Vater Eusal
Erhard Eusal
Elli Gylik
Siegfried Eusal
Kriemhild seine Frau
Brunhild seine Tochter
schwarze Männer
1. Akt: Vorspiel. Unterwegs auf der Landstraße
1. Szene: Erhard, die tote Elli und der tote Vater Eusal
2. Szene: Erhard eilt hinter einen Baum; an ihm sind Leute aufgehängt
2. Akt: Zu Hause bei Siegfried und Kriemhild
2. Szene: Siegfried kommt ins Zimmer mit der Post.
2. Szene: Der Arm greift durch
3. Szene: Wie die Haustüre auf geht
4. Szene: Der Vater erscheint im Zimmer
4. Akt: Einladung zum Essen, der wuchernde Kruzifixus
1. Szene: Brunhild kommt ins Zimmer
2. Szene: Siegfried wird herbei zitiert
3. Szene: Die Suppe wird angerichtet
5. Szene: Die Suppe wird aufgetragen
5. Akt: Wie die Enkelin den Tod findet
1. Szene: Das Gedeck für Luise
2. Szene: Siegfried wird zum Essen verdonnert
6. Akt: Wie die Mutter ihr in den Tod folgt
(Der tote Vater in der Mitte, zur Seite rechts und links die Schwester Elli und der Bruder Erhard. Elli trägt eine Tüte mit "Lebensmitteln")
Erhard: Vater? - Er sagt nichts. Als wär er nicht da oder als ob er schliefe. Und doch ist mir, als hörte er von uns jedes Wort. Aber wir wollen ihn nicht aufwecken.
Elli: Am besten ist, wir machen eine Art Rundgang durch die Nacht, der wieder zum Ausgangspunkt zurückführt, wie bei den Sternen, die in größeren und kleineren Bahnen den Polarstern umziehen. Das hat er sich doch einmal gewünscht. Wenn ich einmal tot bin und könnte alle 20 oder 200 Jahre für ein Stündchen wieder lebendig werden, hatte er damals gesagt, dann wollte ich mich unter dem sterngeschmückten Nachthimmel für dieses eine Stündchen ergehen und mich dann wieder zum Schlaf niederlegen. Jetzt, Vater, jetzt ist so eine Nacht. Mitte Oktober. Sieh nur! Deneb, Atair, Adler, das Sommerdreieck uns zu Häupten. Aber es fängt schon an, kalt zu werden. Drum bleiben wir auch nicht länger als ein Stündchen hier draußen. Dann legen wir uns wieder nieder zum Schlafen, du und ich, bei der Mutter. Nicht wahr, Vater, so machen wir es. So ist es am besten.
Erhard: Auch zu dir sagt er nichts.
Elli: Aber er hört uns zu. Ganz bestimmt.
Erhard: Ich glaube nicht, dass er mit deinem Vorschlag zufrieden ist. Wenn er sich etwas vorgenommen hat und wie ich vermute, ist das der Fall, dann ist er kaum zu etwas anderem zu bewegen.
Elli: Wir werden ja sehen.
Erhard: Und du, Elli?
Elli: Was ist mit mir?
Erhard: Wie geht es dir? Der Ausstieg war wohl auch für dich etwas anstrengend.
Elli: Ich war allerdings nicht darauf vorbereitet. Meist ist es der Einstieg, auf den wir uns vorbereiten.
Erhard: Und die Tasche? Hat sie dir der Vater zum Tragen gegeben?
Elli: (nickt)
Erhard: Ist sie schwer? Soll ich sie dir abnehmen?
Elli: Lass nur!
Erhard: Weißt du, was da drin ist?
Elli: (verneint mit dem Kopf) Wie leichtfertig das doch war, dass wir nicht daran gedacht haben, dass Vater schon immer nur einen leichten Schlaf hatte. Dabei konnte er spät nach Mitternacht von Sitzungen nach Haus kommen und todmüd ins Bett sinken. Aber wenn eine Stunde später eines der Kinder aufschrie, weil es krank war oder schwer geträumt hatte, war er zur Stelle.
Erhard: Du kannst nichts dafür. Mich allein trifft die Schuld.
Elli Wenn wir nur wenigstens die Mutter nicht noch aufgeweckt hätten. Die liegt jetzt ganz alleine in ihrem Kämmerlein und macht sich Sorgen, was aus alledem wird.
Erhard: Das war der Vater, der schon beim Heraussteigen beinahe aus der Haut gefahren ist. Dabei habe ich, als ich vor deinem Grab stand, kaum mehr getan, als laut gedacht. So etwas kann man ja nicht für sich behalten, wenn ein Geschwister das Testament eines anderen Geschwisters anficht; und zwar auf ziemlich gemeine und schäbige Weise. Sie haben behauptet, es wäre auf mein Diktat hin zustande gekommen.
Elli Wieso denn das?
Erhard: Weil du in den letzten Jahren immer weniger zurechnungsfähig gewesen wärst; du hättest getrunken; ja, eine Alkoholikerin seist du gewesen. Und da hätte ich mich an dich herangemacht und dir das Testament diktiert. Dabei war das noch nie bei uns Brauch, dass einer gezwungen worden wäre, nach Diktat zu schreiben. Vielleicht bei ihnen. Aber das haben sie sich als einen klassischen Fall aus dem Erbrecht nachgeschaut und zum Besten gegeben.
Elli Und davon ist dann auch der Vater geweckt worden.
Erhard: Hätte ich das geahnt, ich hätte dich lieber im Ungewissen gelassen.
Elli Ich finde das schrecklich, wenn sich Geschwister so gemein behandeln.
Erhard: Vor allem aber den Vater. Wo er noch eigens in sein eigenes Testament geschrieben hat, wir sollten in geschwisterlicher Weise zusammen halten. Das sei ihm der wichtigste Wunsch.
Elli Das zu hören muss schrecklich für ihn gewesen sein.
Erhard: Es hat ihn aus dem Todesschlummer gerissen, schlimmer als die vier Posaunenengel am Jüngsten Tag. Plötzlich hörte ich, wie er mich mit Donnerstimme zu sich rief. Ich traute kaum meinen Ohren. Aber wenn er auch schon über 10 Jahre tot ist, so kannte ich diese Stimme sogleich.
Elli Und dann befahl er dir, ihm aus der Grube zu helfen?
Erhard: So ist es. Was blieb mir anderes übrig. Oder hätte ich ihn fragen sollen, wozu? Wenn der Vater sich jetzt aber etwas in den Kopf gesetzt hat, so muss es geschehen. Das war schon immer so.
Elli Wie ich mich fürchte! Ich darf gar nicht sagen, was mir alles durch den Kopf zieht. Nur gut, dass er nicht darauf bestanden hat, dass die Mutter mitkommt. Ruhig wird sie freilich kaum auf seine Rückkehr warten. Sie weiß am allerbesten, wie es um ihn steht, wenn ihn einmal die Wut gepackt hat. Das hat ihn so mitgenommen, dass er wieder die Besinnung und Sprache verloren hat.
Erhard: Doch warte! Ich muss einmal austreten.
Elli Das kannst du doch jetzt nicht tun.
Erhard Es ist dringend. Auch die Natur fordert ihr Recht.
Elli Sobald du ihm den Arm entziehst, wird er aufwachen.
Erhard: Ich muss. Ich kann nicht länger warten. Himmel, steh mir bei, wenn ich Gunst und Gnade bei dir gefunden habe! Vorsicht! Bleib stehen.
Elli Ich kann nicht. Sieh doch, wie der Vater ausschreitet. Wie ein junger Soldat, der voll Begeisterung seinem Vaterland dienen will und noch nicht weiß, was auf ihn wartet.
Erhard: Was für ein Problem, abzutreten! Dabei gibt es überhaupt kein Vaterland mehr. Aber mir pressiert´s! - Siehst du, es geht doch. Warte auf mich! Gleich bin ich fertig (er eilt hinter den nächsten Baum)
Elli: Wie soll ich warten! Unaufhaltsam, wie eine Maschine schreiten Vaters Beine vorwärts.
Erhard: Dann geh weiter. Ich hol euch schon wieder ein. (er tritt hinter den Baum, sein Wasser abzuschlagen)
Erhard: Hallo, hallo! Was ist denn das? In welches Nobelhotel bin ich denn da gekommen, dass gleich so viele Pförtner sich versammelt haben? Mit welcher Gelassenheit und Würde sie von ihrem Anstand aus auf den Ankömmling warten! (Er fasst einen der Gehenkten an den Beinen) Gevatter, was machst du da droben? Beaufsichtigst du die Leute, die sich hinter den Baum stellen? Was? Verkaufst du Billetchen, die einem eine Pinkelerlaubnis erteilen? Bist du ein Hartz4-Empfänger und hat man dich vom Finanzamt dazu angestellt, Pinkler-Gebühren einzusammeln? - Er schweigt sich würdevoll aus. So ist es Recht. Dann hat man nichts Falsches gesagt. Und da hängt schon der nächste Glockenhans! Der ganze Baum hängt voll solcher Glockenschwengel. Wahrscheinlich wissen die nimmer, woher sie all das viele Geld hernehmen sollen, das sie ausgegeben haben, und meinen nun, wenn sie nur fleißig Jagd machen auf zufällige Haltmacher unter dem Baum, dann könnten sie ihre Geldkatze schon wieder voll kriegen? O lasst nur die Katze zum Mauseloch schleichen! Bei mir ist nichts zu holen. Kein einziges Mäuslein. Das kann euch mein Bruder beweisen. Der kam schon und wollte mich beklauen. Aber da war nichts mehr zu holen. Und nun meint ihr, ihr könnt mich arretieren und mich in ein Gespenst verwandeln, wenn ich nicht zahle? Sobald der Pfennig im Kässlein klingt, die Seele aus dem Fegfeuer springt. O, das wollen wir gleich mal sehen. Passt auf! Wenn ihr Lust bekommt, mich hier zu arretieren, bekomm auch ich Lust. Dann schau ich nach, was ihr an Kollekte bei euch habt. Und dann machen wir Halbpart, wie es bei guten Brüdern Sitte ist. Oder hat man euch nicht eben deshalb so schön zusammengeschnürt, die Hände auf den Rücken, damit ich bequem nachsehen kann? - Ha, wie sie das erschreckt! Wie sie da zusammenzucken und die Hände am liebsten im Specksack verbergen! Wenn sie nur wüssten, wo sie ihren Binkl gelassen haben! Man muss den Pinklern nur sagen, dass man ihnen Pinke-pinke abknüpfen will, dann beginnt selbst der Teufel in ihnen zu zittern. Lebt wohl, ihr Wegweiser, die man aufgehängt hat, damit nur keiner den Weg in die Hölle verfehlt!
(er kommt hinter dem Baum hervor)
Und wohin geh ich jetzt? Wo sind sie? Hat sie jemand von Ihnen im Auge behalten oder kann mir wenigstens sagen, wohin sie unterwegs sind? Wie? Ach ja, da vorn, da sind sie ja! Wie weit sie schon gekommen sind und wie eilig sie es haben! Kaum mehr glaub ich´s, dass ich auf dem Friedhof war, um meiner verstorbenen Schwester Elli mein Leid auszuklagen. Ich wollte ihr nur sagen, wie gemein das war, dass man, kaum dass sie nach ihren schweren Leiden die Augen für immer verschlossen, auf ihren Nachlass die Pranken gelegt hat. Keine Behauptung, keine Lüge, nichts, aber auch gar nichts war ihnen zu gemein, um nur an das Erbe von Elli zu kommen. Eine Alkoholikerin sei sie gewesen; so sagten sie vor Gericht. Und ich, ich hätte das schamlos ausgenutzt; hätte sie in einem Zustand der Unzurechnungsfähigkeit dazu gezwungen, ein Testament zu schreiben, das mich bevorteilt, sie aber benachteiligt hätte wider allen väterlichen Willen. Das hört der Vater, der nebenan liegt, und wird unruhig; er pocht und ruft, dass er wach sei und dass ich ihn augenblicklich aus dem Grab holen solle. Natürlich gehorch ich. Im Augenblick bin ich an der Arbeit. Aber ich muss gar nicht viel tun. Es genügt, dass ich etwas tun will. Denn schon fliegt die Erde aus der Tiefe heraus und häuft sich zur Seite, dass ich nur noch dem Vater die Hand reichen muss. Wie er aus dem Grab ist, besteht er darauf, dass auch Elli aus dem Grab herauskommt. Nur die Mutter, die inzwischen auch wach geworden ist, soll im Grab liegen bleiben. Ah, die gute Mutter. Wie sie mich sieht, sagt sie "Siegfried!". Sie meint, ich wäre Siegfried, ihr Lieblingssohn. Aber der Vater brüllt auf, als wär er Gott Vater und der jüngste Tag wäre angebrochen und weist sie darauf hin, dass hier nirgends ein Siegfried zu sehen sei. Gott, der Herr, möge ihr einen Engel zuschicken, wenn er noch einen frei habe, sie in den Himmel zu bringen, denn was jetzt noch ausstehe, sei nichts für sie. Ängstlich fragt sie ihn, was er denn vorhabe. Der Vater aber sagt nur, dass es erst noch einige Sachen zu erledigen gelte. Versteht sich, dass sich die Mutter mächtig Sorgen macht. Das ist so ihre Art. Mutter, ich muss nur noch eine Kleinigkeit besorgen, sagt der Vater. Ich mach es ganz kurz. Ich bin bald wieder zurück. Dann ist Ruhe und Frieden für immer. Spätestens vor Anbruch des Morgengrauens bin ich wieder zurück. Um meinetwillen mach dir nur keine Angst, ruft er der Mutter noch zurück, während er mit Elli und mit mir bereits den Friedhof verlässt. Spätestens vor Anbruch des Morgengrauens bin ich wieder bei dir. - Und dann gehen wir! Ich auf der linken Seite von ihm, Elli auf der rechten. Jetzt aber wird es höchste Zeit, dass ich sie einhole und wieder erreiche. Denn schon seh ich sie am Horizont entschwinden. (Er eilt und hält dann inne) Aber ich kann mich anstrengen, wie ich will, der Abstand wird nicht geringer. - Elli! So warte doch! Ich bin gleich da. - Aber sie sagt nichts; sie eilen weiter. Nun ja, sie hören mich wohl schon lange nicht mehr. Je schneller ich eile, um so schneller eilen auch sie. Laufen wie Luftgeister. Wer nur trägt sie so schnell dahin? Eher hätte ich gedacht, dass der Vater, nachdem er schon so lange keinen Schritt mehr gemacht hat, das Laufen verlernt hat. In dieser Luftlandschaft kann sich doch nichts behaupten. Wenn mich aber nicht alles täuscht, haben sie den Weg eingeschlagen zu Siegfried, meinem Bruder.
(Die Eltern und die Tochter Brunhild im Wohnzimmer beisammen. Es geht schon gegen Mitternacht. Jeder ist für sich beschäftigt. Die Alten mit dem Lesen von Zeitungen, die Tochter hört auf zu schreiben und beschaut sich in einem Spiegel ihr Gesicht. Neben ihr liegen ein Block mit selbstverfassten Gedichten und ein Buch über Mietrecht.)
Kriemhild: Was machst du da?
Brunhild: Ich schaue in den Spiegel.
Kriemhild. Und was hat das zu bedeuten?
Brunhild: Ich habe in der letzten Zeit etwas sehr Peinsames festgestellt.
Kriemhild: Meinst du, dass du älter geworden bist? Das ist doch kein Wunder bei all dem schrecklichen Lärm und Getöse um uns herum.
Brunhild: Ich habe festgestellt, dass mir mein Spiegelbild nicht mehr gehorchen will.
Kriemhild: Was soll denn das nur heißen?
Brunhild: Das hat mit Luise zu tun. Seit sie nicht mehr zu Haus ist, geht es mit mir abwärts.
Kriemhild: Aber still doch, mein Lieb. Freilich, wenn man bedenkt, wie Luise uns versetzt hat, wäre das kein Wunder. Gleichwohl darfst du das nie sagen. Das bedeutet eine geheime Anerkennung einer Macht, die wir nie anerkennen werden. Und dass es diese Macht auch nicht gibt, das werden wir beweisen. Denn wir werden Luise nach Haus holen, und wär es auch mit dem Arm des Gerichts, sofern sie nicht aus freien Stücken kommt. Dann soll sie dir aufwarten, bis du wieder gesund bist. Doch was ist mit dem Spiegelbild?
Brunhild: Es weigert sich, mir die Wahrheit zu sagen.
Kriemhild: Es sagt, denke ich, was es physikalisch sagen muss.
Brunhild: So meint man. Aber es steckt da noch etwas dahinter. Da. Schau doch nur! Mein linkes Auge. Ich meine das Spiegelbild des linken Auges.
Kriemhild: Ich sehe es. Doch was ist mit ihm?
Brunhild: Siehst du es denn nicht?
Kriemhild: Nein, ich sehe es nicht.
Brunhild: Dann siehst du auch mein Auge nicht. Jetzt schon wieder, ganz deutlich!
Kriemhild: Vielleicht ist es eine subjektive Empfindung?
Brunhild: Du meinst, eine Einbildung?
Kriemhild: Gott bewahre. Aber ich sehe nichts, was mir nicht vertraut wäre.
Brunhild: Ah, wie ich mich hasse!
Kriemhild: Aber, aber. Mein Kindchen! Ich habe doch gesagt, dass wir diese Macht nicht anerkennen dürfen.
Brunhild: Wenn sie schon herrscht! Gebe Gott, dass es außer mir niemand sehen kann!
Kriemhild: Nun aber sag, was du hast!
Brunhild: Luise schaut mir aus den Augen, jedenfalls aus dem linken Auge, also aus dem rechten Auge des Spiegelbildes. Sie quält mich, benutzt mich, macht sich lustig über mich.
Kriemhild: Aber geh! Was redest du da? Das wäre ja Hexerei.
Brunhild: Vielleicht, dass da noch Hexerei möglich ist, wo Vertauschungen möglich sind. Man kann auch nicht sagen, wie aus rechts links wird; man kann es zwar konstruieren, aber man kann es nicht verstehen.
Kriemhild: Dafür wär sie im Mittelalter noch verbrannt worden.
Brunhild: Das ist es ja eben. Hat es jemals ein Wesen gegeben, das in allem das Gegenteil war von mir? Oder hab ich jemals wie Luise in die Welt geschaut, jemals so gedacht wie sie, mir jemals solche Ziele gesetzt? Was für ein Wesen, dieses steife, unbewegliche, starrköpfige Geschöpf, das kaum etwas anderes vermochte, als den Neid zu nähren auf alle meine feinen Anlagen, dass mir kaum etwas unfassbarer vorkommt, als dass sie von euch stammen mag. Zumal auf die Ausübung meiner feinen Künste wie Ballett und Reiten, in denen ich bereits eine Königin war, während sie es noch nicht einmal zu einer besseren Stallmagd gebracht hat, war sie mir böse. Nur zuzuschauen oder gar mich anzuschauen war ihr unmöglich, geschweige denn, dass sie fähig gewesen wäre, mir ein Wort der Anerkennung zu sagen. Eben dieser Neid war es dann aber auch, der mir zum Fluch und Fall wurde: so dass ich vom Pferd stürzte und krank wurde und nun verdammt bin, als elender Krüppel dahinzusiechen. Ungesellig und rechthaberisch wie sie war, wie wohl alle Zu-Kurz-Gekommenen sind, gab sie niemals Ruhe, bis man nicht ihren Willen erfüllt hatte. Und da sie sich nun einmal entschlossen hatte, ihren Körper, den Leib, den Geist und die Seele, da sie so unergiebig waren, zu bestrafen und verkommen zu lassen, so verlangte sie von mir, es ebenso zu halten. Wer, wie sie, dem Äußeren, das doch ein Abbild des inneren Wesens ist, so gleichgültig gegenübersteht und alle schönen Gaben missachtet, der muss verwahrlosen und entarten. Und bei alledem war sie auch noch so unberechenbar und launisch. Nein, ein solches Wesen, das gewohnt war, von der Hand in den Mund zu leben und die Tage verstreichen zu lassen, war nicht in der Lage, sich Ziele zu setzen. Durch diese ihre Bequemlichkeit, oder sagen wir besser durch ihre Faulheit, die ich mit ihr teilen sollte - das glaubte sie, war die Aufgabe der ältere Schwester -, hat sie mich behindert und mir die Aussicht versperrt, mich groß und frei zu entwickeln. Vor allem von den Reitstunden, auf die sie neidisch war, suchte sie mich abzuhalten. Das werde noch böse enden, sagte sie immer wieder.
Kriemhild: Wer mag es wissen, was sich damals ereignet hat, als du vom Pferd fielst.
Brunhild: Es gab einmal eine Zeit, wo ich ganz ruhige und helle Augen hatte. Aber das ist schon lange her. Wenn mich damals eine Unruhe überkam, dann setzte ich mich auf mein Bett, nahm den Handspiegel zur Hand und schaute mir in die Augen, gleichsam als wollte ich zu mir sagen: was hast du denn? Es ist doch nichts. Und dann, plötzlich, musste ich lachen, und dann war alles wieder gut. Jetzt aber lach ich nicht mehr. Jetzt ist mir das Lachen vergangen. Vor allem das rechte Auge des Spiegelbilds schaut mich immer so seltsam an. Als ob es ihr ein Vergnügen bereitete, sich an mir zu rächen, wiewohl ich ihr nichts zu Leide getan habe.
Kriemhild: Glaub mir: da ist nichts. Gar nichts!
Brunhild: Damals hatte ich noch Respekt vor der Zukunft, heut aber hab ich nur noch Angst.
Kriemhild: Wenn Luise wieder nach Haus kommt, und wir werden nicht eher davon lassen, als bis sie da ist, dann wirst nur noch du die Befehle erteilen. Dann wird sie tun, was du sagst und nichts sonst. Für jetzt aber ist es das Beste, du schaust gar nicht nach ihr aus! Du darfst einfach nicht nach ihr suchen. Du musst dir einreden, dass sie für dich zu existieren aufgehört hat. Das Übrige lass nur meine Sache sein. Und kommt sie nicht freiwillig, so find ich schon den rechten Anwalt, der sie mir nach Haus schafft. Du indessen musst sie für jetzt vergessen.
Brunhild: Das Einzige, was ich tun kann, ist das Auge zudrücken. Da! Wenn ich das Auge zudrücke, ist alles weg! Und jetzt? Pass auf! Jetzt ist sie schon gleich wieder da! Was nützt mir da das Auge-Zudrücken? Mir ist, als streckte sie mir die Zunge aus meinem Auge heraus.
Kriemhild: Nein, das genügt nicht. Noch viel entschiedener musst du dem Feind entgegentreten. Selbst wenn es so wäre, und wenn es dem Schlimmsten unserer Feinde gelänge, sich hinter unseren Augen zu verstecken und, uns verspottend und verhöhnend, draus hervor zu schauen, so steht es bei uns, seine Anwesenheit mit noch kälterem Hohngelächter zu leugnen, ohne dass man uns einer Lüge zu bezichtigen vermöchte.
Brunhild: Was für eine Enttäuschung für mich und für meine Eltern! Was für eine Katastrophe! Oder ist es nicht schrecklich, wenn man sich sagen muss, dass man so ein Kind zur Welt gebracht hat?
Kriemhild: Ich würde sie totschlagen, wenn es nicht dein Auge träfe!
Brunhild: Schlag sie tot; und wenn es mich mit dazu kostet. Besser tot sein als nicht leben können. Aber es ist eine entsetzliche Gegenwelt, die sich da mitten unter uns aufgebaut hat. Bald kommt sie feindlich auf uns zu, bald zieht sie wieder von uns ab, wie Nebel im Spätherbst. Aber ich mag keine Gegenwelt, ebenso wenig wie die Nebel im Spätherbst. Es wäre schöner, ihr hättet mich in eine andere Welt geboren.
Kriemhild: Wäre es in meiner Macht gestanden, ich hätte es ganz bestimmt getan. Diese Gegenwelten werden vermutlich erzeugt, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind, vor allem, wenn man krank ist wie du. Doch lass gut sein!
Brunhild: Wenn es einen lieben Gott gibt und wenn dieser liebe Gott Gegenwelten in seiner Schöpfung vorgesehen hat, die vornehmlich die kranken und schwachen Menschen heimsuchen, dann mag ich ihn nicht. Überhaupt kann man nicht mit lieb bezeichnen, was er mit mir angestellt hat und noch immer anstellt. Dabei habe ich mich so bemüht, der Bibel zum Ruhm zu verhelfen. Wenn ich nur dran denke, wie ich den Eingang des Epheserbriefs nach- und ausgedichtet habe. Wie habe ich mich bemüht, mir meine klaren und sanften Augen neu zu beleben. Viel Zeit und Arbeit habe ich da hinein investiert. Umsonst. Das interessiert den lieben Gott vermutlich ebenso wenig wie die Kirche des lieben Gottes. Nirgends verkommen die Talente so gründlich schön wie in der Kirche Gottes.
Kriemhild: Hätte einer von den großen und unabhängigen Kennern großer Literatur, sich die Mühe gemacht, deine Arbeiten durchzusehen und zu würdigen: du würdest heute nicht unter dem Wetterdach deiner Eltern hausen.
Brunhild: Ich glaube nicht, dass es große und unabhängige Kenner der Literatur gibt.
Kriemhild: Gut möglich. Da les ich doch gerade in der letzten Sonntagszeitung, dass eine Politikerin gesagt hat, die Türken in Deutschland seien ihr lieber als die deutschen Katholiken.
Brunhild: Na und? Ist das nicht die, die beim Papstbesuch gesagt hat, sie habe Verständnis, wenn man der Rede im Bundestag fern bleibt?
Kriemhild: Wenn die in den Spiegel schaut, sieht sie nur überall die Türkei.
Brunhild: Die Katholiken sterben in Deutschland aus und die Türken nehmen zu.
Kriemhild: Eigentlich könnte einen diese dumme Gans gewaltig aufregen. Zumal da sie doch nur auf plumpen Stimmenfang aus ist. Das sind immerhin über 2 Millionen Wahlstimmen!
Brunhild: Hätte mir der Papst schon auf mein Schreiben geantwortet, dann würde ich ihm jetzt den guten Rat geben, Deutschland als gottloses Land zu meiden. Da muss er sich doch nur die Fehler und Gebrechen der missratenen Hochwohlgeborenen anhören.
Kriemhild: Keiner von denen sieht, wie das Christentum in Not liegt. Nur ihre eigenen kleinen Nöte sehen sie; und was früher einmal als Vergehen und Sünde gegolten hat, wollen sie als solche nicht mehr gelten lassen. Nicht mehr nach Buße und Besserung verlangen sie, sondern von der Kirche verlangen sie, dass sie ihre Taten rechtfertigt. Vollends ihre sexuellen Eskapaden wollen sie glorifiziert haben.
Brunhild: Andererseits aber kann man mit dem Papst und seinen Katholiken auch nicht viel Erbarmen haben. Da haben wir zu viele gesehen, die einem das Christentum vermiest haben. Heuchelei und Scheinheiligkeit, wohin du schaust. Um mit allen den elenden Gefühlen fertig zu werden, die mich zur Zeit beschleichen, habe ich mir vorhin noch etwas notiert. Es ist kaum mehr als ein Versuch, dem trübseligen Druck und Dreck zu entkommen. Es ist so etwas wie ein erster Entwurf. Willst du ihn hören?
Kriemhild: Gerne!
Brunhild:
Wozu haben wir sprechen gelernt?
Wenn uns die Sprache von uns entfernt?
Und wozu schreiben, wenn alles Schreiben
nur darauf lauert, auseinander zu treiben?
Ja, wozu sind wir überhaupt auf Erden,
wenn wir nicht wissen, was aus uns soll werden?
O arge Not, armseliger Verstand,
der Schlösser sich baut in Luft und Sand.
Ja schrecklich, wenn zum Himmel schreit
diese sinnentleerte, verrückte Zeit.
Kriemhild: Und das hast du jetzt eben aufgeschrieben?
Brunhild: Als mir das Mietrecht auf den Geist ging.
Kriemhild: Das ist unglaublich gut! Jedenfalls etwas anderes, als wenn sich die Alten Gedanken gemacht haben um den Sohn der Zeit. Auch Shakespeare sprach einmal in ähnlichem Sinn. Er konnte die Zeit immerhin noch als Zeugin des Weltlaufs erfassen. Bei uns reicht sie kaum mehr aus, das Leben des Einzelnen zu bezeugen. Wenn ich nicht wüsste, dass du so etwas schreiben kannst, so wollte ich sagen, das stammt nicht von dir. Und wenn ich recht sehe, ist es gerade die Gegenwelt mit all ihren Wirren, die in unsere Welt hineinragt und uns ratlos macht. Nein, wirklich, das trifft den Nagel auf den Kopf. Das ist ein Porträt unserer Zeit, dieses Krämerjahrhunderts, in dem nichts als die Langeweile grassiert, wenn es sich nicht zufällig um Geld dreht, das allen die Köpfe verdreht. Als ob wir hier nichts anderes mehr zu tun hätten, als dazusitzen und auf die allerletzte und endgültige Katastrophe zu warten. Selbst die Frommen wissen inzwischen, wo der Herr Jesus es aufgegeben hat zu kommen, nichts Besseres mehr zu tun, als zu warten. Im Leben warten sie und wenn sie mal gestorben sind warten sie weiter, auch wenn sie es dann nicht mehr wissen und merken.
