte, diese Sykophanten und Aufpasser der öffentlichen Ordnung würden doch dem noch größeren Entzücken stattgeben, Sie zurechtzuweisen und Ihnen Ihr Spiel zu unterbinden.
Besucher: Er glaubt Ihnen nicht.
Herr: Ich sage es Ihnen! Sie bekommen Schwierigkeiten. Man wird Sie wegen Ruhestörung bestrafen.
Besucher: Im Übrigen scheint man nach jemand zu suchen. Geb´s Gott, dass nicht Sie es sind.
Simon: Mag man mich festnehmen, wenn man glaubt, mich festnehmen zu sollen!
Herr: Und freilich werden Sie auch mit diesem Ihrem Tier da Scherereien bekommen.
Simon: Mag man mich auch einsperren und erschießen! Das bedeutet mir nicht viel. Vielleicht wär das anders, wenn ich jemanden gefunden hätte, mit dem ich hätte zusammen gehen können; vielleicht wäre ich mir dann auch näher gekommen; ich weiß noch nicht einmal, ob ich aus eigenem Antrieb ins Leben hinaus gegangen bin oder ob man mich nur geschickt hat. (zur Ziege) Komm! (er geht weiter und befindet sich knapp außerhalb der Szene)
Herr: Ein ungesunder junger Mann mit einem ungesunden Tier! Finden Sie nicht auch?
Besucher: Es hat allerdings den Anschein
Wolfgang: Meine Herren, ist hier noch ein Platz frei?
Herr: Von uns aus, jederzeit.
Besucher: Es müsste denn sein, dass man nach Ihnen sucht. Dann sollten Sie lieber das Weite suchen.
Wolfgang (Platz nehmend): Ohne unbescheiden zu sein, sag ich Ihnen, dass große Männer jederzeit gesucht werden.
Herr: Gebs Gott, dass Sie zu diesen gehören!
Wolfgang: Meine Herren! Als Anwalt in einer fernen Stadt bin ich im Rahmen dienstlicher Verpflichtungen an den Ort meiner Kindheit zurückgekommen und denke ebenso ehrenvoll wieder von hier zu scheiden.
Herr: Dann sind Sie Dr. Wolfgang Mühsal?
Wolfgang: Mein Name ist Wolfgang Mühsal. Ich bin Doktor der Rechtswissenschaften und Mitarbeiter in einer der renommiertesten Kanzleien des Landes...
Herr: Entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit. Ich fragte nur, weil es ja sein könnte, dass Sie um Ihrer Familie willen hierhergekommen wären.
Wolfgang: Wer mag das wissen, weshalb wir dahin und dorthin kommen? Oder wandern wir nicht oftmals durch die Welt mit der festesten Absicht und es fügt sich uns alles ganz anders? Wir glauben den Zweck unseres Weges sehr genau zu kennen und dann kommt plötzlich etwas ganz anderes auf uns zu. Ja, dass wir eine Sache aufs festeste ausschließen, und dann ist es eben dies, was letztendlich zählt. Wo immer wir aber sind, sind wir zumindest Teil des Geschehens und tragen zu einem Ganzen bei, ob wir darum wissen oder nicht. Weil dem aber so ist, darum hat sich der Richter in seinen Urteilen immer auch vor dem ihm mehr oder weniger bekannten Ganzen zu verantworten, darum auch der Advokat in seinen Vernehmungen und Plädoyers, darum selbst auch der, der nichts anderes tut, als zuhause zu sitzen und den Nachrichten von der Welt entgegenzufiebern.
Besucher: So wär es möglich, dass Sie hierher gekommen sind, um zu erfahren, weshalb man hierher kommen kann?
Wolfgang: So etwa könnte man unser Dasein auf Erden umschreiben.
Herr: Immerhin hat nicht jeder einen Bruder, der mit einer Ziege und mit einer Querflöte auf den Friedhof kommt.
Wolfgang: Da mögen Sie Recht haben. Und doch! Haben wir nicht alle unsere absonderlichen Seiten?
Stimme des Gärtners: Aufhören! (Das Flöten geht noch eine Weile weiter) Das ist er! Wir haben ihn!
Stimme des Wärters: Sind Sie sich sicher?
Stimme des Gärtner: „Aufhören!“ hab ich gesagt!
Stimme Simons: Geben Sie mir meine Flöte. Sie haben kein Recht, mir meine Flöte zu nehmen.
Stimme des Gärtner: Das werden wir ja sehen!
Stimme Simons: Frau von Schwarzgold hat mich herbestellt.
Stimme des Gärtner: Er träumt wohl.
Stimme des Wärters: Was hier Sache ist, bestimmt noch immer der Herr Gärtner.
Stimme des Gärtner: Und das Vieh da?
Stimme Simons: Das ist meine Ziege.
Stimme des Gärtner: Nimm ihn fest und bring ihn in Verwahr!
Stimme des Wärters: Wohin?
Stimme des Gärtner: In den Karfreitagskeller.
Stimme des Wärters: Und die Ziege?
Stimme des Gärtner: Bringst du dem Schinder!
Herr: Und Sie hören, wie man gegen Ihren Bruder vorgeht und schreiten nicht dagegen ein? Wo Sie als Jurist die Machtbefugnisse des Allmächtigen haben, lassen Sie es sich gefallen, dass ein Gärtner Ihren Bruder arretiert, ohne alle richterliche Anordnung?
Wolfgang: Warten wir es ab! Im Moment kann nichts weiter passieren, als dass nicht viel passiert. Wenn ich es recht bedenke, so will mir scheinen, als bemühten und bekümmerten wir uns um viel zu viel, was wir durch unser Bemühen nur verwirren, statt dass wir es von allein den rechten Weg nehmen lassen.
Herr: Könnten Sie uns das ein wenig verdeutlichen?
Wolfgang: Wir können uns aussuchen, wer und wo wir sein wollen, nicht aber, wer und wo wir sind.
Herr: Mein Herr, Sie machen uns nicht wenig gespannt. Und falls Sie uns zu unserer Aufklärung oder Belehrung etwas zu erzählen haben, so tun Sie es bitte!
Wolfgang: Schon einige Jahre waren vergangen, seit ich dem elterlichen Haus den Rücken gekehrt hatte, ohne dass ich etwas von den Eltern gehört hatte, dass ich mich im Scherz wohl manches Mal fragte, ob ich wohl die Stadt meiner Kindheit wiedererkennen würde, bis ich mich eines Tages entschloss, einen unangekündigten Besuch zu machen. Zwar hatte ich immer wieder daran gedacht, zurückzukehren und, sei es auch nur für ein paar Tage, und die alten Stätten wiederzusehen , hatte das Vorhaben dann doch herausgeschoben, teils weil ich mit Arbeiten im Studium und später dann als Berufsanfänger überhäuft war, teils aber auch, weil ich mich schämte, als Sohn meiner Eltern eingeschätzt und abtaxiert zu werden. Jetzt aber, wo ich die Examina zur allgemeinen Zufriedenheit abgelegt und es zu Rang und Ansehen gebracht hatte, hinderte mich nichts mehr. Jetzt konnte ich bequem darüber hinwegsehen; ja, die Vorstellung war mir geradezu angenehm, wenn ich das Haus meiner Eltern erreicht hätte und jedermann sehen könnte, wohin ich ginge, mit denen zusammen zu treffen, die mir noch vor ein paar Jahren verächtlich über die Schulter geschaut hatten. Und da ich weiter keine Verpflichtungen hatte, die mir eine Einschränkung auferlegten, so nahm ich meine ersten größeren Ferien, um meine Eltern zu Hause durch einen Besuch zu überraschen. Indessen hatte ich es nicht eilig. Aus einer mir selber unergründlichen Laune heraus hatte ich mir vorgenommen, das letzte Stück des Weges, eine Strecke von ein paar Tagen, zu Fuß zurückzulegen. Ohne mir eine größere Rast zu gönnen, war ich nun also marschiert, bis mich nur noch ein letzter, wenn auch nicht geringer Wanderabschnitt vom heimatlichen Tal trennte. Und da ich mit Sonnenaufgang das elterliche Haus zu erreichen wünschte, so hatte ich mich mit Einbruch der Nacht auf die letzte Etappe des Weges begeben. Mein Plan schien auch aufzugehen. Eben als das letzte Drittel der Nacht bereits dem Ende entgegenging und Wega aus dem Sommerdreieck eben dabei war, über dem nördlichen Elsass einen Weg durch den Horizont sich zu bahnen und die ersten Lichtpfeile aus dem Osten einen Weg herauf suchten, hatte ich den Kybfelsen erreicht, einen Berggipfelt, von wo aus ich nun nur noch ins Tal hinab steigen musste. Wie im Flug, wie in Windes Eile geschah alles. Und als ich nun die Talsohle erreicht hatte und aus dem Wald trat, da war mir wie einem, der nach einer langen Reise endlich wieder in die Heimat zuückkehrt. Alles erkannte ich wieder, wie ich es noch von früher her in Erinnerung hatte, das Tal der Dreisam, mit den es begrenzenden Bergen gegen Norden und Osten, bis hin zu dem Wiesenstück, über dem ich eben stand. Hier war es, wo ich als Kind auf dem Weg zur Schule vorbeigekommen war. Erst als ich mich nach den Nussbäumen umsah, unter denen ich damals stets nach Nüssen geschaut hatte, bemerkte ich, dass jetzt nichts mehr Aufzulesen war. Man hatte sie in der Zwischenzeit gefällt. äupterHHhnn
Und als ich mir nun auch die Ebene in ihrer Weite und Breite genauer ansah, da bemerkte ich, dass auch dort Veränderungen stattgefunden hatten. Wo früher immer Getreide- und Maisfelder gewesen waren, überraschten mich jetzt Zypressen und blaugrüne Pinien, zwischen denen sich eine Menge von Feldkreuzen in den Himmel reckten. Ich wusste ja noch nicht, dass man hier in der Zwischenzeit einen Friedhof angelegt hatte. Als ich nun aber auf meine Wanderschuhe schaute und sah, dass sie mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt waren, zog ich sie aus, wie einst jene Ankömmlinge, ehe sie das heilige Land betreten hatten, und schlug sie zusammen. Wie sehr ich die Sohlen aber auch gegeneinander schlug, so wollte sich der Dreck doch nicht lösen. Endlich begann ich, Grasbüschel auszureißen und damit über das Leder zu fahren. Kaum aber, dass ich damit begonnen hatte, da sah ich auch schon, wie weiße Staubwolken emporstiegen. Und da ich mir unsicher war, ob ich der Verursacher dieses Schauspiels war, so schruppte und wischte ich immer fester, wodurch ich immer größere und dichtere Wolken erzeugte, bis ich so viel Staub erzeugt hatte, dass von dem gesamten Tal auch nicht der kleinste Flecken mehr zu sehen war. Endlich ließ ich davon ab und die Staubwolken begannen zu sinken. Nach und nach aber trat das Tal wieder hervor. Und ich sah auf Felder, soweit das Auge reichte, nur dass das Erdreich nun wie von einem schmutzig grauen Leintuch eingehüllt dalag. Ich aber nahm das Tuch und zog es vom Antlitz der Erde. Und ein Ackerer erschien aus der Tiefe des Raumes, barhäuptig, die Felder für die Saat zu bestellen. An der Hand führte er ein Pferd das einen Pflug zog. Und während der Ackerer auf mich zu schritt, kamen zwei Schlangen aus dem Walde gekrochen. Neben mir, am Rand des Ackers, machten sie Halt, worauf sie sich in die Höhe schraubten, als befände sich hier ein für sie unüberwindlicher und undurchsichtiger Grenzzaun, um dann hochaufgerichtet das weitere Geschehen zu verfolgen. Zu ihnen gesellten sich alsbald noch ein Adler und ein Löwe, die gleichfalls bis zum Rand des Ackers herankamen. Alle standen sie nun da und schauten zu, wie der Ackerer Furche um Furche grub, wobei sie jeweils ihre Hälse emporreckten und ihre Mäuler aufsperrten, wann immer er vorbeikam. Und während sie so neben mir standen, bemerkte ich, dass der Mann, der da barhäuptig mit würdevoll gemessenem Schritt wie ein König neben dem Zugtier auf und ab ging, mein Vater war. Und ich glaubte zu begreifen, dass er hier endlich die Aufgabe gefunden hatte, nach welcher ihn schon immer verlangt hatte und die ihn nun für immer ausfüllen und befriedigen würde. - Ja, meine Herren, das ist kurz gesagt die Geschichte meiner Ankunft.
Herr: Und dann begaben Sie sich zum elterlichen Haus und fanden, dass es verkauft war?
Wolfgang: Und ich ging weiter, bis ich die Eltern hier fand. – Doch nun wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn auch Sie mir sagten, weshalb Sie sich hier eingefunden haben.
Herr: Dafür bedarf es nicht vieler Worte. Es ist die Kurzweil, die wir uns versprechen, wenn gleich unser Stadtarchitekt Dr. Hans Peter von Strandholz hier eintrifft, um sein neuestes Werk „Die Eier des Glücks“ einer kleinen Gruppe auserlesener Leute von Förderern und Juroren vorzuführen und zu erklären.
Wolfgang: Von einem solchen Werk höre ich jetzt zum ersten Mal.
Herr: Das ist nicht weiter verwunderlich, soll es doch erst einmal probeweise und in aller Stille aufgestellt werden, ehe man die breite Öffentlichkeit damit bekannt macht.
Wolfgang: Von seiner Scheidung war jüngst in den Medien die Rede und dass er gesagt habe, dass er jetzt wieder so recht frei sei für die Kunst. Vielleicht dass dies einer der großen Würfe ist, die er da in Aussicht gestellt hat? - Überhaupt, seit wann heißt Herr Hans Peter Strandholz Herr Dr. von Strandholz?
Herr: Seit seiner letzten Künstlertournee durch Afrika. Irgendein Stammeshäuptling soll ihm den Titel im Rahmen eines Geschäfts vermacht haben. Und den Doktortitel, nun ja, den bekommt man bei uns automatisch als Ehrentitel, wenn man nur mehr als dreimal in der Zeitung gestanden ist. In jedem Dorf gibt es fast schon eine Doktorauslieferungsanstalt. Das ist aber noch keineswegs alles. Manche nennen Herrn Strandholz auch bereits einen zweiten Martin Luther, einen Reformator mundi, einen Retter der Welt.
Wolfgang: Und dagegen hat er sich nicht gewehrt?
Herr: Wenn es doch die Wahrheit ist! Er selbst hat einmal in einem Interview behauptet, durch seine Kunst mehr auszurichten als alle Reformatoren vor ihm. Doch sehen Sie nur! Da kommen schon seine Leute.
(Leute mit zwei mannsgroßen Eiern, die sie jetzt errichten)
Besucher: Sind das die Eier des Glücks?
1. Arbeiter: So ist es.
Besucher: So groß wie die Eier des Vogels Ruch.
Herr: Oder der Dinos.
Besucher: Und wozu sollen diese Eier gut sein? Ungeheuer sollen ja wohl kaum darin ausgebrütet werden.
1. Arbeiter: Gedulden Sie sich, meine Herren! Der Maestro steht Ihnen gleich zur Verfügung. Er liebt es nicht, wenn wir Fragen zu seiner Kunst beantworten.
2. Arbeiter: Doch da kommt er ja schon.
Besucher: Ist das der erwartete Künstler, der modisch gekleidete Herr da?
Herr: Ja, das ist er.
2. Arbeiter: Da staunen Sie, nicht wahr, in was für einer Begleitung er unterwegs ist? Das ist seine neue reizende Sekretärin, nachdem er die vorige in die Wüste geschickt hat. Sieht sie nicht bezaubernd aus? So ganz in Weiß, wie ein Strauß Margeriten!
Besucher: (für sich) Wenn es nur nicht meine Schwester wäre.
Bürgermeister Kloppstock (zu den Juroren): Wer ist so führend in seinen Ideen, so zukunftweisend in seinen Projekten, so souverän in der Ausführung und Handhabung der Materie, so anerkannt in seinen Werken wie unser Stadtarchitekt und, wie ich wohl sagen darf, unser Stararchitekt Dr. Hans Peter von Strandholz? Wie machen Sie das nur, verehrter Meister?
Strandholz: Ja, das bleibt wohl mein Geheimnis.
1. Juror: Sie meinen, dass es schwer ist, das Wesen des Genies einem nichtgenialen Menschen begreiflich zu machen?
Strandholz: Wenn nicht gänzlich unmöglich, lieber Juror.
1. Juror: Dabei sollen es nicht wenige Gefahren sein, die gerade auf die großen Künstler lauern.
Bürgermeister: Schaden kann ihm hier bei uns zum Glück keiner. Dafür sorgen wir Leute von der Stadt. Wozu auch wären wir sonst da, als ihm alles zu bieten, was zur Entstehung eines so einzigartigen und epochalen Werkes nötig ist?
2. Juror: Und hier wäre also der Platz, den wir angepeilt haben?
Bürgermeister: Jawohl, hier ist der Platz, auf dem nun bald schon die Welt das monumentum aere perennius bestaunen soll. - Meine Damen und Herren! Gestatten Sie! Denn wir sind angekommen! Hier, meine verehrten Herrschaften, soll der Platz sein, an welchem das noch nie dagewesene Kunstwerk das Licht der Welt erblickt!
Strandholz: Jawohl meine Damen und Herren! Gestatten Sie, ehe Sie sich mein Werk ansehen, Ihnen mitzuteilen, dass ich mir die Freiheit erlaubt habe, den Herrn da droben (auf das Kreuz weisend) außer Acht zu lassen. Das Glück unseres Lebens finden wir nicht mehr da droben, wenn je man es dort gefunden hat. Das Glück der Welt, wenn wir uns dieser etwas alten romantischen Redensart bedienen, finden wir allenfalls noch immer bei den schönen Frauen; nicht wahr, mein wertes Fräulein!
Darf ich Sie einmal bitten, sich zu den Eiern zu stellen? – Und nun noch ein wenig zu lächeln? – Nun, wie macht sich das, meine Herren? Ist das nicht bezaubernd schön?
1. Juror: Kunst und Natur in innigstem Einklang!
Strandholz: Und wenn wir das Glück und das Heil aber in der Welt suchen, so als Traum von einer ökologisch gereinigten intakten Natur. In diesem Sinne habe ich das Ei, das uns die Natur vorgezeichnet hat, neu ins Gedächtnis der Menschheit gestellt.
1. Juror: Was für ein stolzes Programm, das uns Herr Dr. Hans Peter von Strandholz da vorstellt! Was für Pfade des Nachdenkens, die er uns vorzeichnet!
Bürgermeister: So weit ich sehe, hat noch kein Künstler dieses Problem so elegant gelöst wie unser Dr. Hans Peter von Strandholz. Im Ei verschwinden, um aus dem Ei neu wieder aufzuerstehen, das ist der Inhalt dieser ungeheuren Schöpfung.
2. Juror: In seiner Kreativität zwingt der große Künstler alles zusammen.
Strandholz: Und nun betrachten Sie sich bitte das Ensemble dieser beiden Eier in seiner ausgewogenen Ästhetik! – Ja, kommen Sie doch bitte noch einmal, Fräulein Anne, und stellen Sie sich nochmals dazwischen. – Meine Herren! Bewundern Sie mit mir den neuen Typus von Sarg, der den ästhetischen Ansprüchen und Bedürfnissen unserer Zeit wie auch der Bequemlichkeit der Verstorbenen gerecht wird.