Brunhild: Super gut hast du das analysiert. Wenn es die anderen auch so gut verstünden! Dann wär ich schon lang publiziert und in aller Mund!
Kriemhild: Wie wünscht´ ich das. Vielleicht würde es dich gesund machen. Auf jeden Fall aber würde es dir gut tun.
Brunhild: (zu Siegfried) Und du? Warum sagst du nichts?
Siegfried: Ich dachte, ihr wolltet alleine sein.
Brunhild: Was liest du da?
Siegfried: Ich studiere eben das Angebot vom Großmarkt.
Brunhild: Hast du nicht aufgepasst, als ich vorgelesen habe?
Siegfried: Aber doch. Dass du das neben dem Mietrecht hinbekommen hast. Alle Achtung!
Brunhild: Ist das alles, was dir dazu einfällt?
Siegfried: Goethe könnte sich von und zu schreiben, wenn er so etwas geschrieben hätte.
Brunhild: Ah, speis mich nicht ab mit billigem Lob. Nichts hass ich mehr.
Siegfried: Es war nicht billig gemeint. Einige Gedichte kann ich auch auswendig. Zumal den Hymnus, den du zum Eingang des Epheserbriefs gedichtet hast.
Brunhild: Verschone mich jetzt aber damit. Dir sei genug, wenn dir der liebe Gott Kraut und Rüben und billige Kartoffeln gedeihen lässt, damit uns im Winter nicht der Hunger frisst. Hol die Post herein, wenn du sonst nichts zu tun hast!
Kriemhild: Muss das sein?
Brunhild: Da ist sicher der Brief vom Heiligen Vater mit dabei.
Kriemhild: Das wäre zwar wunderbar. Aber das glaub ich nicht.
Brunhild: Solange der mir nicht schreibt, bleibt der Buddha da und das Kruzifix bleibt draußen. Er kann sich entscheiden.
Kriemhild: Das wird ihn kaum stören. Da müsstest du schon Katharina von Siena heißen oder Theresia von Avila.
Brunhild: Für mich zählt nur, dass du an mich glaubst und an meinen Geist.
Kriemhild: Das tu ich ja. Und dennoch kommt nichts als faule Post zu uns: Rechnungen, Mahnungen, Zeitungen: alles Zeug zum Entmisten und zum Bezahlen. Das müssen wir uns doch jetzt, zu so später Stunde, nicht mehr antun?
Brunhild: Wir brauchen uns die Rechnungen nicht anzusehen. Siegfried soll die Post misten. Mir genügt, wenn er mir den Brief vom Papst bringt.
Siegfried: Soll ich nun die Post heraufholen?
Brunhild: Geh schon! Du könnest schon wieder da sein.
(Siegfried geht)
Brunhild: Ah, wie es mich doch gelüstet, das nächste Liedchen zu schreiben. Ich bin heute so recht in Laune. Lass sehen! Das könnte etwa so enden:
Wie schön war noch die Welt, wie patriarchalisch groß,
als man noch träumen konnt´ von Abrams Schoß.
Kriemhild: Lass gut sein.
Brunhild: Gewiss. Ich muss ja zuerst noch wegen Ellis Testament ins Erbrecht schauen und das grafologische Gutachten durchstudieren. Da ist jetzt nicht an ein Ausarbeiten zu denken.
Kriemhild: Und Siegfried gibt sich ja Mühe. Oder findest du nicht auch?
Brunhild: Manchmal meine ich, es wäre leichter für uns und auch besser für Siegfried, wenn es ihn überhaupt nicht gäbe. Oftmals, wenn ich ihn ansehe, nein, wenn mein Blick plötzlich an ihm haften bleibt, und das tut er sehr oft, wenn er eigentlich über ihn hinweg sollte, dann kommt mir plötzlich und unwillkürlich, dass er an allem unserem Unglück schuld ist. Ich weiß nicht, warum, und vermag es mir auch nicht zu erklären, aber es ist so. Vielleicht weil ich ihm keine Stärke zutraue, wenn es einmal drauf ankommt. Wenn ich ihn sehe, mein ich ihn immer zu sehen, wie er das Unheil zu uns ins Haus herein lässt.
Kriemhild: Immerhin verdankst du ihm dein Leben.
Brunhild: Dieses kümmerliche bisschen Leben, um das man noch bangen muss! Wir müssten beim Schreiben immer ein wenig durchsickern lassen, dass wir das Leben nicht recht begreifen, so dass stets viel Unwissenheit um unsere Sätze flattert. Wenn es ihn aber geben muss, diesen stillen ewigen Vorwurf meiner Erzeugung, dann hätte ich zumindest gerne, wenn es ihn in doppelter oder mehrfacher Ausgabe gäbe.
Kriemhild: Was für kuriose Vorstellungen! Ist einer nicht schon genug?
Brunhild: Natürlich würden wir das immer wieder ausgleichen, dass es ihn zu anderer Zeit überhaupt nicht gäbe. Zum Beispiel wenn er des Nachts doppelt da wäre, dafür aber unter Tag überhaupt nicht. Das wäre dann anders als jetzt, wo wir ihn am Wochenende an die Nordsee schicken.
Kriemhild: Was würdest du jetzt mit Zweien machen?
Brunhild: Wenn er so allein bei uns herumsitzt, so teilnahmslos abwesend und in sich gekehrt, dass ihn selbst das Vorbeikommen meiner Katze erschreckt, das kann mich schon stören und erregen. Diese seine Schwäche lenkt die Blicke auf uns und macht uns verwundbar. Wären es zwei oder drei tüchtige stramme Männer, dann könnte man sie wegschicken, zu einer koordinierten Aktion; da wäre dann für uns beide besser gesorgt. Da könnte er dann z.B. die Bewachung des Hauses übernehmen, gerade in der Nacht.
Kriemhild: Aber es bedroht uns doch keiner.
Brunhild: Weil wir naiv und ahnungslos sind und stets daran denken, unsere Ruhe zu genießen, machen wir uns gerne vor, dass uns nichts bedroht. Ja, die meisten ertränken sich im Wein oder im Opium Sport oder meinetwegen setzen sie sich auch die Scheuklappen Wissenschaft oder Kunst auf, nur um dem Bewusstsein, Bedrohungen ausgesetzt zu sein, aus dem Weg zu gehen. O, immer bedroht uns etwas. Das Leben, das ist eine fortgesetzte Folge von Bedrohungen. Drum ist es immer gut, sich zur rechten Zeit vorzusehen. Gerade wenn du dasitzest, seelenvergnügt in deinem Haus, umgeben von einem kleinen Garten, und denkst, dass es so weitergehen kann alle Tage deines Lebens, da kann es geschehen, dass ein paar Männer unauffällig die Straße heraufkommen und an deinem Haus vorüberziehen. Diese Männer aber sind nur die Vorhut weiterer Männer, die es alle auf dein Verderben abgesehen haben. Wären da zwei oder drei oder vier von jenen aufmerksamen handfesten Siegfrieds zur Stelle, kräftige, tüchtige, verlässliche Männer, einer z.B. vor dem Haus und einer hinter dem Haus, alle wohlverteilt und untereinander koordiniert: der allererste suspekte Blick auf unser Haus, die allererste Gefahr schon könnte ihnen nicht entgehen. So aber leben wir ahnungslos dahin, ohne dass wir auch nur eine einzige Vorbereitung getroffen haben, ja ohne zu wissen, was hinter unserem Rücken geschieht.
Kriemhild: Nimm einmal den schlimmsten Fall! Gesetzt, die ganze Welt hätte sich gegen uns verschworen, unsere Ruhe zu stören und uns niederzumachen! Was könnten wir da tun?
Brunhild: Wenn Siegfried ein Mann wäre?
Kriemhild: Ja, gesetzt den Fall, dass Siegfried ein Mann wäre.
Brunhild: Wenigstens uns verstecken könnten wir uns, z. B. in einem Bunker, den niemand kennt.
Kriemhild: Den würden die herausfinden und Feuer an ihn legen, dass wir verbrennten, wie einst die Einwohner von Sichem, als Abimelech an den Tempel des Baal-Berit Feuer legte.
Brunhild: Oder wir könnten ins Ausland fliehen.
Kriemhild: So ein Ausland gibt es nicht mehr. Nur noch in den Vorstellungen kindlicher und blutjunger Romanciers. Die Welt ist längst so klein geworden, dass es nirgends mehr ein Ausland gibt. Vielleicht will uns das alles auch nur bedeuten, dass wir die Zufriedenheit meiden, weil sie uns unaufmerksam und unvorsichtig und schwach macht. Aber davon kann bei uns wohl kaum die Rede sein.
Brunhild: Wo nur Siegfried so lange bleibt? (rufend) Siegfried! Hast du die Post noch immer nicht ausgeräumt?
Siegfrieds Stimme: Ich bin dabei, sie zu sichten. Ihr wollt doch, dass ich die Post gesichtet bringe. Und es ist wieder mal sehr viel zu sichten.
Brunhild: Hast du auch die Haustüre wieder zugemacht?
Siegfrieds Stimme: Ich habe sie gleich hinter mir wieder geschlossen.
Kriemhild: Bring doch das Zeug hoch! Es zieht ins Treppenhaus.
Brunhild: Dass wir den Briefkasten noch immer draußen vor dem Haus haben, ist ein Skandal. Das müssen wir dringend ändern. Das muss doch nur einer sich mit ansehen; dann wartet er, bis Siegfried herauskommt und schlägt ihn nieder und steigt zu uns hinauf.
Kriemhild: Da bist du wieder! Lass sehen, was für Post gekommen ist!
Brunhild: Vor allem den Brief vom Papst hätte ich gerne!
Siegfried: Es ist kein Brief vom Papst dabei. Das hab ich schon nachgesehen.
Brunhild: Gib her! (sie nimmt die gesamte Post an sich)
Kriemhild: Und von der Luise?
Siegfried: Auch nichts von der Luise ist dabei.
Brunhild (wühlt nach einem Brief vom Papst, vergebens) Nichts Besonderes. Immer dasselbe. Das Meiste sind Zeitungen und Rechnungen. Zeitungen, die man wegwerfen kann, und Rechnungen, die nichts Besseres verdient haben. Oder hat man jemals schon etwas Lesenswertes in einer Zeitung gefunden? Alles Palaver und Betrug. Und kein Brief vom Papst. Nichts aus dem Vatikan! Das ist schwach. Sogar sehr schwach, wenn man seine engsten Verbündeten im Stich lässt.
Kriemhild: Wenn du ein Staatsoberhaupt wärst, und wärst du auch geschieden und hättest nur einen Senf von dir gegeben, so wär eine schmeichelhafte Antwort für dich längst da.
Brunhild: Dann bleibt das Kruzifix eben abgehängt. Die Zeit der Theologie, ja selbst der Teleologie ist ohnedies längst vorbei. Mag es auch in der Materie liegen, dass wir möglich waren und meinetwegen auch, dass wir zugelassen waren, aber dass wir erwartet wurden, wir, ich und du, das scheint mir doch allzu kindlich. Mag die Gattung auch auf ein Recht des Daseins pochen, der Einzelne als Einzelner ist kaum mehr als ein Experimentiermaterial oder meinetwegen auch ein unfassbares Gespenst. Wahrscheinlich wird man bald schon erkennen, dass der Begriff der Menschheitsgeschichte mitsamt dem Geschichte inszenierenden und verantwortenden Individuum der Vergangenheit angehört. Man müsste dabei über Leben und Tod nachdenken, wie sie die Geschichte des homo sapiens bestimmt haben. Aber darüber müssen wir uns jetzt nicht unterhalten; dafür finden wir ein andermal Zeit und Gelegenheit. Nicht wahr Buddha!
Kriemhild: Dass nichts von der Luise aus Amerika dabei ist, beruhigt mich einerseits, andererseits aber bringt es mich auch gewaltig in Rage. - Nimm das Zeug und sag uns hintereinander, was dabei ist, aber ohne uns dabei aufzuregen!
Brunhild: Muss das sein?
Kriemhild: Dann brauchen wir uns schon morgen nicht mehr darüber aufzuregen. Also, was gibt es?
Siegfried: Ein Brief vom Mauler.
Brunhild: Von wem?
Kriemhild: Vom Anwalt unseres Mieters, der nun schon fast ein Jahr lang unser Haus belagert, statt dass er den Lumbiek endlich aus unserem Haus bugsiert.
Brunhild: Und da soll man sich nicht aufregen? Geht nicht und zahlt nicht. Und das liebe Vaterland mit seinen Chefrichtern, Scharfrichtern, Oberlandesgerichtsrichtern, Amtsgerichtsrichtern, dieses ganze Heer von Berufsfischern nach Formfehlern und Bagatellen sieht zu und hält sich den Bauch vor Lachen.
Kriemhild: Das kann uns doch nicht mehr verdrießen, das kennen wir doch schon längst, und noch weniger kann es uns Angst machen.
Brunhild: Und was für eine herrliche Botschaft hat der Herr Mauler für uns? Doch sicher nicht, dass er für unseren Untermieter zahlt.
Kriemhild: (die den Brief öffnet und ihn sich anschaut) Wie der Herr Mauler schreibt, besteht kein Grund, Herrn Lumbieck des Hauses zu verweisen, weil erstens kein echter Eigenbedarf besteht
Brunhild: Dabei habe ich das eigens unterstrichen. Aber ich brauch keine Bibliothek. Ich bin ja krank. Da produziert man nichts mehr außer Unkosten für die Gesellschaft.
Kriemhild: Und zweitens, so schreibt er, habe er ein uneingeschränktes Recht auf Benutzung der zu seiner Wohnung gehörenden Terrasse.
Brunhild: Genug, genug. Der stellt sich einfach dumm. Er will keinen Grund sehen, dass sein Mandant ausziehen soll, solange kein gerichtlicher Bescheid vorliegt. Dabei steht doch im BGB dick und fett und unübersehbar: Zahlen oder ausziehen!
Kriemhild: Wo kein Kläger, da kein Gericht. Und wenn unser eigener Rechtsanwalt der Gegenpartei keinen Dampf macht, dann geschieht nichts bis zum Jüngsten Tag.
Brunhild: Wenn wir nur einen guten Rechtsanwalt hätten. Aber der braucht uns ja, der will von uns leben. Es kommt einem vor, als lebten wir in einem Land, wo es kein größeres Fremdwort gibt als das Recht.
Kriemhild: Wahrscheinlich kommt von daher auch deine Angst. Man kann sich hierzulande auf niemanden mehr verlassen.
Brunhild: Wovon die Herren etwas verstehen, das ist vornehmlich, wie sie zu ihrem Geld kommen: die Kunst der Liquidation.
Kriemhild: Rief ich doch jüngst beim Amtsgericht an; ich hatte noch nicht zu sprechen angefangen, da wusste der Herr Sekretär schon Bescheid. Ich würde wegen der Rechnung anrufen, meinte er mit seiner geistesabwesenden, schläfrigen Stimme.
Siegfried: Von unserem Rechtsanwalt ist übrigens auch ein Schreiben da.
Kriemhild: (beschaut den Absender und gibt den Brief Siegfried wieder) Vom Hasbucht? Das ist sicher die monatliche Abrechnung. Ah, wie ich diesen Kerl hasse. Da brauch ich noch nicht einmal den Brief aufzumachen. Auf offener Straße könnt´ ich den umbringen! Diese Canaille! Wie kann man nur Hasbucht heißen!
Siegfried: Soll ich den Brief aufmachen?
Brunhild: Das Beste wär, wir schickten ihm das Schreiben zurück.
Kriemhild: Dann käm er übermorgen als Einschreiben zurück und dafür dürften wir dann nochmals eigens 100 Euro berappen. Gib her! Solange du auch nur einen Euro noch hast, fliegen dir die Staatsgeier ums Haus. Und hast du nichts mehr, dann sind es die Pleitegeier.
Siegfried: Sollte man statt Deutschland besser Geierland sagen.
Brunhild: Dann mach ihn schon auf! Lass hören, was er schreibt!
Kriemhild: (sie öffnet den Brief) Mal sehen, was er wieder für Dienstleistungen erfindet, die er uns in Rechnung stellen zu müssen glaubt. (sie liest) Für das Treffen mit dem Gutachter des elterlichen Hauses so wie für weitere Vorbereitungsarbeiten im Erbstreitigkeitsprozess in Sachen Erhard Eusal contra Siegfried Eusal gestatte ich mir zu berechnen - gestatte ich mir zu berechnen! Wie freizügig er doch ist! Wer hat Ihnen dazu die Erlaubnis gegeben?
Brunhild: Was gestattet er sich zu berechnen?
Kriemhild: 2 mal 246, 64 Euro und 1 mal 250 Euro macht 743,28 Euro. Was für hübsch erfundene Zahlen! 246 Komma 64, man achte auch auf das Komma 64. Alles hübsch zusammengezählt bis auf die letzte Stelle hinter dem Komma. Da hat sich der Herr Anwalt sicher länger den Kopf zerbrochen, als es ihm sein Stundenlohn eigentlich gestattet hätte.
Brunhild: Hätte er uns auch noch diese Zeit in Rechnung gestellt, so wär er gewiss über die tausend Euro hinausgekommen, unbeschadet, dass der Euro schon morgen nur noch die Hälfte wert ist.
Kriemhild: Dafür müssen wir ihn fast zu unseren Wohltätern zählen.
Brunhild: O dass es sie doch gäbe, die Himmelscherubim, die droben von den Mauern des himmlischen Jerusalem dieses elende Spektakel verfolgen, auf dass sie ihm mit ihren himmlischen Kleinkalibern ein Loch in den Hintern schössen! Hast du es wenigstens nachgerechnet?
Siegfried: (mit Taschenrechner) Ja, das stimmt.
Brunhild: Dann stimmt es vielleicht in der Algebra, in der Begründung aber noch lange nicht.
Kriemhild: Wir müssten eben die Freiheit haben, unsere Sachen selbständig vor Gericht vorzutragen.
Brunhild: Und das könnten wir gut. Ich bin längst so gut im Erbrecht belesen, dass ich besser Bescheid weiß als alle Rechtsanwälte, die wir bislang gehabt haben. Wenn die zu mir ins Examen müssten, die würden alle der Reihe nach durchfallen.
Kriemhild: Nur dass uns das nichts nützt. Im Gegenteil.
Brunhild: Leider. Jetzt müssen wir uns auch noch mitansehen, wie sich Ignoranz und Unfähigkeit bezahlen lassen.
Kriemhild: Und was gibt es noch?
Siegfried: Ein Schreiben, das heißt eine Rechnung von einem gewissen Herrn Prof. Dr. Nonnemaus aus der Heilig-Geist-Anstalt.
Brunhild: Von was für einem Chefarzt?
Siegfried: Nonnemaus.
Brunhild: Noch nie habe ich diesen Namen gehört. Du?
Kriemhild: Ich auch nicht. - (zu Siegfried) Chefarzt fürs Innere sagst du?
Siegfried: So steht es da.
Kriemhild: Wieder so ein Spezialist fürs Aufschneiden von Geldbeuteln? Die finden sich jetzt überall, selbst in den katholischsten Krankenhäusern.
Brunhild: Müssen auch die Ordensschwestern Kartoffelschalen fressen, das stört die Halbgötter in Weiß nicht. Arbeitsteilung war schon immer die Devise der Mutter Kirche. Und Armut, Demut und Gehorsam gehörten schon immer zum Brot der Kleinen.
Siegfried: Überstellt ist die Rechnung übrigens von der privatärztlichen Verrechnungsstelle.
Brunhild: Da bin ich aber doch gespannt.
Kriemhild: Der erste Betrug, den ich merkte, war damals bei der Geburt der Luise; das war noch im Musterkrankenhaus in Stuttgart, wo Siegfried draußen warten musste, bis die Geburt vorüber war, worauf sich der Herr Chefarzt erlaubte, Sachen in Rechnung zu stellen, die er sich im hohlen Bauch ausgeträumt hatte.
Brunhild: Mag er dafür in der Hölle schmoren.
Kriemhild: Doch nun lass hören! - Doch nein, gib lieber her! Ich will es mir selber anschauen! (liest) Ich beehre mich, Ihnen für die von mir erbrachten Leistungen Nr. 74, 48, 49 und 50 blablabla zu berechnen 723,33 Euro.
Brunhild: Doch wofür in Gottes Namen? Wofür, Herr Nonnenfuß?
Kriemhild: Untersuchung ihrer Tochter Brunhild. Untersuchung des Herz-Kreislaufsystem sowie sämtlicher gynäkologischen Organe und Funktionen ...
Brunhild: Warum nicht gleich Nr.1 bis Nr. 100? Man muss doch schließlich auch die Sekretärin und die Putzfrau bezahlen und die Miete für die Praxis und das Auto.
Kriemhild: Hätte er unsere Tochter gesund gemacht, wir hätten das noch akzeptiert; aber der Scharlatanerie und Ignoranz die Krone aufzusetzen und sich die Ehre zu geben, sich unehrenhaft zu bereichern, das kann nur ein ehrenwerter Mann. Aber da beißt er sich eher ein Stück Granit vom Straßenrand, als dass er von uns auch nur einen müden Euro sieht, auch wenn er für seine Traumvilla in Griechenland jetzt, beim griechischen Staatsbankerott, die 5-fache Grundsteuer bezahlen muss.
Brunhild: Ja, das ist gut so. Fahr so fort. Das vertreibt mir die Angst und beruhigt mich ein wenig.
Kriemhild: Aber das ist doch wahr! Europa, was ist denn das? Und was macht einen Europäer zum Europäer? Gibt es so etwas wie den Geist Europas? Dass es das einmal gegeben hat, bezeugt uns die Baukunst des Mittelalters. Wo aber regt sich jetzt der Geist Europas? Etwa im Streit und Händel stiftenden Euro? Überall stöhnt man, wo man ehedem zufrieden gelebt hat. Zufrieden sind jetzt nur noch die Bänker, die nun auch noch die Sitze in den Parlamenten und die Sessel der Regierungschefs sich ergattern, weil die landläufigen Politiker nichts mehr taugen. Außer hübschen Namen zur Krisenbewältigung haben sie noch nicht viel auf die Beine gebracht. Ah, wie sie damals allen haben weiß machen wollen, dass das das Beste sei. Aber unsereiner war ja nichts gefragt. Wir durften nicht darüber abstimmen. Da hatten sie Angst, wir würden ihnen alles vermasseln. Politiker müssen sich hier bei uns nicht dafür interessieren, ob sie im Volk eine Mehrheit finden. Bei den sie legitimierenden Bundestagswahlen genügt das Versprechen, dass die kleinen Bürger in ihrem Geldbeutel bald schon mehr Geld finden werden. Nur über unerhebliche Kleinigkeiten lassen sie uns in großartigen, teuren Volksentscheiden abstimmen, wie beim Stuttgarter Bahnhof und jetzt wieder, wo zur Debatte steht, ob die Nürnberger ihre Würste als Nürnberger Würste verkaufen dürfen, wenn nicht alle Zutaten aus Nürnberg stammen. Sie selber aber, unfähig die Zukunft zu sehen und zu gestalten, hinken der Gegenwart hinterher.
Brunhild: Das mit den Würsten und Würstchen ist gut. Nur weiter so!
Kriemhild: O, Würstchen gibt es noch die Menge, in männlicher und in weiblicher Ausgabe. Denke nur an den Euro und an die Stabilitätskriterien und an den Schwachsinn mit den Rettungsschirmen. Jeden Tag erfinden sie neue Rettungsmaßnahmen, während jedes der vielen einzelnen Mitgliedsstaaten lustig neue Schulden produziert. Dabei sieht schon jeder Grundschüler, dass das nie was gibt. Man brauchte eben eine eigene Hauptstadt, ein Washington Europas mit untergeordneten Bundestaaten. Solange es das nicht gibt, gibt es nur Geschwätz und Katastrophen und eine Währung, die vor die Hunde geht.
Brunhild: Und wie soll das geschehen?
Kriemhild: Man schließe die Zirkusse in Straßburg und Brüssel und mache Rom zur Hauptstadt Europas und Italienisch zur Amtssprache. Dagegen hätte sicher auch Julius Cäsar nichts, einer der Vorväter Europas. Ich liebe Rom und ich liebe Italien.
Brunhild: Warte ab! In 10 Jahren wird die Opposition entdecken, dass sie das alles schon vor 20 Jahren gesagt hat.
Kriemhild: Ein Schlafmittel für unsere Politiker wie auch für alle, die sich im Genuss ihrer hohen Ämter des Lebens erfreuen! Hoch lebe die Demokratie!
Siegfried: Man sollte den Bürger an den wirklich wichtigen Entscheidungen teilhaben lassen; das finde ich auch; dann wäre der Politiker gezwungen, Rede und Antwort zu stehen und Hintergründe aufzudecken; und man könnte dann auch die Wahlbeteiligung aller einfordern.
Kriemhild: Doch was hat uns die Post sonst noch gebracht?
Siegfried: Nichts Besonderes.
Kriemhild: Was denn?
Siegfried: Einen Brief von meinem ehemaligen Freund?
Kriemhild: An dich? - Zeig her! (sie öffnet den Brief) Vom Abel! Wenn ich nur den Namen höre!
Brunhild: Ich will einmal nachsehen, ob der Herr Erhard zu Hause ist und was er treibt. (eilt in ihr Zimmer zum Telefon)
Kriemhild: (sie liest, mehr für sich, während Siegfried ihr vom Gesicht abzulesen versucht, was im Brief steht) "Heimlich bewundere ich dich, wie du noch immer deine Frau verehrst, wenn diese sich auch längst zu einem unausstehlichen Scheusal verwandelt hat. Und doch musst du endlich einsehen, dass es der größte Unfug ist, sich in Erbstreitigkeiten einzulassen, zumal, wo noch der Vater unter das Testament gesetzt hat, nichts sei ihm wichtiger als das Einvernehmen der Geschwister. Und heißt es nicht in der Schrift? Seid sorglos; Gott sorgt schon für euch!" Blablabla "Oder meinst du, wenn er zurück auf die Erde käme" - das kommt er aber nicht mehr, dafür wollen wir schon sorgen! - "und ich ihm sagte, dass ich dir abgeraten habe zu prozessieren, er würde meine Mahnungen missbilligen?" - Wie reizend, Herr Oberlehrer Abel! Gott erhalte Ihnen Ihr Oberstübchen, wenn Sie meinen, mit einem solchen Brieflein könnten Sie uns imponieren oder Angst einjagen.
Siegfried: Wenn wir jemand hätten, der für uns sorgte, wir könnten vergnügt dahinleben wie die Vögel des Himmels. Aber alles zerfällt und die Sorge verzehrt uns.
Kriemhild: (zu Siegfried) Hübsch und nett, diese Ignoranz! Findest du nicht auch? Vor allem aber diese Arroganz, über uns auszusagen, dass wir, ausgerechnet wir, alles hätten, wo sie selber nichts plagt. Aber das sieht denen ähnlich. Nur gut, dass ich damals zu dir gesagt habe, dass das überhaupt nicht in Frage kommt, dass du denen ein Beet mit roten Rahnen in unserem Garten richtest. Das wäre noch schöner gewesen, wenn wir diese Schmarotzer auch noch unsererseits gefüttert und fett gemacht hätten. Selbst wenn du nicht mehr Talent hast, als zu einem Bauer oder Gärtner, so hätten wir dir stets verboten, deine Talente diesem trüben Gesellen feil zu bieten. Ja, selbst unseren Abfall gäbe ich denen nicht zu fressen! Wirf den Wisch nur gleich in den Papierkorb. Oder noch besser: Lass ihn da, dass wir ihn verbrennen. Dann wissen wir, dass er versorgt ist. (zu Siegfried) Doch komm her und setz dich neben mich. Dem wollen wir gleich eine Antwortpost schicken, die sich gewaschen hat. Der soll sich´s noch einmal einfallen lassen, uns zu behelligen. - Setz dich und schreib! "Mein Herr, wenn Sie nicht aufhören, uns zu belästigen, sehen wir uns genötigt, Sie wegen Mobbing anzuzeigen!" Hast du es?
Siegfried: "wegen Mobbing anzuzeigen". Hab ich. Und was noch?
Kriemhild: Nichts mehr. Das ist genug.
Siegfried: Soll ich noch hinzufügen "Mit freundlichem Gruß"?
Kriemhild: Das fehlte noch. Nichts dazu. Keine Unterschrift und nichts. Mit diesen Leuten muss man Klartext reden.
Brunhild: (durch den Vorhang aus ihrem Zimmer kommend) Der Erhard scheint nicht zu Haus zu sein. In Urlaub vermutlich. Fährt vier Mal im Jahr in Urlaub. Was für ein Leben!