1. Juror: Eines steht auf jeden Fall schon jetzt fest: wen man in 1000 Jahren einmal nach dem größten Sohn der Stadt Ausschau halten wird, so wird man an Strandholz nicht vorbeikommen.
Strandholz: Nur schade, dass ich mich noch nicht dazu habe entschließen können, die schneeweißen Eier zu bemalen, wiewohl es mich gewaltig dazu drängt.
1. Juror: Und woran haben Sie gedacht, verehrter Meister? An zwei Engel, die sich wechselseitig ansehen?
2. Juror: Es müssen ja nicht notwendig Osterengel sein oder Engel, die mit ihren Posaunen einen jüngsten Tag anzublasen versuchen.
Strandholz: Nein, Osterengel sollten es nicht sein und auch keine Engel eines jüngsten Tages. Vielleicht, dass mir meine reizende Sekretärin Modell steht.
1. Juror: Am Geschmack der Zeit kommt keiner vorbei, insbesondere wenn ein Künstler wie Strandholz ihn erzeugt. Drum weg mit allen Versuchen der Selbsttäuschung. Kein Künstler sollte uns mehr etwas vorlügen.
Bürgermeister: Wie ich jüngst einmal las, gehen wir durch die Dornen des Lebens, weil wir dahinter eine süße Musik zu vernehmen glauben; doch wenn wir durch sind, stellt sich heraus, dass nur die Dornen gesungen haben.
1. Juror: Jawohl, Kunst, Kultur, Moral, Religion, alles, was dem Leben dienen will, muss durch die Läuterung der Aufklärung .
Bürgermeister: Was wir brauchen, ist vor allem Offenheit und Klarheit. Und die sind nur möglich, wenn wir den Menschen als ein sich selbst bestimmendes Wesen begründen.
2. Juror: Vielleicht dass wir hier die Überformung finden, endlich die Bestie Mensch zu domestizieren.
Strandholz: O meine Damen und Herren! Wir als Vordenker der kommenden Zeit, müssen die Augen offenhalten und uns umsehen, ohne vor etwas zurückzuschrecken. Erst wenn wir unsere Defizite erkannt haben, sind wir in der Lage, Lücken zu schließen und Löcher zu stopfen und einen Weg zu bahnen, der uns weiterführt. Lassen Sie mich dazu ein paar Anmerkungen machen, die uns auch wieder zu der Frage zurückbringen, wie diese kunstvollen Eikörper bemalt werden könnten. Als erstes ist mit der Selbstbestimmung des Menschen von einem innerweltlichen Geschehen die Rede. Ähnlich wie in der Wissenschaft. Ich denke da im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte an die Entwicklung der Geometrie. Sie sehen diese Eikörper zwar eingebettet in den Raum dieses Ortes hier, sie lassen sich aber auch ohne eine solche Einbettung verstehen. Wir brauchen keine Einbettung in einen absoluten, wenn nicht gar ewigen Raum. Wir brauchen keine Beschreibung, die uns eine Ewigkeit oder gar ein Jenseits suggeriert. Weg mit allen Bildern eines El Greco, der uns mit der Vorstellung eines geöffneten Himmels narrt. Was wir brauchen, das ist ein Verzeichnis der innerweltlichen Eigenschaften, ums uns in der Welt zu beheimaten. Die Geometrie hat dies bereits auf ihre Weise versucht, indem sie das begleitende Dreibein einführte, dann den Begriff der Kurven- und Flächen- und Raumkrümmung untersuchte, Arbeiten, an denen schon mein Großvater mütterlicherseits, Prof. Affenbrotbaum, mitwirkte, und die dann zum Verständnis des Universums in seiner raumzeitlichen Dynamik geführt haben.
1. Juror: Wir hatten schon die Ehre, ihm an seiner Grabstätte als einem der ganz großen Vordenker unserer Zeit Lob und Dank zu sagen.
Strandholz: Ich, als Künstler, bin kein Revoluzzer. Ich habe kein Loch in die Welt gestoßen, aus dem nun ohne Unterlass Blut flösse. Das Gegenteil davon habe ich getan. Ich habe in meinen Eiern das Weltall gerettet. Ich habe es mit festen Oberflächen und wohlabgedichtet gegen alles Unheil erschaut. Jawohl, in diesen Eiern sehen Sie das All, nicht nur metaphorisch, auch ganz buchstäblich und konkret. Das All liegt hier im Innern. Das Innere meiner Eier ist die Welt, die als beste unübertreffbar ist. Es ist die Brutstätte alles guten Werdens. Das Außen ist gleichsam der Experimentierraum, der Rest.
Bürgermeister: Was für eine Botschaft! Was für eine Fundgrube an Wahrheiten!
Strandholz: Und nun nur noch ein paar Hinweise zur Praxis dieses Behältnisses für die Leiber in Zukunft. Denn neben der ästhetisch künstlerischen Formung war mir stets auch die Praxis ein besonderes Anliegen, insbesondere der Wunsch, nur ja möglichst allen Menschen ein Behältnis zu bieten hinweg über alle Schranken der Ethnien, der Kultur, der Religion und überhaupt hinweg über alle Schranken intraspezifischer Aggression.
Strandholz: (wie er nun den Leichenzug wahrnimmt) Doch da ist ja unser Bürgermeister Kloppstock, der Ihnen, zumal in der Eigenschaft eines langjährigen und erfahrenen Baudezernenten, noch viel besser Bescheid geben kann als ich. Ja doch, Herr Bürgermeister Kloppstock, da sag ich durchaus nicht zu viel. Zumal da der Künstler jetzt eine kleine Verschnaufpause dringend benötigt, wäre ich Ihnen sehr verbunden.
Bürgermeister: Nun gut, wenn Sie meinen? Beginne ich denn mit dem Problem der Ausuferung unserer Friedhöfe, das Sie ja vermutlich alle kennen, wie auch dem recht jedes einzelnen, sich ein würdiges, ja auch, sofern der Geldbeutel dazu da ist, pompöses Grabmal erstellen zu lassen.
Strandholz (mit Blick auf die Ankömmlinge): Man möchte fast ein Toter sein, um so glücklich begleitet zu werden!
Bürgermeister: Nehmen Sie die Gräber der Pharaonen, diese riesigen Pyramiden. Unmöglich, für jeden der paar Milliarden Menschen eine solche Pyramide zu schaffen. Die Erde hätte keinen Platz für solch ein gigantisches Pyramidenfeld. Aber auch die späteren und bei uns noch zumeist gebräuchlichen Leichenbestattungen, vermögen kaum mehr zu überzeugen. Zumal der Frage nach dem Nachweis des Todes blieb hier immer ein Problem. Wem einmal das Totenglöckchen drei Tage und drei Nächte lang auf dem Bauch gestanden hatte, ohne zu bimmeln, den erklärte man für tot. Was nun aber die heute in Mode gekommenen Einfrierungen von Toten angeht, so ist sie in jeder Hinsicht ein Horrorszenario, dem auf die Dauer unmöglich Erfolg beschert sein kann. Bliebe allenfalls noch die Urnenbestattung. Was den Platz angeht, so wäre sie möglich; was die Verbrennung angeht mit der dadurch bedingten Luftverschmutzung, wie auch den Gestank in den angrenzenden Wohngebieten, bestehen allerdings erhebliche Bedenken.
1. Juror: (zum Bestatter) Hätten Sie die Güte, mein Herr, mit ihrer Gesellschaft seitwärts vorbeizugehen?
Bestatter: Wie meinen Sie?
1. Juror: Sie sehen doch, dass wir eben eine Besprechung haben!
Strandholz: Meister Juror, lassen Sie doch die Leute!
1. Juror: Wie?
Strandholz: Das sind doch allesamt nette Leute, vor allem diese beiden hinreißend reizenden Damen! - O, meine Damen! Wie freue ich mich, dass sie gekommen sind trotz der Überfülle Ihrer Arbeit. Natur und Kunst passen doch allezeit aufs schönste zusammen.
Bürgermeister: (Die weitere Rede des Bürgermeisters kann, vom Zuschauer kaum ungehört, neben Strandholzens Abenteuer ablaufen) Kämen wir denn zur Lösung von Prof. von Strandholz!
Seine Lösung verbindet die Vorzüge der Einfachheit und Schlichtheit mit Eleganz und Machbarkeit, die ihresgleichen sucht. Hier nun muss der Tote weder befürchten von der Last der Gesteine erdrückt zu werden und so ein zweites Mal zu sterben, noch auch wird er von dem Eindruck bedrängt, tot zu sein und d.h., sich nicht mehr regen zu dürfen in alle Ewigkeit. Er lebt sein Leben auch noch nach seinem Tod fort, wie es sich in früheren Zeiten weder ein Fürst noch ein Fürstbischof zu träumen vermochten. Diese barg man ja nur in ihrer Gruft, mit dem Unterschied, dass die Würmer ein paar Jahre länger brauchten sie aufzufressen.
Strandholz (sich den Toten betrachtend): Ein Toter mit offen wallendem Haar, mit Locken wie Hyazinthen, falls es echtes Haar ist, in Frauenkleidung und Stöckelschuhen. Aber meine Damen, Sie wollen doch mit ihrem entzückenden Toten nicht schon weiter!
Greti: Haben es ihm unsere enganliegenden Schnürstiefelchen angetan? Da, schau er her: die tragen wir sogar bis übers Knie.
Strandholz: Das ist allerdings höchst bezaubernd.
Blethi: Dabei ist das längst noch nicht alles. Gleichsam nur der Beginn eines atemberaubenden Aufbaus von unten.
Greti: Wenn er betucht ist und es da nicht fehlen lässt, kann auch er sich in höhere Geheimnisse einweihen lassen.
Strandholz: Das klingt nicht schlecht.
Greti: Greti heiß ich, wenn man nach mir fragen sollte.
Blethi: Und ich Blethi.
Strandholz: (zum Bestatter): Und solch ein Luxus wird dem Toten da zuteil?
Bestatter: Diese beiden Damen sind ein besonderer Wunsch des Verstorbenen gewesen. Er hat ihn sich aber auch etwas kosten lassen.
Strandholz: Ich bin entzückt. (er gibt jeder der Damen einen Geldschein)
Bürgermeister: (Die Rede des Bürgermeisters kann zugleich und vom Zuschauer ungehört, neben Strandholzens Abenteuer ablaufen) In den Eiern des Glücks aber lebt und träumt das Leben fort, und zwar nicht nur das Leben des werdenden Vögelchens und Lebewesens, auch das Leben des werdenden und expandierenden Alls, das ja nichts anderes ist als ein großes Ei. Und betrachten wir nur den Einzelnen in seinem Ei, so ist überdies hinlänglich für ihn gesorgt. Einerlei, ob Jude oder Christ, Muslim oder Buddhist, Europäer oder Chinese, Weißer oder Schwarzer: alles in dem Ei ist so organisiert, dass er nur seinen Mund öffnen muss, auf dass ihm Hilfe zukommt. Prof. von Strandholz hat dafür gesorgt, dass in dem Augenblick, in welchem im Gehirn ein Gedanke aufzuckt und entsteht, ein Prozessor eine Sirene auslöst und das Ei mit Luft und Sauerstoff versorgt wird. Endlich sind auch Möglichkeiten vorgesehen, durch Sonnenkollektoren in der Eierschale alle die Energie zu sammeln, die für spätere Techniken benötigt werden könnte.
Strandholz: Beneidenswerter Toter, du! Was immer du dir nach deinem Tod erträumt haben magst, hast du erhalten: ein Ehrengeleit, wie es kein Fürst der Welt schöner erhalten mag. Nicht liegst du irgendwo einsam und verlassen am Wegrand einer Wüste, eine Beute den Geiern und Hyänen. Noch auch bist du in den Weiten des Meeres umgekommen, dass keiner davon wüsste und du verschollen bleiben müsstest alle die Tage. Herrlich liegst du da, wie einer, der sich ausruht nach einer Schlacht, die er siegreich bestanden.
Toter (sich aufrichtend): Sagt ihm, dass er endlich das Glotzen bleiben lassen soll wie auch das saudumme unendliche Geschwätz!
Bestatter: Sie haben es gehört, mein Herr. Der Tote mag das nicht.
Toter: Weiter endlich!
die Damen: Ja, eilen wir weiter! Unsere Namen kennen Sie ja jetzt. Und wenn Sie mal etwas mehr Geld im Sack haben, wenden Sie sich an uns.
Strandholz: O, meine Damen, ich werde Sie nicht enttäuschen. Einer der größten Künstler, die je ihren Fuß auf diesen Planeten gesetzt haben, wird bei Ihnen um Einlass ersuchen.
Bestatter: Ade, mein Herr! (ab)
Bürgermeister: Und nun lassen Sie mich ihnen noch zeigen, wie man in diese Eier einsteigt! Der Körper mitsamt den Armen findet in dem eigentlichen Eibehälter seinen Platz. Für den Kopf aber wie auch für die Füße sind hier eigens diese Teile vorgesehen.
Strandholz: Lassen Sie nur mich machen! Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch zeigen, wie man in die Eier einsteigt! So wird das gemacht! Mit diesem Knopf öffnen wir den gesamten Behälter, so dass er sich in zwei Hälften teilt, nach rechts und nach links. Und nun steigen wir ein. Sie sehen, dass bis auf den Kopf und die beiden Beine der gesamte Körper ins Ei im engeren Sinn zurückkehrt. Nun aber verschließen wir das Ganze. In meinem Fall freilich nicht für die ganze Ewigkeit. Dazu bediene ich mich dieses Notknopfs. Und nun sagen Sie, ob das nicht alles kinderleicht ist!
Herr: Gleichwohl wird man nun bald ein Examen bestanden haben müssen, um sterben zu dürfen. Doch da kommen mir da einige Bedenken. Ihnen nicht auch als Jurist?
Wolfgang: Allerdings. Eine Selbstauslöschungsmaschine ist derzeit rechtlich unmöglich tragbar, und schon gar auf öffentlichem Gelände! Doch kann sich das ändern von heute auf morgen. Gesetze sind nur noch Spielregeln wie Verkehrsschilder.
Strandholz: Mag Sterben auch ein anstrengendes Geschäft sein, was mich betrifft, so hab ich versucht, das Tot-sein als eine angenehme Freizeit in Erscheinung treten zu lassen. Doch genug jetzt! Gehen wir, meine Herren!
1. Juror: Die Arbeit da drüben stammt aber doch auch aus Ihrer Werkstatt.
Strandholz: Welche Arbeit?
1. Juror: Der wundervolle Tempel.
Strandholz: Sie meinen das Mausoleum?
1. Juror: Ist das nicht ein Werk für Frau von Schwarzgold?!
Strandholz: Das ist eine Arbeit für die Katze oder für den Hund, d.h. für Ihren Hund, eine Arbeit mithin, deren ich mich schäme. Oder muss man auch noch den Leuten dienen, die einen Hund brauchen, um ihren launischen Gefühlen freien Lauf zu lassen?
1. Juror: Hat sie Sie wenigstens gut entlohnt?
Strandholz: Da sitzt ja der Hase im Pfeffer. Sie werden es nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, dass Sie mich ein Papier unterschreiben ließ, auf welchem ich auf alle meine Ansprüche Verzicht tat.
1. Juror: Und das haben Sie unterschrieben?
Strandholz: Das Satansweib hatte mich betrunken gemacht; ich war berauscht. Doch, meine Herren, es wird Zeit, dass wir verduften! Kommen Sie, dass ich Ihnen in meinem Atelier noch ein paar bedeutsame Entwürfe zeige, fern von diesem Hundemausoleum! (ab)
Herr: Nun, was sagen Sie zu unserem Strandholz?
Wolfgang: Was soll man da sagen? Er macht´s, wie alle, die es in der Öffentlichkeit zu etwas gebracht haben. Er hat die passenden Worte parat und weiß sich zu verkaufen. Woraus folgt, dass er nicht klein von sich denkt. Aber das muss er ja auch nicht. Zum einen, weil man in der Öffentlichkeit nicht klein über ihn denkt, im Übrigen aber auch, weil niemand von sich klein denken soll. Eine Gesellschaft ist sicher gut beraten, wenn alles getan wird, dass niemand gezwungen wird, klein von sich zu denken. Indessen ist es oftmals so, dass einer, wenn er groß von sich denkt, er uns weniger zeigt, dass er sich versteht, als dass er versteht, sich groß zu zeigen.
Herr: Er fühlt sich als Künstler berufen, als Vordenker der kommenden Zeit zu sein. Das kann ihm wohl keiner ankreiden.
Wolfgang: Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Wenn Sie mich um meine Ansicht gebeten haben, so wollte ich kein Urteil abgeben. Dazu bin ich überhaupt nicht in der Lage, zumal in Sachen der Kunst. Was wir aber auch als Nicht-künstler bedenken müssen, das ist die Frage, wie wir unser Schicksal weiter selber bestimmen, zumal, wenn wir uns nicht mehr auf die althergebrachten und überlieferten Ansichten verlassen können. Strandholz plädiert dafür, an die Stelle der Kreuze, die wir nicht mehr verstehen, seine Eier einzupflanzen. Nun frage ich dagegen: versteht man denn seine Eier? Gewiss, wir könnten lernen, sie in dem von ihm skizzierten Sinn anzuschauen und zu verstehen. Doch Verstehen, wie kann das geschehen? Müssen wir da nicht grundsätzlicher und tiefer beginnen? Was heißt „Verstehen“? Was heißt: Sich verstehen? Was befördert und woran scheitert Verstehen? Ich denke da z.B. an das Kleinkind, das ein allererstes Bild von sich vorfindet im Gesicht seiner Mutter. Und hat es Glück, so ist dieses erste Bild etwas für den Lebensvollzug zutiefst Brauchbares und Gutes. Nur wenn man geschätzt, geachtet und geliebt wird, lernt man auch, sich selber zu verstehen. Verstandesmäßig, analytisch allein ist das unmöglich. Wer niemanden hat, um sich verstehen zu lernen, dem bleibt nichts anderes übrig, als sich Freunde zusammenzulügen, und sei es über den Bergen der Mond, und sich so in höhere Seelenzustände zu versetzen, als wären sie da und er könnte ihnen alles erzählen. Und wie es sich mit dem Einzelnen verhält, so verhält es sich auch mit den Sozietäten. Gott – selbst wenn es ihn personal nicht gibt – ist derjenige oder dasjenige Prinzip, welches es über lange Zeit den Menschen ermöglicht hat, einander zu verstehen und zu erkennen und wiederzuerkennen; so etwa in ihren Stadtgründungen vor 6000 Jahren oder noch früher; und später dann in den geschichtlichen Taten wie etwa in der Befreiung aus dem ägyptischen Exil durch den Mann Moshe und seinen Gott Jahwe. Und wenn man in unseren Tagen lauthals proletet, Gott getötet zu haben und manch einer noch immer auszieht, ihn töten zu wollen, so kann das kaum anders geschehen, als dass er wie eine Art moderner Don Quijote auszieht, um dann von Einsamkeit in immer schwerere Einsamkeit zu fallen und endlich so, in sich selber verfallen als ein Geschlagener, mit Wahnsinn Gezeichneter wieder heimzukehren. - Doch warum drängt es mich, mich so schnell und kurzatmig darüber auszulassen, worüber man sich in aller Ruhe unterhalten und eine Nacht zum Tag machen sollte? – Sie schauen auf die Uhr? Sie haben es eilig?
Herr: So ist es, mein Herr!
Wolfgang: So wollen Sie gehen, jetzt, wo Sie mich gebeten haben, mich auszusprechen und wo wir eben dabei sind, in eine bedeutsame Unterhaltung hineinzufinden?
Herr: Es geht nicht anders. Leider.
Besucher: Wir haben noch einen Termin. Bei Prof. Ochs zum Tennisspielen in seiner Halle.
Herr: Als ehemalige Mitschüler hat er uns eingeladen. Und in 20 Minuten ist es soweit. Gehen wir!
Besucher: Ja, gehen wir.
Herr und Besucher: Leben Sie wohl, meine Herren!
(Wolfgang bleibt auf der Bank im Hintergrund allein.)
Wolfgang: (ihnen nachschauend) Jetzt, wo wir ein großes Gespräch hätten eröffnen können, jetzt müssen die Herren gehen!? Wir wissen, was wir zu tun hätten und wie wir es zu tun hätten, um uns näher kennen zu lernen und zu verstehen, und sind doch nicht in der Lage dazu? Verstehe einer die Welt. Wiewohl wir wissen, dass wir ohne gute Gesellschaft, ohne ein echtes Du, ohne Ideal, ohne die Einrichtung eines Zuhause, ohne die Aktivierung eines umfassenden kommunikativen Prinzips nicht auskommen, nehmen wir mit einem billigen Austausch vorlieb.- Und ritsch und ratsch, klatsch Bällchen, klatsch. Flieg übers Netz, zum Meister Petz! Zum Meister Quatsch, mach ritsch und ratsch! – Die Tatsache unserer Bequemlichkeit und Faulheit oder auch die Dringlichkeit unserer Termine nährt den Verdacht, dass wir überhaupt nicht an einem echten Verstehen als Weg zu einem Selbst interessiert sind und dass es uns überhaupt keine Mühe macht, uns mit einem gemeinen Leben abzufinden. Sie finden ihr Genügen in der Gleichheit ihrer Überflüssigkeit. Aber Gott Lob! Sie liefern sich ja doch immerhin nicht der Einsamkeit aus. Das gramvolle Schicksal eines Kaspar Hauser bleibt ihnen erspart.
Wolfgang: Aber da kommt ja die Mutter. Sie ist allein. Ohne den Vater. Vielleicht, dass sie nach dem Vater Ausschau hält. Mein Gott, wenn sie auf mich zukommt und mich fragt, ob ich einen Mann gesehen habe, und dann beginnt sie, mir den Vater zu beschreiben, ob ich diesen Mann irgendwo gesehen habe: ob ich mich ihr dann zu erkennen gebe.
Eva: (ohne Wolfgang zu sehen bzw. ihn zu beachten, erzählt sie, als ob eine männliche Gestalt neben ihr ginge. Später wird klar, dass das ihr verstorbener Vater ist.) Ich hatte nämlich zwei Hühnchen, ein weißes und ein schwarzes. Beide liebte ich stets auf die gleiche Weise. Gleichwohl aber war das weiße stets munter und zutraulich zu mir, das schwarze aber scheu und verstockt. Wann immer ich in den Hof herunterkam, kam das weiße Hühnchen auf mich zu und begrüßte mich mit lautem Gegacker, das schwarze aber hielt sich stets in gemessenem Abstand, als fürchtete es, die Kehle durchschnitten zu bekommen. Selbst wenn ich das weiße Hühnchen gefüttert hatte und ich mich dann mit dem Rest des Futters dem schwarzen zuwandte, konnte ich es nie weiter bringen, als dass es sich mir bis auf einen Abstand von 3 Metern näherte, wo es dann stehen blieb und darauf wartete, dass ich ihm die Körner zuwarf. Aber selbst dann geschah es noch oft, dass es das Futter keines Blickes würdigte, als hätte ich ihm mein Schlachtmesser gezeigt. (ab)
Wolfgang: Sie wollte immer alle Kinder gleich lieb haben; überhaupt hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, als müsste sie alle Menschen, da sie ja doch Kinder Gottes sind, gleich lieb haben, den Kain sowohl wie auch den Abel. Doch warum fällt mir jetzt eine weiße Schürze ein?
Dunja: Das war ein gutes Stück Arbeit, mein lieber Freund. Hätte ich die Leute nicht geschmiert, du säßest noch immer im Keller. Nur gut, dass du mich hast. Aber sag nur, wie kommt es, dass du ihr Missfallen hervorgerufen und sie dich eingesperrt haben?
Simon: Ich habe das Flötenstück geübt für die Exequien.
Dunja: Und weiter nichts?
Simon: Ein paar Herren hatten mich gewarnt. Aber mir war nicht darum.
Und du hast nicht gesagt, dass du mir gehörst?
O doch. Aber das interessiert diese Leute nicht.
Dunja: Das werden wir ja sehen! Es wird Zeit, dass wir einmal ein Zeichen setzen und ihr Interesse wecken! Doch nun geh und bind jetzt deine Ziege fest, wo sie Gras findet. Dann komm, damit wir uns zusammensetzen und die Dinge besprechen, die für uns wichtig sind.
Simon: (geht mit der Ziege ab)
Dunja: (holt Kamm und Spiegel aus ihrem Täschchen heraus und beginnt, sich schön zu machen.) Wie mir scheint, habe ich in dem jungen Mann keine schlechte Wahl getroffen. Nachdem mir mein kleiner Cäsar entschlafen ist, soll er die Lücke schließen und den Verlust mit mir teilen. Freilich wird das nicht leicht für ihn werden, zeichnete sich mein Cäsar doch durch hohe Tugenden aus, so vor allem durch einen tiefen Spürsinn, mit dem er selbst die schwierigsten Fragen des Lebens durchdrang. Und hätte er unsere Sprache besessen, er hätte wohl manch einem Gelehrten etwas zu denken gegeben. Eine Zeitlang ging ich denn auch mit mir zu Rate, einen Lehrer zu besorgen und ihm unsere Sprache beizubringen. Da ich aber nicht alle Folgen absehen konnte, die ein Spracherwerb, zumal bei einer so feinfühligen Künstlernatur wie bei meinem Cäsar, mit sich brächte, vor allem, da ich fürchtete, er könnte dadurch seine eigene, ureigen-herrliche Sprache verlieren, die ich noch immer in der Erinnerung an das Aufflackern und Aufleuchten seiner Augen bewundere, sah ich davon ab. Freilich kann und will ich nun nicht verlangen, dass mein junger Freund nun die Menschensprache aufgibt und die Sprache meines geliebten Cäsar zu sprechen versucht; diesem Experiment dürfte wohl auch kaum Erfolg beschieden sein; doch liebevoll zärtlich und einfühlsam mitfühlend wünsche ich ihn mir schon, fähig, alles mit mir zu teilen, was mir die Brust bewegt. Und vielleicht, wer mag es wissen, brauche ich ihn alsbald schon noch für etwas ganz Besonderes, wovon ich aber nur dies sagen will, dass er mir dann mit einem mutig entschlossenen Beispiel voranzugehen hätte?!
(Simon kommt wieder herzu)
Dunja: Nun wären wir also so weit. Und dein Tierlein ist wohlauf?
Simon: Ich habe es festgebunden, wie Sie es befohlen.
Dunja: Aber ganz wohlauf bist du nicht?
Simon: Wie soll ich es sein, wo es den Kopf hängen lässt und mich nicht mehr anschaut?
Dunja: Es schaut dich nicht mehr an?
Simon: Wer auch wäre nicht traurig, wenn er Haus und Heimat verliert? Zum ersten Mal war das, als die Eltern das Haus verkauften.
Dunja: Das Tier litt mit dir, als sie dich in den Karfreitagskeller eingesperrt haben. Aber dann kam ich als deine Befreierin, als deine Freundin, als deine liebe Mutter!
Simon: Ja, dann kamen Sie!
Dunja: Den Regeln der höheren Gesellschaft gemäß hätte ich freilich nichts unternehmen dürfen zu deiner Befreiung. Denn welche Dame darf es wagen, sich um einen wildfremden jungen Mann zu bemühen, zumal wenn er noch durch keine preiswürdige Tat auf sich aufmerksam gemacht und sich die Gunst seiner Dame verdient hat? Aber das ist nun anders. Denn nun gehörst du zu mir, und nicht nur zu mir, sondern auch mir. Oder ist es nicht so? Oder bin ich ihnen bei deiner Befreiung nicht wie die wahre Vernichtung, wie der Gott über den Fluten des Roten Meeres oder wie die Jägerin Artemis erschienen? Du kennst doch die Jägerin Artemis?
Simon: (nickt Zustimmung)
Dunja: Stets hatte sie ein Hündchen bei sich, nicht nur wenn sie auf die Jagd ging. Das weißt du ja alles. - Und nun halte mir den Spiegel vor, auf dass ich beurteilen kann, ob du die in mir siehst, die ich wünsche, dir zu zeigen!
Simon: (zögerlich)
Dunja: Du Schlingel, als ob die Bitte so schwer auszuführen wäre!
(indem sie jetzt den Sarg öffnet; darin liegt ein auf Rosen gebettetes, totes Hündchen) Nun, was sagst du zu unserem Liebling? Als hätte er sich behaglich ausgestreckt und würde schlafen! So friedlich und still liegt er da. Ein silberseidenes Hemdchen hab ich ihm angezogen und ein Mäntelchen aus Brokat. Dazu hab ich ihm noch das silberne Kettchen um den Hals gelegt, ein Talisman, damit ihn nicht friert, wenn wieder Winter wird... Liegt er nicht niedlich da auf dem zarten Rosenflaum, mit den farbigen Bändern süß bis zum Verlieben, ja süß selbst bis zum Sterben geschmückt? - Kannst du das Rouge riechen, das ich ihm aufgelegt habe? Es enthält ein sehr feines Mandelöl, das ich dazu gemischt habe. Er könnte ein Mädchen sein, wie er so schläft. Findest du nicht auch?
Simon: (unsicher)
Dunja: (indem sie das Kettchen dem Hund wegnimmt und es vorerst einsteckt) Hast du Angst, man könnte dich als Dieb ertappen?
Simon: (unsicher)
Dunja: Ich meine, wenn er dir sein Kettchen schenkte? Was einer besitzt, darüber darf er ja doch selber verfügen?!
Simon: (unsicher)
Dunja: Bis die Leichenfeier beginnt, wollen wir uns immerhin die Zeit nicht lange werden lassen. Das findest du doch auch!?
Simon: (nickt Zustimmung)
Dunja (zu Simon, indem sie den Sarg wieder verschließt): Das aber verspreche ich dir! Es soll dich nicht gereuen. Was du nämlich in deinem Leben an zarten Gefühlen noch nicht gelernt hast, das sollst du nun noch bei mir lernen. – Beginnen wir also mit unserer Lektion! Du bist Simon, der Mühsäler.
Simon: (nickt)
Dunja: Aber du kommst dir oft sehr ausgebrannt und allein gelassen vor? - Könnte sein, dass sich deine Mutter ein Mädchen gewünscht und dass sie dich dann etwas untauglich gemacht hat zum Bestehen der Strapazen des Lebens?
Simon: Ich weiß es nicht.
Dunja: Aber selbst das so liebe Flötenspiel kann dich in letzter Zeit nicht mehr so ganz entzücken, sagtest du?
Simon: Selbst wenn ich flöte, umweht mich ein Hauch von Trauer. Und doch darf ich mich nicht drauf einlassen. Ich darf nicht untätig werden. Untätigkeit ist das Schlimmste, wozu sich ein Mensch verurteilen kann. Freilich...
Dunja: Ja? Sprich dich aus. Ich höre dir zu!
Simon: Auch in der Tätigkeit liegt nicht das Glück. Die Wahrheit scheint mir zu sein, dass wir tätig sein müssen, um herauszufinden, dass sich keine Tätigkeit auf Erden lohnt. Und dies keineswegs als Sporn maßlosen Ehrgeizes, sich nur zu immer noch besserer und unübertrefflicher Leistung anzuspornen, sondern um einmal sagen zu können, dass man alles getan hat, was einem nur möglich gewesen.
Dunja: Wirklich, du erinnerst mich an ein Kind, dem sich die Mutter auf unbegreifliche Weise verwandelt hat. In solchen Fällen muss wohl die spätere Freundin und Liebhaberin zugleich auch die Mutter sein.
Simon: Ich weiß: Lieber etwas zu kühn sollte man sein und waghalsig und draufgängerisch, ja tollkühn, um nur ja nie in Versuchung zu kommen, die Flügel hängen zu lassen und aufzugeben. Deshalb darf ich auch jetzt nicht aufhören zu flöten, sondern ich muss weiterflöten, geduldig und tapfer, bis auf mein Totenbett.
Dunja: Du wirst deine Ängste bestehen.
Simon: Ich dachte mir, wenn ich meine Ängste bestanden hätte, dann wär ich frei.
Dunja: Die Ängste wachsen nur an, je mehr wir uns mit ihnen einlassen.
Simon: Zum Glück, dass ich meine Ziege bei mir habe. Die Werke der Natur ängstigen mich nämlich nicht, sie verwundern mich nur und sie setzen mich in Erstaunen, wie sie so da sind, ins Dasein gezaubert oder vielleicht auch verzaubert: Die Sonne, die Berge, die Bäume, das Gras und die Tiere des Feldes. Und sie drängen die Frage auf, weshalb es das alles überhaupt gibt in den Weiten des Alls. Die Werke des Menschen aber gehen über das bloße Dasein hinaus. Schaut man sie sich genauer an, so erscheinen sie bald als Antwort, bald als Frage. Als Antwort zuerst, indem sie zu etwas gut sind wie der Eimer, das Messer, der Kasten, der Wagen, das Joch, die Türe, das Haus. Dann aber auch als Frage, weil wir damit unmöglich alle die auf uns zukommenden Aufgaben zu erledigen vermögen oder auch, weil wir sie für falsche Zwecke missbrauchen. Aber selbst wenn das Leben noch so glücklich für uns abläuft, ängstigt es uns. Weil wir trotz allem Glück dabei die Ahnung nicht verlieren, dass es uns auf eine Türe zutreibt, durch die wir hindurch müssen. Die Türe aber ist sehr schmal und, je näher wir ihr kommen, um so schmaler wird sie. Ist es nicht so?
Dunja: Das mag sein.
Simon: Je näher wir dieser Türe kommen, umso klarer wird uns, dass die Hoffnungen, die wir uns aufs Leben gemacht haben, vergeblich waren.
Dunja: Lass gut sein! Du wirst den Dingen schon auf die Spur kommen, wenn du mir nur erst dein Herz ausgeschüttet hast. Auf, auf! Erzähl mir was! Etwas aus deiner Kindheit. Etwas, das dir als etwas Bedeutsames in Erinnerung geblieben ist! Erzähl es mir, deiner lieben Mama! Und wenn du es mir schön erzählt hast, darfst du dir auch etwas Schönes aussuchen.
Simon: Was soll ich erzählen?
Dunja: Denk nicht lange darüber nach! Erzähl, was immer dir einfällt. Gerade das, was dich überkommt, ohne dass du damit rechnest, macht mich neugierig.
Simon: (nickt) Es war eines Abends; da war ein Kind nicht mehr nach Haus gekommen. Es hatte mit uns gespielt, war uns dann aber aus den Augen geraten und als wir des Abends zu Hause ankamen, da fehlte es unter uns. Natürlich löste das große Unruhe aus. Alle drängten sich um uns und wollten wissen, wo wir gewesen waren und was für Spiele wir gespielt hatten; und freilich war gleich auch die Frage, ob wir auch den Strom gemieden und uns auch nicht beim Fährhaus aufgehalten hatten. Ob wir nun aber auch beschwören konnten, dass wir nicht ganz bis zum Strom herunter gegangen waren, noch auch uns beim Fährhaus aufgehalten hatten, so wussten wir doch nichts auf die Fragen, wo und wann uns das Kind verloren gegangen, geschweige denn, wo es sich jetzt aufhalten mochte. Die allerletzte Frist, die man sich für seine Rückkehr gesetzt hatte, war bereits verstrichen und die Nacht im Gang, als man sich auf den Weg machte. Kein Haus gab es, aus dem nicht mindestens ein Mann heraus trat, der auf den Gemeindeplatz zueilte, von wo aus man nun einen Trupp nach dem andern in die Dunkelheit hinaus schickte. Damit sie das Gelände besser überschauen könnten, gab man ihnen brennende Fackeln mit, so dass man die Lichter nun nach allen Richtungen ausschwärmen sah, vornehmlich aber auf den Strom zu, wobei die größte Aufmerksamkeit dem Platz um das Fährhaus mit der Fähre galt.
Nun wollte es der Zufall, dass eben noch eine allerletzte Schar von Männern, die später nach Haus gekommen waren, sich auf den Weg machte, um sich auch noch an der allgemeinen Suchaktion zu beteiligen. Schon von weitem hatte ich sie von meinem Fenster aus auf unser Haus zukommen sehen, denn sie trugen bereits brennende Fackeln. Als sie nun unser Haus erreicht hatten, hielten sie kurz an, ehe sie sich entschlossen, statt über den Dorfplatz gleich auf direktem Weg zum Fluss und zum Fährhaus hinunterzueilen. Kaum aber, dass sie nun ihren Weg fortsetzten und mit ihren Fackeln wie eine brennende Schlange sich die Treppen hinab bewegten, erwachte in mir eine unwiderstehliche Begierde, nun auch an der Suche teilzunehmen. Und weil ich glaubte, die Mutter könne das gar nicht anders sehen und werde mir von daher gleich die Erlaubnis erteilen, bat ich sie um Erlaubnis. Das Entsetzen war groß, als sie mir erklärte, nie und nimmer werde sie mich fortlassen, wobei sie mich schmerzverzerrt ansah, dass es nicht schrecklicher auf mich hätte wirken können. Immerhin war sie dann doch geistesgegenwärtig genug, mich in mein Zimmer zurückzubringen und mich darin einzusperren. Doch was nützt alle Geistesgegenwart und was alles Einsperren, wenn im Buch des Schicksals etwas anderes verzeichnet steht? Wenige Augenblicke später befand ich mich schon draußen. Wie ich es geschafft habe, ins Freie zu gelangen, weiß ich nicht mehr ganz genau. Genug, dass ich durchs Fenster hinaus stieg, dass ich das Spalier zu Hilfe nahm und dass ich mich alsbald auch schon im Freien befand. Alles muss eine Sache weniger Augenblicke gewesen sein. Die Männer aber, mit denen ich hatte mitgehen wollen, waren zwar bereits so weit, dass sie ein Zurufen nicht mehr gehört hätten, da ich aber ihre Lichterschlange vor Augen hatte, konnte ich den Weg nicht verfehlen. Zuerst empfand ich es noch als einen Mangel, so allein auf mich gestellt zu sein. Doch sollte sich das rasch ändern. Kaum nämlich, dass ich mich an das Gehen im Dunkel gewöhnt hatte, erkannte ich, dass ich tun und lassen konnte, was ich wollte, ohne von jemandem befragt oder behelligt oder gar, der Gefahren wegen, wieder nach Haus geschickt zu werden.