Kriemhild: Lass gut sein, Brunhild.
Brunhild: Ja hab ich nicht auch einmal etwas Schönes verdient? Eine Ferienfahrt. Und wenn es nur an meine geliebte Nordsee wäre! Oder ein großes rauschendes Fest mit echten Freundinnen, beginnend am Abend bis zum frühen Morgen, wo wir musizierten und tanzten und läsen und freilich auch einem guten Schlückchen zusprächen! Das wär´s. Aber das wird nie sein. Ich kann ja nie mehr musizieren und tanzen. Ich bin nur noch ein Krüppel. - (zu Siegfried) Geh in den Stall!
Siegfried: Soll ich?
Kriemhild: Wenn sie sagt "Geh!", dann sollst du gehen. Das weißt du doch!
Siegfried: Und warum soll ich gehen? Vielleicht braucht sie was und ich könnte ihr helfen?
Kriemhild: Brunhild ist krank und du bist gesund. Das musst du verstehen.
(Siegfried kriecht in eine Art Hundehütte, die in eine der Zimmerwände eingelassen ist)
Brunhild: So verrückt es klingen mag, aber wenn wir den Wächter in der Hütte eingeschlossen haben, geht es mir schon wieder ein wenig besser. Als ob das Haus dadurch sicherer würde! - Und das ist der Brief von seinem Exfreund!
Kriemhild: Ein trauriger Schrieb, der den Namen Brief nicht verdient.
Brunhild: Hat ihn Siegfried gelesen?
Kriemhild: Er stand doch neben mir.
Brunhild: Und was hat der werte Herr geschrieben?
Kriemhild: Mist, nichts als Mist! Unausstehlich diese Leute, die überall glauben, das rechte Mittel zu wissen.
Brunhild: Unseren kleinen Wunsch damals konnte er nicht erfüllen. Dabei hat er doch einen Schwager, der Professor ist in der Klinik und nicht weiß, wo er hin soll mit seinem vielen Geld. Aber keinen Strich hat der für uns getan. Wollte mir ein soziales Jahr aufbrummen. "Dann wird es besser, das werden Sie sehen!" Das werde ich ihm nie vergessen. - Und das ist schon eine Antwortkarte? Hat Siegfried sie geschrieben? - Und du hast sie ihm diktiert? - War das nötig? Lass sehen! - "Mein Herr, wenn Sie nicht aufhören, uns zu belästigen, sehen wir uns genötigt, Sie wegen Mobbing anzuzeigen!" Das ist noch viel zu zahm für solche Dickhäuter und Trauerpflanzen. - Wenn ich nachsehe, ob er zu Haus ist und was er da treibt, dann kommt mir immer so ein hässliches und unbeholfenes "Hallo" von ihm ins Ohr. Als stünd er unter Blinden und Beutelschneider bedrohten ihn.
Kriemhild: Ich hoffe, dass wir ihn nun los sind.
Brunhild: Gebe es Gott! Manchmal mein ich, seit Siegfried den Kerl nicht mehr besucht, treibt er sich hier bei uns herum, um uns auszuspionieren.
Kriemhild: Aber das ist doch Unfug.
Brunhild: Übrigens hab ich vergangene Nacht geträumt. Es war tief im Winter in tiefer Nacht. Da sah ich, wie Opa Eusal aus seinem Haus kam, zusammen mit unserem Hausschätzer. Der Opa schien verärgert über den Hausschätzer, dass der schnell vom Haus verschwand. Dann ließ er sich ein Pferdchen und einen Schlitten bringen, setzte sich in den Schlitten, deckte sich den Pelz über, nahm die Peitsche und fuhr davon. Einige Leute sahen ihm zu, wie er davonfuhr. Ich sah noch, wie sie die Köpfe schüttelten. Doch dann sah ich ihn auch schon in unsere Straße einbiegen. Siegfried, sagte ich, soll nachsehen, dass die Haustüre nicht offen steht, wie sonst so oft. Du sagtest, das Vorlegeschloss sei längst vorgelegt. Da käme keiner herein. Ich traute dem Frieden nicht und eilte an die Haustüre. In dem Augenblick wollte der Opa auch schon herein. Ich schrie und konnte es eben noch verhindern. Später dann träumte mir abermals, dass er gekommen wäre. Du gingst ans Fenster und schautest herunter. Da stand er vor dem Katzeneingang und wartete. Und siehe da, die Katze kam. Und er ergriff sie und schlug sie gegen die Hauswand, zweimal, dreimal, bis das Tier tot war. Dann warf er sie gegen unser Fenster und schellte Sturm, dass das ganze Haus davon dröhnte.
Kriemhild: Das kann man sich so recht vorstellen.
Brunhild: Natürlich war das nur ein Trick, dass wir aus dem Haus kämen.
Kriemhild: Das verfängt bei uns nicht.
Brunhild: Aber hat es da nicht eben geschellt? (sie geht ans Fenster)
Kriemhild: Was meinst du?
Brunhild: Ob es nicht geschellt hat, draußen vor der Tür?
Kriemhild: Das hast du erzählt. In deiner Erzählung hat es geschellt.
Brunhild: Da, schon wieder.
Kriemhild: Ich habe nichts gehört (geht auch ans Fenster)
Brunhild: Und was ist das da?
Kriemhild: Auf dem Gehsteig? - Das sind die Schatten der letzten Jahrblätter unserer Platane. Vom Wind zerzaust und vom Zimmerlicht überstrahlt treiben sie ihr Unwesen auf der Straße.
Brunhild: Im Sommer war davon noch nichts zu sehen. (sie setzt sich wieder) Und doch ist jemand drunten bei der Haustüre.
Kriemhild: Jetzt um Mitternacht?
Brunhild: Und wenn es nur der Pfarrer ist mit seiner penetranten Art. - Siegfried soll nachsehen.
Kriemhild: Siegfried!
Siegfrieds Stimme: Was ist? Was gibt es?
Brunhild: Wenn wir rufen, sollst du sofort kommen. Wie oft müssen wir dir das noch sagen?
(Siegfried kommt aus der Hütte)
Kriemhild: Sieh nach, ob jemand vor der Haustüre steht.
Siegfried: Was soll ich tun?
Brunhild: Nachsehen, ob jemand an der Haustüre geläutet hat. Aber nur durchs Guckloch! Nicht aufmachen! - Ich bin gespannt, ob er das so macht, dass wir einmal mit ihm zufrieden sind. - Überhaupt, sind wir nur deswegen noch aufgeblieben, um uns nicht den ersten schönen Schlaf von Hochwürden stören zu lassen. Wüssten wir genau, dass uns niemand mehr stört, so schliefen wir doch schon längst. Aber der kommt mir nicht mehr herein und mag er es versuchen wie die törichten Jungfrauen.
Siegfrieds Stimme: Kriemhild! Draußen vor der Tür steht der Vater!
Kriemhild: Wer?
Siegfrieds Stimme: Der Vater!
Brunhild: Welcher Vater?
Siegfrieds Stimme: Mein Vater!
Kriemhild: Dir träumt wohl.
Siegfrieds Stimme: (zum Vater) Sag du ihnen, dass du es bist!
Kriemhild: Komm hoch, wenn es weiter nichts ist!
Brunhild: Und sag ihm, dass er schon lange tot ist. Oder dass er sich in der Hausnummer geirrt und nichts bei uns zu suchen hat.
Siegfrieds Stimme: Er greift durch die Türe.
Kriemhild: Du willst uns wohl Angst einjagen. (zu Brunhild) Das wird ja immer besser. Doch warte, ich schau nach!
Kriemhild: (von oben beim Zimmerausgang das Treppenhaus hinabrufend) Komm endlich!
Siegfrieds Stimme: Da sieh doch! Ich kann ihn nicht hindern. Er greift durch!
Kriemhild: Dann hindere ihn gefälligst daran! - Hau drauf!
Siegfrieds Stimme: Wie kann ich da drauf hauen?
Kriemhilds Stimme: Nehmen Sie Ihren Arm da weg! Das ist Hausfriedensbruch.
Siegfrieds Stimme: Das ist doch der Vater. Ich weiß es. Er sprach mich an und sagte: "Siegfried!" Und da hab ich, eh ich mich versah, auch schon geantwortet: "Vater!"
Kriemhild: Er kommt vielleicht aus dem Schwarzwald oder aus dem finsteren Wald.
(Man hört, wie die Haustüre auf geht.)
Kriemhilds Stimme: (während sie zur Haustüre eilt; die Bühne steht jetzt leer, da Brunhild auf ihr Zimmer gegangen ist) Das wird immer besser. So passt du auf uns auf?
Siegfrieds Stimme: Was konnte ich tun?
Stimme des Vaters: Gnädige Frau, warum versperren Sie mir den Weg?
Kriemhilds Stimme: Wenn Sie gekommen sind nachzusehen, wie es Ihrem Herrn Sohn geht, so wäre, wie ich meine, eine Anmeldung am Platz gewesen.
Stimme des Vaters: Ich hoffe, ich bin willkommen!
Kriemhilds Stimme: Da wir auf einen Besuch nicht gefasst sind und wir mithin auch der Rolle eines Gastgebers herzlich schlecht nachkommen können, wäre mir lieb, Sie gingen wieder.
Stimme des Vaters: O, nur keine Angst, gnädige Frau. Falls Sie jemand wegen ihrer schlechten Wirtschaft anklagen sollte, können Sie meines vollen Verständnisses sicher sein. Nicht wahr, Elli? Daran haben wir gedacht und haben hier auch etwas mitgebracht.
Kriemhilds Stimme: In dem Türkenkoffer da? Pardon. Ich meine, in dieser Plastiktüte.
Vater: Gnädige Frau wird schon sehen. Führen Sie uns in ihre Wohngemächer!
Kriemhilds Stimme: Wenn ich ihn nicht loswerden kann, so komme er eben. Und doch muss ich sagen, dass mir das nicht gefällt.
Stimme des Vaters: O da wird Ihnen wohl noch so manches nicht gefallen. Machen Sie sich nur schon gleich darauf gefasst!
Kriemhilds Stimme: So ist er als unser Feind gekommen?
Stimme des Vaters: Im Namen der Gerechtigkeit bin ich gekommen.
Kriemhilds Stimme: Also nicht im Namen der Liebe! (sie schreit plötzlich auf) Ahhh!
Stimme des Vaters: Was soll das?
Kriemhilds Stimme: Ich wollte um Hilfe schreien, Sie loswerden und uns befreien; aber es kam nicht besser heraus.
Stimme des Vaters: Das nützt hier nichts.
Kriemhilds Stimme: Allerdings. Das Beste, was ich erreichen kann, ist, dass unser Lumbieck die Nase ins Treppenhaus herausstreckt.
Siegfrieds Stimme: Geht es jetzt wieder?
Kriemhilds Stimme: (zu Siegfried) Auf den haben wir gerade noch gewartet! - Geh du in dein Zimmer und versuch mit der Polizei Kontakt aufzunehmen. Ganz unauffällig. Nur für den Fall des Falles. Ich denke aber, mit den beiden schon alleine fertig zu werden. - (zum Vater) Und da hat er auch noch Elli, sein entzückendes Töchterchen, mitgebracht, falls sie es ist. Wie reizend. War verheiratet mit Achmed, dem Türken. Fehlt jetzt nur noch die Frau Mama.
Stimme des Vaters: Und mein Ältester, Erhard.
Kriemhilds Stimme: Ach ja. Wie konnte ich nur den Schwager Erhard vergessen? Aber wir werden sein Fehlen hoffentlich verkraften, so Gott will.
Der Vater erscheint im Zimmer; dann Kriemhild und Elli
Kriemhilds Stimme: Hier geht es noch immer ins Wohnzimmer, falls es die Herrschaften vergessen haben.
Vater: Danke vielmals, gnädige Frau
Kriemhilds Stimme: Und auch Sie, Frau Gylik. Ist uns ein Vergnügen! Hier geht es lang! - Darf ich die Herrschaften bitten, auf dem Kanapee Platz zu nehmen?
Vater: Danke vielmals, gnädige Frau
Kriemhild: Man wird es mir kaum glauben; noch immer aber zweifle ich, ob Sie es sind, die uns da überrascht haben.
Vater: Wer sollte es sonst sein? Oder haben Sie Angst vor uns und wünschen sich, dass wir jemand anderer wären?
Kriemhild: Am liebsten würde ich ein Licht anzünden, um auch noch die letzte Sicherheit zu haben, dass Sie es wirklich sind.
Vater: Zünden Sie nur. Hier bläst es Ihnen kein Wind aus.
Kriemhild Da hat man sich nun schon über 10 Jahre aus den Augen verloren und dann plötzlich tauchen Sie auf! Fast gelüstet es mich zu fragen, wer Sie hergebracht hat.
Vater: Fragen Sie nur, so viel Sie wollen!
(Die Uhr schlägt 24Uhr)
Kriemhild: Immerhin bekommt man nicht alle Tage just um Mitternacht die Ehre eines solchen Besuchs.
Vater: Wir kommen eben wie die Wühlmäuse und die Maulwürfe. Die arbeiten fortwährend im Dunkeln, schaufeln und schaufeln im Untergrund, bis der Weg nach draußen frei ist.
Kriemhild: Womit kann ich den Herrschaften dienen? - Ein Likörchen gefälligst? (sie stellt Likörgläschen auf den Tisch und schenkt ein)
Vater: Nur keine Anstrengungen, gnädige Frau!
Kriemhild: Das macht keine Anstrengung. Das geht schnell.
Vater: Und wohl auch schnell vorbei, das meinten Sie doch?!
Kriemhild: Dann mal zum Wohl! - Darf ich fragen, weshalb Sie gekommen sind und was Sie mit diesem, doch so ungewöhnlich späten Besuch verbinden?
Vater: Was die Tagesordnungspunkte oder besser gesagt die Nachtordnungspunkte angeht, so kommt das ganz auf Sie an, gnädige Frau.
Kriemhild: (während sie schnell noch einen Buddha wegräumt und dafür ein Kruzifix aufhängt) Auf mich kommt es an? Das ist ja originell. So hätte ich zu bestimmen, was wir hier noch miteinander zu verhandeln haben?
Vater: So ist es. Wir sind gespannt.
Kriemhild: Doch trinkt nur fest! Ich muss nur noch ein paar Sachen zurecht stellen. Ich war gerade dabei, als der Überfall kam.
Vater: Vielleicht hätte es der gnädigen Frau mehr zugesagt, wir hätten Sie nicht überfallen?
Kriemhild: Allerdings. Überfälle, selbst wenn nicht geraubt und getötet wird, haben immer etwas Unverschämtes an sich. - Verzeih mir Buddha, wenn ich dich von deinem Podest herabgeholt und deinem Bruder den Platz einräumt habe. (wieder Platz nehmend)
Vater: Unseretwegen hätten Sie keine Umstände machen müssen, gnädige Frau. Unseretwegen muss hier kein Kruzifix hängen.
Kriemhild: Das Kreuz hing schon immer hier, wenn Sie das meinen. Seit Mutters Tod. Nur eben gestern mussten wir es einmal abhängen, weil sich Spinnweben dahinter breit gemacht haben. Ich war eben dabei, es wieder an seinen angestammten Platz zu bringen, als du kamst.
Vater: Und der Buddha, wo hat der seinen angestammten Platz?
Kriemhild: Vielleicht darf ich dazu anmerken, dass wir nach Mutters Tod die Einzigen waren, die auf den rechten katholischen und apostolischen Glauben pochten. Da hättest du sehen sollen, was für eine schreckliche Annonce Erhard und Hildegard und Elli in die Zeitung rückten.
Vater: Was muss ich da von dir hören, Elli?
Elli: Wir haben viele Verwandte und Bekannte, die nicht alle die Botschaft des Christentums verstehen. Da entschlossen wir uns, eine für alle Europäer verständliche Annonce in die Zeitung einzurücken.
Kriemhild: Wohl auch für die Riesenverwandtschaft, die Elli zukommt von Seiten des Mannes, oder soll ich sagen, von Seiten des Halbmannes, der aus der Türkei, dem Land des Halbmonds, stammt; im Sommer ist der immer in der Türkei bei seinen anderen Frauen, von denen er ja auch Kinder hat, während Elli unfruchtbar geblieben ist. Und zu einer katholischen Hochzeit ist es ja auch nie gekommen. Aber das wollte der ja auch nicht, sonst hätte er seinen ganzen Harem auflösen müssen.
Vater: Genug, genug.
Kriemhild: Du selber warst damals außer dir über diesen Skandal. Das hast du wohl schon vergessen; es ist aber dennoch die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Überhaupt, wozu ist die Nacht nicht gut, wenn nicht, um alles zu vergessen, was einen noch an die Menschheit fesselt.
Vater: Vieles vergisst sich; das ist wohl wahr.
Kriemhild: Aber nicht alles? Zum Beispiel, wenn man einem etwas anhängen will? Und das kann man ja sogar, wenn man als liebender Vater kommt? Oder hab ich nicht Recht? Solche Sachen soll es ja schon gegeben haben, nicht wahr, lieber Heiland, dass einen der eigene Vater zum Tod verurteilt hat. Aber täusch dich nicht. Wir haben schon so viel einstecken müssen, dass wir dagegen ziemlich resistent sind.
Vater: Ich verstehe. Ein geprügelter Hund kann nicht abgehärteter sein. Das ist gut so. Dann noch einmal Prost! (er trinkt)
Kriemhild: Wenn ich noch einmal auf Mutters Tod zu sprechen kommen darf.
Vater: Das ist nicht nötig.
Kriemhild: O doch. Ich meine, eine Klarstellung dieser Dinge kann nie was schaden und wenn es auch die kleinsten Kleinigkeiten betrifft. - Wir schämten uns nämlich.
Vater: Vermutlich kann man sich von dieser Scham keinen Begriff machen.
Kriemhild: Behalte jetzt deinen Spott für dich. Ich will jetzt etwas Ernstes sagen.
Vater: Nur heraus mit dem Ernst. Mir ist es auch Ernst!
Kriemhild: Zum Glück hatten wir Brunhild, die sich der Sache angenommen hat. Die hat dann ganz im Sinne ihrer tiefreligiösen Oma ein Totenbildchen entworfen, das sich sehen lassen kann.
Vater: Von allen Europäern?
Kriemhild: Sofern sie guten Willens sind.
Vater: Und weiter?
Kriemhild: Vorn drauf ist das Bild der Gnadenkapelle von St. Ottilien zu sehen. Dann kommen auf der linken Innenseite die Lebensdaten der Verstorbenen und rechts dann ein Lied, ein Hymnus, ein Lobpreis auf Gottes Herrlichkeit.
Vater: Schau dir den Herrn Jesus an, Elli, wie neugierig er den Kopf zu uns streckt, um zuzuhören.
Kriemhild: Da gibt es allerdings auch einen Grund. Denn Brunhild hat da einen großen bedeutsamen Hymnus entworfen.
Vater: Mag sein.
Kriemhild: Ja gewiss, so ist es. Wie ein Nachruf ist er ihr über die Lippen gegangen. Das Herz ist kalt, hat sie gesagt; es würde sich gerne erwärmen; aber niemand ist da, der mitsingt. Es mag aber auch sein, dass der Herr Jesus staunt, weil Elli aus der Kirche ausgetreten ist.
Elli: Ich bin nicht ausgetreten.
Kriemhild: Was denn sonst?
Vater: Ich wünsche darüber keine Debatte. Wir haben keine Richtigstellung nötig und schon gar keine Zurechtweisung. Keiner von uns hat sich jemals erkühnt, mit dem Christentum fertig zu werden. Das Christentum nimmt seinen Weg und wir nehmen unseren Weg; und manchmal kommt es uns vor, dass wir einander etwas näher kommen und sehen, was für einen Weg der andere nimmt.
Kriemhild: Doch dann antworten Sie mir nun endlich, weshalb Sie gekommen sind! Denn wenn es wirklich auf mich ankommt, so sage ich, wir sind einander etwas näher gekommen und haben gesehen, was für einen Weg der andere nimmt. Das war sehr schön, wir haben uns gut unterhalten und sagen einander das Lebewohl.
Vater: Wir haben es doch wohl nicht ganz so eilig!
Kriemhild: Der Haushalt mit einer schwerkranken Tochter kann gar nicht ohne Eile absolviert werden.
Elli: Immerhin habe ich euch da auch noch etwas mitgebracht, was ihr für einen Beweis nehmen mögt, dass ich nicht als Feind gekommen bin. (sie packt Tannenzapfen aus und eine Trommel und kleine Flöten.)
Kriemhild: Und was soll uns der Heidenramsch? Sollen das Tannenzapfen sein für den Weihnachtsbaum? Und das da Flöten vom Basar aus Istanbul, um sie dem Christkind neben die Krippe zu legen? Wir brauchen das Zeug nicht.
Vater: Gemach, gemach! Siegfried hat immerhin an Weihnachten Geburtstag. Da, schau doch Elli! Siehst du nicht, wie der Herr Jesus am Kreuz wächst?
Elli: Ja, ich sehe es auch.
Kriemhild: Ich sehe nichts; vielleicht dass nur Ihr sein Interesse erregt?
Vater: Zum Glück haben wir doch Brunhild, das Fräulein Tochter. Sie ist doch theologisch gebildet. Vielleicht, dass sie uns sagen kann, ob Elli dem Gekreuzigten die Sächelchen schenken soll, wenn ihr sie nicht haben wollt? Wo ist sie?
Kriemhild: Darüber kann sie auch noch morgen nachdenken, zumal wo wir eben dabei sind, uns zu verabschieden.
Vater: Sie soll herkommen.
Kriemhild: Das hört sich ja an wie ein Befehl aus der Kaserne. Dabei sind wir doch schon zu Ende gekommen. Der Likör ist getrunken und die Geschenke sind niedergelegt.
Vater: Konträr. Wir haben gerade erst angefangen. Den Likör zum Empfang haben wir getrunken und ein paar der kleineren und nebensächlichen Mitbringsel haben wir überreicht. Also, wo ist das Fräulein Tochter?
Kriemhild: Darf ich anmerken, dass Brunhild ein schwer kranker Mensch ist und dass sie sich hingelegt hat?
Vater: Das ändert nichts.
Kriemhild: Dann soll ich sie wecken?
Vater: Ja, schwebt sie denn schon auf meinen bloßen Wunsch herbei?
Kriemhild: Und wenn sie schon schläft?
Vater: Sie kommt, und wenn sie schon gestorben wäre!
Kriemhild: Er Komödiant! Das Theater beherrscht er noch immer wie kein Zweiter. Doch bilde er sich nur nichts darauf ein! Wir haben ihn durchschaut. Er spielt den Komödianten, wie er es gelernt hat, wenn er es als verknöcherter Schulleiter mit hilflosen Schülern zu tun hatte. Das stell ich mir sehr nett vor, wenn er dann mit so einer hartherzigen Grimasse einen von den Kleinen, der hilflos schlotternd vor ihm gestanden, abgekanzelt dem Hausmeister übergeben hat zwecks Übersiedlung in den kalten, kohlenschwarzen Karzer. Ja, das hat er sich offenbar zur zweiten Natur gemacht: den Zuchtstock zu schwingen und andere abzuprügeln, um dann glücklich zu sein, wenn er auf dem Schlachtfeld zurückbleiben konnte, allein, nur begleitet von der Viktoria seiner Schadenfreude. Jetzt beginnt mir auch zu ahnen, warum der Herr Jesus den Kopf zu uns gestreckt hat.
Vater: Nur keine Sorge! Wir behalten den Herrn Jesus schon im Auge. Doch nun herbei mit der Kleinen!
Kriemhild: So wäre sie der Grund des Kommens?
Vater: Wir brauchen sie, um ihre Meinung zu erfragen.
Kriemhild: Er redet, als ob es das Vernünftigste wäre, die Verzweiflung, die vor der Türe steht, gar nicht lang warten zu lassen.
Vater: Wenn man die Verzweiflung in Kauf genommen hat, hat es das Gute, dass sie einen nimmer unversehens überfallen kann. Doch jetzt soll das Fräulein Tochter her. Ich will es nicht noch einmal sagen. Also, los jetzt! Keine Zicken mehr!
(Kriemhild will aufstehen und Brunhild wecken gehen)
Vater: Bleib hier und ruf ihr!
Kriemhild: Das wird sie nicht hören.
Vater: Ruf ihr!
Kriemhild: (sie ruft leise) Brunhild?
Vater: Eine Spur lauter, wenn ich bitten darf.
Kriemhild: Das bring ich nicht fertig
Vater: (er ruft) Brunhild!
Brunhilds Stimme: (aus einem nur mit Vorhang abgetrennten Nebenraum) Was gibt es?
Vater: Komm her!
Brunhilds Stimme: Das geht nicht. Ich habe zu tun. Ich studiere Zivilrecht.
Vater: Ich dachte, sie schläft! - Und nun studiert sie Zivilrecht?
Brunhilds Stimme: Erbrecht, wenn du es genau wissen willst.
Vater: Was?
Brunhild: Im Mietrecht.
Vater: Und Erbrecht und Mietrecht, das tust du alles im Schlaf? O ja; der Herr gibt es den Seinen im Schlaf.
Brunhilds Stimme: Lass mich arbeiten!
Vater: Jetzt aber, dalli, dalli!
(Das Zimmer ist durch einen Vorhang getrennt vom Wohnzimmer.)
Brunhild: Ich bin ich es nicht gewohnt, dass man mich bei meinen Arbeiten stört.
Vater: Und ich bin es nicht gewohnt, dass man nicht kommt!
Brunhild: Nicht einmal einen Satz kann man mehr fertig schreiben.
Vater: Das würde dann so ein Satz werden, der sich bis zum Jüngsten Tag entlangzieht und hinauswindet. Das könnte dir gefallen.
Brunhild: Immerhin hätte man sich ankündigen können. Es ist nicht meine Art, alles stehen und fallen zu lassen, wenn einer zu Besuch kommt.
Vater: Wenn ich zu Besuch komme, hat Madame zu erscheinen.
Kriemhild: Opa ist gekommen, seiner Enkelin einen Krankenbesuch abzustatten. Er freut sich darauf, zu erfahren, was du in der Zwischenzeit gearbeitet hast. Nicht wahr, Opa?!
Vater: Nichts da! Ich bin verärgert über ihr Benehmen.
Kriemhild: (indem sie der Tochter ein Likörgläschen hinstellt und eingießt, zu Brunhild) Nimm nur ruhig Platz! Großväterchen tut dir nichts. Er spielt nur ein wenig Komödie. Ihm beliebt, sich hinter einem Käsperchen zu verstecken. Er ist ein Verstellungskünstler, wie es keinen zweiten gibt. Er kommt zu uns wie einer jener Erzähler aus 1001 Nacht, die gewohnt sind, einem die schlaflose Nacht hindurch zu erzählen.
Brunhild: Ich habe keinen Bedarf nach einem solchen Erzähler. Es hätte ihm besser angestanden, sich schuldig zu fühlen, weil er noch gehen kann, und hätte von diesem nächtlichen Überfall Abstand genommen.
Vater: Täusch sich die Kleine nur nicht! Das Gehen war für mich mindestens ebenso anstrengend wie für sie.
Kriemhild: Trinken wir auf die Versöhnung und gehen dann zu Bett!
Brunhild: Ich trinke nichts. Ich bin hundemüde und muss gleich ins Bett.
Vater: Nichts da! Madame bleibt hübsch da, bis wir unseren Fall zu Ende gebracht haben.
Brunhild: Was für einen Fall? Gibt es hier Fälle zu behandeln? Ja, wo sind wir eigentlich, wenn ich fragen darf?
Vater: Das wird sie schon bald sehen! Wenn sie nur die Äuglein munter wach und offen hält.
Kriemhild: Ich würde vorschlagen, dass wir uns auf gut Deutsch weiter unterhalten! Ohne drohende Unterstimme.
Vater: Vielleicht, dass gnädige Frau etwas Drohendes heraufkommen hört? Das soll es geben, dass selbst die liebenswürdigsten Worte in der Brandung eines schlechten Gewissens zu drohender Gischt zerschellen.
Brunhild: Was hab ich mit euch zu tun?
Vater: Das wird sich herausstellen. Doch lassen wir uns Zeit! Richten wir alles zu Recht!
Kriemhild: Ich habe dem Großvater erzählt, dass du einen großen bedeutsamen Hymnus gedichtet hast, der ihn interessiert. Sodann hat Tante Elli ein paar Sächelchen mitgebracht, die sie dem Jesuskind schenken will.
Vater: Trödlerkram hat sie es doch genannt.
Kriemhild: Was immer du im Schild führen magst, an mein Kind lass ich dich nicht heran. Da bin ich wie eine Katze, die ihre Jungen beschützt.
Vater: So sag ich denn jetzt zum Fräulein Tochter, verständlich und auf gut Deutsch: Du gehst jetzt in die Küche und setzest zwei Liter Wasser auf.
Brunhild: Ich soll Wasser aufsetzen? Jetzt? Wozu braucht er jetzt warmes Wasser? Soll ich ihm wohl noch seine müden Wanderfüße waschen, ehe er sich schlafen legt?