Nun war ich freilich schon einige Male unten beim Fluss gewesen, vornehmlich mit der Großmutter, die mit dem Fährmann befreundet war und die mich immer wieder einmal zu einem Schwätzchen mitgenommen hatte. Auch hatte ich schon einige Male die Gelegenheit gehabt, allein mit dem Fährmann überzusetzen und mich von der unaufhaltsam dahindrängenden, geheimnisvollen Gewalt des Wassers zu überzeugen. Dabei hatte ich auch Versuche unternommen, dem Wasser, wo es unter der Fähre wieder hervorkommt, näher zu begegnen. Strudelnd und sprudelnd, wie ein aus der Herde gerissenes, wild gewordenes Tier war es mir begegnet, und manches Mal hatte ich wohl auch nach meiner Hand gesehen, ob die noch heil geblieben, wenn es schäumend und zischend mit weißer Gischt über sie hinweggesprungen. Endlich dann hatte ich dem Wasser nachgeschaut, wie es weiter drunten mit den anderen Wassermassen vereint und ruhig dahinströmte, als hätte es alles vergessen und es wäre nie etwas gewesen.
Jetzt aber richtete ich es so ein, dass ich das Ufer etwas unterhalb des Fährhauses erreichte. Kein Mensch war dort; nur das Gerausch und Gebraus des Wassers war zu hören, unterbrochen nur von den Rufen und dem Geschrei der Männer, die sich beim Fährhaus befanden und mir mit Stangen im Wasser herum zu hantieren schienen. Als ich nun so dastand und mich nach dem verlorenen Kind umsah, fiel mir etwas Weißes auf, was regungslos in den Fluss hinaus wies. Als ich darauf zuging, fand ich, dass es ein Brückenarm war, den man mittels einer Handkurbel ein Stück weit auf den Strom hinausgedreht hatte; die Arbeit war aber noch nicht vollendet, so dass das andere Ende noch über dem Fluss stand. Es sah aus, als wäre man gestört worden und hätte die eben begonnene Arbeit wieder aufgegeben. In der Hoffnung, auf die andere Seite zu gelangen, drehte ich nun die Kurbel, indem ich dabei überschlug, bis wann es wohl ausreichen möchte, das andere Ufer zu erreichen. Allenfalls dass ich mich mit einem mächtigen Sprung in Sicherheit brachte. Ich war aber noch immer nicht so weit, als mir Schreie verrieten, dass einige von den Männern auf mich aufmerksam geworden waren. - Aber interessiert Sie das auch?
Dunja: Wie kannst du mich fragen? Alles, was meinen Liebling angeht, interessiert mich. Doch das kommt daher, dass du noch immer meinen Namen nicht kennst.
Simon: Sie sind die Herrin Dunja.
Dunja: Gewiss. Aber nicht für dich. Sag „Du“ zu mir!
Simon: Du soll ich zu Ihnen sagen?
Dunja: Nicht zu Ihnen. Du sagst du zu mir. Sag Du zu mir, sag Dunja!
Simon: Dunja?!
Dunja: Wer sonst ist es, der hier bei dir ist?
Simon: Du?
Dunja: Sag mir, wie deine Liebste heißt!
Simon: Dunja denn!
Dunja: Dunja heißt sie, der du dich auf Leben und Tod hingegeben hast. Dunja heißt dein Leben, deine Liebe, deine Göttin, dein Heil und alles! Nur noch im Namen deiner Dunja hast du fortan zu schwören. Und nun fahre fort mit deiner Erzählung, wobei mir freilich nicht wenig daran liegt, bald schon zu erfahren, worauf sie hinausläuft.
Simon: Worauf sie hinaus läuft? Das ist es ja eben, was ich damals noch nicht wusste und was ich auch heute noch nicht recht weiß.
Dunja: Mitunter ist es gut, wenn wir den Himmlischen nicht zu genau entgegensehen , wenn sie mit ihrer Hilfe auf uns zukommen. Denn das mögen sie nicht.
Simon: Und wo war ich stehen geblieben?
Dunja: Über die Brücke wolltest du wohl ans andere Ufer.
Simon: Über die Brücke wollte ich wohl ans andere Ufer, aber das war nun nicht mehr möglich. Der einzige Weg, der mir noch freistand, war, die Uferböschung hinab zu rutschen und mich im Schilfgras zu verstecken. Doch auch dort hätten mich meine Verfolger unzweifelhaft bald schon entdeckt. Um ungesehen zu bleiben, hätte ich mich vor ihren Fackeln ja in nichts auflösen müssen. Nun aber wollte es das Geschick, dass sich eben dort, wo ich hinabrutschte, ein Bäumchen befand, an dem ein Fischerkahn festgemacht war. Nachdem ich das haltende Tau gelöst hatte, sprang ich in ihn hinein und stieß ab, freilich nicht ohne Sorge immer wieder nach dem Ufer schauend. Nur ein paar Augenblicke hörte ich noch ihre Stimmen und sah, wie das Licht von ihren Fackeln an meinem Kahn abprallte, dann fuhr ich dahin, mutterseelenallein, durchs dichteste Dunkel, im Gang der Wellen. Und ich gedachte, mich flussabwärts treiben zu lassen, wohin es mich auch immer brächte. Indessen dauerte es nicht lange, bis ich bemerkte, was für eine Fahrt der Kahn bereits aufgenommen hatte. Und während ich auf die Ufer sah, wie sie von beiden Seiten nur so auf mich zuflogen, um sich hinter mir zu verlieren, packte mich die Angst.
Dunja: Und dann?
Simon: Nur noch die Frage von ein paar wenigen Augenblicken schien es mir zu sein, bis das offene Meer käme, wo ich für immer verschwände.
Dunja: Da überkam dich der Wunsch, nur möglichst schnell den Fuß wieder auf festem Grund aufzusetzen.
Simon: Während ich so ausschaute, sah ich in der Ferne etwas schimmernd Weißes auf mich zukommen, was ich als eine Stadt erkannte. Sie lag auf der anderen Uferseite und schien so hell und weiß, dass ich kaum glauben mochte, dass das Licht von ihr allein her käme. Kaum hatte ich die weiße Stadt entdeckt, da trieb es mich auch schon nach dort hinüber. Alles geschah nur durch Wunsch und Gedanken, ohne den Schlag eines einzigen Ruders; denn in dem Kahn war überhaupt kein Ruder gelegen.
Dunja: Und dann?
Simon: Ein paar Schwäne, die dort geschlafen hatten, hoben den Kopf aus dem Gefieder und schliefen dann weiter. Ich aber eilte auf das Stadttor zu und durch dasselbe hindurch, um dann über eine von hohen Mauern begrenzte Treppe den Stadtberg hinaufzueilen. Und waren schon am Stadttor keine Wachen und keine Wächter zu sehen gewesen, so waren nun auch die Gassen und Plätze und die Treppen allesamt menschenleer. Um so erstaunlicher war es dann aber, dass ich, je höher ich kam oder schwebte, denn eigentlich ging ich gar nicht, sondern wurde wie von geheimen Händen in die Höhe gehoben, immer deutlicher Geräusche vernahm. Sie kamen aus einem Haus, das zum obersten Platz auf dem Stadtberg gehörte. Um das Haus herum aber befand sich ein Garten, der gleichfalls mit einer Mauer umgeben war. Als ich aber auf eines der Tore zulief, das in die Mauer eingelassen war, fand ich, dass es nicht verriegelt und verschlossen war. Ohne mich zu besinnen, lief ich hinein, bis ich mich unterhalb eines Zimmers befand, aus dem die Geräusche kamen. Zugleich war es das einzige Zimmer im Haus, das erleuchtet war. Immer aber, wenn von den Geräuschen etwas nach draußen drang, schien auch das Licht kräftiger und heller aufzuleuchten, um dann wieder zu einem sanften Dämmerlicht zurückzukehren. Hier nun befand sich ein Baum, von dem aus ich bequem in das Zimmer schauen konnte. Und ich sah auf einen mit einem weißen Linnen bedeckten Tisch, der in der Mitte des Zimmers aufgestellt war. Auf dem Tisch aber lag ein Junge, rücklings und regungslos. Die Augen des Jungen aber waren von zwei flachliegenden Lidern versiegelt, die Nase wirkte stumpf und in die Breite geflossen und der Mund stand unauffällig verschlossen, Lippe an Lippe, als hätte er vergessen, wozu er einmal gewesen. Nur die Haare, die man aus dem Gesicht gescheitelt hatte, so wie ein Paar buschiger Brauen, glänzten noch schwarzfeucht und verhinderten den Eindruck, als wäre das Gesicht bereits gänzlich im Linnen verloren gegangen. Um den Tisch herum aber, er war mit Fackeln umkränzt, drängten sich viele Erwachsene. Vor allem am Kopfende standen sie dicht beisammen, darunter meine Mutter. Sie alle waren es gewesen, deren Stimmen ich gehört hatte. Damals waren sie noch uneins gewesen, wie mit dem Jungen verfahren werden solle. Jetzt aber standen sie da und sahen zu, wie sich ein Arzt daran machte, dem Jungen mit seinen Geräten und Zangen eine Rippe nach der anderen zu entfernen.
Dunja: Und der Junge warst du, Simon.
Simon: Ich habe es schon immer geahnt, dass ich der Junge war. Doch wie ich zu Tode gekommen bin, weiß ich noch immer nicht.
Dunja: Du wirst es schaffen.
Simon: Was? (er schaut sie ratlos an)
Dunja: (hängt ihm das Kettchen des Hundes um) Mein Liebster! Wie schön, dir zuzuschauen, wie du bei mir lernst und wie du beim Lernen Fortschritte machst! Komm, lass dich umarmen!
Gärtner: (der rasch herbeikommt) Gnädige Frau, haben Sie mir gerufen?
Dunja: Nicht dass ich wüsste!
Gärtner: Dann war es nur das Springkraut, das unter Getöse seinen Samen hergibt! Als Chef-Gärtner weiß ich davon ein Liedlein zu singen.
Dunja: (ihm Geld zusteckend) Wenn Sie aber schon einmal da sind, so lassen Sie mich Ihnen nochmals ans Herz legen, Sorge zu tragen, dass niemand unsere Feierlichkeiten stört. Es ist schon bald Zeit.
Gärtner: Da können Sie sich auf mich verlassen!
Dunja: Komm Simon! Gehen wir! Es ist Zeit! (geht mit Simon, dem Hündchen und der Ziege ab)
(Das Rondell scheint sich jetzt ringsum mit den Vorfahren Evas anzufüllen, die in schwarzen Totenkleidern daherkommen.)
Eva ( mit der männlichen Gestalt auf die Toten zugehend): Meine Damen und Herren! Treten Sie nur hervor! Ich habe Sie gesehen. Oder ist heute nicht der Tag, freudig gestimmt zu sein? Wo wir es doch alle mit eigenen Augen gesehen und erlebt haben, dass mein Sohn Simon ein großer Künstler wird?
Ja, treten Sie nur hervor und nehmen Sie Platz, meine Lieben! Hier, sehen Sie doch, hier ist noch ein Platz. Das hier ist mein Urgroßvater. Der Vater von der Mutter meiner Mutter. Er hat mich noch über das Taufbecken gehalten. Aber dann starb er durch einen Blitzschlag. Neben ihm, das ist seine Frau, meine Urgroßmutter. Daneben die beiden Paare meiner Großeltern. Dann hier meine lieben Eltern und die Eltern der Eltern und wiederum deren Eltern... Menschen, die keiner mehr kennt und die uns dennoch im Blut sind, was sich gerade bei solchen Anlässen zeigt, dass sie sich mit uns freuen, wenn wir uns freuen. Den da aber, den kennen Sie wohl auch noch. Das ist mein Vater. Immer trägt er ja seine Vorstehermütze mit dem schwarzen Klappschirm und dem roten Reversband. Es ist aus echter Seide aus Segovia. Er wurde nämlich zum Bahnhofsvorsteher befördert, nachdem er sich über viele Jahre hinweg als Lokführer einen Namen gemacht hat. Nur dass er dann kurz nach seiner Beförderung starb. Kaum dass er Gelegenheit hatte, sich in seinem neuen Amt allen seinen Bekannten zu präsentieren. Sie wundern sich, meine Herren, dass ich sagte, meine Leute freuten sich und dass dennoch keiner von ihnen etwas sagt? Dass sie nur dasitzen und schweigen und ihr Genüge dabei zu haben scheinen? Vergessen Sie bitte nicht, wie lang es schon her ist, dass sie fort von uns sind. Da ist es durchaus nicht verwunderlich, wenn sich manch eine Gewohnheit ändert. Vergessen Sie auch nicht, dass sie weder mehr essen noch trinken, noch dass sie eine Begierde nach Schlaf überkommt. Wenn einer von den Lieben bei ihnen eintrifft und sich zu ihnen versammelt, schauen sie ihn zuerst sehr gleichmütig, ja fast gleichgültig an. Wenn sie aber auch keine Regung der Freude oder der Trauer oder sonst eine Stimmung des Gemüts zeigen, so sind sie dem Ankömmling doch stets verbunden.
(ein Zug fährt laut dröhnend vorbei)
Eva: Vater weiß, wie ich damals in den Hof herunterstieg, um nach meinen Hähnchen zu schauen. Und wenn ich auch nicht weiß, wie sich jetzt alles so plötzlich zu gutem Ende ergeben hat, so weiß ich doch, dass ihr alle am guten Ausgang mitbeteiligt wart. Vor allem du, Papa! (Eva nimmt neben ihm Platz)
Eva: Damals nun wandte ich mich an eine Nachbarin und klagte ihr mein Leid. Sie hatte sich ihr Leben lang der Forschung hingegeben und war dafür bekannt, selbst in schier aussichtslosen Fällen Rat zu wissen. Als ich ihr aber mein Leid geklagt hatte, sah sie eine lange Zeit zu Boden, dann sagte sie, wer es einmal soweit habe kommen lassen, dem sei nur noch sehr schwer zu helfen; dem bleibe keine andere Wahl, als sich augenblicks auf den Weg zu machen und nach jenem Heilmittel zu suchen, das auch in solchen Fällen noch Hilfe zu bringen vermöchte. Darauf schaute sie mir sehr ernst in die Augen und ich verstand, dass sie auszukundschaften versuchte, ob ich wohl in der Lage wäre, mich auf eine so schwierige Suche zu begeben. Endlich teilte sie mir mit, wie ich zu gehen hätte, bis ich zu einem großen See käme. Dort läge ein Boot im Hafen; im Boot aber befände sich der Kapitän; diesen müsste ich dazu bringen, mich zum anderen Ufer zu fahren.
Noch in derselben Stunde machte ich mich auf den Weg. Unerschrocken, ja todesmutig lief ich dahin, bis die großen Seen auftauchten. Ein Hafen war dort, wie ihn mir die Nachbarin beschrieben hatte. Und auch ein Schiff lag vor Anker. Doch schien es eher vor sich hinzudümpeln, als dass es den Namen Schiff verdiente. Es war alt und baufällig und gewiss schon lange nicht mehr gewartet worden. Sofort fassten mich Zweifel, ob es in der Lage wäre, auszufahren und über den See zu fahren; ja selbst nur am Ufer entlang zu fahren traute ich ihm kaum zu. Als ich den Bootssteg erreicht und die Landungsplanke überschritten hatte, traf ich auf den Kapitän. Er war eben dabei, Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Ich teilte ihm mit, dass ich ans andere Ufer müsse, um mir von dort ein Heilmittel zu holen. Er aber, wie ich vermutet hatte, gab mir zur Antwort, dass das zwar das Postboot sei, dass er aber schon lange alleine sei und dass er auf den See hinaus nie und nimmermehr fahren könnte. Selbst am Ufer entlang zu fahren, wäre eine zu mühevolle Sache. Zum Beweis zeigte er auf einen großen gelben Sack ganz in der Nähe, der vollgestopft war und auf dem „Post“ stand. Der sei voll von Briefen, die er längst hätte überstellen müssen. Tagaus, tagein sitze er da und schöpfe Wasser und dann sei der Tag schon wieder aufgezehrt, ohne dass er auch nur den Schiffsmotor hätte anstellen und einen Probelauf unternehmen können. In meiner Not begann ich, ihm von meinen Hühnchen zu erzählen, um derentwillen ich das Haus verlassen hatte. Als ich alles erzählt hatte, sagte der Mann: Siehst du den Berg dort? Dabei wies er hinaus auf den See. Da sah ich in der Ferne einen steilen Felsen aufragen. Die Leute nennen ihn den Berg der Mutter, der ihre Kinder verloren gegangen. Man kann ihn von jeder Stelle des Ufers aus sehen. Wo immer einer steht, wird er von dem Berg gesehen, noch ehe er ihn selber sieht. Und wenn du auch die Augen noch so gründlich schließt: an ihm ungesehen vorbeizukommen, ist unmöglich. Als er das gesagt hatte, geschah es, dass ganz in der Nähe ein Zug vorbeifuhr. Und ich sah, wie der Lokführer seine Mütze zum Gruß abnahm und sie schwenkte. Als aber der Zug vorübergefahren war und ich abermals auf den Mann neben mir schaute, da sah ich, dass nun er auch er eine Mütze trug, wie sie der Lokführer getragen hatte: die Mütze des Bahnhofvorstehers mit dem schwarzen Klappschirm und dem roten Reversband. Und plötzlich wusste ich, dass du es warst, Vater, der bei mir stand.
Adam (kommt hastig herbei, mit einer Weinflasche): Mit wem redest du da? Mit wem du da redest, möchte ich wissen!
Eva: Lass mich doch. Du verjagst mir nur meine Gäste.
Adam: Dabei dachte ich, du hättest dir Sorge gemacht, wo ich wär und was ich machen würde; und du hättest auf mich gewartet und würdest dich nun freuen, dass ich wieder da bin. Aber nichts von alledem ist wahr.
Eva: Ich zweifelte nicht, dass du zurückkommen würdest.
Adam: Da solltest du dir einmal ein verliebtes Paar ansehen und zuhören, wenn da der Freund weggeht. Ängstlicher kann kein Vögelchen im Nest warten als die Geliebte auf den Geliebten.
Eva: Du meinst, ich bin nicht deine Geliebte? Wie aber, wenn du nicht mein Geliebter sein willst?
Adam: Eitle Phrasen! Oder hast du dir Sorgen um mich gemacht, als ich weg war? Nur die Zeit hast du dir vertrieben mit fremden Männern.
Eva (während sich die letzten Toten wie in Luft aufzulösen scheinen): Es war ja doch mein Vater...
Adam: Immer höre ich von deinem Vater, als ob du mit deinem Vater verheiratet wärst.
Eva: Ich habe ihm mitgeteilt, dass Simon es nun endlich geschafft hat. Freut dich das denn nicht auch?
Adam: Bin ich Simon? Oder bist du mit Simon verheiratet? Man möchte rasend werden vor Eifersucht.
Eva: Endlich hat er eine Stelle gefunden.
Adam: Um ein Feuer anzulegen?
Eva: Dass du auch immer gleich an etwas Böses denkst!
Adam: Ein Feuer kann durchaus auch etwas Gutes an sich haben! Quod ferrum non sanat, ignis sanat. Wenn es nämlich das Böse auffrisst.
Eva: Simon wurde von einer reichen Dame engagiert. Er wird noch heute Nacht bei der Bestattung von deren Hündchen ein Solo zum besten geben; und wenn mich nicht alles täuscht, so wird er damit den Anfang machen zu einer Künstlerlaufbahn, die ihresgleichen sucht. Dann ist sein Leben bei den Clochards vorbei. Dann kannst du dich schon bald rühmen, einen Virtuosen zum Sohn zu haben. Das sage ich nicht nur, weil ich seine Mutter bin, das sagen alle, die ihn einmal flöten gehört haben.
Adam: Dass er doch gottsjämmerlich versagte! Prost! Ich lege keinen Wert darauf, mich meiner Schmach zu rühmen.
Eva: Du glaubst mir nicht?
Adam: Schon viele sind flöten gegangen. Prost!
Eva: Keiner würde es glauben, wenn er die jammervollen Jahre seiner Jugend miterlebt hätte. Aber dir liegt nichts an Simons Wohl.
Adam: Weder an Simons Wohl, noch an Wolfgangs Wohl, noch auch am Wohl von Anne. Warum auch mussten wir Kinder in die Welt setzen? Warum verzichteten wir nicht darauf wie die anderen und sorgten uns nicht um unser Wohl? Warum Kinder, wenn nicht beide Eltern dasselbe wollen? Sagte ich: streng dich an und mach was aus dir, was dir Ehre bringt und mich stolz auf dich macht, so sagtest du: setz dich schön in die Ecke, flöte daselbst vor dich hin und sei demütig; so will dich der liebe Gott.
Eva: Wie ungerecht du redest!
Adam: Ich rede nur die Wahrheit. Oder hätte er sich sonst unter den Dreisambrücken sein Quartier ausgesucht?
Eva: Aber das kommt vom Trinken. Jawohl, du bist betrunken!
Adam: Wenn es mir hilft, des Lebens letzte Klippen zu umschiffen?! Seemann ahoi! Seemann ahoi!
Eva: Das ist ja grauenvoll.
Adam: Tatsache ist, dass du mich im eigenen Haus allein gelassen hast.
Eva: Immer war ich da für dich.
Adam: Mag sein, dass du für mich da sein wolltest. Aber erinnere dich nur daran, wie du dich in dein Zimmer zurückgezogen hast. Ob ich dich auch tausendmal gebeten habe, zu mir zurück zu kommen, so hast du die Türe nur doppelt verriegelt. Damals begannst du, fremd zu gehen.
Eva: Ich, fremd? - Den Rücken kehrtest du mir zu und bliebst für dich allein.
Adam: Du warst es doch, der mit den Rücken zukehrte und die sich zu deinem Vater und den Deinen zurückzog. Was blieb mir noch übrig außer meiner Flasche?
Eva: Dir noch eine Freude zu machen war unmöglich. Alles war dir zuwider. Wenn ich dich zu mir ließ, wurdest du ausfällig. Zumal, wenn du getrunken hattest, begannst du dein Lied zu grölen vom umgrenzten Ich und dann fuhrst du fort zu schreien, bis dass die Nachbarn zusammenliefen und fragten, ob sie die Polizei holen sollten.
Adam: Bravo! Ich gratuliere! Die Polizei ist nämlich das Beste, was ein Mensch holen kann. Und die Erfindung der Polizei, das ist mit Abstand die genialste aller Leistungen, die dem Menschen jemals gelungen.
Eva: Es waren die Nachbarn, hab ich gesagt. Und ich habe sie beschworen, nur ja keine Polizei zu holen.
Adam: Hättest du eingestanden, dass du versagt hast, wir hätten noch einmal einen Anfang probieren können. Aber du lebtest nur noch vom Widerspruch.
Eva: Wie du nur sprichst!
Adam: Ich sage nur, was der Fall war und was jetzt der Fall ist. Jetzt aber ist der Fall, dass unsere Zeit abgelaufen ist und dass damit unser elendes Leben seinem Ende entgegen geht.
Eva: Was willst du damit sagen?
Adam: Dass schon der Beginn elend war.
Eva: O, sage das nicht! Erinnere dich nur, wie wir damals ins Leben hinaus schritten! Es war zwar ein weiter und mühseliger Weg und doch war er deshalb nicht elend.
Adam: Armes, armseliges Leben, wo man, kaum dass man sich auf den Weg macht, vorwärts gedrängt wird. Oder wurden wir nicht gejagt und gedrängt, vorbei am Platz der Paraden, hin zum Siegesplatz mit dem Siegestor, und dann durchs Siegestor hindurch, hinaus und weiter und immer weiter? Und jagten wir dann nicht weiter, vorbei an den Märkten und öffentlichen Plätzen, überflogen von Flugzeugen am Himmel und umgeben von Schnellzügen und Autos auf den Autobahnen, bergauf und bergab?
Eva: Und doch...
Adam: Und als wir die Stadt mitsamt ihren Vororten hinter uns hatten und die Landschaft freier zu werden schien, dass man glaubte, aufatmen und sich besinnen zu können, da wurden die Straßen nur immer enger und schlechter. Und wenn wir dann einmal an einem Weiler vorbeikamen, schaute man uns nach, als ob man noch nie ein Automobil gesehen hätte. Eingeklemmt saßen sie in ihren Käfigfenstern und hielten Maulaffen feil, dass wir froh waren, wenn uns die Weite wieder aufnahm und uns ihren Blicken entzog.
Eva: Wir hatten immerhin ein Ziel: unser Kind!
Adam: Dein Kind! Nicht unser Kind! Armseliges, erbärmliches Ziel! Es war bei einer Kapelle, wo wir aussteigen mussten. Im Morast hatten wir uns verfahren, so dass wir keinen Meter nach vorn noch zurück mehr konnten. Auch hatte sich der Himmel so verdüstert und die Erde mit Finsternis umhüllt, dass man Mühe hatte, selbst noch die allernächste Nähe zu überschauen.
Eva: Prüfungen waren das, die wir bestehen mussten.
Adam: Die Kapelle hatte ein Türmchen, in dem zwei Glöckchen zu bimmeln begannen, als wären es deine zwei Söhne gewesen, die man beim Diebstahl ertappt hätte und die nun als Glockenhanse dort oben aufgehängt worden wären und um Erbarmen winselten.
Eva: Immerhin hatten wir das Glück, dass wir auf zwei Leute trafen, die ganz in der Nähe auf ihren Feldern standen und beteten.
Adam: Erbärmliches Missgeschick, wenn einer einem seine Dummheiten aufschwätzt. Sie hatten uns noch nicht gesehen, da hörte ich schon die Frau auf ihren Mann schelten, dass sie auch dieses Jahr wieder nur so wenig geerntet hätten. Sie sprach von der Plage der Kartoffelkäfer, die ob der Habgier des Mannes immer größer würde. Sie sagte das, als hätte er die Kartoffelkäfer ihr zur Pein ausgesät. Ja, die Frau erschien mir wie eine Gottesanbeterin, die nur auf den rechten Augenblick wartet, ihren Mann zu verschlingen.
Eva: Aber sie zeigte uns dann doch den Weg.
Adam: Was für ein Weg kann das sein, den uns ein böses Weib zeigt?
Eva: Du solltest nicht immer über alles nur böse denken!
Adam: Plötzlich aber begann es zu regnen und dann folgte sehr rasch ein Gewitter.
Eva: Ja. Und dann eilten wir zu der Kapelle.
Adam: Ein Rabe, der vor der Kirchentüre gesessen hatte, erhob sich bei unserem Kommen und flog davon. Die Frau aber führte uns über einen Seiteneingang in die ehemalige Sakristei. An der Wand standen ein paar Säcke Kartoffeln. Die Frau war verärgert über das Gewitter, das noch immer anhielt. Sie forderte den Mann auf, uns die Gräber zu zeigen. Der Mann wollte nicht, jetzt, bei dem Regen. Doch das nützte ihm nichts. Er musste hinaus. Da zeigte er uns die Gräber; sie lagen rings um die Kapelle herum, mit dem Kopfende zur Kapellenwand. Auf Geheiß der Frau stieg der Mann in ein Grab hinab und holte eine Kiste heraus. Die Frau befahl ihm, uns die Kiste zu übergeben.
Eva: Hast du die Kiste entgegengenommen?
Adam: Was sonst blieb mir übrig?
Eva: Und hast du auch in die Kiste hineingeschaut?
Adam: Das hätt ich tun sollen. Ich fürchtete aber, sie könnten es als Zeichen des Misstrauens deuten. Später dann habe ich sie mir angesehen.
Eva: Und was hast du darin gefunden?
Adam: Nichts. Leer und ausgesaugt war sie bis auf den Schädel eines Kindes. Die Wurzeln einer jungen Eiche hatten den Inhalt ausgesaugt. Unterwegs warf ich die Kiste weg. Mag sie die Sintflut auf den Ararat spülen!
Eva: Damals muss ich schon sehr in anderen Umständen gewesen sein.
Adam: Nach dem Gewitter hatte sich das Gelände in ein gefährliches Gletscherfeld verwandelt, über das wir hinwegzusteigen hatten. Wie ein geschundenes Maultier wanktest du vor dich hin. Wir hatten es schon aufgegeben, noch rechtzeitig zur Entbindung zu kommen.
Eva: Ich weiß, Adam; wenn ich dich nicht gehabt hätte, ich hätte es nicht überstanden.
Adam: Obwohl die Klinik einen miserablen Eindruck machte, bin ich doch mit dir hineingegangen. Was blieb uns sonst auch übrig? Die Zeit drängte.
Eva: In Gedanken saß ich schon längst auf dem Gebärstuhl.
Adam: Es war der Eingang für die Wäscherinnen und Putzfrauen, den wir fanden.
Eva: Wurden wir dann nicht in eine Halle geschickt?
Adam: Wöchnerinnen saßen dort, die bereits entbunden hatten und vor ihrer Entlassung standen. In der Nähe aber befanden sich die Räume zur Entbindung, wo andauernd ein Schreien war. Jedes Mal wenn eine Türe aufging, hörte man es.
Eva: Und standen nicht Mimosen in der Halle?
Adam: Jede der Frauen, die entlassen werden sollte, durfte sich eines aussuchen und mit nach Haus nehmen. Aber da war ein Gekreische und ein Streit, weil man sich nicht einigen konnte, wer welches Bäumchen haben sollte.
Eva: Ja, daran erinnere ich mich wieder. Ich erinnere mich auch wieder an die schwarzen Blättchen, die so hell aufglänzten, wenn man ihm nahe kam und die Blättchen sich zu bewegen begannen.
Adam: Während sich die Frauen noch um die Bäumchen stritten, kam ein Professor mit seinen Studenten. An einem Erdbeergewächs demonstrierte er die verschiedenen Möglichkeiten der Fortpflanzung. Erinnerst du dich noch an die beiden Stecklinge, die er ins Erdreich pflanzte, die sich dann in Windeseile aufeinander zu bewegten, sich abnabelten von der Mutterpflanze und ein neues Paar bildeten? - Doch still. Da kommen Leute!
Stimme des ersten Polizisten (man hört den Hund bellen, der bei ihm ist): Der Mann muss sich
hier im Gelände befinden. Ich habe ihn über die Mauer steigen sehen.
Stimme des zweiten Polizisten: Wenn er hier ist, werden wir ihn finden.
Stimme des ersten Polizisten: Vermutlich ist noch seine Frau bei ihm.
Stimme des zweiten Polizisten: Dann sollte es uns nicht schwer fallen, ihn zu finden.
Adam: (während er sich duckt ) Duck dich!
Eva: (während sie sich duckt ) Was ist? Sucht man nach dir? Warum suchen die nach dir?
Adam: Sei still!
1. Polizist: Herr Mühsal, wenn Sie hier irgendwo stecken, so kommen Sie hervor und ergeben
Sie sich.
Eva: Du musst hervorkommen und dich ergeben.
Adam: Sei doch still!
2. Polizist: Kommen Sie hervor oder wir lassen den Hund auf Sie los.
1. Polizist: Hier sind sie nicht. Suchen wir weiter!
(sie entfernen sich wieder)
Eva: Was war das? Fahndet man nach uns?
Adam: Hast du die beiden Trottel nicht gesehen?
Eva: Meinst du, der Chefarzt Ochs verfolgt dich noch immer?
Adam: Der Ochs! Da, schau doch!
Eva: Mein Gott. Der ganze Himmel steht ja in Flammen.
Adam: Jawohl, der ganze Himmel brennt! Das ist kein Reflex der Sonne. Denn die Sonne ist längst untergegangen. Das ist die Weltenachse, die einmal durch unser altes Haus gegangen ist und nun mit ihrem Rauch alles umhüllt.
Eva: Was hast du getan?
Adam: Ein Streichholz hab ich an sie gehalten und nun hat sie Feuer gefangen.
Eva: O du!
Adam: Lange Zeit haben wir keine Lieder mehr gesungen. Aber jetzt ist Zeit, ein Siegeslied zu singen. Jawohl, singen will ich ein neues Lied. Denn die Saat ist aufgegangen. Das Feuer hat sich entzündet und die Erde brennt.
Eva: Hast du das Haus angezündet?
Adam: Ist es nicht wohlgetan?
Eva: Dabei war man uns noch eine Summe schuldig.
Adam: Die hätten wir auch so nicht mehr bekommen. Ich habe nur bewirkt, dass auch andere davon nichts mehr bekommen; Leute, die es schon so gut wie sicher auf ihrem Konto verbucht haben. Und außerdem hatte ich mit den Käufern noch ein Hühnchen zu rupfen. Schließlich haben sie uns um ein Viertel der verabredeten Summe betrogen. Das weißt du doch noch. Da ist es nicht mehr wie recht, wenn sie nun ihren Hintern etwas geröstet bekommen.
Eva: Und nun?
Adam: Und nun bin ich erleichtert. Es ist ein Gefühl der Erleichterung, zu wissen, dass es das Haus nicht mehr gibt, in dem man gelebt und gelitten hat, und dass niemand einem mehr etwas nehmen kann.
Eva: Wenn sie dich finden, sperrt man dich ins Gefängnis.
Adam: Dann bist du mich endlich los, dann bist du frei.
Eva: Pfui, wie du redest!
Adam: Oder du erbarmst dich und kommst jeden Monat einmal ins Gefängnis zu Besuch.
Eva: Sag so etwas nicht.
Adam: Nur keine Sorge. Mich sollen sie nicht mehr kriegen.
Eva: Was hast du vor?
Adam: Elegant werde ich mich ihnen entziehen.
Eva: Und wie?
Adam: Du sollst es gleich sehen. Oder glaubst du mir nicht? Soll ich den nächtlichen Friedhof durchschreien, dass der Gärtner mit seinem Kompagnon kommt?
Eva: Du machst mir Angst, wenn du so redest.
Adam: Wer sich überwunden hat, kennt keine Angst mehr. Doch damit du es gleich weißt: In eines dieser Eier werde ich einsteigen und Quartier beziehen.
Eva: Und du meinst, da holt dich keiner mehr heraus?
Adam: Lebend nicht mehr. Vielleicht noch das, was von mir übrig ist.
Eva: Das glaub ich nicht.
Adam: Das sagst du nur, weil du Angst hast. Aber da steht es doch. Dieser rote Knopf, wenn du den drückst, das ist tödlich.
Eva: Und das hast du vor?
Adam: Entweder mit dir oder ohne dich.
Eva: Meinst du, ich lasse dich allein?
Adam: Das wird sich zeigen.
Eva: Lass uns zusammenhalten, Adam! Lass uns ins Leben zurückkehren.
Adam: Einmal müssen wir Schluss machen, meine Liebe. Und dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen. Wozu auch bemüht sich der Mensch, am Leben zu bleiben? Um andere Lebewesen zu produzieren, dass auch die das Leben haben? Die Natur stellt Fallen und was dabei herauskommt, sind Kinder. Das wissen wir jetzt doch. Doch wozu braucht der Mensch Kinder, wozu Nachkommenschaft? Dass sie lernen, ihre Eltern beiseite zu schaffen? Oder dass sie lernen, die ganze Menschheit mit einem Mal hops gehen zu lassen? Sage nur einer, wir hätten es nicht weit gebracht.
Eva: Sieh, ich war unfähig, dir das Leben lebenswert zu machen. Ich verstand es nicht, dich so zu verstehen, wie ich dich hätte verstehen sollen. Selbst dem liebgemeinten Wort und dem sanften Blick von mir verlieh ich etwas, was dein Misstrauen hervorrief. O Adam!
Adam: Steigen wir ein! Komm! Ich helfe dir!
Eva: Sag, dass du an das Gute im Menschen glaubst.
Adam: Nicht um den Preis, dass ich von meinem Vorhaben ablasse.
Eva: Sag, dass du an das Gute im Menschen glaubst.
Adam: Auch wenn ich weiß, dass ich lüge?
Eva: Ich bitte dich darum!
Adam: Nun gut! Ich will es sagen, wenn du mit mir in die Eier einsteigst. Bist du damit einverstanden?
Eva: Du darfst es aber nicht nur sagen; du musst dich auch um den Glauben bemühen!
Adam: Ich werde es versuchen, auch wenn ich fürchte, dass er mir unerreichbar bleibt. Oder ist
der Mensch nicht ein viel zu erbärmliches Geschöpf, als dass man für ihn einen Tag der Erlösung anberaumen könnte? Was also soll ich sagen?
Eva: Sprich: Ich glaube an das Gute sowie an den Tag der Erlösung, weil ich uns in unserer Schwachheit und in unserem Elend erkannt habe.
Adam: Ich glaube an das Gute sowie an den Tag der Erlösung, weil ich uns in unserer Schwachheit und in unserem Elend erkannt habe. Und nun komm, damit ich dir hier herein helfe! Steigen wir ein! - (er öffnet das Ei) Je früher wir beginnen, um so schneller ist es hinter uns.
Wolfgang (während Adam und Eva einsteigen und Platz nehmen heißt): Es war in einer stockfinsteren Nacht - ich lebte damals noch zuhause -, als ich mich zu einem Spaziergang entschloss. Das tat ich oft, ehe ich mich zur Ruhe legte, wenn am Tag vieles auf mich eingestürmt war. Wenn ich nun aber auch stets einen Weg abseits von den Häusern der Menschen aufsuchte, wo es still war und ich allein mit meinen Gedanken sein konnte, so pflegte ich doch keineswegs stets denselben Pfad einzuschlagen. War mir eher etwas bange und ängstlich ums Herz, so bevorzugte ich Wege durch den Park, wo mir Parklampen ausreichend Helligkeit und Schutz boten. War mein Inneres aber so aufgewühlt, dass ich mich selber nicht mehr recht zu sehen vermochte und mir mein Leben fast gar als ein Überflüssiges vorkam, das ich leicht wegwerfen oder hergeben könnte: so hätte keiner es vermocht, mich ob einer Gefahr mich von einem Weg abzuhalten. Auch damals muss es mir gefährlich leicht ums Herz bestellt gewesen sein, so dass ich hätte ausrufen mögen: „Was tut´s, wenn mir etwas widerfährt? Bin ich erst tot, so kann ich ausruhen und nichts und niemand stört mich mehr.“
Adam: Sitzest du so bequem?