Vater: Das Schlafen-Legen hat keine Eile. Das wollen wir besorgen, wenn wir alles hinter uns gebracht haben.
Brunhild: Dann besorg er es nur. Ich störe ihn nicht. Ich geh in mein Zimmer und lege mich schlafen.
Vater: Du bleibst da.
Brunhild: Und wenn mir nicht gut ist?
Vater: Dann bleibst du auch da.
Kriemhild: Das ist zu viel, so geht das nicht. Schließlich ist sie schwer krank. Ich habe es schon gesagt. Drum bitte ich dich, mit freundlichen Worten die Bitte an sie zu richten, dir zwei Liter Wasser für deine müden Wanderfüße zu wärmen. Und dann will ich hingehen und dir deinen Wunsch erfüllen. Dann kann sie ins Bett.
Vater: Sie geht jetzt in die Küche! Ab, marsch jetzt! Zwei Liter Wasser aufgesetzt und zum Kochen gebracht! - Wird´s bald!
(Brunhild geht in den Küche nebenan, wo sie bleibt und dem Geheiß nachkommt. Die Türe seht offen)
Kriemhild: Ist das nicht etwas brutal?
Vater: Nur weil das Fräulein Tochter, dieses Eisenköpfchen, immer ihren Willen durchsetzen muss! Als ob sich das Weltall vorgenommen hätte, sich um nichts als um diese Rotznase zu drehen. Und damit es die gnädige Frau Mutter nicht vergisst: Ich bin nicht gekommen als einer aus der Schar der Verehrer, denen man leicht die Türe weist, wenn er vergessen hat, das Fräulein zu bestaunen ob ihrer herrlichen Dichtkunst. Ein Schmollmündchen oder ein Schnütchen, selbst wenn oben drauf noch das Sahnehäubchen eines giftigen Blickes thront, beeindrucken mich so wenig, wie wenn sie die Macht hätte, Grillenvögel aus den Fingerspitzen fliegen zu lassen.
Kriemhild: Dass er in feindlicher Absicht gekommen ist, muss er uns nicht noch lange erweisen. Das wissen wir längst, wenn es uns auch immer noch irritiert, da er ja schließlich Siegfrieds Vater ist. Doch was soll das verworrene Gerede von den Grillenvögeln aus den spitzen Fingern?
Vater: Die Frage ist gut und wichtig und zur rechten Zeit gestellt. Ganz Recht hat gnädige Frau, wenn sie auf verworrene Gespinste hinweist. Diese zu entwirren reichen wohl zehn Fingerspitzen noch nicht aus, von denen ein jeder wie eines der zehn Gebote auf sich aufmerksam macht. O gnädige Frau, um das Gespinst zu entwirren, muss man vor allem, was mit Fingern zu tun hat, höchsten Respekt haben.
Kriemhild: Keine Umschweife. Heraus mit der Sprache!
Vater: Schon die größten Gottesgelehrten haben hingewiesen auf den Finger an des Vaters Hand.
Kriemhild: Glaubt er, wir hätten ihn ins Haus gelassen, wenn wir gewusst hätten, dass er als ausgesprochener Feind kommt? Wie? Oder ist es Sitte, dass man als Feind kommt, wenn man als Vater kommt?
Vater: Keiner hat mich hereingelassen. Im Gegenteil. Nachdem ich mich nun einmal entschlossen hatte, den weiten Weg zu machen, hab ich mich von niemandem abhalten lassen. Indessen ist manches längst nicht mehr Sitte, was einmal gute Sitte war.
Kriemhild: Auch dass sie nicht seine Magd ist, die Wasser aufsetzen muss, war seit jeher Sitte.
Vater: Sie tut, was ich sie heiße. Das war schon immer Sitte.
Kriemhild: Und was soll das heißen: was ich sie heiße?
Vater: Ja, zum Teufel! Bin ich eine Erklärung schuldig, wenn es ums Wasser aufsetzen geht? Wasser aufsetzen heißt Wasser aufsetzen! Aber so viel mag gnädige Frau darüber hinaus noch wissen: Das Wasser werden wir weder für meine Füße benutzen, noch für einen Quarkumschlag für die kranken Beine von Fräulein Tochter. Mit dem Wasser kochen wir ein Süppchen.
Brunhilds Stimme: (die alles sich mit anhört) Und wer will ein Süppchen? Ist er zu armen Leuten gekommen, die Not leiden?
Vater: Jawohl, zu eben solchen Leuten bin ich gekommen. Oder vielleicht noch schlimmer, zu Leuten, die am Verhungern sind. Die Armen und Notleidenden wissen zumeist um ihre Not und sie sind dann dankbar, wenn man ihnen ein Süppchen reicht. Hier aber herrschen Armut und Not im Untergrund, dass man wohl unter ihren Auswirkungen leidet, ohne aber ihre Ursache zu erkennen.
Brunhild (ins Zimmer tretend): Wenn er uns ein Rebhuhn mitgebracht hätte oder einen französisch zubereiteten Fasan, da könnte man ja noch zustimmen. Aber ein Süppchen, aus nichts als Wasser, gewürzt mit Pfeffer und Salz, das wird nicht einmal ihn vor dem Verhungern erretten.
Vater: Wenn das Wasser kocht, nimmst du die Zutaten für die Suppe, die Elli mitgebracht hat und tust sie in den Topf. (er reicht ihr die Tüte) Dann rührst du das Ganze sehr fleißig um auf kleiner, anhaltender Flamme, bis das Fleisch durchgegart ist.
Brunhild: Eine Suppe mit Fleischstückchen soll ich anrichten?
Vater: So ist es. Dann nimmst du die Suppe vom Herd und trägst sie auf.
Brunhild: Und dann?
Vater: Dann wird fleißig gegessen.
Brunhild: Darf ich fragen, wer fleißig Suppe essen will? Ich habe schon zu Nacht gegessen und bin vollauf satt, auch wenn du meinst, ich wäre am Verhungern. (mit den Zutaten in die Küche gehend) Und wenn es auch eine Suppe wäre, nach der der Kaiser von Persien sich die Lippen leckte, ich esse nichts davon.
Vater: Wart sie nur ab! Selbst Fräulein Tochter wird mir dann Recht geben, dass sie noch nie ein so gut gepfeffertes und gesalzenes Süppchen gegessen hat. Da werden wir dann alle traurig sein und betroffen, wenn der Boden des Suppentopfs zum Vorschein kommt. Aber gib Acht, denn die Einlagen sind kostbar.
Kriemhild: Aber sie hat dennoch Recht. Denn wozu soll einer von uns etwas essen, wenn wir alle satt sind? Hast du nicht selber gesagt, dass du nicht gekommen bist, uns Arbeit zu machen? Und nun soll das arme Kind noch in der Küche arbeiten? Oder bist du etwa hungrig?
Vater: O ja, ich bin sogar sehr hungrig. Ein Wolf, der seit einer Woche nichts mehr gegessen hat, kann nicht hungriger sein als ich.
Brunhilds Stimme: Nur dass ein Wolf nichts isst, sondern alles nur hinunterschlingt und frisst.
Vater: Du wirst sehen, mein Kleines, wie lustig das ist, wenn wir auch noch den allerletzten Rest aus dem Topf löffeln.
Brunhild: (wieder ins Zimmer tretend) Und dann?
Vater: Anschließend werde ich dafür sorgen, dass man dir den Löffel hinters Ohr steckt. - Und nun ab in die Küche!
Brunhild: Soll ich?
Kriemhild: Tun wir ihm den Gefallen und lassen ihn den Kleindespoten spielen. Schließlich ergab sich ihm früher als Tatzenstockschwinger nie eine Sternstunde für seine Männlichkeit.
Brunhild: Aber dann ist Schluss.
Kriemhild: Allerdings. Wenn die Suppe angerichtet ist, ist Schluss!
Brunhild (ab in die nebenan befindliche Küche) Aller Männersternstunde zum Trotz geh ich dann aber ins Bett!
Vater: Und wo ist der Herr des Hauses? Der Maitre de la maison? Ich meine, wo ist Monsieur le Concierge, der Hausmeister? Wohin hat er sich verzogen? Gnädige Frau mutmaßte, ich sei nur gekommen des werten Töchterchens wegen; das ist zwar nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Schließlich hat ein Vater stets auch ein Interesse an seinem Herrn Sohn. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, so heißt es; vielleicht aber sollte man hier sagen: der Stamm befindet sich nicht weit entfernt vom gefallenen Apfel? Wo ist er? Hat ihn das Türe-Öffnen so angestrengt, dass auch er sich hat im Bett verstecken müssen?
Kriemhild: Was weiß ich?
Vater: O, du weißt es ganz genau. Du hast ihn doch weggeschickt, die Polizei zu alarmieren. Als ob ich das nicht gehört hätte.
Siegfried: (eintretend) Ich bin ja hier.
Vater: Und was hat der Herr zu tun, dass es ihn hindert, dem Besuch seines Vater mit der nötigen Hochachtung zu begegnen? Ist das das rechte Verhalten für einen Sohn, wenn der Vater kommt, zuerst ihm die Türe nicht zu öffnen und dann Reißaus zu nehmen, um die Polizei zu alarmieren?
Siegfried: (er bleibt stehen) Ich habe keine Polizei alarmiert.
Vater: Lüg nichts zusammen!
Siegfried: Ich habe nur noch schnell ein paar Überweisungen ausgefüllt.
Vater: Hättest du die nicht auch noch morgen ausfüllen können?
Siegfried: Ich war eben dabei, als du kamst, und pflege Arbeiten, die ich begonnen habe, fertig zu machen.
Vater: Oder hast du vielleicht noch schnell Ellis Hochzeitsdiamant versteckt?
Kriemhild: Was soll denn das?
Vater: Elli sucht nämlich nach ihrem Hochzeitsdiamanten.
Kriemhild: Und da hat euer Vater offenbar die fixe Idee, Frau Gylik könnte ihn hier bei uns finden.
Siegfried: Ich bin sprachlos.
Vater: Warte noch damit. Hör dir erst an, worum es geht. Der Mensch vergisst leicht Dinge, die er nicht vergessen sollte, als gingen sie ihn nichts an. Erinnerst du dich noch an den Tag von Ellis Begräbnis? Als der Sarg in der Kirche offen zur Schau stand?
Siegfried: Was soll das?
Vater: Ob du dich erinnerst, will ich wissen!
Siegfried: Ja, ich erinnere mich.
Vater: Dann erinnerst du dich doch wohl auch daran, dass ein paar kostbare Rubine die Sargdecke geziert haben.
Siegfried: Was weiter?
Vater: Die passten immerhin sehr gut in jeden Hosensack. Oder nicht?
Siegfried: Das weiß ich nicht.
Kriemhild: Dein Vater meint, wir wären so eine Company vom Hintermtor. Oder er glaubt, wir litten an Halluzinationen.
Vater: Und der Hochzeitsdiamant, ein Geschenk von mir, den Erhard auf Ellis letzten Wunsch hin ihr in die Hand gelegt hat. Wo ist er?
Siegfried: Wie soll ich das wissen?
Kriemhild: Fehlt nur, dass wir auch noch für Rothschilds Diamanten gerade zu stehen haben. Heute, in den Zeiten der Bänker, kann man das nie wissen.
Vater: Beim Leiden Christi! Ist das nicht eine starke Versuchung, so etwas einzustecken, ehe es für die nächsten 20 Jahre verschwindet, um dann in der Tasche eines Totengräbers zu landen?
Kriemhild: Wenn Frau Gylik nach ihrem Hochzeitsdiamanten sucht, ist sie ins falsche Haus geraten. Damit haben wir nicht das Geringste zu tun. Und wenn das nicht genügt, so schlage ich vor, ihr geht und schickt uns morgen die Polizei zur Hausdurchsuchung.
Siegfried: Wenn Frau Gylik nach ihrem Hochzeitsdiamanten sucht, ist sie wirklich ins falsche Haus geraten.
Vater: Glauben macht selig.
Kriemhild: Ich sagte es doch! Schickt uns morgen die Polizei auf den Hals. Doch lasst uns jetzt in Ruhe!
Elli: Lass uns deswegen nicht mehr nachforschen.
Vater: Gut! Stellen wir den Fall vorerst zurück.
Brunhilds Stimme: Gehen sie nun endlich?
Siegfried: O Herr Jesus! Hast du gehört, was mein Vater gesagt hat? Ob es da einem Sohn nicht die Sprache verschlägt!
Vater: Sei froh, wenn der Herr Jesus stumm bleibt. Sonst hört es auch noch das Finanzamt und dann musst du für den Diamanten Erbschaftssteuer nachzahlen. Fräulein Tochter geruhte uns mitzuteilen, dass du dich im Erbschaftsrecht vorzüglich auskennst. - Doch setz dich, mein Sohn. Dieses nervöse Herumstehen und Herumschauen macht einen verrückt.
Siegfried: (setzt sich, springt aber gleich wieder auf) Aber da ist doch der Diamant?
Vater: Wo?
Siegfried: An ihrem Hals. (Er läuft auf Elli zu)
Vater: Das ist kein Diamant. Das sind die roten Striemen, die ihr von dem Strick geblieben sind, den du ihr umgelegt hast.
Kriemhild: Das wird ja immer besser. Sind wir jetzt bald im Narrenhaus angekommen?
Siegfried: (zugleich mit Kriemhild) Nein, ich habe mich getäuscht.
Kriemhild: Als ob einer den Diamanten entwendet haben könnte, wenn er sich wie Siegfried verhält.
Vater: Da hast du wohl Recht. Der Ärmste! Er weiß ja gar nicht, was man alles mit seiner lieben Schwester angestellt hat. Wenn er das gewusst hätte, dass Kriminelle sie in der Kirche, wo man sie zum letzten Gang aufgebahrt und ausgestellt hatte, ausraubten. Da wäre er als treuer Bruder gewiss dazwischengetreten.
Brunhild: (erscheint im Zimmer) Wenn er nichts Besseres zu tun hat, als uns in unseren vier Wänden auszuspionieren und zu verunglimpfen, so ist es besser, er geht gleich wieder.
Vater: Hast du gehört, mein Sohn?
Siegfried: Was macht Brunhild in der Küche?
Kriemhild: Sie soll ihm eine Suppe kochen.
Brunhild: (erscheint wieder im Zimmer) Eine Suppe will er haben!
Siegfried: Brauchen wir jetzt noch eine Suppe?
Brunhild und Kriemhild: Das fragen wir uns auch schon die ganze Zeit.
Vater: Das werdet ihr schon bald erfahren. (zu Brunhild) Geh in die Küche! (zu Siegfried) Und du gehst also vors Gericht? Wer bedroht dich denn, dass du vor Gericht gehen musst? Sag es deinem Papa!
Siegfried: Niemand bedroht mich.
Vater: Und dennoch musstest du zum Rechtsanwalt gehen?
Kriemhild: Man muss nicht bedroht werden, um zum Rechtsanwalt zu gehen.
Vater: Gewiss. Man kann auch zum Rechtsanwalt gehen, um einen zu bedrohen. Immerhin sagte mir eure Tochter, sie studiere Erbrecht. Und das tut sie doch wohl nicht für die Katz?
Kriemhild: Dir wäre das egal, ob unsere kranke Brunhild später einmal mittellos auf der Straße steht.
Vater: Ich dächte, ihr mit den beiden Häusern, oder sind es gar drei, seid gut bedacht, um ihr ein lebenslanges Obdach zu gewähren.
Kriemhild: So kann man nur sprechen, wenn man von außen kommt. (zu Siegfried) Doch du kannst ihm ruhig sagen, dass du dich für das Recht engagiert hast, auch wenn man es in diesen Landen nur selten zugesprochen bekommt.
Siegfried: So magst du denn wissen, dass ich in Erbangelegenheiten tätig bin.
Vater: In Erbangelegenheiten tätig!
Siegfried: Jawohl, in Erbangelegenheiten tätig.
Vater: Um in den Besitz eines Erbes zu gelangen, gibt es mancherlei Möglichkeiten. Eine von diesen Möglichkeiten ist immerhin, ein Testament wegen Benachteiligung anzufechten. Ich sage ja nicht, dass alle Testamente einwandfrei abgefasst sind. Die wenigsten sind es vermutlich. Von den vielen schlecht und recht abgefassten Testamenten gibt es solche, die mit gutem Erfolg prinzipiell einklagbar sind, aber auch solche, wo der Arm der Justiz nicht ausreicht. Es gibt Leute, die versuchen, Kinder zu enterben, oder, wenn das nicht geht, ihnen nur das Pflichtteil zu vermachen, von dem sie dann noch Auslagen und Unkosten abzuziehen versuchen wie Finanzierung von Studien, Zahlung von Zimmermieten etc.
Kriemhild: Das wissen wir alles. Brunhild erzählt uns da manches.
Vater: Dass die sich dafür interessiert! Ich dachte, sie dichtet Hymnen. Du sagtest doch selbst, dass sie einen großen bedeutsamen Hymnus entworfen hat. Ich habe eben Schwierigkeiten, mir so manches zusammenzureimen. Ich dachte immer, ein Mann oder eine Frau des Geistes wäre so weltabgewandt, so der Welt entrückt, dass sie gar nicht merkt, wenn sie verhungert, weil sie aus dem Geist Gottes schöpft und speist. Vielleicht aber, dass man ein gutes Kissen haben muss, ein gut gepolstertes Ruhekissen, um sich dem Gottesgeist zu überlassen?
Brunhilds Stimme: Forsche und fege doch ein jeder vor seiner eigenen Tür!
Vater: Außerdem habe ja auch ich als alter Mann ein Testament abgefasst. Und wer weiß, wenn ich nun wohl auch noch nicht ganz unzurechnungsfähig bin und ich mir gewiss auch keine abstrusen Abnormitäten geleistet habe, so habe ich vielleicht doch manch einen kleineren unverzeihlichen Fehler begangen, wenn auch, wie ich erklären möchte, ohne Absicht. Vielleicht, dass mich mein Sohn darüber aufklärt und belehrt? Ich für meine Person, finde es jedenfalls durchaus nicht unehrenhaft, auch mal beim eigenen Sohn etwas zu lernen.
Siegfried: Soll ich ihm darauf erwidern?
Kriemhild: Gib ihm keine Antwort. Er redet wie ein Fuchs auf der Kanzel, so perfekt, scheint mir, hat er seine Rolle einstudiert, womit er beginnen und wie er uns fangen will. Aber wir haben ihn durchschaut und lassen uns nicht aus der Reserve locken.
Vater: Mir scheint, dass du dir von Frau und Tochter das Seil um die Ohren schmeißen lässt.
Kriemhild: Mein Herr! Wir haben nichts mit Seilen zu tun.
Vater: Wenn ich mir deine Frau und dich ansehe, so siehst du aus wie ein unter der Fuchtel deines Weibes verängstigtes und vernachlässigtes Geschöpf. Findest du nicht auch, mein Sohn Siegfried? Nimm doch nur einmal einen Spiegel und schau dich an! Es wird dir nicht entgehen.
Siegfried: Wir sind eine Gemeinschaft, wo jeder sich für das Ganze einbringt. Und wenn ich vorhin an der Steuererklärung gearbeitet habe, so war das eine Arbeit, um die mich niemand beneidet. Und ich hätte sie fertig gestellt, wärst du nur nicht dazwischengekommen! So wahr die Heiligste Dreifaltigkeit atmet und lebt.
Vater: Hoffentlich ist der Heiligsten Dreifaltigkeit nicht schon das Atmen und Leben vergangen!
Siegfried: Überhaupt, wenn jemand von den Eltern noch für mich maßgeblich ist, so ist es die Mutter und nicht du. Stets war ich ihr Lieblingssohn.
Vater: Ich war stets nur eine lästige Konkurrenz, (auf Kriemhild weisend) bis du ihr Lieblingsgatte wurdest!
Kriemhild: Wie es vorgesehen ist im Buch der Natur, dem Grundbuch aller Schicksale.
Vater: Sehr wohl, gnädige Frau. Aber auch das ist offenbar vorgesehen im Buch der Natur, dem Grundbuch aller Schicksale, dass mein Sohn Siegfried seines Vaters Testament benörgelt und bekrittelt. Ja dass er seine bedrohlichen Gerichtstätigkeiten schon so weit getrieben hat, dass Eusal gegen Eusal, Bruder gegen Bruder, und Eusal gegen Gylik, Bruder gegen Schwester vor Gericht gestanden haben. Bruder Siegfried, aufgehetzt und angetrieben von seinen Weibern gegen sämtliche seiner Geschwister.
Kriemhild: Ich habe dem gnädigen Herrn schon gesagt, dass die Sache von mir ausging und dass ich keinen Grund sehe, weshalb ich ihm meine Angelegenheiten zur Billigung vorlegen sollte.
Vater: Und das Fräulein Tochter?
Kriemhild: Was hat unsere Tochter damit zu tun? Lass er doch endlich unsere Tochter aus dem Spiel!
Brunhilds Stimme: Wenn Worte töten könnten, hätte er mich schon längst umgebracht.
Vater: Immerhin schätze ich die Bemerkung, dass sich die gnädige Frau aus eigenem Antrieb hat bereichern wollen.
Kriemhild: Niemand hat sich hier bereichern wollen.
Vater: (zu Siegfried) Und du bist inzwischen vor Gericht ein großer Künstler der Anklage?
Siegfried: Ich weiß nicht, wohinaus du noch willst.
Vater: Für jetzt würde ich doch wenigstens gerne noch erfahren, was du an meinem Testament auszusetzen hast?
Kriemhild: Ich hatte etwas daran auszusetzen, weil ich es nicht verwinden kann, wenn in derart eklatanter Weise gegen die Gerechtigkeit verstoßen wird.
Vater: Na klar. Dass ich das nur vergessen konnte! Und was war das?
Kriemhild: Das geht dich nichts an. Darum lass bitte die Finger aus unseren Angelegenheiten.
Vater: Es wird immer lustiger. Ging mein Testament die Finger etwas an?
Kriemhild: Spitzfindigkeiten.
Vater: Nein im Ernst! Sagen Sie, gnädige Frau! Hatten die Finger etwas daran auszusetzen?
Kriemhild: Wenn es ihn drängt, faule Späße zu machen, dann mach er sie anderswo.
Vater: Vorhin wurde ich noch gelobt für meine komödiantischen Einlagen und jetzt soll ich auf sie verzichten?
Kriemhild: Sich selber mag er auf die Schippe nehmen, soviel er will. Aber damit er es weiß: wir haben alles durchgerechnet. Der Fehler war eklatant.
Siegfried: Jawohl, alles haben wir durchgerechnet.
Vater: Und dann fandet ihr, dass ich nicht mehr rechnen kann und folglich unzurechnungsfähig bin. Nicht wahr!? Zum Glück aber bin ich noch immer so zurechnungsfähig, dass ich auch heute noch weiß, dass ich damals nicht mehr ganz zurechnungsfähig war. Da konnte ich schon nicht mehr durch vier teilen. Siegfried, dein geliebter Gatte, hat so etwas jedenfalls vor Gericht verlautbart. Oder war das nicht das Hauptargument, mit dem ihr euch bereichern wolltet?
Siegfried: Gerechtigkeit wollten wir, sonst nichts.
Kriemhild: Ganz genau so ist es.
Vater: Gerechtigkeit? Die soll euch widerfahren, falls davon noch etwas aussteht!
Kriemhild: Lass doch endlich diese drohenden Untertöne! Es ist, als wolltest du uns auf eine Katastrophe vorbereiten. Dabei haben wir schon genug Feinde auf Erden. Da muss nicht auch noch der eigene Vater aufmarschieren.
Vater: Ich rede nicht als Feind, wenn ich sage, dass noch Zeit ist, die Katastrophe zu verhindern!
Siegfried: Nur dein Testament lag uns am Herzen. Du schriebst ja doch, du wünschtest dir, dass der Besitz in der Familie bleibt. Da nun von all deinen Kindern nur wir wieder Kinder haben, so folgt daraus, dass, wenn eines deiner Kinder stirbt, unsere Kinder berücksichtigt werden müssen.
Vater: Damals, als ich mit dir das Testament besprochen habe, hast du anders gesprochen. Aber da hattest du noch nicht gelernt zu widersprechen. Ist es nicht so? Aber wenn jetzt deine Kleine sagt: Kusch! Dann kuschst du. Und wenn sie sagt: Der Vater hat dich betrogen, redest du es dir solange vor, bis du selber ganz fest davon überzeugt bist. Zum Laufburschen und zum Befehlsempfänger haben sie dich herabgewürdigt. Wie viel war es denn, was du noch haben wolltest?
Kriemhild: Gar nichts war es.
Brunhild: (streckt den Kopf ins Zimmer hinein) Die von dir hinterlassenen Kröten interessieren uns einen feuchten Kehricht. Uns ging es um das Recht.
Vater: Wenn dem Fräulein das doch früher eingefallen wäre!
Brunhild: Eigentlich wollte ich die Mutter rufen, einmal zu mir herzukommen und sich das anzusehen. - Wenn das eine Suppe werden soll, was bei uns auf dem Herd steht! Ich habe eben die Zutaten ins Wasser getan. Und nun sieh dir das an!
Kriemhilds Stimme: (aus der Küche) Was ist denn das? Das ist ja abscheulich!
Elli: Soll ich in der Küche helfen?
Vater: Lass nur. Das schaffen die schon allein. (zu Siegfried) Bleib ganz ruhig sitzen. Da kommt mir eben ein Geschichtchen in den Sinn, das ich noch erzählen möchte. Es handelt von einem Sohn, der seine armen Eltern besuchen wollte.
Siegfried: Ich bin erregt. Ich kann jetzt kein Geschichtchen hören.
Vater: Ich aber habe gesagt, dass ich ein Geschichtchen erzählen will. Und da die Suppe noch nicht auf dem Tisch steht, haben wir noch etwas Zeit.
Siegfried: Es wäre besser, du behieltest dein Geschichtchen für dich.
Vater: Wäre sie erfunden, ich behielte sie gerne für mich. Das kannst du mir glauben. Da war nun aber eben ein Sohn
Siegfried: der seine armen Eltern besuchen wollte.
Vater: Ganz recht. Um sie zu besuchen, nahm er sein Auto und machte sich auf den Weg. Wohin immer er sein Auto steuerte, nirgends bekam er freie Fahrt; immer geriet er ins Stocken. Bald war es eine Stichstraße, bald eine Sackgasse, bald eine Wendeschleife, aus der er kaum mehr herausfand. Mitunter erntete er auch böse Blicke, weil er sich dorthin verirrte, wo er nichts zu suchen hatte. Einmal wollte man ihm einen Strafzettel verpassen, ein andermal Benutzungsgebühren erheben und einmal hoben sie schon Steine auf, sie ihm aufs Autodach zu werfen, dass er den Kopf einzog. Endlich aber, als er glaubte, nun eine befahrbare Straße vor sich und freie Fahrt zu haben, landete er oben auf einem Berg, wo die Straße endete. Wenn er es gekonnt hätte, wäre er mit seinem Auto in die Luft hinaus gefahren, so erbittert war er. Oder er hätte sein Auto den Berg herunter getragen, denn drunten lag das Stadtzentrum. Da er aber weder das eine noch das andere vermochte, so blieb ihm nichts übrig, als mühselig zu wenden und den Rückweg anzutreten. Als er nun dabei war, dies zu tun, kam ein Junge herbei, der ihm erklärte, was da alles zu sehen war. Doch was nützte ihm dies, dass er jetzt wusste, wo das Rathaus war und die alte Kirche und die neue?
Siegfried: Sollten wir nicht lieber diese Geschichte beenden?
Vater: Ganz Recht. Deshalb erzähl ich sie ja. Letzte Aufarbeitung sozusagen, ehe wir sie für immer ad acta legen. Aber du hast gleichwohl Recht. Da hab ich einiges durcheinander gebracht. Dank dir, dass du mich drauf aufmerksam gemacht hast. Der Sohn wollte nämlich gar nicht seine Eltern besuchen. Der war von seiner Frau geschickt. Und fuhr mit dem Auto nach Norddeutschland. Da hab ich doch gehört, dass du deiner Tochter zu Lieb alle 14 Tage nach Schleswig Holstein fährst, glatte 1000 km, um Wasser aus der Nordsee zu schöpfen, damit sie ihre Füße befeuchten und hineintunken kann.
Siegfried: Sei froh, dass du nicht krank bist.
Vater: Dann ist das also kein Gerücht aus dem Narrenblatt?
Siegfried: Würdest du sie lieber sich überlassen, als auch nur einen Finger für sie zu krümmen?
(Aus der Küche heraus hört man die Stimmen)
Brunhilds Stimme: Da schau! Diese Fleischröllchen, das sind doch Finger! Finger, die man jemandem abgeschnitten hat, vielleicht noch vor der Geburt. Wie kalt sie einen anschauen! Dabei schwimmen sie nun schon über 10 Minuten im heißen Wasser. Ich zähle mindestens 8 Finger, vielleicht sind es auch ganze zehn.
Kriemhilds Stimme: Beobachten wir ganz genau, was sich da entwickelt!
(Wieder im Zimmer)
Vater: Wenn sie nur nicht das wunderwirksame Nordseewasser benutzt haben.
Siegfried: Es erfüllt mich mit Sorge, was sich hier zuträgt.
Vater: Armseliger Mann, der nur noch zum heiligen Nordseefahrer taugt.
Siegfried: O da gibt es Männer, die taugen zu noch viel weniger.
Vater: Aber du kannst mich doch gut hören. Ich meine, das fällt dir doch nicht schwer, mir zuzuhören!?
Siegfried: Warum auch?
Vater: Ich habe nämlich gehört, dass du schwerhörig bist.
Siegfried: Ja, ich bin schwerhörig.
Vater: Aber doch nicht immer? Zum Beispiel nicht, wenn dich deine Dame etwas zu tun heißt? Oder wenn dich vom Fräulein Tochter über deine Dame ein Kommando erreicht, dann hörst du doch aufs Wort?
Siegfried: Das geht dich nichts an.
Vater: Aber wenn ich dir einen guten Rat geben möchte, dann bist du schwerhörig? Selbst wenn ich dir ins Ohr trompeten würde, würdest du es nicht hören?
Siegfried: Dafür habe ich meinen Schwerbehindertenausweis bekommen.
Vater: Ich gratuliere deiner Frau zu dem Erziehungswerk, mit dem sie die väterliche Erziehung zu herrlichem Abschluss gebracht hat. Jetzt kannst du ja an jedem Wochenende mit dem Zug unentgeltlich zur Nordsee fahren, das Wunderwasser zu holen. Oder ist es nicht so? Unentgeltlich kannst du jetzt fahren, das heißt ohne Geld. O das ist wichtig, wenn man so viel Geld bei den Rechtanwälten und bei den Gerichten liegen lässt. Da heißt es sparsam umgehen und vor allem, wo man Geld holen kann, heißt es tüchtig zugreifen, damit man am Ende nicht ohne Geld dasteht und nicht mehr prozessieren kann. Freilich ist das noch nicht alles. Das ist nur die berühmte Spitze der Narrheiten, zu der du dich, mein Sohn, inzwischen aufgeschwungen hast. Es kann nämlich auch sein, dass du auch noch aus einem anderen Grund schwerhörig geworden bist. Verstehst du mich? Ich meine, kannst du mir, trotz deiner Schwerhörigkeit, folgen?
Siegfried: Ich denke lieber an das Gute.
(Aus der Küche heraus hört man die Stimmen)
Brunhilds Stimme: Fast ist mir zum Erbrechen. Vielleicht, weil wir noch nicht wissen, was sich da entwickelt.
Kriemhilds Stimme: Sei nur getrost. Wenn sich etwas zeigt, was Verdacht erregt und wenn er dann nicht klein beigibt, schalten wir die Staatsanwaltschaft ein.
(Wieder im Zimmer)
Vater: Wie ich gehört habe, hast du auch Anstrengungen unternommen, dein liebes, an Reitsucht leidendes Töchterchen an die Nordsee zu karren. Dort soll es nämlich wundervolle Pferdegestüte geben und sonstigen Reiterschnickschnack, wofür sie über alle Maßen schwärmt. Da sie aber keine Stöße aushalten kann, auch nicht die allergeringsten, schied freilich eine Zugfahrt von vornherein aus. Aber auch mit einem stößigen oder anstößigen Auto zu fahren, erwies sich als problematisch. Da holpert´s und poltert´s, teils weil die Straßen überall noch kleinere Schlaglöcher aufweisen oder wenn Kanten aneinanderstoßender Betonplatten auf den Autobahnen eine glatte Fahrt vereiteln. Aber da gibt es doch noch eine andere Verursachung? Weil die Autoreifen so harte Profile tragen. Nicht wahr, mein Junge, da hast du dich auch nicht gescheut, den Versuch zu machen, mit total abgefahrenen, hübsch glatten Rutschreifen die Fahrt zu probieren. Wenn nichts mehr hilft, ein Problem mit Vernunft zu lösen, kann man es ja immerhin noch mit Unvernunft probieren. Und wenn das auch polizeilich nicht geht, so hast du dir die Erlaubnis dazu bei deinem Töchterchen geholt. Und das ist doch genug! Ist es nicht so? - Und dann hat das Ganze doch nicht geklappt, weil Fräulein Tochter es nie gelernt hat, die Zähne zusammenzubeißen. Meinte gar, wie ich hörte, die Polizei müsste Ihrer Durchlaucht freie Fahrt genehmigen.
Siegfried: Geht ihn das etwas an?
Vater: Will er uns nicht sagen, was er sonst noch alles im Dienst seiner Damen angestellt hat?
Siegfried: Nichts habe ich angestellt.
Vater: Da passt gnädige Frau gut auf, dass du nur das anstellst, wozu sie dich anstellt. Als ihr Angestellter bist du sehr anstellig? Aber das ist doch sehr schön, wenn man als Mann nicht wissen muss, was man anstellt, weil das nur die Sache der Frau ist.
(Aus der Küche heraus hört man die Stimmen)
Kriemhilds Stimme: Da, schau her! Wie Schlangenköpfe schauen die Fingerkuppen aus dem Wasser, als könnten sie uns drohen. Aber man muss sich entschieden dagegen wehren, die Schuld anderer auf sich zu nehmen. Bezahle jeder für das, was er getan hat!
Brunhilds Stimme: Ich mag nicht mehr hinsehen.
Kriemhilds Stimme: Wie man so dumm sein kann, sich derart auszuliefern. Freu dich doch. Er ist in unserer Gewalt.
Brunhilds Stimme: Wär er nur nie gekommen; das wär mir noch lieber.
Siegfried: Du kannst mich nicht reizen. Ich denke nur an das Gute.
Vater: Wenn du die Erlaubnis bekämst, dich auf mich zu stürzen wie ein Wolf auf ein Lamm und mich erwürgen? Würdest du es nicht tun? Doch verlass dich auf mich, mein Junge: soweit wird es nicht kommen. Immerhin muss ich dir Recht geben, deine Frau ist keine Katze. Wenn ich das je gesagt haben sollte, so will ich es sofort widerrufen. Die Wahrheit ist, dass deine Frau eine Schlange ist. Hörst du: eine Schlange! Und zwar eine ganz gefährliche Schlange! So etwas wie ein weiblicher Python. Und wen die Schlange Weib einmal gepackt hat, dem hilft kein Zauberer mehr.
Siegfried: Ist das nicht grotesk?
Vater: Das ist nicht grotesk, mein Junge, das ist indisch.
Kriemhild: (kurz ins Zimmer schauend) Und kindisch. (in die Küche zurückkehrend) Aber er ist selber schuld, wenn das Ganze noch ein bitterböses Ende nimmt.
Vater: Und nun sag mir, wenn du mir noch etwas zu sagen hast. Es ist wirklich schon etwas spät geworden.
Siegfried: Als ob ich schon etwas gesagt hätte. Bestätigt mir nicht auch dieser Abend wieder, dass wir in einer Welt leben, wo das Beste unausgesprochen bleibt? Und wofür haben wir dann gelebt? Fast möchte ich behaupten, dass es besser ist, wir begehen Narrheiten, ja vielleicht sogar hin und wieder ein kleines Unrecht, das abzubüßen uns dann genug Gelegenheit bleibt, wachsen dafür aber ein Stück weit zu der uns möglichen Höchstform empor.
Vater: Weiter, weiter. Mal etwas anderes als eine schlicht erbauliche Sonntagspredigt. Das lässt sich hören!
Siegfried: Wenn Brunhild nichts dagegen hat, hol ich die Vorlage zu ihrem Brief an den Papst, dessen Antwort wir jeden Tag erwarten.
Vater: Einen Brief an den Papst hat sie sogar geschrieben? Da hat sie zum Schluss gar auf den Papst gewartet und dann kam nur der Höllenopa.
Siegfried: Warte! Gleich hab ich den Brief bei der Hand.
Brunhilds Stimme: Das erlaube ich nicht.
Siegfried: Dann weiß er ja nie, was hier bei uns geschieht.
Brunhilds Stimme: Das interessiert ihn doch nicht, das lässt er sich überhaupt nichts angehen. Wie sollte es ihn auch angehen, wo er selber noch nie auch nur eine Zeile verfasst hat!
Vater: O doch. Manche Zeile habe ich schon verfasst.
Brunhilds Stimme: Aktenzeilen vielleicht. Bürokram. Zeug, von dem gilt, dass sich viele darum die Köpfe heiß reden, damit es anschließend im Niemandsland der Mülldeponie verrottet.
Siegfried: Aber aus dem Brief an den Papst darf ich doch den von ihr gedichteten Hymnus vortragen, zumal wo ich ihn auswendig kann.
Brunhilds Stimme: Verschone mich. Ich kann das Zeug nicht mehr mit anhören.
Siegfried: (an den Vater) Glaub ihr nur nicht, wenn sie sich demütigt. Ein religiöses Gedicht hat eine ganz eigene Gewalt. Ich habe es studiert und kann es auswendig.
Brunhild: (unter der Türe) Wirf bitte keine Perlen vor die Säue!
Siegfried: Von Perlen kann man da wirklich reden. Wenn ich bedenke, jeder Bischof hätte so einen Hymnus verfasst, oder auch nur jedem Papst hätte der Heilige Geist bei seiner Erwählung einen solchen Hymnus eingegeben, gleichsam wie zur Beglaubigung seiner Erwählung, dann besäßen wir heute ein Hymnenbuch, das selbst noch den Psalter in den Schatten stellte.
Vater: Wenn sie eine Kirchenlehrerin wäre, könnten sich die gnädige Frau und der Herr Gemahl rühmen, ihre Eltern zu sein.
Kriemhilds Stimme: Spotte du nur.
Siegfried: Überhaupt hat Brunhild da etwas geschaffen, was dem Andenken ihrer Oma, unserer lieben Mutter und deiner Ehefrau wert ist, die ihr Leben im festen katholischen Glauben verbracht hat. Keiner von den modernen Abweichlern und von den widerspenstigen Wanderpropheten hat sie in Verwirrung gebracht.
Brunhilds Stimme: Lass doch, das will er doch gar nicht wissen.
Siegfried: (zum Kreuz gehend und sich dort niederkniend) Gleichwohl muss es einmal gesagt sein, dass du da etwas sehr Schönes geschaffen hast. Und darum trage ich es jetzt auch vor, zuerst dem, für den es gedichtet ist, sodann aber auch für den Vater, ob er es sich anhören will oder nicht.
Sei Vater du uns hoch gepriesen
Durch deinen Sohn, den du gewiesen
In deiner Gaben gnadenreichem Fließen
Zu uns, auf dass wir Heil genießen.
Gepriesen sei, was dir gefällt,
Der du vor Grundlegung der Welt
Ihn hast zu unserem Herrn bestellt -
Durch ihn von Not und Schuld befreit
Zum Lobpreis deiner Herrlichkeit.
Denn was verborgen aller Orten
Das ist jetzt kundgetan uns worden,
Herr Jesus Christ, dein Wort ob allen Worten
Erschlossen hat des Himmels Pforten.
Erlösung strömt uns durch dein Blut,
Vergebung überreich und gut,
Vor Feindes Arglist sichere Hut.
Mit ihm vereint nach festem Entscheid
Zum Lobpreis deiner Herrlichkeit.
Nun auch geschieht nach deinem Willen,
Der Schöpfung Sehnen ganz zu stillen.
In ihm das All wird endlich sich erfüllen,
Der uns umwandelnd stärkt und speist,
Besiegelt ist´s mit Heiligem Geist
Bis alle Welt durch ihn dich preist,
Zu deinem Eigentum bereit
Zum Lobpreis deiner Herrlichkeit.
Siegfried: Ist das nicht zum Mitsingen schön? Und doch ist das kein Hymnus für die Kirche auf ihrem Weg durch die Jahrtausende. Das ist ein Hymnus der Naherwartung, ein Lobpreis der Gemeinde zum Einzug Jesu als Herrscher in die Welt und für die Welt, dessen Ankunft auf morgen gedacht war. Wer zu hören versteht, begreift hier auch den Abschluss des Kanons. Aber ich kann nicht mehr; es überwältigt mich jedes Mal, wenn ich ihn aufgesagt habe.
Vater: Du hast ein Talent, das überzeugt. Du könntest sehr leicht den Tartuffe beim Moliere zum Besten geben.
Siegfried: Ist das alles, was dir dazu einfällt?
Vater: Nimm mir nicht übel, wenn ich dir sage, dass mir die Kost ein wenig zu schwer ist. Hymnus hin und Hymnus her, auch mir fiele als Papst das Zuhören schwer.
Siegfried: Dabei vermögen wir ja doch nur durch die Einsicht in den Grund unserer Nichtigkeit zu erstehen.
Brunhild: (unter der Türe) Da hörst du es!
Siegfried: Ich höre es und bin traurig. Traurig, weil überall stets nur die eitle Selbstgefälligkeit triumphiert und weil ich sehe, dass man dem großen Menschen jedes Lob verweigert. Trauriger aber noch bin ich, weil sich die eigenen Lieben von uns abwenden. Dreimal traurig aber, wenn ich bedenke, dass das Ausnahmetalent gezwungen wird, sich selber als verabscheuenswert wahrzunehmen, weil es schließlich nicht anders mehr kann, als um ein Löblein zu betteln.
Vater: Das sehe ich ganz anders. Oder war nicht auch der Leidensmann schon von den Seinen verstoßen, wie uns die Schrift sagt? Da wäre das Fräulein Tochter doch in der besten Gesellschaft.
Siegfried: Wer die wunderbare Begabung und das Ausnahmetalent unserer Brunhild nicht anerkennt, hat nichts von uns zu erwarten.
Vater: Ich erwarte nichts, mein frommer Sohn. Wenn er mir aber ein freies Wort gestattet, so bekenne ich, dass ich mehr die schlichten Gebete liebe, wie sie die Herzenseinfalt unseres Volkes und Leute, die ihr verwandt sind, gedichtet haben. Das hat so etwas Tröstliches und Versöhnliches an sich, so etwas Unbekümmertes und Beschwingtes, ja so etwas Kindlich-Lächelndes an sich, was das Herz anspricht. Z.B. Das "Müde bin ich geh zu Ruh, schließe meine Augen zu" ...
(er singt)
Müde bin ich, geh zu Ruh,
jupheidi jupheida,
schließe meine Äuglein zu,
jupheidiheida
Schon früher hab ich es euch vorgesungen; und heute ist es noch immer bezaubernd schön, selbst wenn die Kinder, die für gewöhnlich nicht müde sind, auch nicht durch das Aufsagen des Gebetchens müde werden. Oder das "Bevor ich mich zur Ruh begeb, zu dir o Gott mein Herz ich heb", das finde ich auch hinreißend gedichtet. Von der guten Frau Lindner, wenn ich nicht irre. "Bevor ich mich zur Ruh begeb, zu dir o Gott mein Herz ich heb; und sage Dank für jede Gabe, die ich von dir empfangen habe." An was für eine Gabe denken wir denn da, mein lieber Siegfried?
Siegfried: Sag es mir, wenn du es weißt.
Vater: Nun, zumindest an die Gabe des ruhigen Sitzens auf einem Stuhl oder in einem Sessel dürfen wir doch denken! - "Und hab ich heut missfallen dir, so bitt ich dich verzeih es mir. Dann schließ ich froh die Augen zu, es wacht ein Engel wenn ich ruh." Nicht wahr, Siegfried, so beteten wir es doch mit dir, als du noch klein warst und lieb und unschuldig. Und Missfallen, das gibt es doch auch heute noch zu beklagen.
Kriemhild: (jetzt auch unter der Türe) Vor allem wenn Leute alt werden und kindisch.
Vater: O, er liebt noch immer alles, was Kinder angeht. Ist es nicht so, Siegfried? Du brauchst gar nichts zu sagen. Ich weiß es. Wenn man ihm verspricht, Grillenvögel aus den Fingerspitzen fliegen zu lassen, ist er so entzückt darüber, dass er dafür tut, was immer man will und wenn er nach Narrenhausen fahren soll.
Siegfried: Ich fahre aber nicht nach Narrenhausen.
Vater: Aber an die Nordsee fährst du; und die liegt direkt daneben. Oder hast du noch nie etwas vom gesund machenden Nordseewasser gehört? Doch genug des Palavers. Ist die Suppe nun endlich fertig?
Brunhild: Hier ist sie! Hier bringen wir Ihnen die von Ihnen gewünschte Suppe.
Vater: Sind auch alle Wanzen und sonstigen Aufzeichnungsgeräte angestellt?
Kriemhild: Warum?
Vater: Damit der Herr Staatsanwalt begreift, was wir hier treiben.
Kriemhild: Hat er ein schlechtes Gewissen?
Vater: Keineswegs.
Kriemhild: Er wird aber merkwürdig bleich und blass.
Vater: Vielleicht spiegelt sich Ihre Angst in meinem Gesicht.
Kriemhild: O, nur keine Verschiebung auf andere Schauplätze! Wir werden ihn doch nicht in die Klinik bringen müssen, zum Prof. Nonnemaus.
Vater: Das wird gewiss nicht nötig sein.
Brunhild: (einen Teller für den Vater füllend) Dann einen guten Appetit. Wohl bekomm ihm das Armesündersüppchen aus dem Armenspital!
Vater: Ich habe nichts gegen ein Süppchen aus dem Armenspital, wenn es uns das Überleben sichert.
Kriemhild: Was hat er sich eigentlich dabei gedacht, als er uns dieses Zeug brachte? Sollen wir es nicht lieber schnell wieder heraustragen und wegschütten?
Vater: Das lassen wir schön bleiben!
Kriemhild: Ganz wie Sie wünschen, mein Herr! Dann greifen Sie jetzt aber zu oder man wird Sie ergreifen!
Vater: Sorgt euch nur nicht um mich!
Brunhild: Da sieh, wie sich das bewegt! Immer im Kreis herum. Dabei ist der Topf seit über 5 Minuten vom Herd.
Kriemhild: Mein Herr! Lassen Sie mich noch einmal die Frage stellen, was Sie uns das gebracht haben. Es ist an uns, den Fall aufzudecken und, so das unmöglich sein sollte, ihn aufdecken zu lassen, ehe wir Ihnen die Gelegenheit geben, sich an uns zu vergreifen.
Vater: Decken Sie nur auf, gnädige Frau. Nutzen Sie die Gelegenheit! Ziehen Sie Ihren Hals aus der Schlinge, solange noch Zeit ist.
Brunhild: Da! Sieh nur! Das feine blutige Rinnsal hinter jedem Finger! Als lüde es alle Welt ein, dem Verbrechen auf die Spur zu kommen.
Kriemhild: Eine Metzelsuppe hat er sich ausgedacht, eine Metzelsuppe für blutrünstige Feinschmecker. Das erinnert an Medea und Kirke; oder auch an den Thyestes und an den Tantalos, alles Leute, die sich auf die Zubereitung grässlicher Gerichte verstanden haben.
Vater: Es ist doch schön, wenn man über ein so profundes Wissen verfügt wie unsere beiden Damen. Da kann man sich immer schnell einen Reim machen.
Kriemhild: Was wird hier eigentlich gespielt?
Vater: Das frage ich mich auch und hoffe, die gnädige Frau hat es bald heraus.
Kriemhild: Noch ist es nichts als eine böse Vermutung.
Vater: Ein großer Wüstenheiliger soll einmal vor dem Abendmahl gesagt haben: lass dich verzehren, Herr Jesus, auf dass ich eins werde mit deinem großen Leib und alle meine Sorgen durch ihn verzehrt werden.
Kriemhild: Solcherlei Sprüche hast du nun schon einige losgelassen. Aber die retten dich nicht, auch wenn du damit versuchst, uns ins Abseits zu führen.
Brunhild: Auch als ein Wüstenheiliger kommst du für uns mit deinem Jupheidi jupheida noch nicht in Frage.
Vater: Ganz so hoch muss ich auch gar nicht hinaus. Gleichwohl ist Suppe nicht nur Suppe, wie vielleicht ein moderner Naturwissenschaftler behaupten mag.
Kriemhild: Tantalus oder Sisyphus behauptete, die Sonne sei nur ein Ofen.
Vater: Alles, was gegen den einen großen allen gemeinsamen Leib verstößt, wie Hochmut, Selbstherrlichkeit, Besserwisserei, Argwohn, Zweifel, Kälte und jede Art von Lieblosigkeit; alles, was die Sorgfaltspflicht für den einen Leib verletzt und zur Spaltung führt, muss vor Gericht.
Siegfried: Mit welcher Vollmacht bist du eigentlich gekommen? Reichen uns denn die vielen Prügel noch immer nicht, die wir haben einstecken müssen: die Tribulationen und Denunziationen und Inquisitionen und Verfolgungen? Muss uns jetzt auch noch der eigene Vater und Vorvater auflauern? Bist du wirklich gekommen, uns aufzulauern, Vater?
Kriemhild: Ich sagte es doch schon: er lauert uns auf, damit niemand auf den Gedanken kommt, ihm aufzulauern.
Vater: Dem einen wird die Suppe als ein Heilmittel gereicht, dem andern zum Gericht.
Brunhild: Und für uns hat er sich das ausgedacht?
Vater: Auf jeden kommt das Gericht zu.
Kriemhild: Abgeschnittene Finger essen, mein Herr, das ist abscheulich. Oder hat die Scheria bei uns Einzug gehalten dank unserer Schwägerin, die uns die herrliche Fracht mitgebracht hat? War sie vielleicht mit dabei, als die Finger abgeschnitten wurden? In 1001 Nacht stehen doch auch solche Geschichten. Mach Sie sich nur nichts vor. Das wird das Erste sein, was die Staatsanwaltschaft prüfen wird, woher sie den Sack mit dem Fleisch hat.
Vater: Moslems und Christen zugleich haben allzu lange gesellschaftliche Konventionen als schreckliche Sünden gebrandmarkt. Z.B. die Geschwisterehe. Und doch, wenn sie auch nicht gut ist wegen der meist defekt zur Welt kommenden Kinder, ist sie noch lange kein Verstoß gegen die Liebe.
Kriemhild: Mir kommt vor, als hätte das Weltall aufgehört, sich um die Erde zu bewegen, seit diese Finger die Erde bewegen. Und wir stehen da und begreifen nicht, was geschieht? Bestaunen die Possen der Parzen, diese blutigen Possen! Wenn es uns nicht so abstrus und unheimlich vorkäme und wir auch nur ein paar Anhaltspunkte oder Hinweise für das Verbrechen hätten, hätten wir bereits Anzeige erstattet.
Vater: (Die Hände in die Höhe streckend) Meine Finger sind es nicht.
Elli: Meine Finger sind es auch nicht.
Kriemhild: (auch die Finger in die Höhe streckend) Ja, sind es etwa meine Finger? Auch ich wasche meine Hände in Unschuld.
Brunhild: Auch meine Finger sind es nicht! Hier, alle 10 Finger sind da. Ein Erstklässler kann sie abzählen.
Kriemhild: (zu Siegfried) Und du? Zeig deine Finger!
Siegfried: Hier. Auch meine Finger sind alle da.
Vater: Dann ist ja gut. Dann kann uns zumindest keiner nachsagen, wir fräßen uns selber auf. Also auf! Beginnt nun zu essen, Kinder! Nicht länger gezögert! Vielleicht, dass uns dann die Augen aufgehen!
Brunhild: Mag er nur zugreifen und sich satt essen, wir stören ihn nicht, auch nicht wenn ihm die Augen so weit aufgehen, dass sie ihm aus den Höhlen fallen.
Kriemhild: Jawohl, wenn der Herr Schwiegervater Hunger hat auf seine Abendmahlsuppe, so mag er nur zugreifen. Wir hindern ihn nicht.
Brunhild: (zwei weitere Teller vor den Vater stellend) Der erste Teller ist für Kriemhilds Schwiegervater, der zweite für Siegfrieds Vater und der dritte für den heißgeliebten Opa. (Nachdem sie die Suppe geschöpft hat) Wohl bekomm ihm die Suppe! Und damit unsere liebe Türkentante nicht hungrig zusehen muss, kriegt sie auch noch einen Teller. Den größten, den wir haben. (Füllt auch den vierten Teller) Und nun kann das Essen steigen.
Kriemhild: Wenn du uns aber noch etwas zu erzählen hast, erzähl es! Aber lass dich bitte beim Essen nicht stören.
Vater: (ohne zu essen; er schiebt zwei seiner Teller in die Mitte, den dritten zu Siegfried, der dann hin und wieder einen Löffel voll zu sich nimmt) Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Die hatten zwei Kinder, zwei Töchter.
Kriemhild: Wirklich hübsch, der Anfang.
Vater: Wenn die sich im Wald verspätet hatten und die Nacht sie überfiel, legten sie sich nebeneinander auf das Moos und wenn das eine schlief, wachte das andere, und wenn dann das andere müde wurde, dann wachte das, das sich ausgeruht hatte. Eines Tages aber, das war nach vielen Jahren, da geschah es, dass die beiden Schwestern wieder einmal im Wald unterwegs waren und dass sie sich verirrten. Da sie in der Zwischenzeit gelernt hatten, wunderbare Musik zu machen, die ältere auf der Flöte, die jüngere aber auf der Mandoline, und sie auch die Instrumente bei sich hatten, so begannen sie nun, zu musizieren, sei es, um sich die Angst zu vertreiben, sei es um eine Art höherer Hilfe herbeizulocken.
Kriemhild: Hatten wir das nicht schon, als du uns von der Kunst der Finger vorschwärmtest? Da hattest du nur noch das Klavier vergessen.
Vater: Warum versuchen Sie, sich stets so lustig in Szene zu setzen, gnädige Frau? Merken Sie nicht, dass da viel zu viel Willkürliches zum Vorschein kommt, dessen man sich gerne bedient, wenn man etwas anderes zu überdecken und zu verstecken sucht?
Kriemhild: Muss man nicht ständig überdecken und verstecken, verwischen und verdecken? Oder wem kann man heutzutage noch trauen? Da streckt dir einer die Hand hin, als gälte es, eine Freundschaft für immer zu besiegeln, und das bleibt dann vielleicht auch, wenn es gut geht, ein Jahr oder auch zehn Jahre, aber dann plötzlich nach dreißig Jahren ist alles aus.
Vater: Am Schluss wäre man am besten beraten, wenn man sich nur ja nie selber die Hand reicht. Sagst du Ja zu dir, dann denkst du immer auch an Nein und sagst du Nein, so unterdrückst du das Ja. Und immer fällt dir der Widerspruch ins Wort, bis du eines Tages nicht mehr weißt, wer du bist und was du willst. Da du dir nun aber ein gewisses Gehabe zurechtgelegt hast, mit dem du dich dir und den Leuten erkennen zu geben angewöhnt hast, so achtest du peinlichst genau darauf, diese Rolle beizubehalten bis an dein seliges Ende.
Kriemhild: Vielleicht hast du es so getrieben. Uns blieb, Gott sei Dank, bislang noch solch ein Sklavenlos erspart. Nicht zuletzt auch Dank meinem Siegfried. Sag ich Ja, so sagt auch er Ja. Zu allem sagt er Ja. Zu meinem Ja sagt er Ja. Und zu meinem Nein sagt er auch Ja. - Oder ist es nicht so, mein Schätzchen?
Siegfried: Jawohl, so ist es.
Kriemhild: (die beiden Teller in der Mitte wieder dem Vater zuschiebend) Drum seien Sie jetzt bitte so gut, wie ihr lieber Sohn, Ihre Suppe aufzuessen, zumal die guten sanften Finger so verlockend zum Vertilgen einladen!
Vater: (nachdenklich) Sie haben ja Recht. Ich dachte nur daran, ob wir sie nicht wieder aus dem Wald herausholen könnten. Aber die sanften Finger für den Bund des Lebens hatte ich noch zu erwähnen vergessen.
Kriemhild: Lassen wir für heute die Märchen! Behalten wir nur die Frage im Gedächtnis, wem die Finger gehören.
Vater: Haben wir auch noch einen kleinen Anspruch auf Einhaltung von Tischsitten?
Kriemhild: Was fehlt dem Herrn noch? Servietten etwa? Hier!
Vater: Ein Tischgebet, und wäre es auch nur ein winzig kleines, zumal in Anwesenheit des Herrn Jesus, könnte wohl auch nicht schaden, zumal in einem so frommen Haus.
Kriemhild: Also Siegfried, du als Sohn sprich ein Tischgebet!
Siegfried: Soll ich?
Kriemhild: Du kannst dafür am Tisch bleiben.
Siegfried: Lass mich dem Vater zeigen, wie sehr mir am Herzen liegt, dass alles gut über die Bühne geht! (Er geht zum Kreuz)
Kriemhild: Dann zeig´s ihm, aber fass dich kurz. Du begräbst sonst nur einen leeren Sarg.
Siegfried: (fromm vor dem Kreuz) Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.
Alle: Amen!