Eva: Es geht. Und doch habe ich mir das alles ganz anders vorgestellt. Ich dachte immer an einen Pfad ins Paradies.
Wolfgang: Und so schlug ich einen Weg ein, der mich den Berg hinauf führte, wo dichtestes Dunkel herrschte, so dass ich bei jedem Schritt den Boden zu überprüfen hatte. Und doch gab es nichts, was mich aus meinem stoischen Gleichmut hätte bringen können. Kein noch so schauerliches Geräusch hätte mich beeindrucken, kein Untier mich erschrecken können; und hätte auch der Tod seine Hände nach mir ausgestreckt, es hätte mich kalt gelassen.
Adam: (indem er Eva fest anzuschnallen beginnt)
Eva: Aber jetzt tust du mir weh.
Adam: Das geht nicht anders. Ich muss dich festbinden, damit nachher alles möglichst schnell und schmerzlos vorüber geht.
Eva: Und du?
Adam: Nach dir komm ich. Oder meinst du, ich binde dich fest und renn dann weg?
Eva: Warte noch, ehe du das Gehäuse verschließt. Ich will noch einmal nach den Kindern rufen!
Adam: Es ist besser, wenn du nicht rufst. Dann wird zumindest keine Hoffnung enttäuscht. Denn es hört dich keines. Oder weißt du nicht, dass Kinder dazu da sind, dass sie einem in der Welt verloren gehen?
Wolfgang: Unterdessen war ich auf eine Anhöhe gelangt, wo der Wald vor mir zurücktrat und einer Lichtung Raum bot. Woher die Lichtung ihr Licht nahm, vermag ich nicht mehr zu sagen. Mondlicht schien es nicht gewesen zu sein und auch das Feuer, das im Hintergrund ziemlich gleichmäßig lohte und wogte, schien es nicht zu sein. Eher, dass es zu der Lichtung gehörte, die den Dingen ihr Licht darbot, sie zur Darstellung zu bringen. Beim Näherkommen sah ich, dass es sich um ein altes Waschhäuschen handelte, wie sie in früheren Zeiten bei uns von den Wäscherinnen benutzt wurden. Dessen unterster Teil ist nichts als ein großer Ofen, worüber sich dann im oberen Teil die Wasch- und Spülbecken befinden. Ungeachtet der Tatsache, dass es Nacht war, war die Anlage ganz offensichtlich in Betrieb. Nun nämlich sah ich nicht nur einzelne Flammen, wie sie aus der Ofentüre herauszüngelten, ich sah auch die Wäscherin bei der Arbeit. Vor dem Häuschen stand sie, bekleidet mit einer langen weißen Gummischürze, den Rücken mir zugewandt, wie sie eben Holz in den Ofen nachschob. Dann aber ging sie etwas zur Seite. Dort befand sich ein Brett, das wie eine Brücke über zwei Bottiche gelegt war. Das Brett war so groß und breit, dass man bequem einen Erwachsenen darauf hätte legen können; und auch in die Bottiche, beide gleich groß, hätte wohl ein Erwachsener, wenn auch mit etwas Mühe, hereingepasst. Der eine Bottich war dicht über der Erde oder sogar ein wenig in die Erde eingelassen, während der andere um einiges höher, etwa in Hüfthöhe angebracht war. Kaum dass die Frau aus dem oberen Bottich ein Stück herausgehoben hatte, nahm sie es an sich, um es dann auf das Brett zu legen, von wo sie es nach kurzer Bearbeitung sich selber überließ, so dass es herabrutschte und in den unteren Bottich plumpste. Jeden Schritt des Vorgangs verfolgte die Frau sehr genau; und nicht eher nahm sie ein neues Stück hervor, eh nicht das alte verschwunden. Es war aber kein Wasser in den Bottichen und es waren auch keine Wäschestücke, die in den Bottichen herumschwammen, sondern menschliche Körper. Herausgehoben aus dem oberen Bottich drückte sie einen jeden eine kurze Weile an ihre Brust, ihm die Milch des Lebens zu reichen, bis dass er dann mit dem Messer bearbeitet im unteren Bottich wieder verschwunden.
Eva: Und doch will ich ihnen noch einmal rufen.
Adam: Ruf, wenn du kannst.
Wir haben verabsäumt, sie ins Leben hinauszuführen.
Adam: Wie hätten wir auch sollen, wo wir selber das Leben nicht gekannt haben.
Ich kann mich nicht von ihnen trennen.
Adam: Das hast du schon längst getan.
Ich muss sie noch einmal sehen.
Adam: Und würdest du sie auch sehen: sie kennten dich nicht mehr und auch du kenntest sie nicht mehr.
Wolfgang: „Mutter!“ schrie ich auf. „Mutter, was machst du?“ Doch sie, als hätte sie mich nicht gehört, winkte nur einem weiteren Kind zu, das in ihrer Nähe stand, zu ihr zu kommen. Das Kind aber, als hätte es des Lebens Süßigkeit nie anders verspürt, kam auch gleich herbei, um sich aufs Brett legen zu lassen. Endlich aber, das vorletzte Kind war zerschnitten, wandte sich die Mutter auch an mich. Schon war ihre Hand nach mir unterwegs, da schrie ich abermals auf: „Mutter, was machst du?“ Jetzt endlich fiel ihr Blick auf mich. Weit entfernt aber, mich zu verstehen und auf meine Angst einzugehen, schien sie mir nur zu bedeuten, alles gehe sehr leicht und schnell vorüber, so dass mich für einen Augenblick ein mir bislang ganz unbekannter Schauer zu durchrieseln begann. Schon war ich versucht, mich ihm wohlig zu überlassen, da packte mich wildes Entsetzen. „Nicht so!“, schrie ich auf. „Nicht so sich niedermetzeln lassen!“ Und eilte so schnell ich nur konnte davon.
Eva: Und jetzt? Ist jetzt das Leben vorbei?
Adam: (er verschließt das Ei) Wenn man es recht bedenkt, ist es schon mit dem ersten Atemzug vorbei. Denn das Ende wird mit dem Beginn ausgelöst, wenn es auch noch eine kleine Weile auf sich warten lässt. Bereit sein ist alles, so sagen die Weisen.
Eva: (schreit auf) Vater!
Adam: Und nun noch zu mir. Vielleicht bin ich jetzt noch gespannt, was mir als letztes Wort durchs Gehirn geistert? Man sagt, es müsse ein besonderes sein. (er steigt nun in das andere Ei)
Wolfgang: Früher erzählte und hörte man gern von Geschichten, die alle Arten von Hochzeitsvorbereitungen zur Schau stellten, vornehmlich von Liebhabern, die sich über alle Schranken des Standes oder des Geldes hinweg listenreich mit dem von ihnen geliebten Wesen vereinten. Heute, unter dem Aspekt, dass das Leben eine Fahrt zum Tod ist, scheint die Mann-Frau-Beziehung mehr als eine Möglichkeit in den Vordergrund zu rücken, mit dem Alptraum der Endlichkeit fertig zu werden. (er geht lautlos an den Rand der Szene, von wo er bis zum Ende anwesend ist, um erst dann noch einmal etwas zu sagen.)
(Beim Rondell. Flötenmusik. Bach Flötensonate BWV 1030 (1. Satz) aus der Ferne.)
Strandholz (kommt mit Anne herbei; er trägt eine Tasche mit sich): Gut, dass wir ihnen
entkommen sind. Denn wer will schon bei solch einer Leichenfeier mit dabei sein? Zumal jetzt, in dieser herrlichen Frühlingsnacht! Genug, dass ich ihnen das Mausoleum erbaut habe und das unter so unwürdigen Bedingungen, soll ich Ihnen nun auch noch Spalier stehen? Jedenfalls bin ich lieber hier. – Und wie geht es dir?
Anne: Ich weiß nicht.
Strandholz: Macht es dir denn keinen Spaß, dir vorzustellen, wie sie jetzt bald nach mir Ausschau halten, wenn es nämlich darum geht, das Mausoleum aus den Händen des Baumeisters entgegenzunehmen: und dann ist er nicht da?
Anne: Ich weiß nicht.
Strandholz: Hast du nicht gesehen, wie sie an mir vorbeistolziert ist, als bemerkte sie mich nicht? Als wäre ich nicht da. Ja, als gäbs mich nicht. Was muss ich dann so tun, als gäbs mich doch?
Anne: Ich habe darüber hinweggeschaut.
Strandholz: Weil du keine Ehre zu verteidigen und überhaupt nichts zu verlieren hast. - Doch entschuldige. Das stimmt ja nicht.
Anne: Mit allen auszukommen, das wäre doch nicht schlecht; doch muss man sich da wohl eben auch immer ein wenig den anderen anbequemen.
Strandholz: Mit dir auszukommen, Herzchen, das wäre mir im Augenblick genug. Drum widersprich mir jetzt bitte nicht mehr. Zusammen mit mir zu sein, einem der bedeutendsten und berühmtesten Männer unseres Jahrhunderts, das ist doch etwas.
Anne: Da werden Sie sicher Recht haben.
Strandholz: Wer dann später einmal in meiner Biografie liest, wird unweigerlich auch auf dich stoßen. Bedenke nur, denn das ist nicht zu viel gesagt, dass du die Chance hast, an meiner Seite unsterblich zu werden.
Anne: Auch darüber habe ich mir noch nicht genügend Gedanken gemacht. Ich brauch eben sehr viel Zeit, bis ich etwas begreife.
Aber das Flötenspiel hörst du doch?
Anne: Gewiss.
Strandholz: Gefällt dir das Spiel?
Anne: Ich versteh ja nichts von der Musik.
Strandholz: Und der junge Mann, der da spielt: hast du den schon einmal gesehen? Wie ich gehört habe, soll er unter einer Brücke der Dreisam hausen.
Anne: (halb für sich) Ich habe Angst, das könnte mein Bruder sein.
Strandholz: Was sagst du?
Anne: Ich weiß nicht, ich bin zu nichts gut.
Strandholz: (sie an sich drückend) Was du nicht sagst! Ein nettes Sätzchen fürwahr, schlicht und einfach; aber es gefällt mir, weil du es gesagt hast. Fast als wolltest du einen Teppich legen zu den Eiern meines Glücks.
Anne: Mir ist nicht wohl.
Strandholz: Übrigens genießt der junge Mann, ich meine den Flötenspieler, zurzeit die Vergünstigung, an den Busen der Schwarzgold gedrückt zu werden. Eine zweifelhafte Vergünstigung, wenn man das hohe Alter bedenkt, findest du nicht auch? Jedenfalls sind die Männer wohlberaten, wenn sie sich vor alten Weibern in Acht nehmen. Weißt du - doch nein, das kannst du in deinem jungfräulichen Alter noch nicht wissen, drum sag ich es dir! Wo der Hass des Mannes auf eine Frau einmal eine gewisse Schranke überschreitet, da macht er sich so bemerkbar, als wär er Zeugnis der heftigsten Liebe. Doch freilich ist das nicht Liebe. Es ist etwas, bei dem sich einem alles sträubt. Es ist eine grenzenlose heiße Begierde, ein blutrünstiger Trieb, ähnlich vielleicht wie bei dem Partner der Gottesanbeterin. Auffressen oder aufgefressen zu werden, das wird einem da schon fast einerlei. Ist das nicht erstaunlich?
Anne: Ich habe über solche Sachen noch nie nachgedacht.
Strandholz: Wohl dir, mein Gänschen. (er setzt sich mit ihr auf die Bank) Eigentlich sollten die Fotografen schon da sein. Doch es ist auch so recht. Ist mir doch nirgends wohler zumut als hier! Einmal weil du da bist; und dann auch, weil es amüsant ist, sich einmal das Treiben dieser Welt in gehörigem Abstand anzuhören.
Stimme der Dunja: Ist mein Cäsar im Himmel?
Stimme des Zelebranten: Aufgenommen in den Himmel besteigt er den Thron inmitten der allerhöchsten Gottheiten. Wollen gnädige Frau nur sehen, wie man ihm die Krone des Lebens reicht!
Strandholz: Wenn ich nur diese Stimme schon höre! „Ist mein Cäsar im Himmel?“ Pfui, wie sie sich bemühen, der Schwarzgold die Füße zu lecken?
Stimme der Dunja: Welcher Gott ist das, der meinem Cäsar die Krone des Lebens reicht?
Stimme des Zelebranten: Der Gott Jupiter.
Stimme der Dunja: Und was für ein Gott ist das?
Strandholz: Ah, wie abscheulich dumm man doch fragen kann.
Stimme des Zelebranten: Das ist der Gott der Macht. Es ist der Mächtigste von allen Göttern.
Stimmen: Cäsar lebt!
Stimme des Zelebranten: Er lebt. Er ist wahrhaft auferstanden. Das will uns die Inschrift Divo Caesari sagen, die in den herrlichen Antiquabuchstaben vom Giebelfeld herab prangt!
Stimme der Dunja: Hat sich das der Strandholz ausgedacht?
Strandholz: „Hat sich das der Strandholz ausgedacht?“ Klingt als ob sie nach einem Buschmann nachfragte!
Stimme: Wo ist der Strandholz? Er mag es der gnädigen Frau sagen.
Viele Stimmen: Wo ist der Strandholz?
Strandholz: (höhnisch) Er ist nicht da!
Stimme der Dunja: Und warum sind Sie ohne Trauerkleidung gekommen, mein Herr? Wie?
Stimme: Ich hab keine bessere Kleidung.
Stimme der Dunja: Man führe ihn ab und sperre ihn ein!
Eine andere Stimme: Wenn man schon auf die innere Form keinen Einfluss mehr nehmen kann, so muss wenigstens die äußere Form stimmen.
Strandholz: Das fängt ja alles ganz entzückend herrlich an. Da will man auf die äußere Form achten und macht einen Radau, weil einer vielleicht ohne schwarzen Schlips gekommen ist, lässt es dann aber hingehen, wenn man von mir als vom Strandholz redet, als wär ich ein Buschklepper oder ein schmutziges Schwemmgut. Aber ihr sollt mich noch kennen lernen, ihr Hunde!- Gewiss werden jetzt Leute ausgeschickt oder sie sind schon unterwegs, in vorauseilendem Gehorsam, nach mir zu suchen und mich vor Ort zu bringen. Doch sie sollen kommen. Da werden sie ein blaues Wunder erleben. Im Moment aber soll uns alles nicht weiter irritieren. Hier nun werden wir ein paar Werbeaufnahmen machen, wie ich es dir gesagt habe. Ich habe die Leute bestellt. Seriöse Fotografen. Eigentlich sollten sie schon da sein. Aber vielleicht hat man ihnen ein paar Schwierigkeiten gemacht mit ihren Apparaten.
Bürgermeister: Herrn Dr. von Strandholz!
Strandholz: Kaum dass man den Esel nennt, kommt er gerennt!
Bürgermeister: Herrn Dr. von Strandholz!
Strandholz: Ach, Sie sind es! Und ich dachte, es wären meine Fotografen.
Bürgermeister: Ich habe Sie aufgesucht, um Ihnen zu sagen…
Strandholz: Dass man das doch nicht machen kann etc. etc.
Bürgermeister: Verehrter Meister!
Strandholz: O, ich kenne diese Redeweisen, auch wenn sie mich längst nichts mehr angehen. Da dürfen Sie doch nicht fehlen, wenn so ein bedeutender Hund beerdigt wird! Dass man so etwas machen kann! Ja, das hätte ich nie von Ihnen gedacht! Auf solche Weise redet der selbstgerechte Philister, der bornierte Kleinbürger, der wohlangepasste Institutsangehörige, der strebsame Kleinbürger, der ängstlich um sein Wohl besorgte Feigling, ja so reden sie alle, die ehrenwerten Mitglieder der Gesellschaft, einerlei ob sie uns in der Gestalt eines kopfschüttelnden Schulmanns oder eines zeigefingerausstreckenden Pfarrers oder eines stirnrunzelnden Richters entgegentreten. Darf ich meiner Verwunderung Ausdruck verleihen, dass Sie sich dazu hergeben, meine Kreise stören oder soll ich noch etwas deutlicher werden und Ihnen sagen, dass ich es bedauere, dass Sie sich als Kulturdezernent und Bürgermeister nicht zu schade sind, den Laufburschen für die Schwarzgold zu spielen?
Bürgermeister: Ich meinte es ja nur gut mit Ihnen.
Strandholz: Was immer gut sein mag. Denn was für einen Thersites gut ist, das ist gewiss nicht gut für einen Achilles. Ganz davon zu schweigen, dass ein Hund wie Thersites krepiert, wenn ihm das zugemutet wird, was für einen Achilles gut ist!
Bürgermeister: Schließlich ist es ein bedeutsames öffentliches Ereignis, zudem man Sie als Baumeister erwartet und an dem Sie, wenn ich so sagen darf, als spiritus rector mit anwesend sein sollten.
Strandholz: Als Kopf und Geister der versammelten Hunde.
Bürgermeister: Haben wir uns denn nicht einzufinden, ohne alles Fragen, was auch immer es sein mag, wenn uns die Öffentlichkeit ruft?
Strandholz: Muss es nicht auch Leute geben, die überprüfen, was Recht ist und gut, Vordenker, die sich nicht unter das allgemeine Joch spannen lassen - und koste es auch das Leben? Oder sind wir alle nur Duckmäuser und Hampelmänner?
Bürgermeister: Wie lange soll ich mir noch Ihre Beleidigungen anhören?
Strandholz: Keiner hält Sie, wenn Sie sich beleidigt fühlen!
Bürgermeister: Wie Sie meinen! Vielleicht muss man auch Prügel eingesteckt haben, um die Wahrheit erkennen zu können! (er geht wieder)
Strandholz: Auf Wiedersehen, mein Herr!
Stimme des Zelebranten: Verehrte Trauergemeinde! Sie alle kennen die Geschichte, die uns von jenem anderen Julius Cäsar berichtet worden. Wie ihm einst träumte, er würde seine Mutter heiraten…
Strandholz (Anne seine Tasche reichend): Wenn sie wenigstens das Geheimnis eines Cäsar errieten! Aber das Geschwätz ist unerträglich; dabei wird es uns die nächste viertel Stunde überrieseln und wir haben keinen Knopf , es abzustellen. Zum Teufel auch! Und die Leute sind immer noch nicht da! Doch lassen wir das. Nutzen wir die Zeit! Probieren wir schon mal eine Skizze!
Anne: Was soll ich tun?
Strandholz: Da drin in der Tasche befindet sich alles, was du nötig hast. – Am besten beginnen wir mit dem schwarzglänzenden Kleidchen, dem Kleidchen der Dunkelheit. Daneben ist dann noch ein silbernes Kleidchen, das Kleidchen der Morgenröte, dann zum Schluss noch ein schneeweiß leuchtendes, das Kleidchen der Morgensonne! Dazu suchst du dir ein jeweils passendes Accessoire aus und gibst Acht, dass du die Zwillingseier gebührend zur Geltung bringst! Natürlich müssen die Haare jedes Mal hübsch ins Bild passen. Einmal möchte ich sie auf jeden Fall offen und über den Rücken fallen sehen. Erinnere dich an die Verse, die ich dir zitiert habe:
Mein Kleid ist wie mein Haar und wie mein Glück
ist schwarz in schwarz und glänzet schwarz zurück!