Vater: Das hast du aber wunderschön vorgetragen!
Brunhild: Ich darf mich jetzt empfehlen!
Vater: Was soll das?
Brunhild: Ich habe gesagt, wenn die Suppe eingeschenkt ist, dann geh ich.
Vater: Und ich habe gesagt, du bleibst da! Die Suppe ist eingeschenkt, aber noch nicht verteilt.
Brunhild: Ich bin krank und müde.
Kriemhild: Das wirst du nicht bestreiten.
Vater: Krank mag sie sein und müde mag sie auch sein. (Ihr einen Teller zuschiebend) Zuerst aber essen wir schön brav unser Süppchen. Vielleicht dass wir eine große Kraft daraus schöpfen!
Brunhild: Er weiß ganz genau, dass ich daraus keine Kraft schöpfe!
Vater: Dann mag sie schlafen gehen, wenn sie Lust hat für die nächsten 100 Milliarden Jahre.
Kriemhild: Nun ist aber genug!
Vater: Was meint die gnädige Frau?
Kriemhild: Des Theaterspielens bin ich müde. Wir sind keine Könige aus der guten alten Zeit, die gewohnt sind, mit einem Narren zusammen zu leben. Noch auch sind wir nicht so weit im Meer des Wahnsinns untergegangen, dass uns das Wasser am Hals stünde. Ist das Leben auch sehr schwer, so gibt es doch immer wieder lichte Momente, wo man selbst in der finstersten Nacht wie durch einen Nebelschleier die helle Scheibe der Sonne sieht. Drum vernimm noch einmal, was ich dir schon gesagt habe, und behalte es gut im Gedächtnis: Niemand von uns ist dein Schüler, den du, deiner Gewohnheit gemäß, abzuurteilen oder zu bestrafen hättest. Nur weil wir wissen, dass dir Theaterspielen Vergnügen bereitet, haben wir dich ins Haus gelassen. Aber jetzt ist die Vorführung herum. Wir wollen ins Bett!
Brunhild: Solltest du aber gekommen sein, um nachzusehen, ob wir noch leben oder schon gestorben sind, so hast du dazu hinreichend Zeit gehabt. Solange wir noch Formen finden und Ausdrücke für unser Dasein, solange leben wir noch und haben keine weitere Hilfe nötig.
Vater: Da täuschen sich die Damen, wenn sie meinen, ich ließe die Abendmahlsuppe einfach stehen. Die ist nicht für den Müll! Die ist für die Frau des Hauses! (Er schiebt der Kriemhild einen Teller zu). Und die für das Fräulein Tochter! Und die für den Herrn Gemahl! - Und nun wird gegessen!
Brunhild: Was fällt ihm ein. Was haben wir mit seinem Ketzerzeug zu tun?
Kriemhild: Hab keine Angst. Du musst nichts essen. (Sie schiebt Brunhilds Teller wieder dem Vater zu) Wir wollen doch sehen, ob wir dieses Mahl nicht noch herumkriegen.
Brunhild: Und doch ist das eine ungeheuerliche Zumutung, uns hier am Tisch festzuhalten, wo Mitternacht schon herum ist. So kann er uns nicht behandeln. (zu Siegfried) Warum sagst du nichts? Schließlich ist es dein Vater.
Siegfried: Was soll ich sagen?
Vater: Aber was ist denn das? Kann da jemand nicht mehr zählen?
Kriemhild: Was gibt es denn nun noch? Ist nicht alles in schönster Ordnung?
Vater: Für jeden einen Teller. Macht das vier Teller, Fräulein Brunhild?
Brunhild: Für jeden einen Teller? Das macht 4 Teller. Für Kriemhild und für Siegfried und für dich und Elli. Und wenn du es nicht glaubst, dann lass dir es von einem deiner Schüler abzählen: er kommt stets auf die Zahl 4.
Vater: Vorschulkind pflegen sich beim Abzählen zu vergessen; aber so entkommst du mir nicht. Vielleicht aber hast du es auch nur getan, um mich abzulenken, dass mir entgeht, wie sehr du das vierte Gebot entehrst, das von der Ehre handelt, die man Vater und Mutter schuldet. (zu Kriemhild) Bring ihr einen Teller. Und zwar ganz schnell! Und du meine Kleine, bleibst ganz ruhig auf deinem Stuhl.
Kriemhild: (bringt noch einen Teller) Hab nur keine Angst, mein Schatz!
Vater: O, ein bisschen Angst kann deinem Schatz gar nicht schaden. Ich bin nämlich grimmig wütend. (Er füllt den Teller von Brunhild randvoll)
Brunhild: Aber essen tu ich nichts.
Vater: Aber da ist noch etwas, was nicht stimmt.
Kriemhild: Was gibt es denn jetzt noch?
Vater: Es fehlt noch immer ein Gedeck.
Kriemhild: Jetzt bin ich aber gespannt, wer uns hier noch verhungert! Wenn du willst, legen wir auch noch ein Gedeck auf für den Herrn Jesus Christus. Er schaut wirklich etwas hungrig auf uns herab.
Vater: Nur keine Ablenkmanöver.
Kriemhild: Für wen nun also?
Vater: Ja täusch ich mich denn und bin zu lange weggeblieben, dass ich nicht mehr weiß, was hier geschehen ist oder dass ich das Vergangene durcheinander bringe?
Kriemhild: Keine Umstände, mein Herr! Sag er uns endlich, was er uns sagen will!
Vater: Gibt es oder gab es da nicht noch eine Tochter, eine zweite Tochter, die eigentlich, nämlich dem Alter nach, als die erste genannt werden muss? Oder hat man mir das nur erzählt und vom vielen Erzählen hab ich mir so ein Vorstellungsbildchen gemacht, dass ich jetzt nicht mehr anders kann, als für wahr zu halten, dass es noch eine Tochter gibt? Und ich bilde mir ein, ihr hättet sie Luise genannt?
Kriemhild: Ach, das also ist es? Das sollen wohl gar noch Luises Finger sein, die toten Finger unserer noch lebenden Tochter? Und wir hätten sie ermordet? Das ist doch allerliebst!
Vater: Für euch ist sie schon lange gestorben.
Kriemhild: Ich gratuliere. Und diese Wassersuppe soll der Beweis sein? Das hätten wir uns freilich denken können bei deiner infamen Art, dich in Szene zu setzen. Warum es doch nur alle Welt gelüstet, sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angeht? Man überlasse doch einer sorgsamen Mutter, wie sie ihre Töchter erzieht und spiele sich nicht auf, als ob sie Nachhilfe bräuchte; und wenn eine Mutter sich im Umgang mit ihren Kindern auch selber wie ein Kind geben mag. Würde mich nicht wundern, wenn du sie mitgebracht hättest und sie drunten vor der Haustüre stünde als Überraschungsgast.
Vater: Siegfried kann ja mal nachschauen.
Siegfried: Soll ich?
Kriemhild: Das wäre noch schöner. Ihm den Gefallen zu tun und hinunterzugehen und ihn in seiner Rolle als selbsternannter Oberrichter zu bestätigen.
Vater: Aber einen Teller stellen wir für Luise hin. Damit ihr als Kind des Hauses der Tisch gedeckt ist, falls sie nach Hause kommt.
(Kriemhild stellt einen Teller hin)
Brunhild: Warum geht Siegfried nicht, die Luise heraufholen? Wenn Luise käme, kriegte sie meinen Teller und dann könnte sie Suppe essen, bis ihr der Bauch platzt. Ich aber verschwände im Bett! - Klar und deutlich hab ich gesagt: ich bin satt! Und das ist keine Einbildung.
Vater: Und ich habe gesagt: ich bin es auch satt! Und das ist auch keine Einbildung. Überhaupt, was hat euch dieses Kind getan, dass ihr es aus dem Haus jagen musstet? Hättet ihr es in seinem Selbstbewusstsein gestärkt, hättet ihm Mut zugeredet, hättet es gelobt auch bei einem kleinen Vorsatz und Ansatz: es hätte ein schönes Reis werden können. Oder hat sie versucht, euch die Kehle durchzuschneiden? Aber selbst wenn sie einmal versucht haben sollte, euch Böses anzutun, so heißt es doch, dass man Böses mit Gutem vergelten soll. Oder etwa nicht, Fräulein Kirchenlehrerin? Von den Söhnen weiß man seit langem, dass sie immer wieder einmal ihren Vätern nach dem Leben trachten, so dass ein Vater durchaus gut beraten ist, wenn er vor dem Zu-Bett-Gehen die Schlafkammertüre gut zusperrt. Aber von Töchtern? - Doch das war es wohl nicht, sonst würdet ihr nicht so still vor euch hin schweigen. Was war es nun also? Lasst mich raten, ob ich es nicht herausfinde.
Kriemhild: Zu suchen, wo nichts zu finden ist, ist kein Merkmal von Klugheit.
Vater: O ich ergehe mich gerne in Torheiten. Schon immer war es meine Spezialität, mich im Unlösbaren zu versuchen. So weit bin ich jedenfalls schon in meinen Forschungen, dass es sich um etwas Grässliches handeln muss.
Kriemhild: Das ist doch völliger Unfug.
Vater: Das wird doch wohl niemand bestreiten, wenn er nur auf drei zählen kann, dass alle Kinder die Gesichter ihrer Eltern tragen, in freudigen wie in betrüblichen Stunden.
Kriemhild: Wir danken für den tiefenpsychologischen Exkurs, möchten ihn aber abbrechen mit dem Hinweis, dass wir von Ärzten und Pseudoärzten und allem diesem Ungeziefer die Schnauze voll haben. Dabei denke ich nicht nur an die großen Haie, die durch die Gänge und Zimmern einer Klinik schwimmen. Ich denke da auch an die Praktiker. Der letzte, mit dem wir es versucht haben, das war vor etwa einem Jahr, hatte bei seinem Antrittsbesuch nichts Besseres zu tun, als uns auszufragen, um dann unsere Antworten einem großen Block anzuvertrauen. Ich sagte da etwas wegen dem Lebenssinn, der in unserem Fall nur noch mühsam aufgesucht werden kann, worauf er sich gleich ganz besorgt stellte und fragte, ob jemand von uns suizidal gefährdet sei. Und natürlich war auch das Sexualleben für ihn von höchstem Interesse. Nachdem die Kirche versagt und die Praktiker der Medizin sie beerbt haben, gehören jene kitzligen Fragen nun zu den ausgesprochenen Interessen der Mediziner. Endlich begehrte er zu wissen, was wir glauben; damit er uns den konfessionell korrekt lackierten Leichenwagen zuschicken kann, wenn er am Ende ist mit seinem Latein. Dann aber dauerte es nur noch ein paar Augenblicke, dann war er mitsamt seinem Vertrauen fördernden Notizblock vor der Türe.
Vater: Und doch meine ich fast, auch Luise vor mir zu sehen, wenn ich dem Fräulein Tochter ins Aug schaue.
Brunhild: (aufbrüllend) Das ist zu viel.
Vater: Ja meinst du, ich bin zum Vergnügen gekommen?
Kriemhild: Lass deine Finger aus diesen Dingen! Zumal, wo du selber Dreck hast am Stecken. Oder konnte ich wissen, dass sie nie gute Seide zusammen spinnen würden, konnte ich das Unversöhnliche deines Charakters kennen, dass du deinem eigenen Fleisch und Blut vererbt hast, und dass du nun glaubst, bestrafen zu sollen?
Vater: Hätt ich gewusst, was Ihr mit euren Kindern anfangt, dass Ihr eine Tochter verstoßen und aufgegeben habt bei Lebzeiten ... ich hätte mein Testament ganz anders verfasst. Verflucht hätte ich euch.
Brunhild: Das halt ich nicht aus! (Sie will wegrennen)
Vater: Nur hübsch dageblieben, meine liebe Kleine, ehe dich der Satan abholt! Oder war es nicht eine Erfindung des Satans, gnädige Frau, dass sie vom Pferd fiel? Hatte sie nämlich zuvor schon den Ton anzugeben sich bemüht, so hört sie seitdem nicht mehr auf, euch mit ihrer unnachgiebigen, befehlshaberischen Art zu unterjochen.
Kriemhild: Mein Herr! Jetzt sag ich nur noch: Gehen Sie oder ich rufe die Polizei!
Vater: Dass das ein nichtiges Unterfangen ist, das haben wir nun doch hinlänglich ausprobiert. Die Polizei hat jetzt keine Sprechstunden. Das sind Schalterbeamte, die tun den Dienst korrekt nur bis zum Feierabend. Und wäre sie da und könnte sich zu Wort melden, so würde sie nichts anderes sagen, als was ich jetzt auch sage, dass nämlich noch längst nicht aller Leiden Maß erschöpft ist. Noch wartet die Suppe im Teller.
Kriemhild: Noch einmal sage ich "Mein Herr, gehen Sie!"
Vater: Ich fürchte, der Herr Jesus wird mir Recht geben, wenn ich sage, dass es sich nicht gelohnt hat, dieses Menschengesindel zu erschaffen.
Brunhild: Mir träumte, der Herr Vorvater hätte meinem gebalgten Kätzchen die Pfoten abgeschnitten und sie mir als Einlage zur Suppe überreicht.
Vater: Und mir träumte, es hielte sich in diesem Haus eine Tochter auf, die ihre ältere Schwester aus dem Haus vertrieben hat. Und die Eltern hätten ihr dabei geholfen.
Brunhild: Mir aber wäre lieber, es wären die Finger seiner älteren Enkelin als die Zehen meines Kätzchens.
Kriemhild: Damit alles ein für alle Mal klar ist, sage ich jetzt, und du gib gut Acht, dass du nichts mehr durcheinander bringst! Weder hat Brunhild ihre Schwester aus dem Haus vertrieben, noch auch haben wir die Luise aus dem Haus gejagt. Wir haben sie in die Ferne geschickt, weil das Leben bei uns zu Haus für beide Töchter zusammen nicht mehr erfolgversprechend genug war. Das ist bei erwachsen werdenden Kindern in unseren Kreisen durchaus nichts Besonderes. Und da Luise damals schon ihr Examen hatte, bestand keine Gefahr, dass sie nicht im Ausland Fuß fassen konnte.
Vater: Und warum habt ihr sie dann wieder nach Haus gerufen? Ja warum versucht ihr, das gar über die Gerichte zu erreichen? Ist das nicht widersinnig?
Kriemhild: Keineswegs. Aber du willst mich wohl als eine Lügnerin herausstellen. Zwischen damals und heute klafft doch ein riesiger Abgrund. Damals war Brunhild noch gesund, jetzt ist sie schwer krank. Luise war damals begierig, wertvolle Erfahrungen zu sammeln; die wollten wir ihr durchaus gönnen; dazu hatten wir sie ja gerade ins Ausland geschickt; zugleich aber auch, dass sie dort sich nach Haus sehnte und so, geläutert und mit dem Blick für das Rechte, wieder an unserem Leben teilnähme. Damals verfügte Brunhild noch nicht über diese Reife, heute aber, gerade bei ihren literarischen Projekten und Arbeiten kann sie eine rechte Hand sehr gut brauchen. Und Luise, die heute sehr wohl weiß, wie wenig goldene Blütenträume in der Fremde reifen, könnte, wenn Brunhild schreibt, ihr sehr gut beiseite stehen. Sie könnten zusammen wirken wie ein Herz und eine Seele.
Vater: Sind das nicht alles blauäugige Träume und Märchen?
Kriemhild: Das sind keine blauäugigen Träume und keine Märchen; das ist die Wahrheit. Geh Brunhild und hol das Totenbildchen, das du gemacht hast.
Vater: Sie bleibt.
Kriemhild: Und warum, wenn ich wissen darf?
Vater: Weil sie erst ihre Suppe aufisst! Wenn sie ihre Suppe aufgegessen hat, ist dazu noch Zeit.
Kriemhild: Nur schade, dass er kein Landesfürst ist. Sonst könnte er alles durchsetzen, was ihm an Hirngespinsten durch den Kopf zieht. - Soll uns doch dein Sohn zuerst einmal mit gutem Beispiel vorangehen!
Siegfried: Worum geht es?
Brunhild: Dass du uns zeigst, wie man diese Suppe isst! Du sollst uns mit gutem Beispiel vorangehen. Du hast doch einen rüstigen Magen. Wahrscheinlich ein Erbstück von deinem Herrn Vater.
Kriemhild: Hier steht dein Teller! Und nun zeig uns, wie man sie isst!
Siegfried: Soll ich wirklich?
Kriemhild: Du hast es doch gehört. Also iss jetzt! Denke, du wärst Alexander der Große, als er noch etwas Kräftiges nötig hatte vor seinen unsterblichen Schlächtereien.
Siegfried: Und ihr?
Brunhild: Wir schauen dir zu und bewundern dich.
Siegfried: Und was sagt der Vater dazu?
Vater: Was ich dazu sage? Weiberheld!
Siegfried: Wie?
Vater: Da ich dich noch immer, wenn auch nur im eingeschränkt biologischen Sinn, für meinen Sohn halte, so will ich dir sagen, dass du übel beraten bist, auf deine Frauen zu hören.
Brunhild: Mein Herr. Will er seinen Sohn zum Ungehorsam gegen uns anhalten?
Vater: Diese Suppe zu essen, dazu gehört vielleicht einige Überwindung, zumal wenn man sie mit den falschen Augen anschaut. Immerhin aber lässt sie sich auch anders begreifen, zumal wenn man an die ungeheuerlichen Schulden denkt, die kein endlicher Geist zu verarbeiten und zu verdauen in der Lage ist. Diese Schulden werden tilgbar, indem man sie durch Essen vertilgt. Wenn man sich das recht vergegenwärtigt, dann, so möchte ich sagen, lässt sich die Suppe nicht nur essen, sondern auch genießen.
Siegfried: Das mag sein; dennoch aber werde ich nur tun, was Kriemhild befiehlt. Soll ich also?
Brunhild: Ja, iss!
Siegfried: (während auch Kriemhild zustimmt) Nun gut. Dann esse ich eben. (Er beginnt hastig die Suppe aufzuessen) Gleich bin ich fertig, das werdet ihr sehen. - Augen zu und das Zeug herunter! - Ich tu, wie man an den Martinsgänsen tut, die man noch tüchtig stopft, ehe man sie ins Schlachthaus bringt. Dabei stopfe ich mich selber. Ist das nicht lustig? Warum lacht niemand über meinen Witz?
Brunhild: Bravo! Bravo! Was für einen Helden haben wir uns da groß gezogen!
Siegfried: Nur her damit! Diese Röllchen und Bröckchen verdrücken wir wie Fliegen.
Brunhild: Bravo! Auf ihn ist Verlass. Darf es noch ein Teller voll sein?
Siegfried: Soll ich?
Kriemhild: Jetzt ist genug.
Brunhild: Warum ist genug?
Kriemhild: Nur ein Dummkopf isst, ohne zu wissen, was er isst.
Vater: Es sei denn, dass man einen dazu verurteilt und der muss essen.
Brunhild: Siegfried isst, auch ohne verurteilt zu sein und ohne zu wissen, was er isst. Sieh doch, fast hat er die gesamte Suppe ausgeschlappt.
Siegfried: Nur her mit dem Zeug. Was weg ist, ist weg!
Brunhild: Hätte er nur ein Riesenmaul, er würde auch noch die Erde und das Weltall wegfressen.
Vater: Im Dienst des Weibes würde er dann auch noch sich selber auffressen, dass überhaupt nichts mehr da wäre.
Siegfried: Ich tu nur, was Kriemhild sagt.
Kriemhild: Genug.
Siegfried: Was sagst du?
Kriemhild: Es ist jetzt genug.
Siegfried: Gut, dann lege ich den Löffel weg. Er darf in Pension. Und nun?
Brunhild: Abscheulich, widerlich, zum Kotzen war das, was du uns da geboten hast. Hätte Kriemhild nicht zu dir gesagt, es ist genug, du hättest auch noch den Boden der Suppenschüssel abgeleckt.
Siegfried: Wenn Kriemhild zu mir sagt, ich soll, dann darf ich, ja dann muss ich.
Brunhild: Hat er nicht gemerkt, dass sie ihn auf die Probe gestellt hat? Aber er ist zufrieden wie der Zuchtbulle im Stall, wenn man ihm nur viele Kühe zuführt. O, ich schäme mich über so viel Unbrauchbarkeit!
Siegfried: Aber du hast doch gesagt, ich soll essen!
Brunhild: Hast du nicht gemerkt, dass sie dich nur prüfen wollte?
Siegfried: Hast du mich nur prüfen wollen?
Kriemhild: Wir haben uns erniedrigt.
Siegfried: Was konnte ich anderes machen?
Brunhild: Es ist mir unerträglich, hier noch länger zu sitzen. (Will sich erheben du gehen)
Vater: Schön hiergeblieben, mein Fräulein! Mit so einem Trick entkommt sie mir nicht!
Brunhild: (Sie hat schon fast den Vorhang erreicht) Was soll das heißen? Ist das Weltall erfunden worden, um mich durch die Männerwelt quälen zu lassen? Ich denke nicht daran.
Vater: Hauptsache, ich denke daran.
Kriemhild: Er spricht wirklich wie vom Archimedischen Punkt aus, aber das alles ist nichts anderes als Bluff. Merk er sich: weiter erniedrigen lassen wir uns nicht!
Vater: Jetzt ist das Fräulein Tochter an der Reihe. (Schiebt ihr einen gefüllten Teller zu)
Brunhild: Was soll das?
Vater: (den Suppentopf zeigend, der noch randvoll ist) Soll das gegessen sein? Das wird jetzt noch brav gegessen.
Kriemhild: Ha, Herr Hexenmeister, uns Hexenwerk vor die Augen zaubernd! Die Suppe müsste längst alle sein.
Vater: Und ist es doch nicht.
Kriemhild: Da isst er wie ein Scheunendrescher, dass ich Erbarmen habe und ihm zurufe, es ist jetzt genug. Oder hast du etwa nicht wie ein Scheunendrescher gegessen?
Siegfried: Ja, ich habe wie ein Scheunendrescher gegessen.
Vater: Dabei weiß er noch nicht einmal, was ein Scheunendrescher ist.
Siegfried: O ich weiß, was ein Scheunendrescher ist.
Vater: Was er isst, habe ich gesagt. - Doch genug der Faxen! Ans Essen, Fräulein! Die Suppe wird ausgelöffelt bis auf den Grund.
Brunhild: Eher werden die Engel Gottes für mich streiten.
Vater: Will sie damit sagen, dass jemand für sie streitet?! Bitte. Wo ist der Verehrer, der für die Tochter streitet? Wo ist der kühne Engel, wo der junge Mann, der Prinz? Wo ist er? Schläft er nicht noch in seinem Bettchen?
Brunhild: Wer könnte für mich in die Schranken treten? Wo wäre der junge Mann, der dazu taugte? Mögen doch alle die jungen Männer zum Teufel gehen! So weit bin ich mit meinem Stolz noch nicht herabgekommen, dass ich jemanden von denen bräuchte. Wer etwas gegen mich hat, trete vor! Ich bin Weib genug, ihn zu schlagen!
Vater: Leute hört!
Brunhild: Man macht mir zwar den Vorwurf, ich würde meinen Vater verachten. Gewiss, da kann man nichts machen, auch er ist nur ein Mann; gleichwohl aber schätze ich ihn noch hundert Mal mehr als alle die Gimpel von Ehemännern, wie sie in ihrer vertrottelten Eheherrlichkeit über Gottes Erdboden herumstreichen. Siegfried macht wenigstens nicht mehr aus sich, als was er ist. Er ist kein Angeber und kein Aufschneider und vor allem kein Verstellungskünstler und Komödiant wie Du und deinesgleichen. Immer wieder sehen wir es doch, wie das einst Kostbarste und Höchste und Herrlichste in die Babylonische Gefangenschaft einrückt und zum wertlosen Besitz verkommt; und dann sehen wir die Frau nur noch wie einen lästigen Schatten neben dem Herrn der Schöpfung einherwandeln. Da darf sie nur noch denken, was er denkt, wenn er überhaupt noch zum Denken fähig ist; und sagen, was er sagt und hören will, und will sie etwas tun, so hat sie ihn zuvor demütig um Erlaubnis zu bitten. Was ist so ein Mann noch wert? Um dies zu erfahren, nehme man ihm das Peitschchen weg und man nehme ihm den Herrscherstab, nehme ihm seine Amtsrobe weg, sein Parteibuch weg und vor allem auch das Zertifikat seiner Allmacht weg, sein Cheque- und Geldbuch. Was er dann noch wert ist, wird augenfällig, wenn er darauf angewiesen ist, etwas aus sich selber zu machen!
Vater: Wacker gesprochen!
Brunhild: Wacker und wahr.
Kriemhild: Und nicht nur das! In der kurzen Zeit seines nächtlichen Besuchs hat er uns hinreichend Beweise dafür abgelegt, dass selbst eine 10-jährige ewige Ruhe nicht in der Lage ist, den Hochmut eines Amtsinhabers einzuschläfern. Ja, was will er denn überhaupt? Verschwinde er, wenn ihm sonst nichts mehr einfällt!
Vater: Wahrlich ich sage euch: ehe ich verschwinde, seid ihr verschwunden!
Kriemhild: (zu Siegfried) Und das lässt du dir alles gefallen, ohne für die Dame deines Herzens zu kämpfen?
Siegfried: Was soll ich tun?
Vater: In der Tat, gnädige Frau, was soll er denn tun? (zu Siegfried) Sag mir, mein Sohn, wozu der Haken da oben in der Decke gut ist? Was hängt man da auf?
Siegfried: Den Adventskranz hingen wir da auf, als die Kinder noch klein waren.
Vater: Ich dachte, der wär bestimmt für unbrauchbare Weiber.
Kriemhild: Wenn schon, dann für unbrauchbare Mannspersonen.
Vater: Wenn sie dir befohlen hätten, dich da droben aufzuhängen, du hättest es wohl ihnen zum Gefallen getan?
Kriemhild: Erst hätten wir ihm befohlen, dich dran aufzuhängen.
Vater: Allerdings. Hättest du dein Weib dort aufgeknüpft, aus dir wäre vielleicht noch etwas geworden.
Siegfried: Du säst Zwietracht.
Vater: Die ist längst gesät. Oder muss denn ein Haus nicht zerfallen, wenn der Geist des Friedens nicht in der Mutter Brust wohnt? Nichts finde ich an deinem Weib, was mich an eine auf Ausgleich bedachte, liebenswerte Mutter erinnert!
Siegfried: O doch. Aber dir fehlt der Blick der Liebe.
Vater: Das musst gerade du mir erzählen! Du, der du nichts getan hat, als die Natur zu Gunsten der einen Tochter wuchern zu lassen und koste es auch das Leben der anderen; und nicht nur deren Leben, auch das Leben meiner beiden Söhne.
Kriemhild: Immerhin lebt Siegfried noch.
Vater: O ja, er lebt noch. Und wie er noch dahinlebt, diese Totgeburt! Diese Ausgeburt an Verkommenheit, dieser Ausbund an Feigheit und Schlechtigkeit, diese Trauertulpe auf dem Mistbeet seiner Frau! Nicht einmal zum Kampf gegen mich uralt gewordenen Mann ist er fähig. Hängt euch doch alle auf! Oder lasst euch doch alle aufhängen, wenn ihr nicht fähig seid, Schluss zu machen!
Kriemhild: Das ist zu viel. Fordere ihn heraus! Tritt in die Schranken und kämpfe für meine Tochter und mich!
Siegfried: Ich tu´s! Ich trete in die Schranken und fordere dich heraus.
Vater: Da hört ihn doch an! Mein Sohn macht sich bereit, in die Schranken zu treten für seine Frau und für die Tochter seiner Frau!
Brunhild: Was sollen diese ausgezackten Akzentuierungen? Ich bin die Tochter meiner Mutter, was immer du dir dabei denken magst.
Vater: Auf denn in den Kampf, mein Sohn!
Brunhild: Überhaupt steht ihm nicht zu, sich das Richteramt anzumaßen.
Siegfried: (zu Kriemhild) Sag mir, was ich tun soll und halte es für getan.
Brunhild: Wenn du ein Mann bist, so weißt du, was du zu tun hast. Gib ihm eine Ohrfeige, die schallt, dass man es noch am Jüngsten Tag hört, und rette so die Ehre deiner Damen!
Vater: Durch eine Ohrfeige die Ehre retten? Hast du gehört, mein Sohn? O wir sind gespannt auf dieses wundervolle Kunststück!
Siegfried: Eine Ohrfeige, die schallt, dass man es noch am Jüngsten Tag hört. Es soll geschehen! So viele Beleidigungen, wie er uns heute Nacht angetan hat, haben eine entsprechende Erwiderung verdient.
Kriemhild: Und zwar eine Erwiderung, die, sofern auch nur eine Spur von Ehrgefühl noch in ihm lebendig ist, ihm jeden weiteren Aufenthalt hier unmöglich macht.
Siegfried: Ich werde nun also auf ihn zugehen und ihm mit der Ohrfeige den Ausdruck unserer tiefsten Verachtung überbringen. Jawohl, das werde ich tun.
Vater: Ei hört euch doch diesen Goliath an, wie er der von ihm verlangten Heldentat den Prolog hält! Kennst du deinen Bruder noch, Elli?
Elli: Ihn, dem du Hochachtung schuldest, willst du ohrfeigen?
Siegfried: Ich nehme meine Zuflucht zum Heiland und Messias, dass ich frei bin von aller Schuld.
Vater: Man bringe ihm eine Schüssel zum Reinwaschen der Hände!
Kriemhild: Also, auf! Genug gebetet.
Brunhild: (zu Kriemhild) Das ist es, was ich nicht ausstehen kann, wenn einer große Sprüche macht und macht dann nichts wahr. Wäre Siegfried gar nicht erst da, so würden wir uns auch keine Hoffnungen machen. Aber wenn er da ist, um erst Hoffnungen zu wecken und sie dann wieder zuschanden macht, dass man sich um seinetwillen schämen muss, dann kann ich ihn nur verachten.
Vater: In der Tat! Wie schüchtern er dasteht! Als hätte er nicht um den Segen des Himmels gefleht. Und nun schaut er drein wie ein Mäuslein, das zwischen den Pfoten einer Katze sitzt. Sehen so Sieger aus? Pfeifen wir ihn aus!
Kriemhild: Komm her!
Siegfried: Damit ihr mich verhöhnt?
Kriemhild: Hättest du deine Tochter vor ihm beschützt und ihn nicht ins Haus gelassen!
Siegfried: Noch ist die Schlacht nicht geschlagen. Ich kämpfe gegen ihn und treibe ihn wieder aus dem Haus. Ich bin bereit. Und wenn er ein Riese wäre oder eine Schlange mit sieben giftigen Köpfen.
Brunhild: Was soll das Palaver? Tu, wozu wir dich beauftragt haben!
Kriemhild: Dafür dass er dich so schlecht erzogen hat, hat er mindestens zwei Ohrfeigen verdient.
Brunhild: Ohrfeige ihn, damit er nicht uns ohrfeigt. Beleidige ihn, damit er nicht uns beleidigt. Triff ihn, dass er für immer verschwindet! Und wenn er keine Ehre im Leib hat und nicht verschwinden will, so töte ihn, damit er nicht uns tötet!
Siegfried: Jawohl, jetzt rettet ihn nichts mehr; und wenn Vaterblut an meinen Händen klebt. Jetzt soll alles das geschehen. (Seine Hand betrachtend) Das will nämlich meine Hand.
Vater: Und warum zaudert er noch? Man reiche im das Stichwort aus dem Macbeth. Wär´s abgetan, so wie´s getan ist, dann wär´s gut. Man tät es eilig.
Siegfried: O, ich habe eine starke Hand.
Vater: Sieh Auge nicht die Hand, wenn sie´s getan
Siegfried: Wenn die erst einmal ausfährt, um zuzuschlagen, dann ...
Vater: kann selbst des Meergotts Ozean nicht tilgen mehr des Vaters dunkles Blut.
Siegfried: O, es wird bitter werden für dich.
Vater: Lass dich dadurch nur nicht beirren. Nur mutig voran, du kleiner Scheißkerl! Hier ist die eine Wange deines Vaters und hier die andere Wange. Oder heißt es nicht, dass man dem Vater beide Wangen einschlagen soll? Komm endlich, zieh dein Gelingen aus der Tiefe, du Schmachtlappen, wie es dir der Satan einbläst! (Er hält die Wange hin)
Siegfried: Es wird für dich bitter werden.
Vater: Bitterer noch für dich.
Brunhild: Das wissen wir jetzt schon. Was zauderst du noch?
Siegfried: Mit welcher Wange soll ich beginnen?
Brunhild: Mit welcher du willst. Erst rechts und dann links. Oder erst links und dann rechts.
Kriemhild: Es könnte schon längst getan sein. Aber ich sehe, dass du eine Lakaienseele hast und zu feige bist, das auszuführen, was du maulig versprochen hast.
Siegfried: O, ihr sollt sehen, wie ich jetzt zur Ausführung schreite! Komm her und hol dir deine Ohrfeige ab!
Vater: Hört euch doch an, wie dieser Feigling zur Ausführung zu schreiten gedenkt! Dieses elende Würstchen, diese dressierte Stubenfliege, dieser Kot von einer Fliege. Mögen ihn die Damen entschuldigen.
Siegfried: Ich bin kein Feigling.
Brunhild: Vom kühnen Helden hat er nicht viel an sich. Ich fürchte, er ist unfähig, uns eine Wirklichkeit zu schaffen, um darin zu leben.
Vater: Er weiß eben, dass jede Rebellion gegen den Vorgesetzten mit dem Tod bestraft wird.
Siegfried: Herr Jesus, wenn du mir sagst, dass ich das tun darf, dann tu ich´s.
Kriemhild: Du darfst, wenn du kannst.
Siegfried: Dann sage mir, Herr Jesus, dass ich kann.
Vater: Was dir deine Frau gestattet, das gestattet dir auch der Herr Jesus. Wenn er es sich aber nicht selber sagen kann, kann es ihm auch nicht dein Herr Jesus sagen.
Siegfried: Also, ich geh. Wo ist der, der die Ehre meiner Tochter besudelt? Zeig ihn mir, Kriemhild!
Kriemhild: Mir aus den Augen, du Jammerlappen!
Siegfried: Wie?
Kriemhild: Wenn wir auch den Vater nicht wegschaffen können, so doch den Sohn. Geh in den Acheron, dann mag der Alte dort seinen Sohn suchen.
Siegfried: Wohin soll ich gehen?
Brunhild: In den Stall oder ins Hundeloch. Hauptsache, du verschwindest. Oder reich deinem Alten den Strick und lass dich von ihm hängen!
Vater: Wär es nicht gut, wenn er sich zuerst noch seines Trauringes oder Trauerrings entledigte?
Kriemhild: Misch er sich nicht ein! - Los! Verschwinde!
Brunhild: (während Siegfried sich in den Stall verzieht) Da wirft man uns Frauen vor, wir suchten, wenn wir etwas Verbotenes zu tun gedenken, nach Möglichkeiten, es ungestraft auszuführen! Die Männer tun doch so, wenn wir Siegfried unter die Männer rechnen. Hier bei uns zählt eben nicht die uneingeschränkte Autorität des Mannes, mit allen ihren Auswüchsen bis zum Despotismus und der Brachialgewalt.
Vater: Schaffen wir die Despoten ab, um selber Despoten zu sein.
Kriemhild: Aber vielleicht demütigt das den Alten noch mehr, als wenn er ihn geohrfeigt hätte. Ich aber würde mich schämen, ein Mann zu sein. Aber so war das schon immer. Ohnmächtig ist der Mann oder er herrscht mit Brachialgewalt. Auf Brachialgewalt und Lärm und Geschrei gestützt glaubt er etwas zu sein. Auf sie gestützt macht er jeglicher Auseinandersetzung mit der Frau ein Ende und triumphiert, wo ansonsten nichts zu triumphieren, nur zu beklagen ist. Und doch gibt es nichts Leichteres, als einen Mann zu entmachten. Man muss es nur verstehen, ihn als einen kleinen Lausbub zu entlarven, um dann seiner habhaft zu werden. Damit aber kämen wir nun wohl zu dem von uns allen heiß ersehnten Ende. Missa finita! Gnädiger Herr, gnädige Frau, darf ich Sie bitten, das Lokal aufs schnellste zu verlassen?
Vater: O, gnädige Frau. Täusch Sie sich nur nicht! Kaum mehr ist bis jetzt getan, als was notwendig war, die letzte Szene vorzubereiten.
Kriemhild: Wir brauchen keine letzte Szene.
Brunhild: Dass mein Vater sich zum Suppenkasper erniedrigt hat, das war unüberbietbar das Letzte.
Vater: Das war allerdings das Letzte. Nur dass Ihnen, meine Damen, nun noch die Aufgabe zukommt, den Rest der Suppe auszulöffeln.
Vater: Und nun an die Arbeit!
Kriemhild: Wenn er meint, ich äße etwas davon, täuscht er sich. Ich habe es schon gesagt.
Brunhild: Und was mich angeht, so sage ich ihm dasselbe.
Vater: Und ich sage euch: entweder löffelt ihr gemeinsam die Suppe aus, die ihr euch auch gemeinsam eingebrockt habt - in Company geht das leichter -, oder es geht der Reihe nach.
Kriemhild: Weder gemeinsam, noch hintereinander. Das soll er sehen.
Vater: O ja, das werden wir gleich sehen. Beginnen wir mit dem Fräulein Tochter! Nun, meine Kleine. Sieht sie nicht lecker aus, die Suppe? Hier schau dir doch nur die kleinen Fleischröllchen an! Wie Fingerchen einer zartgebauten Dame sehen sie aus, fein abgehauen mit dem Hackmesser des Fleischers.
Brunhild: Widerlich, diese Finger!
Vater: Ob das nicht die Finger deiner Tochter und meiner Enkelin Luise sind?
Kriemhild: Mach bitte keine so blutigen Witze.
Vater: Das Mädchen dauert mich aber.
Kriemhild: Sind wir denn Menschenfresser?
Stimme Siegfrieds: Lasst mich heraus! Ich schlag ihn tot!
Kriemhild: Komm, wenn du ein Mann bist!
Vater: Zu spät. Wenn es Zeit ist, holen wir ihn heraus, aber jetzt nicht.
Brunhild: Von dieser Suppe esse ich nichts. Und wenn man mich totschlägt!
Kriemhild: Das musst du auch nicht. Ich sorge schon dafür.
Vater: Gnädige Frau, ich warne sie. Sie machen die Sache dadurch nicht leichter.
Brunhild: Diese Finger! Wenn ich die nur sehe! Fehlen nur noch ein paar Haare von ihr.
Vater: Das sind die Finger, die sich im großen Gerichtstopf gegen euch versammelt haben. Seien wir froh, dass sich die ersten Finger wieder bewegen. Wenn erst einmal ein Anfang gemacht ist, läuft alles fast wie von allein. Immerhin sind nun schon zwei Anfänge gemacht. Von zwei verschiedenen Enden aus hat der Wiederaufbau begonnen. Oder sagte die Kleine nicht, die Augen der Schwester tauchten schon wieder auf in ihrer Augen Spiegel? Warum soll ihnen nicht bald das gesamte Gesicht folgen? Und mit dem Gesicht ersteht dann der Körper wieder, mit Leib und Seele.
Kriemhild: Dass du nicht noch den lieben Gott preisest, das fehlt gerade noch. Oder heißt es nicht: O Gott, alles hast du so wunderbar erschaffen, aber noch wunderbarer erneuert? Heißt es nicht so und möchtest du nicht am liebsten so ausrufen? Und wir werden dir zu Füßen liegen und dir danken, dass du unsere Familie wieder vollständig gemacht hast? O du Heuchler! Aber ich kann dir auch sagen, warum du dich so um unsere Luise sorgst, während du die Brunhild hasst. Weil Luise ganz auf dich und auf deine Familie hinauskommt, während Brunhild über so schöne Eigenschaften verfügt wie Unbefangenheit und Leichtigkeit im Umgang und Freiheit im Bewegungsausdruck, ein Erbe von meiner Seite. Jawohl, so parteiisch warst du schon immer und bist es umso mehr geworden, je schönere Fortschritte Brunhild gemacht hat. Luise indessen mit ihrem steifen Körper und ihren eckigen und kantigen Bewegungen, vor allem aber mit diesen, bei der kleinsten Erregung, hervorquellenden Glotzaugen, wie man sie auch bei dir sieht, konntest du dadurch nicht retten. Aber danach verlangst du wohl auch gar nicht, auch wenn du von Erweckung redest. Dir genügt, dem einen Mädchen, das in den Abgrund gestürzt ist, um irgendeiner unfassbaren Gerechtigkeit willen, das andere nachzuschicken.
Vater: Wir werden ja sehen.
Kriemhild: Noch aber haben wir Zeit, uns zur Wehr zu setzen. Und so sage ich: Zwei Wege gibt es, mein Herr. Entweder akzeptiert er, dass sein Sohn für uns alle gegessen hat; immerhin hat er brav und tüchtig zugelangt ...
Vater: Oder?
Kriemhild: Oder wir behandeln dich von jetzt an als unseren Feind.
Vater: Behandelt mich, wie es euch gefällt. Nur dass euch das nicht nützt.
Kriemhild: Immerhin hat auch schon der Gottessohn für uns Mühsal auf sich genommen. Warum also nicht auch dein Sohn für uns?
Vater: Auf einen Kuhhandel lass ich mich nicht ein.
Brunhild: Ja, dann iss doch deine gottlose Suppe, du Wasserwirt und Fingerschlächter! (Sie steht auf, um in ihr Zimmer zu gehen, bleibt aber vor dem Vorhang stehen)
Vater: Nur immer zu! Versuch, dich mir zu entwinden! Du verschwindest nicht, eh du nicht alles hinter dich gebracht hast. (zu Kriemhild) Wenn sie sehen könnte, wie verstört sie aussieht, wenn sie so spricht!
Brunhild: Das macht meine Schwester Luise. Sie möchte mir mit ihren Fingern in die Haare. Als ob es keinen bequemeren Weg gäbe als durch meine Augen.
Kriemhild: Musste Brunhild krank werden, damit es offenbar wird, dass niemanden mehr da ist, ihr zu helfen? Dass man nur noch auf ihr herumtrampeln kann wie du, seichter, seniler Greis!
Vater: Immerhin scheint sie mir, den rechten Weg zu erraten. Mag sie nun endlich erkennen, dass ihre Eigenliebe es war, die die Freiheit ihrer Schwester so eingeengt hat, dass diese unter dem Dach ihrer Eltern keinen Platz mehr hatte.
Brunhild: (öffnet kurzzeitig den Vorhang, wo drei schwarz gekleidete Männer stehen, schlägt aber dann den Vorhang wieder zurück) O, was ist das? (Sie kehrt an ihren Platz zurück, wo sie über ihrem Teller immer mehr in den Todesschlaf gleitet, während ihre Mutter den Kampf für sie aufnimmt)
Kriemhild: Was hast du? (Sie springt auf und schaut hinter den Vorhang) Ah, was ist das! Meine Herren! Wer oder was hat sie hergeführt? Braucht der alte Herr da eine Verstärkung aus der Gespensterabteilung? Nachts finden keine Beerdigungen statt, das sollten sie wissen. Da sollten sich so bewährte Beerdigungsdiener wie Sie eine Ruhe gönnen. Drum gehen sie nur. (Schlägt den Vorhang wieder zu.) In der eigenen Wohnung sind wir nun also nicht einmal mehr sicher. Und Siegfried schläft?! (ruft) Siegfried!
Vater: Da wird sie vergebens rufen. Siegfried hat so tüchtig gegessen, dass er noch lange darüber schlafen wird.
Kriemhild: Dann lass mich für Brunhild essen. Dann aber ist die Sache gegessen.
Vater: Keinen Kuhhandel, habe ich gesagt.
Kriemhild: Sie ist gestraft genug, sofern sie etwas getan haben sollte, was einer Strafe bedarf. Oder ist diese Krankheit nicht Strafe genug? Ist sie denn ein Verbrechen, für das man auch noch bestraft werden muss? In was für einer Welt leben wir eigentlich, wenn Krankheit als ein Glücksfall angesehen werden muss, wofür man noch eine Glückssteuer zu entrichten hat? Das kann ich nicht dulden. Dann esse eben ich Brunhilds Portion. (Sie isst aus Brunhilds Teller)
Vater: Und das Fräulein Tochter duldet das? Sieht zu, wie Mutter und Vater aufessen, was sie ihnen eingebrockt hat? Ist das nicht widerlich? Wer auch möchte so ein Mädchen zur Frau haben?
Kriemhild: Lass sie endlich in Ruhe! Du quälst und demütigst sie in einem fort.
Vater: Nur die Wahrheit quält und demütigt.
Kriemhild: Dann ess ich auch nicht weiter!
Vater: Das nützt ihr auch nichts, wenn Mutter und Vater sich für sie opfern. Davon wird die Suppe nicht weniger. Schau doch nur in den Topf!
Kriemhild: Hexensatan!
Vater: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Ehe ihr nicht die sämtlichen zehn Finger der Schwester Luise aus dem Mund schauen, geht sie nicht weg vom Tisch.
Kriemhild: Ich dulde das nicht.
Vater: O wir werden es schaffen.
Kriemhild: Wenn Luise essen müsste, dann glaubte ich noch an die göttliche Gerechtigkeit. Aber die göttliche Gerechtigkeit ist gestorben. Der Menschheit helfen oder sie gar erlösen zu wollen, das ist verrückt, sinnlos, hirnverbrannt. Wie anders sonst wäre es möglich, dass es eine solche Schwester gibt, die ihre kranke Schwester derart im Stich lässt? Keinen Brief, keine Postkarte, kein Stück Geld oder sonst eine kleine Aufmerksamkeit hierher zu schicken hat sie jemals für nötig erachtet und lebt nun doch schon fast zwei Jahre im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Vater: Alles beginnt einmal, herauszuschreien, was wir getan haben.
Kriemhild: Es wird ein Rächer kommen, dem du wirst Rede und Antwort zu stehen haben.
Brunhild: (ohne etwas zu essen) So ess ich eben das Zeug.
Kriemhild: Lass die Finger davon! Wenn schon ich klein beigegeben habe und es war umsonst! Es ist genug. (Öffnet wieder den Vorhang; wieder sieht sie die drei schwarzen Männer dahinter) Da stehen sie immer noch, die drei schwarzen Affen! Was soll das, meine Herren? Meinen Sie, ich hätte Angst vor dem schwarzen Mann?
Brunhild: (ohne etwas zu essen) Lass mich essen. Wenn es auch niemandem mehr hilft.
Kriemhild: Nur nicht klein beigeben. Er ist ein Despot.
Brunhild: Ich sehe den Christus, wie er mir winkt.
Kriemhild: Was für einen Christus? Das ist nichts als ein Gespenst, erzeugt durch den Popanz von Siegfrieds Vater. Er wehrt sich, weil Siegfried in die Hütte hat gehen müssen. Nehmen wir sein Aufbegehren in Kauf, wenn wir es auch leichter hätten ohne sein Gespensterdasein. Aber das ist wegen des Unglaubens in der Welt. Jawohl, das ist wegen Elli. Weil man in der Türkei dem Christentum keine Aufnahme gewährt.
Brunhild: Und dort das Fenster! (Es verwandelt sich alles allmählich in eine Art Kirche; das Fenster in ein Kirchenfenster)
Kriemhild: Was geht hier vor sich?
Vater: Keine Ausflüchte. Die Suppe wird gegessen.
Kriemhild: Sag doch gleich, dass du unseren Abtritt willst! Und warum? Du selber hattest doch festgelegt, dass das Erbe in der Familie zu bleiben hat. Warum also kam man nicht auf uns zu? Sahen sie nicht, was für eine Gelegenheit sie hatten, das geschwisterliche Band zu festigen? Doch nein, sie wollten nicht sehen. Zwar sahen sie unseren Wunsch, doch sie hielten es für schöner, uns wie Hunde heulen zu lassen. Ein Wunder, dass Brunhild da noch so christlich gedichtet hat.
Vater: Lieber kein Gotteslob, wenn es aus gottlosem Herzen kommt.
Kriemhild: Wie parteiisch und selbstgerecht!
Vater: Nichts als Ausreden und Lügen, die ihr erfunden habt, um euch nicht schämen zu müssen, um euren Plänchen nachzugehen. Als ob deine Tochter, diese Ausgeburt einer Missgeburt, nötig wäre, unseren Besitz als letzte des Geschlechtes durchzubringen. Besser, es geht jetzt schon zu Grunde, als dass der da noch etwas übrig bleibt. Jawohl, hättet ihr die Töchter wohlerzogen, dann blühten sie jetzt im Kreis neuer Familien als Mütter. Männer ständen an ihrer Seite, die sich sehen lassen könnten, wacker, duldsam, kräftig. Aber wie soll sich ein junger Mann in euer Haus trauen, wenn er diesen Siegfried sieht? Einst war er mein Sohn. Heute ist er eine Trauerruine.
Kriemhild: Und das genügt, dass Brunhild das auszufressen hat? Du willst doch wohl nicht deinen eigenen Stamm mit eigener Hand auslöschen.
Vater: Es sind nur die Auswüchse. Was unkontrolliert gegeigelt ist, muss zurückgeschnitten werden.
Kriemhild: Und alles das, weil es dieser Tochter an Großmut und Glauben und Selbstdisziplin, an Selbstbeherrschung und Demut und Güte gefehlt hätte? Und warum hat es ihr daran gefehlt?
Vater: Weil sie schlecht erzogen wurde. Und warum wurde sie schlecht erzogen. Weil die Mutter, die die Erziehung ihrer Töchter für ihr Privileg erklärt hat, jämmerlich versagt hat. Weil sie den Töchtern Stolz und Hochmut gepredigt hat.
Kriemhild: Es ist dein eigen Fleisch und Blut.
Vater: Beschau sie sich im Spiegel ihrer Suppe! Dann mag sie sterben.
(Während Brunhild über ihrem Suppenteller niedersinkt und regungslos verharrt, das Gesicht zur Suppe, als sähe sie das Bildnis Luises aus dem Teller, betreten die schwarzen Männer das Wohnzimmer)
Kriemhild: (sie ist erschöpft, sie glaubt, Brunhild sei über dem Suppenteller eingeschlafen, will die Männer hindern, ist dann zufrieden, dass sie sie unter das Kreuz tragen) Was wollen die Männer?
Vater: Wegschaffen, was nicht mehr lebt.
Kriemhild: Und wer lebt nicht mehr außer dir?
Vater: Hier, sieh doch her! Deine Tochter!
Kriemhild: Sie lebt nicht mehr? Dein alles erkennender und durchdringender, weltmännischer Blick in Ehren, aber da musst du doch selber lachen.
Vater: Schon die ganze Zeit über sehe ich sie in einem Krankenbett liegen, das in einem Krankenhaus steht, wo man alles fertig macht für die große Chefvisite.
Kriemhild: Das sieht dir ähnlich. Und da bist du natürlich der große Chefarzt? Gratuliere. Da hast du dann sicher auch den Tross deiner Knechte bei dir? Die Oberärzte und Unterärzte und die Pfleger und die Schwestern und das technische Personal und wen sonst noch alles?
Vater: Die Toten- und Leichengeier hast du noch vergessen.
Kriemhild: Nun dann! Auf zur großen Visite!
Vater: Nie steht man so im Mittelpunkt der Welt wie bei der großen Chefvisite. Einmal der Mittelpunkt der Welt sein, um den sich alles dreht. Glückselige Krankheit, drängt es einen da auszurufen, die dich so berühmt macht!
Kriemhild: (zu den Männern, die Brunhild wegtragen wollen) Lassen Sie Ihre Hände von meiner Tochter!
Vater: Das ist ja das große Missverständnis. Hätte der Patient seine Suppe zu sich genommen, das einzige, für ihn so wichtige Medikament, er hätte vielleicht noch einmal die Krise gemeistert. Nun aber, da die Suppe stehen geblieben ist, ist an kein Erwecken mehr zu denken.
Kriemhild: Ihm ist alles Wurst: Leben und Tod. Gebären und Sterben. Beseelen und Entseelen.
Vater: Sobald der Chefarzt den Teller sieht, aus dem nichts gegessen worden ist, bricht er die Behandlung ab. Das Urteil selbst ist mit der Verweigerung der Suppe bereits ergangen.
Kriemhild: Er wird sich hüten, meinem lieben Kind etwas zu Leid zu tun. - Meine Herren, wer hat ihnen eigentlich die Erlaubnis gegeben, bei uns einzudringen? Was wollen Sie?
Vater: Tote dürfen nicht in Wohnhäusern bleiben, gnädige Frau.
Kriemhild: Ist das die ganze frohe Botschaft, die er uns aus dem Reich der Toten mit herauf gebracht hat? - Überhaupt aber sehe ich nirgends etwas Totes, es sei denn dieses Teufelszeug da! Wenn Sie aber, meine Herren, der Herr da hergerufen hat, wegzuschaffen, was nicht mehr lebt, dann schaffen Sie mir dieses Teufelszeug von Suppe mitsamt den Fingern endlich aus den Augen!
Männer: Uns muss niemand rufen. Wir merken es von allein und sind dann zur Stelle.
Kriemhild: Lassen Sie die Finger von meinem Kind! Sie irren sich. Meine Tochter lebt.
Vater: Ihr scheint, dass sie noch lebt.
Kriemhild: (Brunhild am Kinn fassend) Auf Brunhild! Zeig ihnen, dass du noch lebst! Sag ihnen, dass sie sich zum Henker scheren sollen!
Männer: Das ist umsonst.
Kriemhild: Wenn sie aber tot ist, dann hat sie einer getötet. Und ich weiß auch wer!
Männer: Wer sonst als der Tod? Der Tod tötet fleißig. Oder auch das Schicksal, oder, wenn Madame es lieber hört, der liebe Gott.
Kriemhild: Wärst du im Grab geblieben, hirnloser Greis, statt unser elendes Heim heimzusuchen! Zum Tod verurteilen und töten, darin waren die Männer schon immer groß. Vor allem aber er. Zum Leben aufzumuntern, wie wir Mütter, das vermochte er freilich nicht; das ist ihm stets fremd geblieben. Was also warten Sie noch? Stehen herum? Nehmen Sie den Herrn fest und führen ihn ab! Schämt sich nicht, unsere Brunhild umzubringen und sich dann noch darüber lustig zu machen, diese armselige, alt gewordene, lächerliche Gestalt, die sich kaum mehr auf den Füßen halten kann.
Männer: Das ist nicht möglich.
Kriemhild: Weil ihr euch die Unmöglichkeit in den Kopf gesetzt habt? Steht denn nicht alles sternklar in die Nacht geschrieben? Jawohl, eigens diese Nachtzeit hat er sich dazu ausgesucht, dass es keiner hört, wenn einer um Hilfe schreit. Aber ich lasse das nicht durchgehen. Ich ziehe ihn zur Rechenschaft. Und wenn sich die Herren taub stellen, die er vom Friedhof mitgebracht hat, so will ich die Behörden der Stadt aus dem Schlaf schrecken. Und wenn das nicht hilft, schrei ich zum Fenster hinaus in den offenen Himmel und scheuche die Sterne durcheinander. (Sie greift nach dem Telefon. Die drei schwarzen Männer stehen dabei und lächeln über sie wie über ein törichtes Kindlein.) Hallo, wer ist dort? - Wie? Bin ich nicht bei der Oberpolizeidirektion?
Einer der Männer: (er spricht offen sichtbar, für Kriemhild aber kommt die Stimme zugleich aus ihrem Telefon, so dass sie zuerst weiter nichts merkt) Was begehren Sie, gnädige Frau?
Kriemhild: Ich bitte Sie, unverzüglich zu kommen. Es sind grässliche Dinge bei uns in Gang.
Einer der Männer: Worum handelt es sich denn? Ist es nicht schon etwas spät?
Kriemhild: Was hier geschieht, muss aufgeklärt werden, welche Stunde auch immer schlägt.
Einer der Männer: Aber, aber. Gnädige Frau. Nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird.
Kriemhild: Sie wissen ja nicht, was Sie sagen. Die Suppe wurde noch heißer gegessen. Sie hat mir mein Kind gekostet.
(Gelächter dringt jetzt aus dem Apparat, ohne dass man jemanden lachen sieht)
Kriemhild: (erkennt den Betrug und legt das Telefon beiseite) So weit also ist es schon gekommen?
Männer: Seien Sie froh, gnädige Frau, dass wir Ihrem Wunsch einen Riegel vorgeschoben haben. Was auch hätte Ihnen eine Polizei genützt, die, wie in unseren Landen, an die Weisungen einer Oberbehörde gebunden ist und deren Handlungsspielraum sich folglich auf simple Dutzendfälle beschränkt! Glauben Sie wirklich, dass ein Polizist uns etwas nach Ihrer Pfeife vorgetanzt hätte? Seien Sie uns dankbar, dass wir Ihnen eine solche blamable Erniedrigung erspart haben.
Kriemhild: Dann wäre das also das Ende?
Vater: O wir sind noch lange nicht am Ende. Hier ist der Rest der Suppe!
Kriemhild: Aufzuwarten, Kommissar Minos. Aber selbst wenn er mich totschlägt, esse ich von dem Zeug nicht mehr. Keinen Bissen. (Sie schüttet die Suppe auf den Boden und springt auf, in Richtung Hausflur) Erwecke mein Kind, und ich will sie dir ausfressen. Ansonsten aber gib dich nur keiner Hoffnung hin. Und hättest du auch die Macht, die Sonne anzuhalten, dass es eine Ewigkeit dauern sollte bis zum Anbruch eines neuen Tages, ich ließe mir nichts gefallen.