Im Dunkeln machst du dich jetzt fertig und wartest, bis ich nach dir rufe. Dann kommst du hierher und stellst dich adrett zwischen die Eier. Wenn dann später die Blitzlichtgewitter über dich hinwegrauschen, wirkt das ganz frisch und natürlich.
Anne: Ich bin noch etwas benommen.
Strandholz: Auch ich bin benommen! Auch mir ist elend zumut. Was muss dieser Bursche auch ausgerechnet jetzt hierher kommen! Aber herumirrender Gefühle muss man Herr werden! - O aber was ist denn das? (er entdeckt jetzt Adam und Eva) Was für ein Gelichter hat da meine Abwesenheit genutzt und sichs in meinen Eiern bequem gemacht!
Anne: Was haben Sie?
Strandholz: Da sind doch Leute in meine Eier eingestiegen.
Anne? Wo?
Strandholz: Wo? - Ja wo gibt es denn Eier? (er öffnet das Visier und schaut sich die Gesichter an; sie sind totenstarr)
Anne: Das sind Leute?
Strandholz: Das waren Leute. Und zwar Leute, die, ohne die Eier von mir gekauft oder auch nur einen Penny dafür bezahlt zu haben, mein Werk missbraucht haben. O, was für eine Dummheit habe ich begangen, was für eine grenzenlose Dummheit! Wie Schuppen fällt es mir jetzt von den Augen, dass ich mein Werk nur in Verbindung mit der Beisetzung eines prominenten Mitbürgers hätte in die Öffentlichkeit bringen dürfen. Jetzt hat sich dieses Gelichter darin eingenistet.
Anne: Wie sie einen ansehen! Fast mein ich, es könnten meine Eltern sein.
Strandholz: Aber wir sind damit noch nicht fertig; noch lange nicht fertig.
Erster Fotograf: Herr Dr. von Strandholz? Hier wären wir.
Strandholz (beschäftigt damit, wie er die Toten herausholen kann, ohne die Eier zu zerstören, was ihm nicht gelingt: er verschließt dann aber wieder die Eier): Wer wäre hier?
Fotograf: Wir, die Fotografen; wir sind doch bestellt. Sie haben uns einbestellt.
Strandholz: Sie kommen reichlich spät.
Fotograf: Es ist jetzt Viertel vor 12 Uhr. Exakt auf die Minute.
Strandholz: O faules Holz. Hätten Sie Sorge getragen, dass mein Werk nicht zerstört wird, es wäre mir eine Wonne gewesen. Kann der Mensch nichts als stören und zerstören?
Fotograf: Wie bitte? Wir verstehen Sie nicht.
Wer nicht pünktlich kommt, kommt nicht zur rechten Zeit. Und wer nicht zur rechten Zeit kommt, der stört.
Zweiter Fotograf: Vielleicht ist es Ihnen angenehm, wenn wir Ihnen sagen, dass man nach Ihnen sucht?
Strandholz: (brüllt nachäffend) Dass man nach mir sucht? Ja wo bin ich denn? Wo sind wir denn?
Fotografen: Herr Dr. von Strandholz! Dass wir nur nicht die Feier stören!
Strandholz: Und wenn wir den Satan aufstören! Ans Werk jetzt endlich!
Fotografen: Wir sind gleich fertig. Alles ist schon justiert und präpariert.
Strandholz: Und du gehst jetzt und machst dich zurecht und stellst dich hübsch zwischen die Eier.
Anne: Auch wenn sie besetzt und beschädigt sind?
Strandholz: Zum Teufel auch! Selbst wenn sie zertreten und zertrampelt wären! Wie viel Mal soll ich das noch sagen?
Anne: Nicht mitzuhassen, sondern mitzulieben sind wir da.
Strandholz: Dann stell dich so, als ob du Geburtstag hättest und du dich zu Hause zu einer Gruppenaufnahme mit deinen Eltern eingefunden hättest. Es gibt nichts Grässlicheres als ein Frauenzimmer, das gelangweilt herumsteht! Das Leben hat nicht allezeit Schleckereien bei der Hand, auch nicht für verwöhnte junge Mädchen.
Anne: Ich meinte ja nur.
Strandholz: Genug jetzt! Hinter den Eiern machst du dich so zurecht, dass dein Erscheinen grandios zur Geltung kommt.
Anne: (geht hinter die Eier)
Strandholz: Denn, wie ich dir schon gesagt habe: eine Werbung soll es werden, wenn du bei den Eiern wie eine Göttin aufstrahlst im Blitzlichtgewitter der Nacht. Semele vernichtet den Zeus. - Und sie meine Herren, sind bereit!
Fotografen: Wir sind schon lange bereit.
Strandholz: Und denk daran, dass du die Kleidchen achtsam behandelst! Eine Frau, die nicht weiß, wie kostbar ihre Kleidungsstücke sind, ja dass sie ein Stück der Frau sind, weiß nichts vom Geheimnis der Schönheit, das in der Ausstrahlungskraft auf den Mann zur Geltung kommen will. Dabei hat, wer so ein Kleidchen als Fetisch geschenkt bekommt, schon fast die gesamte Frau geschenkt bekommen. Aber auch umgekehrt. Die Frau, die darum weiß, hat auch schon jeden Mann, dem sie eines ihrer Teilchen überlässt, in ihrem Besitz. Also, Tochter Evas, bist du soweit? - Warum sagst du nichts?
Anne: Ich kann nicht so schnell.
Strandholz: Dann beeil dich bitte. - Doch was ist das? Du hast dich ja gar nicht umgezogen?
Anne: (hervorkommend) Ich kann nicht.
Strandholz: Du kannst nicht oder du willst nicht?
Anne: Mir ist schlecht.
Strandholz: So geht das nicht weiter, mein Fräulein. Glaub nur nicht, dass das Leben auf dich wartet! Es jagt uns vor sich hin und wer sich nicht von ihm dahinjagen lässt, den zertrampelt es unter den Füßen. Nein, so war das nicht abgemacht.
Anne: Mir ist wirklich schlecht. Ich muss gehen.
Strandholz: Du wirst mir hierbleiben! Wenn du nicht hierbleibst, kostet es dich die Stelle.
Anne: Ich kann nicht mehr. (im Weggehen) Tun Sie, was Sie glauben, tun zu müssen!
Strandholz: Dumme Ziege!
Fotograf: Dann können wir wohl auch wieder gehen?
Strandholz: Gehen Sie und vergessen Sie nicht, sich mitzunehmen.
(Die Fotografen und Anne gehen weg)
Strandholz: Oder wäre mir alles das widerfahren, wenn man achtgegeben und aufgepasst und niemand hätte meine Eier berührt, geschweige denn sie missbraucht und verdreckt? Aber ich werde euch herausholen. Nur keine Angst. Es wird mir schon gelingen. Und wenn es denn sein muss, mit Gewalt! Und wenn ich die Axt an die Wurzel der Bäume legen muss! Ich scheue vor nichts zurück. (holt eine Axt)
Stimme des Zelebranten: Erkenne denn Cäsar, was deine Mutter alles für dich getan hat! In der Tat: wer seine Mutter nie hat heiraten wollen, weiß nicht, was eine Mutter ist.
Strandholz: Und nun, meine Herrschaften, zu Ihnen! Euch will ich jetzt gründlich den Appetit verderben! Ihr kommt mir gerade recht. Kein zweites Mal soll euch die Lust überkommen, in eines meiner Nester zu steigen. Wenn ihr gemeint habt, mich ärgern zu können, so habt ihr euch getäuscht. Wer jetzt aber euch ärgern kann, der bin ich. Und das will ich jetzt auch tun. Oder könnt ihr schon erraten, da drinnen, von welcher Seite ich auf euch zukomme und womit ich zusteche? Wird es den Bauch treffen oder den Rücken, den Kopf oder den Hals? Überlegt euch auch schon, ob ihr um Hilfe schreien wollt in einer Welt, in der euch niemand mehr hört! Für jetzt könnt ihr schon mal damit beginnen, zu zittern und zu bibbern in eurer armseligen Nacktheit. Doch ich bin ein Künstler, bin ein Mann von Kultur. Nicht, dass ihr also meint, ich beschränkte mich darauf, euch jetzt mit Spaten und Schaufel die Hirnschalen einzudäppern.
(Während Strandholz so tätig ist, hört man das anschließende Lied aus der Ferne)
Lied aus der Ferne:
Cäsars Truppen hattens gut,
sie beseelte Todesmut:
Sich für Cäsar hinzugeben
all ihr Sinn und Zweck im Leben.
Strahlend aus des Todes Tor,
Julius Cäsar trat hervor.
Salve Cäsar. Morituri
te salutant abituri.
Heut indessen voller Grauen
Todes Tore auf uns schauen.
Nichts verlohnt, sie zu durchschreiten,
hinter unseren Welt-Raum-Zeiten
nirgends mehr ein Licht sich zeigt,
und des Todes Dunkel schweigt.
Salve Cäsar. Morituri
te salutant abituri.
Cäsar nur, der Hund, verblieb,
den geheime Sehnsucht trieb,
treu zur Mutter, der Natur,
aufzufinden eine Spur:
ob um seines Todes Preis
er ein neues Leben weiß.
Salve Cäsar. Morituri
te salutant abituri.
Strandholz: Und nun erzähl ich euch noch eine kleine Gute-Nacht-Geschichte. Passt nur gut auf!
Der Sommer war vorüber und das Jahr neigte sich dem Ende entgegen. Alle Vöglein waren in wärmere Gegenden aufgebrochen bis auf eines, so ein kleines Aschenputtelvögelchen. Das saß noch immer in seinem Nestchen, das es sich im Sommer gebaut hatte; und ob es auch von Tag zu Tag nur immer noch ein wenig kälter wurde, so ließ es sich dadurch doch nicht beirren. Für den Notfall hatte es sich nämlich in seinem Nestchen ein Eilein aufbewahrt. Was immer auch kommen mag, so pflegte es zu sich selber zu sagen, so muss ich ja nur auf mein Eilein schauen, um zu wissen, dass mich ein jeder Tag dem kommenden Sommer näher bringt, wo alles wieder so werden soll, wie es in diesem Jahr gewesen. Nun geschah es eines Abends - es hatte geschneit und war sehr kalt geworden -, als das Vöglein vergeblich nach Nahrung ausgeflogen war und sich nun hungrig in sein Nest duckte, dass es einen riesigen Raubvogel sah, der auf einem Holzbalken unmittelbar vor dem Eingang seines Nestes Posten bezogen hatte. Als es nun aber am nächsten Morgen sein Nest verlassen wollte, war der Räuber noch immer zur Stelle. Ebenso geschah es in den folgenden Tagen. Als ob er sich auf eine schier unendliche Wartezeit eingerichtet hätte, ohne auch nur um einen Finger breit seine Stellung zu verändern, saß er noch immer da, um ins Nest einzufliegen, sobald nur sein Bewohner es verlassen hätte. Versteht sich, dass sich unser Vöglein immer weniger getraute, sein Nest zu verlassen. Weil aber der Hunger immer größer wurde und sich nicht länger aufschieben ließ, begann das Vöglein sein Eilein aufzupicken. Besser, so sagte es sich, ich esse es selber auf, als dass es mein Feind verschlingt. In Not und stockdunkler Nacht begann es also damit, sein eigen Eilein aufzupicken und zu verspeisen. Als es aber sein Eilein aufgepickt und verspeist hatte und es nun sein Nest verließ, ohne dass es mehr hätte Angst haben müssen, etwas zu verlieren, merkte es, dass es sich getäuscht hatte. Der Raubvogel, so stellte sich nunmehr heraus, war nur das Werk seiner ängstlichen Einbildungen gewesen: ein Flecken an der Dachtraufe, den man sich noch heute ansehen kann. Hunger und Angst und das Elend des Winters aber hatten ihm den Mörder vor die Seele gezaubert.
(er schneidet die vier Beinteile ab und wirft sie hinter sich; dann verfährt er ebenso mit den Kopfteilen)
Mutter Erde, empfange deine Steine. Und ist es dir genehm, so erschaffe daraus ein neues und besseres Geschlecht, das nicht mehr nötig hat, sich gegenseitig zu bekriegen und, ist niemand sonst mehr da, sich selber noch zu Tode bekriegt. Hast du es dir aber anders überlegt, so gib der Menschheit ihren Frieden!
Der Greis: Hier ist er!
Stimme der Dunja: Wo?
Greis: Hier, bei seinem Kunstwerk.
Dunja (als Jägerin gekleidet, wie eine Artemis; an einem Laufgurt hält sie die beiden Juroren): O, hier ist er ja!
Strandholz: Oho, was für eine aparte Erscheinung? Und was für eine nette Gefolgschaft!
Dunja: Mein Herr!
Greis: Es scheint, er hat sein Kunstwerk zerstört.
Dunja: Was haben Sie da getan? Mussten Sie deshalb meiner Feier fern bleiben?
Strandholz: Frau von Schwarzgold in kostbarem Jagdanzug, als Jägerin, auf jung getrimmt! Und die beiden Herren, die der Jugend ein Beispiel geben sollten, was wir unter Freiheit verstehen, sehe ich von der Jägerin gleich zwei Jagdhündlein an der Leine gehalten?
Die beiden Juroren: Man muss prüfen, was einem Halt gibt.
Strandholz: Mein Kompliment.
Dunja: O mein Herr! Ist das nicht kurios? Er glaubt mich und meine Umgebung zu kennen? Dabei habe ich ihn noch nie mit mir genommen in meine Wälder!
Strandholz: Ist das so ein Hexenwerk?
Dunja: O, es gibt Männer, die kennen die eigene Frau nicht mehr, wenn sie verkleidet daher kommt und wissen nicht mehr ihren Namen, um wie viel mehr ein Mann wie Sie, bei dem noch die Lust der Selbstzerstörung mit hinzukommt. - Kommen Sie mit!
Strandholz: Ich soll mitkommen?
Dunja: Kommen Sie mit!
Strandholz: Das hört sich ja an wie ein Befehl! Was will die schöne Jägerin? Mich auch an die Leine nehmen oder mich in ein Jagdhündlein verwandeln, um ihr zu dienen, oder mich in ein kostbares Wild verwandeln, um mich zu erjagen?
Dunja: Lass er sich überraschen!
Strandholz: Verehrte schöne Jägerin! Ihre Worte klingen sirenensüß; weil aber nicht jede Überraschung berauschend ausfällt, so muss ich sie bitten, mit den beiden wohlgezogenen Herren vorlieb zu nehmen!
Greis und Juroren: Sie sollen aber mitkommen, hat Frau von Schwarzgold gesagt!
Strandholz: Hab ich etwas verloren, was Sie mir zeigen wollte?
Greis und Juroren: Mitkommen heißt mitkommen. Da hilft kein Ungehorsam.
Strandholz: Meine Herren, ich gratuliere Ihnen zu dem, ihrem Unterwerfungswillen geschuldeten, Gehorsam oder auch zu Ihrer wohleinstudierten Komödie!
Dunja: Überhaupt dachte ich, Sie wollten noch Ihren Schein einlösen. Den Schein, den Sie von mir bekommen haben. Sie waren damit einverstanden, mir das Mausoleum unentgeltlich zu erstellen unter einer Bedingung, die wir damals mündlich vereinbart haben. Erinnern Sie sich nicht mehr?
Strandholz: Das sind Theaterwolken vom letzten Jahr, gnädige Frau! Wissen Sie: nach der Melodie: Bedecke deinen Himmel Zeus mit Wolkendunst u.s.w.
Dunja: Soll ich vor diesen beiden Herren kundtun, was zwischen uns vorgefallen ist? Wär das nicht etwas peinsam?
Strandholz: Nur immer zu. Tun Sie, was Ihnen gefällt. Mich soll es nicht stören.
Dunja: Komm her zu mir, mein Junge! (sie setzt sich)
Strandholz: Langsam, langsam. Ich bin nicht Ihr Junge.
Dunja: Noch nicht. Aber Sie wollen es doch werden.
Strandholz: Nehmen Sie die beiden Herren. Ich sagte es doch schon. Das sind Juroren, das heißt Kenner der weiblichen Psyche und Preisrichter; die passen zu Ihnen. Oder wenn Sie das weise Alter bevorzugen, dann nehmen Sie den noch immer agreabel aussehenden alten Herrn da!
Greis: Jeder Mann brennt darauf, Liebhaber einer schönen Frau zu werden, zumal ein Mann wie Sie, mit so schön gepflegten Umgangsformen.
Strandholz: O vielen Dank! Aber ich spucke auf jede Ironie oder Schmeichelei oder wie Sie das verstanden haben wollen. Überhaupt: ist denn die Feier schon zu Ende?!
Dunja: So willst du dich nicht wenigstens zu mir setzen, willst nicht mein Liebling sein?
Strandholz: Köstlich! Ich, Ihr Liebling! Bin ich über die sieben Berge herbei gekommen, um nun in Ihrem Schoß als Ihr Hündchen zu sterben?
Erster Juror: Das wäre nicht das Schlechteste. So treu, so anhänglich, so unbedingt zuverlässig und ergeben bis in den Tod. Mit einem Wort, das wäre der kultivierte Mann, wie ihn die Frauen sich wünschen. Nicht so wankelmütig und tückisch und verschlagen wie die gemeine Bestie Mensch, die sich gerade unter dem Haufen der Männer so großer Beliebtheit erfreut.
Strandholz: Überhaupt hatte sie sich da nicht einen holdseligen Jüngling geangelt? Wie? Oder sollte der ihr entwischt sein?
Zweiter Juror: Wovon redet er?
Strandholz: Hat sie Ihren jungen Verehrer weglaufen lassen? Ein kleiner Strick hätte genügt und er wäre ihr hübsch am Rockschoß geblieben.
Dunja: Wovon redet er?
Erster Juror: Er meint den kleinen Simon. Doch wer redet davon, dass er ihr entwischt ist?
Dunja: Komm her, Simon und zeig dich dem Herrn!
Simon: Hier bin ich!
Dunja: Ist ers oder ist ers nicht? Sagen Sie es dem Herrn von Strandholz, meine Herren!
Die Herren: Er ists!
Dunja: Und hast auch deine Flöte bei dir?
Simon: (verneint)
Dunja: Dann geh schön und hol sie, dem Herrn Strandholz nach Haus zu flöten! Und vergiss auch nicht, den netten Anzug für ihn mitzubringen!
Simon: (geht weg)
Strandholz: Ein reizendes Präludium für eine Komödie. Oder befinden wir uns nicht in einer reizenden Komödie?
Die Herren: Durchaus.
Erster Juror: Alles Menschsein spielt sich ab auf den Brettern der Komödie ab.
Zweiter Juror: Die Erde, das sind die Bretter.
Strandholz: Doch was kommt dann?
Dunja: Da lass er sich mal schön überraschen!
Dunja: (zum Greis und den Juroren, die ausgespannt sind) Sie aber, meine Herren, dürfen jetzt nach Haus gehen. Ich benötige Sie nicht mehr. (die Herren treten ab) Sobald der Augenblick gekommen ist, wird Simon für meinen Jungen ein wunderschönes Flötenstück spielen.
Strandholz: Für mich? - Ich brauche kein Flötenkonzert. Mir geht es wie dem Alkibiades. Immer wollte der den Mund frei haben, zum Befehlen. Und seh ich einen mit einem Mundstück im Schnabel, dann denk ich an Unfreiheit und Entmündigung.