(Die Bühne verwandelt sich jetzt fast stetig aus dem Wohnzimmer in den Chor einer Kirche. In der Mitte der Esel-Christus, dem nun Brunhild in den Arm gelegt wird. Links auf dem Hochsitz des Bischofs der Vater. Daneben Elli. Rechts das Gestühl für die schwarzen Männer, die jetzt Kutten tragen. Auf dem Altar in der Mitte vor den Stufen steht der Suppentopf. Auf den unteren Stufen, die von der Vierung zum Chor heraufführen, steht Kriemhild. Die Stufen mit Kriemhild versinken während des folgenden Monologs immer mehr. Siegfried, gerufen, kommt dann aus einem Loch oder aus der Sakristei.)
Vater: Nun aber frage ich dich, o Weib: Was hast du dir gedacht, als du auf die Marotten dieser Giftschlange eingegangen bist? Musstest du dir von ihr sagen lassen, was du zu tun hast? Und musstest du dann auch noch meinen Sohn einspannen in die Pläne dieses Ungeheuers? Schämst du dich nicht? Sage nur nicht, was sollte ich machen, das Kind war krank. Und auch das sage nur ja nicht, dass du meinen Sohn mit einspannen musstest, weil er zu schwach war, sich eine eigene Meinung zu bilden. Zwar stimmt es wohl, dass er schwach war; und dafür soll er auch büßen, entschuldigen aber kann dich das nicht.
Kriemhild: Das werden wir ja sehen. Von jetzt an nehme ich keine Rücksicht mehr auf dich. Weder auf dein Alter, noch auf deine Torheit, noch auf deine Schwäche.
Vater: O mit meiner Schwäche bin ich noch stark genug, Zehntausende von eurer Sorte zu besiegen.
(Die drei schwarzen Männer, eine Mischung aus Beerdigungsdiener, Sakristan und Mönch, wollen sie ergreifen)
Vater: Meine Herren, lassen Sie die Frau! Wenn es soweit ist, gebe ich Bescheid.
Kriemhild: Wenn es soweit ist? O, es ist soweit! Meine Herren, kommen Sie und halten Sie mich fest. Ich bin willens, zu fliehen. Sagen Sie: Stehenbleiben! Dann haben Sie einen schönen Grund, mich wegen Missachtung der Amtsgewalt totzuschlagen. Was immer Sie nämlich auch sagen mögen, für alle Ihre Worte bin ich taub. Ja, Sie tun ein gutes Werk, je schneller Sie zuschlagen, um so schneller ist es auch geschafft, gelüstet es mich doch nicht, noch länger hier zu sein. Denken Sie, ich hätte meine Töchter umgebracht oder ich hätte die große Bombe bei mir und wäre eben dabei, die Welt zu vernichten. Doch wo ist der Hausflur, dass ich euch entfliehe? - Ah, so haben es die Herren eingefädelt! Haben alle Ausgänge mit Totengeiern besetzt. Die sollen mich beschützen, damit ich nicht das Treppenhaus hinabstürze und mein Fuß an keinen Stein stößt? Ha, ihr Dummköpfe, wie kann ich das Treppenhaus hinabstürzen, wenn keines mehr da ist, wenn alles abgeschnitten ist mit der Atropos-Schere: die Nabelschnur, an der die Welt hing, und die Schnur, an der das Leben hing? Wenn alles an der Kette des Todes hängt und hinabsaust ins ewige Nichts und wenn außer diesem Nichts nichts mehr da ist? So kommt denn zu mir, ihr Schergen aus Himmel und Hölle! Kommt und stoßt zu und tut, was noch zu tun ist! Ich habe gekämpft, bis ich nicht mehr konnte. Jetzt ist es mir zu viel geworden; jetzt ist nichts mehr ist da, wofür ich noch zu leben und zu kämpfen hätte. Kommt und gebt diesem meinem vor Glück aufgezehrten Leben den glückseligen Rest! Was zögert ihr?
Männer: Gut Ding braucht gute Weile, gnädige Frau. Jetzt hätten wir erst Mal Fräulein Tochter zu betten.
Kriemhild: Und da ist der Mann, dem wir das alles zu verdanken haben. Als ob ich es nicht bemerkt hätte, wie empört du schautest, als ich Siegfried in die Hütte sperrte. Empört und entrüstet, weil ich es mir herausnahm, deinen werten Sohn zu beaufsichtigen und zu kommandieren und zu bestrafen, wenn er nicht tat, was ich ihm sagte. Als ob ich ihn da eingesperrt hätte und eingesperrt hielte. Sieh doch nach, der Eingang steht ebenso offen wie er als Ausgang offen steht. Dass ich es nur sage! Diese Hütte war nie eine Strafanstalt, nie ein Exerzier- oder gar ein Konzentrationslager. Es war stets ein Laubhüttchen, ein Hüttchen zur Erholung, ein Mittagslager, das Schutz gibt gegen die Hitze der Sommersonne und wo man sich im Winter wohlig aufwärmen kann; ein Hüttchen, wo Siegfried schlummern konnte, während ich für ihn und uns den Besorgungen und Verpflichtungen nachkam, die das tägliche Leben Tag für Tag für uns bereit hielt. O das Leben besteht kaum aus anderem als aus Pflichten und Verpflichtungen. Pflichten und Verpflichtungen, wohin du schaust. Und übertrittst du auch nur eine, und sei sie noch so unbedeutend und klein, so wirst du angeklagt. Und wehe, du wehrst dich dagegen. Dann kommt es zu einem Riesenprozess, wo du dich auch noch deiner Unbotmäßigkeit wegen zu verantworten hast. Und vor wem? Vor dem Tribunal der Gedankenlosigkeit, der Gewohnheit und der Herrschsucht ewig unauslotbarer Dummheit, wie man sie hier, in diesen Männern versammelt sieht. Wer mag es wissen: vielleicht haben wir nur prozessiert, um uns klar darüber zu werden, in was für einer Welt wir leben, und um es auch unseren lieben Zeitgenossen klar zu machen. Von allen diesen Dingen wusste Siegfried freilich nichts. Aber er brauchte auch nichts davon zu wissen; genug, dass er tat, was ich ihn hieß, und dass er mir vertraute. Was meint man denn, was aus diesem Siegfried geworden wäre, wenn ich mich nicht um ihn angenommen hätte? War dem Herrn Vater der Posten als hoher Beamter und Schulleiter nicht stets wichtiger als die Erziehung seiner Kinder? Ganz abgesehen von dem glänzenden Pöstchen, das er als Parteigenosse bei seiner Partei innehatte? Als Vater des Vaterlandes glänzte er dort, während er als Hausvater zu Hause stets durch seine Abwesenheit glänzte. Glaubte, die liebe Sonne und die Luft würden ihm seine Kinder schon groß ziehen. Nun aber betrachte man, was aus ihnen geworden ist! Verwahrlost und, man lasse es mich frei sagen, von Zuhause schlecht erzogen, waren sie allesamt. Und Siegfried wäre so auch geblieben, hätte ich mich nicht für ihn eingesetzt. Jawohl, ohne meine Mithilfe wäre er verloren gegangen. Was ich aus ihm herausgeholt und gemacht habe, war das Beste, was man überhaupt noch aus ihm hat machen können. Ich war es, die ihn in Stand gesetzt hat, eine eigene Familie zu gründen. O er wusste, was er an mir hatte; und er wusste mir auch Dank dafür zu sagen. Aber auch ich wusste, was ich an ihm hatte. Zwar wusste ich gleich, als wir uns kennen lernten, dass wir zusammen nie große Schritte oder gar Sprünge hinaus in diese Welt machen würden. Ich wusste, dass ich mich selber, indem ich mich an ihn band, zu strengster Bescheidenheit, ja Armut verpflichtete, zwar nicht im materiellen Sinn, wohl aber in der geistigen Welt. Seine geistigen Fähigkeiten waren nie groß und würden nie groß werden. Dafür aber würde ich ihn treu und anhänglich finden, was auch immer geschehen würde. Ja bis in den Tod würde er mir die Treue halten, es mochte geschehen, was da geschehen sollte. Das aber war mir wert genug, ihm die Hand zu reichen und Ja zu ihm zu sagen.
Als hätte es nicht auch bei uns schöne Tage gegeben; Tage, wo das Licht durch die herrlichsten Fensterscheiben flutete und wo das Wort Entfremdung ein Fremdwort war! O ja, auch wir haben einst schöne Tage gesehen; auch bei uns gab es eine Familie, bestehend aus Mann und Frau und zwei Kindern, einen blühenden Kreis mit einem reich gedeckten Tisch, eine paradiesische Welt. Die Liebe war ein vertrauter Gast bei uns und saß bei uns am Tisch. Der Liebe, die einst nur einen kleinen Anlauf und Auftritt brauchte, um groß da zu sein, genügte schon ein kleiner Ablauf und Abtritt, und schon war sie für immer verschwunden. Ist sie aber einmal fort, nachdem sie da war, dann fragst du dich, was es war, was du erlebt hast und was dir das Leben gebracht hat. Du suchst danach und glaubst dich daran zu erinnern, kannst es aber gleichwohl nicht mehr finden. Dir ist, als wär alles an dir vorbeigehuscht und hätte nur diesen einen Augenblick des Vorbeihuschens gedauert. Die Vergangenheit zieht sich vor dir zusammen in ein einziges unwirkliches Bild, dass du nicht glaubst, dass sie jemals bestanden hat.
Oder, wer weiß denn schon, wie das ist, wenn man ein krankes Kind zu Hause hat? Ein Kind? Eine Tochter von 36 Jahren. Eine so kranke Tochter, dass man weiß, dass sie nie mehr gesund wird. Eine Tochter, die weiß, dass sie das Leben nie kennen lernen wird. Dass sie nie Liebe erfahren, nie eine Familie gründen und niemals Kinder gebären wird? Und da kommen sie daher gerannt und fragen und erkundigen sich. Spielen sich gar noch als Gutachter und Kritiker und Schiedsrichter auf, ob man auch den Pflegejob gut versieht, als wär man vom Glück gesegnet und überschüttet und brauchte immer mal wieder einen kleinen Dämpfer, damit einem nicht zu wohl würde. Dabei tun diese Leute doch nichts anderes, als dass sie einem auch noch das kleine Bisschen Leben, das einem möglich ist, versauen und verhunzen! Und warum tun sie dies? Weil sie nichts zu tun haben. Es geht ihnen zu gut. Sie wissen nicht, was sie mit ihrem Geld und mit ihrer Gesundheit alles anstellen sollen. Vor lauter Langeweile kommen sie auf die Idee, sich auch noch um ihre kranken Zeitgenossen sorgen zu sollen. Ein gutes Werk zur rechten Zeit kann ja nicht schaden, ehe es dann zur großen Abrechnung kommt. Dabei wissen sie nicht, was sie tun. Von den mit einer solchen Krankheit einher wandelnden Schuldgefühlen wissen sie überhaupt nichts; maßen sich aber jegliches Urteil an. Nicht wahr, mein Herr und Heiland!
Habt ihr gehört, er hat Iahhh gesagt. O, man muss ein Esel sein, wenn man in dieser Welt etwas Gutes auszurichten sich bestrebt. Mit Güte in dieser Welt etwas auszurichten, das ist das Schlechteste, was einem einfallen kann.
Wofür habe ich nun also gelebt? War´s nicht ausschließlich für meine Kinder? Ja, hab ich mir nicht alle nur mögliche Mühe gegeben und mich dabei aufgeopfert, habe jeden Luxus und jede Annehmlichkeit des Lebens zurückgewiesen und verschmäht, nur um sie zu erziehen und zu ertüchtigen, dass sie emporstiegen und sich einnisteten und dass sie es einmal zu etwas brächten in dieser unserer Gesellschaft? Und was ist daraus geworden? Freilich muss ich mich jetzt, dringender noch als früher fragen, was für eine Gesellschaft das war, in der ich meine Kinder zur Welt gebracht und großgezogen habe. Und ich muss mich fragen, ob ich nicht zuvor vergessen habe, mir die Frage zu stellen, ob man in einer solchen Gesellschaft überhaupt glücklich werden kann. Rollen zu spielen, das war es schon immer und das wird es auch bleiben, was eine jede Gesellschaft von einem verlangt. Doch was für Rollen werden hier und heute bei uns gespielt? Und welche Rollen hab ich mir für mich und meine Kinder aufdrängen lassen? Rollen können zu etwas Gutem führen, zu Sanftmut, Heldenmut oder sonst einem Strauß schöner Tugenden, sie können aber auch den Verlust des Selbst nach sich ziehen und in Krankheiten enden. Selbst, wenn wir kritisch und verantwortlich mitdenken und uns einbringen in die Erziehung, bestimmen wir unsere Rolle niemals ganz allein. Da sind immer noch die anderen, die mehr oder minder unbewusst durch ihre Rollen uns unsere Rolle aufzwingen, ganz davon abgesehen, dass die Gesellschaft ihre Ressourcen und Annehmlichkeiten ausschließlich denjenigen mitteilt, die gewillt sind, sich ihren Vorschlägen und Anweisungen zu fügen. Wer tut, was man zu tun hat oder doch tun sollte, der hat es nicht mehr nötig, vor der Gesellschaft Rechenschaft abzulegen; er ist gerechtfertigt. Hätten doch die Geschwister das Opfer gebracht und sich hintangestellt, wenn es ihnen auch an Einsicht fehlte, es wäre möglich gewesen. Dann wären sie zu Schöpfern und Erzeugern unseres Daseins geworden. Jetzt aber werden sie sich damit abzufinden haben, unsere Mörder geworden zu sein. Mein Lebensmut ist zerstört. Mein Ich löst sich auf ins Nicht-Ich. Wenn ihr mich umbringt, beseitigt ihr nur noch einen Organismus, der längst aufgehört hat, sich zu reproduzieren. Satan, dass dich die Hölle schicken musste!
Vater: Ruf deinen Mann, dass er Abschied von dir nimmt!
Kriemhild: Meinen Mann? Lass ihn. Ich spüre es, dass ich ihn nicht mehr brauche. Ja, ich müsste ihn jetzt wohl noch hassen als dein Fleisch und Blut, wo du so nahe dabei stehst. - Manchmal meinte ich schon, es könnte mir nichts mehr genommen werden, weil ich nichts mehr besessen habe als diesen, von jahrelanger Krankheit zerschundenen Leib meiner Tochter. Ich rede da gar nicht von den Plagegeistern, deren die Welt voll ist. Ich rede nur von dem immer schlimmer werdenden Gesundheitszustand meines lieben Kindes. Was, so fragte ich mich, was denn kann mir noch genommen werden, wo mein Kind nichts mehr zu eigen hat als das bisschen Luft, das es atmet? Doch dann zeigte es sich, dass da doch noch etwas war. O ja, man kann auch unter Ächzen und Stöhnen und Qualen nach Luft ringen. Man kann so leben, dass einem nichts mehr übrig bleibt, als sich wahrzunehmen, wie man elend stirbt. Mag sein, dass ich damals noch über Schätze verfügte, dass alle Könige der Welt, wenn sie ausgezogen wären, mich zu berauben, um sie in ihre Schatzkammern zu bringen, es nicht vermocht hätten. Jetzt aber bin ich soweit, auch noch den letzten Atem auszuhauchen. Ich spüre es, ich habe nichts mehr zu besprechen; und auch ihr, ihr Mordgesellen, braucht nicht mehr zu kommen. Alles ist zusammenaddiert, bis auf die letzte Stelle hinter dem Komma! Und nimmt mein elendes Leben nun nicht doch noch ein schönes Ende? Weder Mann und Frau, noch Erde und Himmel, noch Tod und Leben werden mehr sein. (Sie bricht tot zusammen)
Vater: Holt sie, ehe sie versinkt!
(Die schwarzen Mönche holen sie aus der Versenkung und legen sie in den rechten Arm des Christus, der immer mehr einem Esel ähnelt.)
Vater: Und nun rufe ich dich, meinen Sohn Siegfried! (Er ruft) Komm heraus, du unwürdiges Stalltier! Komm heraus!
Siegfried: (erscheint aus der Sakristei oder sonst einer Mauernische wie der tote Lazarus) Was ist? Wer ruft mich?
Vater: Wie? Geruhte der Herr Lazarus im Grab sich auszuruhen, dass er nicht mehr weiß, wer ihn ruft?
Siegfried: (er sieht den Christus mit Brunhild und Kriemhild) Was ist das? Wo bin ich? Was habe ich mit diesem Trugbild zu tun? Bin ich hier Zuhause?
Vater: Das ist dein Werk! Das Zuhause, das du dir geschaffen hast.
Siegfried: Wenn ich etwas getan habe und dies wäre dabei herausgekommen, so weiß ich nicht, was ich getan habe.
Vater: Sieh es dir an!
Siegfried: Man sagt, wir hätten uns zu Unrecht bereichert. Wenn ich aber hier zu Hause bin: ist hier ein Prunksaal, in dem man sich die Reichtümer ansehen könnte, die ich mir unrechtmäßig erworben hätte? Nichts kann ich sehen von allem dem, was man hier ausgestellt hat, in diesem armseligen Stall von Bethlehem, der mir zugleich auch wie ein Berg Golgatha vorkommt. Oder hängen hier Kronleuchter, übersät mit Perlen und Diamanten? Und wenn man einen Diamanten erspäht, so mag ihn die Dame dort (auf Elli weisend) tragen. Und das da, wenn es denn meine Liebsten wären, was tragen sie am Hals als hanfene Stricke wie abgehängte Aufgehängte? Aber nicht dass du meinst, du könntest mich mit diesen Teufelsbildern verwirren, um mir dann deine Befehle zu geben. Ich tu nur, was Kriemhild mir sagt und wenn sie auch tausendmal tot wäre.
Vater: Es wird Zeit, dass du dir die Traumbinden von den Augen nimmst.
Siegfried: Sage es mir, beweise es mir, wenn ich geträumt habe!
Vater: Ich bin gekommen, dich zum Tod zu wecken.
Siegfried: Was hast du getan, du Ungeheuer?
Vater: Erkenne, was du aus deinem Leben gemacht hast!
Siegfried: Aus meinem Leben? War das die Fahrt durchs Leben?
Vater: Das sind deine Liebsten, die man in die Arme des Heilandes zurückgelegt hat.
Siegfried: O du Lügner!
Vater: Du glaubst nicht, was du siehst? Nimm zur Kenntnis, was du angerichtet hast, auch wenn es nicht zu deinen Einbildungen passt!
Siegfried: Sei froh, wenn ich dir nicht glaube und mich weigere, etwas davon zur Kenntnis zu nehmen, weil du sonst als Mörder in die Geschichte der Menschheit eingehen müsstest.
Vater: Wachen Sie auf, Herr Schlafmütz!
Siegfried: Wenn ich auch weiß, dass ich nichts weiß, so will ich doch nie vergessen, dass ich dich hassen muss, wenn du mich gezeugt hast, um mir das zu zeigen.
Vater: O, der Herr Philosoph aus dem hinteren Wald. Früher einmal war das so, dass man sich zur Gemeinschaft der Unwissenden bekannt hat. Heute kann man nur noch bestehen als Fachmann und als gefragter Experte. Hier, das ist die Tochter, die dich immerwährend geschunden und verachtet hat, weil du nie etwas anderes warst als ein verächtliches Nichts. Und das auf der anderen Seite ist Kriemhild, deine Frau, die dir die Befehle erteilte, die sie von ihrer Tochter für dich überstellt bekommen hatte. Den Rest von dem Leidensmann aber, den du da siehst, hast du so zugerichtet. Das war einfach zu viel, was du ihm da aufgebürdet hast. Da konnte er nicht mehr. Man peitschte ihn zwar noch aus, konnte aber nicht verhindern, dass er die Viere von sich streckte und verstarb.
Siegfried: Das ist ungeheuerlich.
Vater: Weil du so ungeheuerlich versagt hast.
Siegfried: Verachte mich nur. Doch lass dir noch sagen, dass du dich gewaltig täuschst. Du meinst, ich hätte mich von den beiden Frauen schikanieren und drangsalieren lassen; du meinst, ich wär wie ein geprügelter Hund da in das Hundeloch gegangen, wider meinen Willen? Was für ein Irrtum! Ich bin gegangen, weil ich darauf setzte, mit meiner Eselsgeduld etwas zu erreichen. Oder muss man nicht mit Kranken weinen und mit ihnen Geduld haben? Wie anders hätte ich mich meinem Kind und meiner Frau, die mit meinem Kind litt, zu erkennen geben dürfen? Aber du glaubst mir nicht, weil es nicht in dein Konzept passt. Der Herrgott weint, der tote Christus weint. Hör nur, wie er weint!
Vater: Er weint, weil er mit uns hat auferstehen wollen; ihr aber habt es ihm unmöglich gemacht. Nirgends mehr gibt es etwas zum Auferwecken.
Vater: (zu Elli) Geh und hol deinen Bruder Erhard herein. Er steht draußen.
(Elli ab)
Vater: (zu Siegfried) Was schaust du so konsterniert, als hätte ich dir deine Hütte zerstört, deine Tochter umgebracht und dein Weib in den Tod getrieben? Du selber warst es, großer Prometheus, der sich seine Hütte gebaut hat. Du selber, der nicht eher ruhte, als bis er sich seinen eigenen Herd eingerichtet hatte!
Siegfried: Sei verflucht, wenn du es bist, dem ich dieses Leben verdanke. (Er kniet nieder vor dem Christus-Esel mit Kind, dem nun auch noch die Frau in den Arm gelegt ist, und sagt mit ohnmächtiger Gebärde) Herrgott und Heiland, der du da mit meinen Lieben am Kreuz ächzest und schmachtest und keiner nimmt dich wahr, auch wenn du mit deinem Schmerz durchs ganze Universum hindurch und noch darüber hinaus wüchsest. Sage, dass Gott die Menschheit verflucht hat. Sag, wie du zum Himmel gekommen bist. Sag, wie du als Gekreuzigter um Eintritt ersuchtest und niemand ließ dich ein. Sag von deinen angstvollen Hoffnungen, weil du noch immer geglaubt hast, ein gutes Ende für die Deinen zu erreichen. Aber du hattest dich getäuscht. Längst gibt es die Deinen nicht mehr. Es gibt nur noch Fremde, verfremdete, die sich mit sich unterhalten und dabei meinen, sie führten mit einem Du einen Dialog. Es gibt nur verfremdete und verfeindete Geschwister und eine Menge von denen, die du die Lauwarmen genannt hast, Schlafmützen, die wie die Steine im Graben schlummern.
Vater: Wohl denen, die rechtzeitig sich vorsehen.
Siegfried: Die größte Angst hatte ich stets vor mir selbst. Nun aber, wo ich alles verloren habe, fürchte ich nichts mehr. Und deshalb sage ich dir: Du bist Nicht-Mein-Vater, weil du es an Vertrauen mir gegenüber hasst fehlen lassen.
Vater. Und du bist Nicht-Mein-Sohn. Ja verfluchen muss ich mein Gelüst, dich gezeugt und, deiner Mutter zu Lieb, dich mit meinem eigenen Vornamen genannt zu haben. Verflucht seist du, dass du am heiligen Weihnachtsfest zur Welt gekommen!
Siegfried: Und wenn du ein gerechter Richter sein willst, o Gott, dann musst du nicht nur mich verdammen; dann musst du die gesamte Welt verdammen. Vor allem auch die, die selbstgerecht und selbstherrlich die Köpfe schütteln, wenn einer etwas Unrechtes getan hat. Dann musst du auch alle Rechtsanwälte und Richter und Gerichte richten. Lass sie aufhängen, wenn du ein Mann voller Mut und Gerechtigkeitssinn bist! Und alle Lehrer und Pfarrer und Politiker, weil sie es sich haben wohlergehen lassen, während die Deinen litten. Und wenn dir dann nicht bereits aller Mut entwischt ist, dann musst du da oben am Adventshaken auch noch diesen Vater da aufhängen; und endlich, wenn es dir nicht zu viel ist, die trüben Aussichten auf die Ewigkeit auszulöschen, auch noch dich selber, auf dass jedermann erkennt, dass es niemals einen gerechten und gütigen Vater gegeben hat.
Vater: Warte nur, balde schon wird man die Erde die Schädelstätte der Menschheit nennen.
Siegfried: Hättest du mir nur den Auftrag gegeben, gütiger und gerechter Heiland! Ich hätte ihn ohne mit der Wimper zu zucken totgeschlagen.
(Erhard kommt mit Elli)
Vater: (zu Siegfried) Steh nun auf und begrüße deinen Bruder Erhard! Und du, begrüße deinen Bruder Siegfried!
Siegfried: Soll das mein Bruder sein? Woran kann ich ihn erkennen? Was haben wir für Erkennungszeichen? Zulange haben wir uns auseinander gelebt.
Vater: Zeig ihm ein Erkennungszeichen! Und wenn es nur mein Testament wäre, um das ihr euch als Brüder gestritten habt, auf Leben und Tod.
Erhard: Ich habe diesen Streit nie gewollt.
Siegfried: Kann das mein Bruder sein, der mir nicht fehlt, wenn ich ihn nicht sehe? Kann das mein Bruder sein, der mir mein Elend nur doppelt vergegenwärtigt? Ja, kann das mein Bruder sein, der in mir den Wunsch nach dem ewigen Nicht-mehr-Sein bekräftigt? Ein Spuk ist die Welt, ein Windhauch.
Erhard: Wenn ich sage: mein Bruder fehlt mir, und ich sage es, muss dann nicht auch ich meinem Bruder fehlen?
Siegfried: Belüge mich nur nicht, Freund! Gern bestehst du darauf, dass ich dir fehle; denn du siehst, dass dir dein Vater dabei zuhört. Gleichwohl aber dünkt mich dein Satz nicht wahr zu sein. Oder bewohnen wir etwa dieselbe Welt und tragen wir dasselbe Verlangen in uns? Ich habe mich gedemütigt und erniedrigt und habe den Kasper gespielt, ein Leben lang. Und was habe ich damit erreicht? Oder ist sie mir nicht verloren gegangen, dass sie mir jetzt fehlt, meine Liebe?
Was mir fehlt, das ist meine Liebe. Du aber hast nie etwas unternommen, nie war es dir auch nur eine kleine Anstrengung wert, auch meiner Liebsten ein wenig zu gefallen. Oder was tatest du, dass du meiner Liebsten gefielst? Waren dir nicht stets deine Stallhasen lieber? Wenn du aber meiner Liebsten nicht fehlst, fehlst du auch mir nicht. Was auch sollte mir fehlen, wenn du nicht willens warst, das Beste mit uns zu teilen? Wenn du nur immer Vorbehalte hattest und dich stets in der Ferne aufgehalten hast?
Erhard: So sage ich eben: ich wünsche, dass du mir fehlst. Vielleicht, dass du diesen Satz zumindest mit mir teilst?
Siegfried: Mein Liebchen ist tot. Und meine Tochter ist tot. Nichts, was mir einmal lieb war, ist mehr. Alles ist tot, alles ist mir genommen. Was gibt es da noch zu teilen?
Erhard: Was sollen wir also tun, Vater?
Elli: Seht doch, wie der tote Christus über uns weint. Er weint, weil er mit uns hat auferstehen wollen. Wir aber haben es ihm unmöglich gemacht, haben uns und ihn verwandelt, statt uns von ihm verwandeln zu lassen.
Siegfried: Tröstet uns nur, dass alles einmal verschwinden muss, zuerst wir, dann aber auch der Mann am Kreuz. Als die Welt ins Sein sprang, kann sich das Sein ja doch nicht wahrhaft als seiend empfunden haben, allenfalls als etwas auf eine gewisse Dauer Befristetes. Der Tanz des Seins zerstörte die Ruhe des Nichts. Alles Seiende aber sehnt sich zurück nach dem Nichts. Als letztes aber werden die ewigen Götter sich wieder zur Ruhe begeben.
Vater: (indem er einem jeden der Söhne einen spitzen Dolch in die Hand drückt) Und wenn ihr es nicht mehr schafft, euch die Hände zu reichen und euch als meine Söhne zu versöhnen, so versucht euch denn mit diesen Dolchen!
Elli: (während es ganz dunkel wird.) Liebet einander, sagte er. Aber wir haben uns zerfleischt um des Mammons und elender Besorgnisse willen. Drunten aber gibt es kein Geld mehr; und keine Speise mehr und keine Zeugung, keine Geburt, keine Fortpflanzung, keinen Jammer, kein Wehklagen, kein Gestöhn bei der Geburt und keinen Sterbeschrei. - Gib mir Brunhilds Liederbuch, Vater!
Vater: Hier ist es. Ich glaube zwar nicht, dass es deinen Brüdern zur Eintracht verhilft, einen Versuch aber soll es uns wert sein. Dann wollen wir gehen. Die Stunde des Morgensterns naht.
Elli: (während von dem Christus ein weniges aufdämmert, liest sie aus Brunhilds selbstverfassten Gedichten)
Deinvergessene sind wir, die dein vergessen,
Und sind die Deinen dennoch, die Deinen von dessen
tausendfältigem Namen wir alle gegessen,
der du niemals gewesen.