Dunja: Aber du willst doch ein großer Künstler sein?!
Strandholz: Und was soll mir das besagen?
Dunja: Früher meinten alle, die Aufgabe der Kunst sei es, Wissen und Erkennen zu vermitteln, indem man in Furcht und Schrecken versetzt und Mitleid schürt. Aber das ist nicht die Aufgabe der Kunst.
Strandholz: Was ist denn dann die Aufgabe der Kunst?
Dunja: Die Aufgabe der Kunst ist, die drängendsten Probleme zu überspielen und zum Verschwinden zu bringen.
Strandholz: Und was sind die drängendsten Probleme?
Dunja: Dem Verhängnis des Todes zu wehren. Und also ist es die Aufgabe der Kunst und wird es immer auch ihre Aufgabe sein, dem Tod die Brutalität zu nehmen, ja selbst auch noch dem trübsinnigsten Leben ein lustvolles Ende zu bereiten.
Strandholz: Es ist irrsinnig nett, Sie so dozieren zu hören, gnädige Frau. Das würde man Ihnen gar nicht zutrauen, wenn man Sie so sieht. – Doch nun weiter?
Dunja: Die Frage nach der Kunst muss somit immer auch zusammen begriffen werden mit der Frage, weshalb wir uns auf dieser Erde herumtreiben.
Strandholz: Und weshalb treiben wir uns auf der Erde herum? Ich bin wirklich gespannt auf Ihre Antwort!
Dunja: Seit es die Menschheit gibt, vernimmt sie den Ruf der Mutter Natur. Sie ruft sie zurück an ihren Busen.
Strandholz: Nachdem der Vater das Feld bestellt und den Samen ausgesät hat.
Dunja: Der Wille des Mannes ist nichts als der Befehlsempfänger der Lust.
Strandholz: Und wenn es einmal so weit ist, hat die Seele Lust?
Dunja: So etwa hat es sich die Mutter Natur ausgedacht, lange bevor die Evolution das Großhirn und den Verstand erfand.
Strandholz: Und worauf läuft nun die Predigt hinaus?
Dunja: Ihm fehlt der Busen, seit er nach seiner Scheidung allein durch die Welt läuft.
Strandholz: Kommt Zeit, kommt Rat!
Dunja: Glaub er nur nicht, dass die Welt eine bessere geworden wäre, als der Mann damit begann, von der Weltherrschaft zu träumen. Alles hat er dadurch durcheinander gebracht.
Strandholz: Das hätten Sie früher bedenken sollen. Dann hätten Sie mich auch nicht betrunken gemachen und mir eine schriftliche Bestätigung abluchsen dürfen, dass ich alles kostenlos mache.
Dunja: Die Todesangst will in eine geheime Todessehnsucht einmünden und in ihr aufgehoben werden.
Strandholz: Wo denken Sie hin?
Dunja: Ich bin entschlossen, ihm seine Todesangst in ein süßes Verlangen zu verwandeln. Das ist das Geschenk dafür, dass er mir das Mausoleum unentgeltlich erstellt hat.
Strandholz: Ich danke ergebenst. Ich brauche keine süße Verwandlung. Nein, danach gelüstet mich absolut nicht.
Dunja: Was weiß er von seinen Gelüsten und geheimen Wünschen?
Strandholz: Sie wachen allerdings oftmals erst auf, sobald ein Weib in unsere Nähe kommt.
Dunja: Als ein zum Sterben Auserkorener tritt man in das Leben.
Strandholz: Wollen Sie mich für den Tod begeistern, so müssen Sie das ganz anders machen! Hören Sie zu, ich will Ihnen sagen, wie Sie das machen müssen, um inskünftig für Ihre Geliebten zu einer unwiderstehlichen Versuchung zu werden. Ich denke es mir z.B. so! Wenn Sie lässig von oben, unter einem der Äste des Eichbaums vor dem Mausoleum eine Schnur zum Vorschein kommen lassen, mit einer elegant geschlungenen Schlaufe am Ende, aus feinstem Leder, und ein hübsches Vollmondgesicht brächte einen goldenen Schemel! Ob es da ein junger Mann noch erwarten könnte, sich nähern zu dürfen? Ob es ihn nicht mit unwiderstehlicher Gewalt heranzöge? Dass er wie erlöst wäre, um gleich auf den allerersten Ton ihres Pfeifchens herangetrippelt zu kommen? Dann müssten Sie nur noch an ihn herantreten und , nachdem Sie ihm einen kleinen Fetisch geschenkt hätten, Sie wissen schon wie, ihm das Halsband anlegen, um ihm zum Aufstieg in den Olymp zu helfen.
Dunja: Nur keine Angst, mein Herr. Ihr Wunsch soll nicht unerfüllt bleiben.
Strandholz: Da bin ich aber gespannt.
Dunja: Doch verlieren wir weiter keine Worte! Tun wir, was sich uns zu tun geziemt.
Strandholz: Und was wäre das? Bedenken Sie die Spannung, in welche Sie mich versetzt haben und machen Sie rasch!
Dunja: Dann passen Sie jetzt gut auf! Denn was jetzt kommt, ist für Sie besonders wichtig! (sie schießt in die Luft; daraufhin kommt die Ziege; sie zieht einen Sarg hinter sich her) Ist das nicht hübsch?
Strandholz: Hat sie sich das für den jungen Mann, den Flötisten, ihren Liebling ausgedacht?
Dunja: Betrachte er nur die Ausführung, die edlen Materialien, aus denen er gemacht ist. (während dieser Rede kommen hinter dem Sarg Greti und Blethi wie auch der Bestatter zum Vorschein.) Versteht sich, dass das Holz aus uraltem Zedernholz des Libanon stammt; und die Silberbeschläge aus dem feinsten Silber von Temessa; und Satin und Seide von Segovia sind die Stoffe der inneren Verkleidung. Und dann noch die Brüsseler Spitzen, die so zierlich über die Bordwand hängen. Oder glauben Sie mir nicht? Dann kommen Sie und prüfen Sie selber nach!
Strandholz: Ja, wen sehen wir denn da? Die reizenden Ladys mit ihrem Impresario! Willkommen bei unserer Komödie. Sie sind sicher abgeordnet, dem Liebling dieser Dame das Geleit zu geben?
Greti: Ebenso ist es.
Strandholz: Doch sehen Sie nur! Da kommt ja schon der junge Mann. Jetzt brauchten wir nur noch ein Pistölchen. Gewiss hat unsere reizende Jägerin ein solches Spielzeug zur Hand. Artemis schweift von Gebirg zu Gebirge; sie wird das schöne Wild nicht versäumen.
Simon: Hier ist die Flöte und hier der Anzug!
Strandholz: Mein Söhnchen, nett von dir, dass du dich beeilt hast mit deinen Sächelchen. Hier siehst du schon alles, was dir deine Mama gerichtet hat. Da, diese nette Extrapost mit dem Pferdchen, d.h. mit deiner Ziege. Wenn du nun die Güte hättest, uns noch dein Spielchen zum besten zu geben? Wenn du alles schön hinter dich gebracht und uns deine Kunst gezeigt hast, dann darfst du sicher sein, unseres Beifalls nicht verlustig zu gehen. Oder wofür ist sonst alle Kunst? Dann aber steigst du schnell in deinen Schlafanzug. Deine Mama wird dir dabei helfen. Und wenn sie dir dann noch ein Gute-Nacht-küsschen gegeben hat, dann lässt du dich von deiner lieben Ziege dorthin entführen, wo du in Ewigkeit herrlich ausschlummern kannst.
Dunja: Nun, sind Sie zufrieden?
Strandholz: Der Anfang jedenfalls ist gelungen.
Dunja: O, nur keine Angst. Alles wird gut, wenn nur erst der Anfang gut gemacht ist!
Strandholz: Nun also, worauf warten wir noch?
Dunja: Die Reihe ist an ihm.
Strandholz: Was soll das heißen.
Dunja: Hier ist das Pistölchen.
Strandholz: Ach, das hat sie für mich mitgebracht?
Dunja: Für meinen süßen Schatz.
Strandholz: Ist das nicht ein wenig verrückt?
Dunja: Alles ist verrückt! Die Kunst und die Natur, Belebtes und Unbelebtes, die Lebenden und die Toten, und selbst der liebe Gott zeigt schon seit einiger Zeit Anzeichen von Verrücktheit. Nur wir Frauen vermögen uns in diesem verrückten Chaos noch zu Recht zu finden. Komm her und lass dir ins Ohr flüstern, wer ich bin?
Strandholz: Hier bin ich! Ich höre!
Dunja: Ich bin die große Zauberin, die große Verwandlerin, die große Künstlerin.
Strandholz: Und was soll mir das?
Dunja: Jetzt erschießt er sich. Dann steigt er in das für ihn hergerichtete Bett. Und dann ist nichts mehr übrig, wonach ihn verlangen könnte. Denn wer alles hat, braucht nichts mehr.
Strandholz: Mögen Frauen auch etwas unglaublich Zerstörerisches an sich haben, aber ist das nicht doch ein wenig zu dreist?
Dunja: Mein Kindchen, mein Hündchen! Komm her und hol dir das Pistölchen . Mehr sag ich nicht.
Strandholz: Geben Sie her. Mit dem größten Vergnügen.
Dunja: Hier!
Strandholz: Und nun lassen Sie mich schießen. - Aber zuerst will ich dich abschießen, du alte Hexe. Dass du es weißt! Und dann kommt dein Adonis an die Reihe! (er will schießen, aber es knallt nur, kein Schuss geht los)
Dunja: Ja was ist? Geht ihm kein Schuss los?
Strandholz: Warum schaffe ich das nicht? Jetzt! (er trifft die Ziege, die tot umfällt)
Dunja: Wollte er wirklich gegen mich aufbegehren und hat jetzt das Tierchen von meinem jungen Freund ermordet!? ? Aber pfui doch!
Polizist: Hier wurde geschossen. Was geht hier vor sich?
Strandholz: Meine Herren, gut dass sie kommen. Zumal als Aufpasser der öffentlichen Ordnung kommen sie mir sehr erwünscht. Fast möchte ich noch an eine freundliche Schicksalsmacht glauben. Hier nämlich haben sich Dinge zugetragen, die keiner für möglich zu halten vermag.
Dunja: Da sind wir aber alle gespannt. - Hoffentlich fehlen ihm nicht die Worte.
Strandholz: Zum Glück kenne ich die Leute. Oder etwa nicht, meine Herren? Und ich weiß, dass auch mich die Herren kennen - und zwar als seriösen und unbescholtenen und frei denkenden Mitbürger. Oder ist es nicht so?
Polizist: Distinguo.
Strandholz: Wie war das? Es stinkt wo. Hier ist doch keine Fechterschule.
Polizist: Sprechen Sie sich aus! Sagen Sie alles kurz und bündig, damit wir die entsprechenden Maßnahmen ergreifen.
Strandholz: Meine Herren von der Polizei, wenn Sie denn wirklich Polizisten sind, die Sie Ihrer Uniform nach zu sein scheinen, so schämen Sie sich nicht, für Ordnung zu sorgen.
Polizist: Weshalb sollen wir uns schämen? Sind wir denn Schwarzkünstler oder Hexer oder Spiegelfechter?
Strandholz: Doch was haben Sie da in den Händen? Sind das nicht Fesseln, Handfesseln, Fußfesseln…
Polizist: Seit alters haben wir Polizisten solche Sachen bei uns. Haben Sie etwas dagegen?
Strandholz: Und für oder gegen wen haben Sie diese Sachen da bei der Hand?
Polizist: Das zeigt sich jeweils von Fall zu Fall.
Strandholz: Eine Gesellschaft ohne Polizei oder doch ohne Handschellen und dergleichen fände ich allerdings noch schöner.
Dunja: Schweifen Sie nicht ab! Sprechen Sie weiter, mein Herr!
Strandholz: Diese Dame hier reicht mir einen Revolver mit der Bitte, mich zu erschießen.
Polizist: Das war gewiss ein Scherz.
Strandholz: O das war kein Scherz.
Polizist: Wenn Sie sagen, dass das kein Scherz war, dann handelt es sich allerdings um eine ganz massive Anklage.
Strandholz: Ja was denken denn Sie? Fasel ich vielleicht?
Polizist: Wir tun unseren Dienst. Und dazu gehört, den Tatbestand zu ermitteln, ohne uns einer Partei gegenüber voreingenommen zu zeigen.
Polizist: Wie wir aber gesehen haben, wollten Sie die Dame erschießen. Und das schien uns kein Scherz.
Polizist: Wären wir nicht eben zur rechten Zeit hinzugekommen und wir hätten Sie nicht erschreckt, so hätte die Kugel nicht die Ziegen da, sondern die Dame getroffen.
Strandholz: Das stimmt doch alles gar nicht. Was geht hier vor sich?
Polizist: Ja, das haben wir Sie gefragt; und das wollen wir von Ihnen wissen.
Polizist: Was sich uns hier bietet, ist ein Bild der Verwüstung.
Polizist: Was wir vor wenigen Augenblicken noch als ein Meisterwerk der modernen Kunst bewundert und bestaunt haben, liegt zerbrochen in Stücken.
Strandholz: Hätten Sie es bewacht, wenn es so bedeutend war
Polizist: Was für eine verwegene Sprache!
Strandholz: Man hat es mir besudelt, misshandelt und verunstaltet. Wie ein Pferd, das man erschießen muss, wenn es nicht mehr zur höchsten Kunst fähig ist, so musste ich das Werk zerstören.
Polizist: Auch das noch. Alles wird nur immer noch dunkler.
Strandholz: Meine Herren, ich bin der Erschaffer. Und wie Gott den Menschen erschaffen hat und ihn wieder zerstören darf, so darf auch der Künstler, wenn er will, sein Kunstwerk wieder zerstören, gesetzt, er hat es noch nicht verkauft.
Polizist: Überhaupt bezweifeln wir, dass Sie der Architekt und Künstler Strandholz sind.
Strandholz: Das ist doch zum Lachen.
Polizist: Das ist zum Klären!
Strandholz: Hab ich mich etwa verändert? Seh ich anders aus?
Strandholz: Man reiche mir einen Spiegel
Dunja: Hier, mein Liebling.
Strandholz: Hexe! Du! – Da fände man wohl noch heraus, dass ich der alte Mühsal bin, den man als Brandstifter sucht!
Polizist: Das bleibt noch zu klären.
Polizist: Schlecht wäre es aber nicht. Denn dann könnten wir Nägel mit Köpfen machen, die Akten schließen und die Sache hätte ihr Ende gefunden.
Strandholz: Hier liegt der alte Mühsal. Adam Mühsal, der Bandit, der mir mein Werk verschandelt hat, mitsamt seiner Frau, Eva Mühsal. Und nun, meine Herren, Schluss mit der Komödie!
Polizisten: Einverstanden. Machen wir Schluss!
Dunja: Auch ich bin dafür, dass wir Schluss machen. Mein Magen knurrt, es wird Zeit, dass ich nach Hause komme und einen Imbiss zu mir nehme.
Dunja: Meine Damen, es ist höchste Zeit.
Polizisten: Geben Sie diesem Herrn da das Ehrengeleit.
Dunja: Er kann es schon kaum mehr erwarten. Kostümieren und parfümieren Sie ihn hübsch artig, auf dass er verschwindet, wie es sich für einen Gentleman geziemt.
Greti: Mein Herr!? Kommen Sie! Steigen Sie ein. Es wird wirklich allerhöchste Zeit!
Strandholz: Ich denke nicht daran!
Blethi: Dabei kennt er noch überhaupt nicht die herrliche Zeus-Eiche mit der Aussicht dicht unter dem Blätterdach. Ich gäbe was drum, man wär mir behilflich nach dort oben.
Dunja: Nun gut. Dann eben nicht. Nehmen Sie die tote Ziege bei der Hand, damit sie den Karren zieht. Und du spielst das Flötenstück, so vorzüglich, wie du es vermagst!
(Simon beginnt zu flöten; es kommen der Bürgermeister und die Juroren, jetzt als freie Leute, Spalier zu bilden)
Strandholz: So ist es recht. Wie schön doch die Musik aller herbeilockt! Wie schön die tote Ziege ausschreitet, als verstünde sie etwas von einem Trauermarsch.
Strandholz: Ein hübsches Narrenstück! Finden Sie nicht auch, meine Herren?
Einer von ihnen: Alles ist eine Frage der Perspektive. Man kann da verschiedener Ansicht sein.
Strandholz: (während ihm die Füße sich in Bewegung setzen und er dem Karren hinterdrein läuft.) Doch was ist denn das?
Wieder einer: Vielleicht auch ein Teil vom Narrenstück.
Strandholz: Ja sehen Sie nicht, dass wir meine Füße verzaubert sind? Ich will und befehle ihnen, stehen zu bleiben, und sie gehorchen mir nicht mehr. Meine Herren, helfen Sie mir! Man tut mir Gewalt an.
Noch einer: Mein Herr, keiner tut Ihnen Gewalt an.
Strandholz: Wenn ich dahin gehe, wohin ich nicht will!
Erster Polizist: Sie müssen nur wollen.
Zweiter Polizist: Passen Sie Ihren Willen Ihren Bewegungen an!
Greti und Blethi: Achten Sie auf ihre Füße, wie lustig sie vor sich hin trippeln, und denken Sie, Sie wären ein Mädchen!
Strandholz: Ja, hilft mir denn keiner?
Polizist: Alles geht seinen Gang; da gibt es nichts zu helfen. Was geschieht, geschieht. Nichts weiter.
Strandholz: Sind die Herren aus dem dritten Reich? Ich dachte, das hätten wir hinter uns!
Polizist: Da sehen Sie doch! (er zeigt ihm ein Zeichen hinter seinem Revers)
Strandholz: Gerechtigkeit!
Polizist: Die müssen Sie einfordern, wenn Sie drunten bei den Herren Totenrichtern vorbeikommen.
Strandholz: Glauben Sie mir, selbst wenn mein Name die Zeiten überdauern sollte, ich wollte nie ein großer Künstler sein! (alle ab, bis auf Dunja, die beiden Polizisten und die beiden Juroren)
Dunja: Zeig er doch endlich etwas Mut! Und wenn er es nicht aus eigener Kraft schafft, ehrenvoll zu verschwinden, so denk er daran, dass er es für mich tut. – (zu den Polizisten)
Und nun singt behände zum Ende des Stücks
uns noch das Lied von den Eiern des Glücks!
Chor der beiden Polizisten:
Was wir auch tun und wie wir auch handeln,
rastlos andauernd muss alles sich wandeln,
was es auch sei, nach der Zeiten Plan.
Manches verwandeln zum Glück wir auf Erden,
andres muss Quelle des Unheils uns werden,
bis uns die Keren des Todes nahn.
Erster Juror: Was für ein Schauspiel! Fast möchte ich ausrufen: Und wenn wir nicht gestorben sind, so leben wir heute noch.
Zweiter Juror: Hätte sich unser Strandholz nicht so stark aus dem Fenster hinaus gelehnt, so wär ihm dieser Abgang wohl erspart geblieben.
Wolfgang: Was mich betrifft, so hätte mich nicht gewundert, der Herr Jesus wäre von seinem Hochsitz herabgestiegen und wäre mit ihm im nächsten Grabloch verschwunden.